Erich Wende, 1918-26

Aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin
(134 Seiten Maschinenmanuskript der Briefe in Auszügen von E. Wende1)

438. 29.8.1918

Ich sende Ihnen zwei Bücher, die mir in letzter Zeit viel gewesen sind, Erotik der männlichen Gesellschaft ging heute ab, Max Schelers Ursachen des Deutschenhasses folgen morgen. Über Blüher sprachen wir auf unserer letzten gemeinsamen Fahrt. Man kann das Buch nicht herumliegen lassen. Es gärt vor Unreife, es ist unkünstlerisch und gelegentlich in seiner Stilmischung geschmacklos, aber es steckt ein mutiger Mensch dahinter, der in Tiefen leuchtet, die sich sonst verschließen. Eine wilde, echte Ethik. Daneben der katholische Philosoph,

glänzend, originell, geistig zwingend, alte Probleme in neuer Form, auch sehr tief; je weiter man liest, um so fesselnder. Ich bin von beiden Büchern nicht losgekommen und habe von beiden mehr als einen geistigen Hauch mitgenommen. Ich gönne sie Ihnen.

 

439. 29.8.1918

Ein kleines Erlebnis war der Besuch des Führers der Marburger Studentenbewegung Schüller, den mir Smend brachte. Ein Mensch, der ganz Auge ist. Ethisch radikal. Drei Forderungen stellt diese Jugend: Mehr Behandlung von Grundfragen der Kultur, Bildung, Politik, Pädagogik usw. auf den Universitäten und zwar in Diskussionsformen ohne Lehrautorität von Seiten der Letzteren. Dafür muß Platz geschaffen werden durch

  1. Mehr Behandlung von Grundfragen der Kultur, Bildung, Politik, Pädagogik usw. auf den Universitäten und zwar in Diskussionsformen ohne Lehrautorität von Seiten der Letzteren. Dafür muß Platz geschaffen werden durch
  2. Entlastung der Studienpläne vom Historismus und sonstigem Ballast.
  3. Kampf gegen die Korporationen, ihre Ethik und ihren Geist.

 

440. 8.9.1918

Ich habe diese Woche wieder so viel zu arbeiten gehabt, daß ich wenig zum Nachdenken gekommen bin, und das ist alleweil schade. Um so mehr habe ich unter der Unvollkommenheit unserer ministeriellen Maschine gelitten. Sie knarrt. Ohne völligen Umbau ist sie für die Aufgabe der neuen Zeit nicht brauchbar. Darüber war ich mir mit Smend ganz einig. Der Chef2 hat große Ziele, wirkliche Ideen und viel Initiative. Mit der Ausführung aber hapert’s. Nun will er in der großen Frage der Reorganisation der Technischen Hochschule sei eigener Referent sein – das ist undenkbar und gefährdet die ganze Reform. Mit dem halben Ministerium kann er nicht einen doppelten Aufgabenkreis zwingen. Um was für Fragen es sich handelt, wurde mir mal wieder klar, als ich das Programm für die Hochschulkonferenz aufstellte – ein netter Speisezettel. Was mich selbst betrifft, so leide ich darunter, daß ich alle großen Aufgaben immer nur anhauen kann und dann wieder beiseite schieben muß. Eigentlich ist ja herrlich, was es alles zu tun gibt. Nur Ellenbogenfreiheit und Zeit zum Nachdenken! Abends bin ich zu müde, und es stört den Schlaf, den ich doch so brauche! Immerhin lese ich dann noch, in dieser Woche fast ausschließlich über französische Kulturpolitik. Ja, die haben’s los. Was sind wir doch für große Hampel ihnen gegenüber. Ich las ein Buch über französische Schulpolitik, also Kulturpolitik nach innen, Volksschule, Höhere Schule. Geistige Vorbereitung des Krieges. Ich lernte etwas ganz anderes daraus, als der Verfasser bezweckte. Nie wurde mir der Nachteil des Bundesstaates so klar, dazu Überfluß an Tüchtigkeit und Mangel an Ideen bei uns. Die Reichseinheit war unsere einzige gemeinsame Idee! Nach ihrer Erfüllung – vacat! Wir müssen erst einmal ideell zur Nation werden. Die Erziehung des Preußen, Bayern usw. zum Deutschen muß die Grundfrage unserer ganzen inneren Schulpolitik sein. Bisher erziehen wir den Preußen zum Menschen – bestenfalls, meistens aber zum Preußen und zwar nicht einmal zum Vollpreußen sondern zum Spezialisten. Hier muß ein großer Wille bei uns einziehen. Wir aber schlagen alle Ideen mit Akten tot.

… Das ganze System ist falsch und leider nicht nur bei uns, auch an anderen wichtigen Stellen. Das Schlimmste aber ist die ganze Struktur des Reiches. Gebe der Himmel, daß wir die unentbehrliche Synthese finden zwischen dem geistigen Reichtum der einzelnen Staaten und der Einheit des Staatsgedankens, der allein die Nation erzeugt.

 

441. 15.9.1919

Mich beschäftigt der Fall Richter. Bitte benutze die ruhigen Tage, die Du jetzt hast, Dir folgenden Gedanken zu überlegen. Richter hat mir gestanden, daß er am Nordischen Institut seine Liebe zur Verwaltung entdeckt habe. Machen wir ihn jetzt zum Direktor des Nordischen Instituts, so wird er sich dort festbeißen und kommt auf die Dauer auf das nordische, d.h. auf das falsche Gleis. Andererseits sehe ich, daß wir hier einen Menschen brauchen, der Dich ständig vertreten kann. Was denkst Du über Richters Einberufung als Dein Hilfsarbeiter? Vor zwei bis drei Monaten bist Du in dem Gedanken erschrocken und hastgemeint, dann müsse er Personalreferent werden. Inzwischen ist Deine Selbstsicherheit doch gewiß gewachsen. Ich möchte, daß Du als Vortragender Rat auch Deine Hand über Nachfolge Helfritz 3(die Fakultät stimmt freudig zu) halten solltest, da er einen tüchtigen Assessor empfohlen hat. In der Hauptsache aber wärest Du der Personalreferent, aber er könnte Dir sehr nützlich sein, vielleicht nützlicher als irgend jemand sonst. Bei seiner Jugend kommt seine definitive Anstellung ja vor 5-6 Jahren nicht in Frage, und bis dahin hat sich viel verschoben. Er kann, wenn jetzt sein zweites Buch heraus ist, auch wieder Professor werden wie Helfritz. Du müßtest aber unbedingt sein Vorgesetzter sein, und Du kannst das. Richter kann arbeiten. Wäre es nicht eine unendliche Entlastung für Dich? Gelt, Du verstehst mich recht. Hast Du Bedenken, oder gehst Du nicht freudig darauf ein, so ist die Sache für mich erledigt, denn Du bist mein Vertrauensmann und der, der es machen muß. Nur mußt Du Dir dann selbst für einen Vertreter sorgen. Du hast ganz freie Hand. Es ließe sich ein Zusammenarbeiten zwischen Richter und Dir (mit mir als Abteilungsleiter) denken, wie ich es mir nicht besser wünschen kann. Du brauchst nicht so bescheiden von Dir denken, Du wirst Herr der Situation sein, glaube mir’s. Es versteht sich von selbst, daß ich mit und niemandem von der Sache gesprochen habe. Richter hat keine Ahnung; es kam nur bei unserem Beisammensein einmal in einer für seine Gescheitheit überraschenden Primitivität zum Ausdruck, wie ihm eine Berufung ins Ministerium als eine wahre Lebenslösung erschien.

 

442. 10.8.1919

Man muß jetzt auch zu sehr aufpassen mit der Vielgeschäftigkeit auf Seiten des Reiches. Über das Schulkompromiß bin ich mir auch nicht klar. Ich will mich jetzt gründlich darüber belernen. Das Stenogramm habe ich zweimal gelesen. Auch H(aenisch)’s4 Artikel. Ich kann dem Beschlossenen die Bedeutung nicht beimessen, da das Gesetz ja erst kommt, und da vielleicht eine ganz andere Kombination möglich ist. Ich halte (im Sinn meines zweiten Büchleins) das Zusammenarbeiten zwischen Sozialdemokratie und Zentrum für das Wichtigste5. Was die Demokraten wollten, war doch eine Vergewaltigung und ein echtes Produkt des alten Liberalismus, der – so schön er klingt – nun einmal in unsere Zeit nicht mehr paßt. Zentrum und Sozialdemokratie werden von dem Zwang zur Zusammenarbeit zu einer Milderung der Gegensätze geführt. Das ist bedeutungsvoller als alles andere. Haenisch ist in dieser Hinsicht noch zu sehr Demokrat.6

 

443. 10.8.1919

Betr. Gründung der Universität Köln

Die Bonner Stellung zu Köln ist wirklich lächerlich. Man kann die ganze Aufmachung des Festes (100jähriges Jubiläum der Universität Bonn) begreifen, daß die Rheinländer die Bonner Universität als Fremdkörper empfinden.

 

444. 19.8.1919

Ich will Dir nur sagen, daß es mir immer klarer wird, daß ich die Abteilung in Zukunft doch werde selbst übernehmen müssen. Mache Dir einmal klar, in welche Lage ein neuer Direktor mit selbständigen Ideen unter mir als Unterstaatssekretär kommen würde. Richter-Zehlendorf hält die Idee für möglich, wenn er auch einen Dirigenten unter mir für wünschenswert hält. Ich bin mehr für möglichste Selbständigmachung der Referenten, müßte natürlich persönlich von der Sichtung der Eingänge befreit werden. Helfritz7, der jetzt am objektivsten urteilen kann, hält die Lösung für einfach ideal. Er hat mir einen Regierungsassessor Voigt in Hanau, Sohn eines Provinzialschulrats, für seine Nachfolge empfohlen und meinte, Du würdest glänzend mit ihm arbeiten. Es ist ein Mann mit einer „Zwei“ in beiden Examina und soll ein reizender Kerl sein, dabei ein Arbeitstier und reich an Initiative. Auch Helfritz fand den Gedanken, ihn zunächst Dir zu unterstellen, glänzend. Natürlich mußt Du dann auch in den Personalibus eine Entlastung haben. Unsere Briefe über dieses Thema haben sich ja gekreuzt. Eben kommt Dein langes Schreiben vom Sonntag, das im Folgenden noch nicht berücksich-tigt ist.

Aber ich halte es für absolut notwendig, daß der Personalreferent auch seine Hand über das Generalienreferat hält, und es würde sich dann der schöne Zustand entwickeln, daß Du zum verantwortlichen Träger der beiden Aufgaben wirst, die mich für die nächsten Jahre am meisten interessieren werden. Wenn Heymann kommt, wird er doch nur vorübergehend hier sein und ständig mit Dir zusammenarbeiten müssen. Ich könnte mir denken, daß Du durch ein solches Arrangement wirklich frei würdest für die wesentlichen Aufgaben. Den ganzen Kleinkram nimmt Dir dann unser gemeinsamer Freund ab oder der, dem Du den Vorzug gibst. Es ließe sich über dieses Thema mancherlei sagen, was ich lieber einer mündlichen Aussprache vorbehalte.

 

445. 25./26.8.1919

H.(Haenisch) verlangt jetzt Rücktritt von Naumann8; will aber an mich nicht heran, noch nicht.. Krückmann, von Lezius und mir eingeweiht, wird H(aenisch) zunächst Coburg aus-reden; dann soll Kraus (nicht eingeweiht) Urlaub erzwingen, etwa ab 10. oder 15. September. Dann muß es weitergehen. H(aenisch) will N(aumann) à la suite des Ministeriums stellen wie Reinh(ardt). Er bleibt Direktor des Kleinkrams und empfängt Besuche. Ich glaube, das geht.

Abends 7 ½ (Uhr) – noch immer im Ministerium. Heiße Staatsministerialsitzung, wo ich wie ein Löwe gegen David und H. Schulz kämpfen mußte. Ich sprach sehr deutlich. Es endete aber doch im Interesse des Friedens damit, daß ich übermorgen nach Oberhof fahre und H(aenisch) die Vertagung der Würzburger Vorbesprechung vorschlage. Mir sehr lieb; denn es wird jetzt zu viel. Mit beiden Herren mich privatim gut verstanden. Sie sind beide vernünftiger und verwaltungsmäßig brauchbarer wie Haenisch. H(aenisch) hat damals in erstem Ärger einen schweren taktischen Fehler gemacht. Vorwand, daß am 11. September der Budget-Ausschuß bei uns beginnt.

 

446. 16.7.1920

(Aus dem Urlaub in Gelnhausen)

Das Deutschtum im Ausland ist mir augenblicklich ebenso gleichgültig wie Nicolai und Ed. Meyer. Zu Letzterem habe ich über etwaige Folgen gesagt: „Ich vermute, daß N(aumann?) aus dem Urteil des Senats die Konsequenzen ziehen wird; Derartiges hat er selbst gesagt. Es wäre vielleicht auch das Beste. Aber die Regierung muß unter allen Umständen ihn stützen und halten, wenn er weiter lesen will.“

 

447. 26.8.1920

(Postkarte aus Frankfurt)

Hier klappte es wenig, da Schellenberg9 im letzten Augenblick erkrankte und das Prov(inzialschulkollegium) nicht unterrichtet war. So besichtigte ich allein eine Studienanstalt und ein Realgymnasium. Die höheren Töchter interpretierten mit Grazie … es war bei den gasten, den Vorläufern der Rumänen. Auch sonst lernte ich mancherlei; Englisch in Oberprima: Heroes Worship von Carlyle – The prophet as hero. Auf Bitten des Direktors hielt ich eine englische Ansprache. Ich mußte einfach. Denn er sagte gleich beim Eintritt: This gentleman has seen almost the whole world. He will tell you something. Immerhin mußte ich das tadellose Englisch der Buben und ihre sichere Handhabung in der Konversation bewundern. Die Eindrücke waren doch etwas besser als in Gelnhausen.

 

448. 6.2.1921

Der Minister10 schreibt jetzt in jedem Brief, man möge sich an seinen Nachfolger wenden. Dabei soll aber unter allen Umständen David noch in Frankfurt in Lebensstellung unter-gebracht werden. Ich schreibe darüber an Gerlach (früherer Ministerialdirektor der Geistlichen Abteilung im Kultusministerium, jetzt Vorsitzender des Kuratoriums der Universität Frankfurt). Bitte sprich Du mündlich das Nähere durch. Man könnte ihn finanzieren ½ Uni-v(ersität) ½ Arb(eiter) Akad(emie), natürlich nicht gleich pensionsberechtigt. Der Form nach Hon(orar) Prof(essor) mit Lehrauftrag. Aber es muß davon leben können. Ich finde es ja scheußlich, daß unsere Reichsminister jetzt alle betteln gehen müssen, aber vor dem Schlimmsten muß man sie bewahren, und David scheint vor dem Schlimmsten zu stehen. Dabei ist er zweifellos einer der Gebildetsten der ganzen Gesellschaft.

 

449. 11.2.1921

Dieser Tage war ein USPD-Mann, Dr. Norbert Einstein aus Frankfurt, Adresse Franfurter Hof, bei mir, um sich in Sachen Arbeiterakademie über Rosenkranz (richtiger Rosenstock)

Zu orientieren. Er scheint an den Verhandlungen in Frankfurt teilgenommen zu haben und macht einen sehr intelligenten Eindruck. Ein Buch über „Massen – und Führertum“ wird von ihm demnächst erscheinen. Er scheint Vertrauensmann des Metallarbeiterverbandes zu sein und war sehr interessiert Rosenkranz kennen zu lernen. Von Kestenberg hörte ich, daß er ein geschätzter Gewerkschaftsmann ist, doch wußte Kestenberg über die Grenzen seines Einflusses nicht genau Bescheid. In Frankfurter Kreisen hätte eine gewisse Reserve gegen ihn be-standen. So viel zu Deiner Orientierung. Ich habe ihm in Aussicht gestellt, daß Du Dich mit ihm in Frankfurt in Verbindung setzen würdest, um eine Bekanntschaft zwischen ihm und Rosenkranz herbei zu führen. Ich halte für richtig, um die Zustimmung des Metallarbeiterverbandes zur Ernennung von Rosenkranz zu erhalten.

Ich wäre Dir dankbar, wenn Du Dich in Sachen Berufung des Oberbürgermeisters Luther nach Marburg schnell entschließen könntest. Die Fakultät ist nämlich zu Ersatzvorschlägen für Schücking aufgefordert, und ich müßte jetzt in den allernächsten Tagen Bredt einen Wink geben, daß er Luther von sich aus vorschlägt.. Wenn Du das von Dir aus tun willst, ist’s mir natürlich auch recht.; aber es genügt, wenn Du mir Deine Zustimmung mitteilst, ohne die ich nicht gern vorgehen möchte. In Halle steht also Fleischmann an erster, Apelt an zweiter Stelle. Fleischmann hat sich in Königsberg in letzter Zeit so viel Mühe gegeben, daß wir ihn wirklich nicht sitzen lassen dürfen. Hauptkandidat für Englers Nachfolge ist Diehls; Pax nur hon(oris) causa genannt. Dresden Wetzstein – Schäfers Nachfolger: Hampe, Brandi und noch Einige.

 

450. 31.7.1921

(aus Gelnhausen

Nach Tisch war ich dann etwas fleißiger und las Max Webers Religionssoziologie bis zum Tee, allerdings wieder in der Allee im Liegestuhl. Es ist ein wundervolles Buch, Teile habe ich Hedwig vorgelesen. Auch hat es mich wieder etwas angekurbelt, und ich habe stundenlang wieder ganz unbürokratische Gedankengänge gehabt – nicht etwa Gefühle, die habe ich auch sonst, aber ganz richtige wissenschaftliche Gedankengänge. So habe ich gestern das Einteilungsschema für einen Ende September fälligen Vortrag auf dem Leipziger Orientalistenkongreß über „Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte“ konzipiert. Ich will von Troeltschs System einer europäischen Kulturgeschichte ausgehen – solltest Du das Separat noch besitzen wie ich annehme, so wäre ich dankbar für Zusendung – und in einem ersten Teil dagegen Stellung nehmen. Er scheidet die orientalische Welt aus. Ich will nach-weisen, daß man die europäische Kulturentwicklung ohne Einbeziehung zum mindesten der islamisch-hellenistischen Beziehungen und ohne Berücksichtigung der Wechselwirkungen und der Aufgabenkomplexe (Mittelalter bis Orientkrise) gar nicht verstehen kann11. Dann aber – und das war mir das erlösende Neue – will ich in einem zweiten Teil die Gegensätzlichkeiten entwickeln, die Verschiedenartigkeiten der Reaktion in Ost und West auf die gleichen historischen Gegebenheiten, die Andersartigkeit in der Auswahl der assimilierten Teile des antiken Erbes und damit eine rassenpsychologische Typologie darstellen., die meines Erachtens die Basis für jede künftige Kulturgeschichte bilden muß.12 Nicht als ob ich diese Typologie aufstellen wollte oder könnte. Ich meine nur, daß bei der Unmasse des Stoffes doch nicht mehr, oder nicht mehr allein Stoffsammlung und Aneinanderreihung materieller und ideeller Kulturgüter sein darf, sondern daß man versuchen sollte, die verschiedenen Prozesse der Gestaltungskraft, d.h. der produktiven Kraft der einzelnen Völker oder Kulturen gegenüber dem historischen Erbe an einzelnen Beispielen darzustellen, und das werden am lehrreichsten nicht die verschiedenartigsten Kulturkreise, etwa China und Europa, sondern die sich historisch Nahestehenden sein. Wie Max Weber z. B. Calvinismus und Luthertum in seinen ethischen Auswirkungen gegeneinanderstellt! Da kommt was bei heraus. Ich möchte das Gleiche einmal zwischen islam(ischem) und abendländischem Mittelalter tun (also genau das Gegenteil von dem, was ich vor zwanzig Jahren in „Christentum und Islam“ getan habe.) Und das soll dann neben den Ähnlichkeiten und Entlehnungen der zweite Gesichtspunkt sein, von dem aus ich die Einbeziehung zum mindesten des Vorderen – von der Antike abhängigen – Orients in dem Aufbau einer – auch nur europäischen – Kulturgeschichte fordere.13

Du siehst, parerga, Ferienallotria – aber es macht doch Freude und läßt einem die Möglichkeit, eines Morgens wieder als Professor aufzuwachen, gar nicht als so unbegehrenswert erscheinen. Du siehst, ich lege bereits jetzt die Fundamente zur Rationalisierung eines eventuellen späteren Ressentiments. Lieber bliebe ich allerdings, – so ehrlich will ich doch sein, – noch einige Jahre Minister oder doch im Amt; auch das rationalisiere ich mir mit dem Bewußtsein einer gewissen Unentbehrlichkeit. Nicht als ob ich mich realiter unentbehrlich fühlte, aber ideell, d.h. durch die unwägbare Wirkung meines Daseins gerade an dieser Stelle.

 

451. 19.9.1921

(Vor dem Ende seiner ersten Ministerschaft vom 21.4.-7.11.1921)

Das Problem der vollkommenen Umstellung meines äußeren Lebens wird mir wieder einmal aufgedrängt. Ich habe mich so in meine kulturpolitische Arbeit und meine sachliche Mission hineingelebt, daß mich das Scheiden doch bis in die Grundfesten meines Wesens erschüttert. Die mechanische Neuregelung der Dinge wird mich vermutlich ausschalten, und Ihr werdet unter Herrn von Campe einen neuen Kurs steuern. Ich ringe um einen Standpunkt und leide unter dem zermürbenden Zwang der ungewissen Übergangszeit. Manchmal möchte ich mich belächeln, aber manchmal ist mir auch gar nicht zum Lachen … Es ist das erste Mal, daß mein berufliches und vielleicht mein menschliches Schicksal nicht in meiner Hand liegt. Das führt zu einer gewaltigen Konzentration auf mich selbst. Ich kann Dich jetzt fast ganz verstehen in Deinem Drang nach Einsamkeit und doch —

 

452. 1.10.1921

(Vom Orientalistentag in Leipzig)

Am Empfangsabend stellte sich heraus, daß 25 Orientalisten erschienen waren –doch wahr-haft imponierend, wenn alle Philologen und Schulmänner in Jena trotz 50 000 Mark Reisestipendien nur 1200 Teilnehmer gebracht haben. Ich mußte gleich eine Rede halten und traf unendliche Bekannte … Weiter waren anwesend Babinger, Bergsträßer, Schaeder. Sie und Ritter lud ich mir gestern zu Tisch ein, weil sie doch meinen engsten Kreis bilden, und Babinger und Schaeder verkracht waren. Die persönliche Bekanntschaft hat aber sie gegenseitig Feuer fangen lassen, wie überhaupt der ganze Kreis meiner Schüler und Freunde sich sehr zusammenschlossen. Es waren über ½ Dutzend Schüler von mir da. Aber auch an Bonzen fehlte es nicht, Eduard Meyer, Hillebrand-Breslau, Ermann, Steindorff usw. Es herrschte aber eine großartige Stimmung, der Vorstand hatte gut gearbeitet, es gab gar keinen Widerstand, ein paar Frondeure hatten gar nicht zu erscheinen gewagt, sodaß das große Werk der Zusammenfassung der deutschen Orientalistik, das ich vor zwei Jahren angeregt,14 nunmehr zu allseitiger Zufriedenheit funktionierte. Gestern Nachmittag stieg dann mein Vortrag nach fünf Begrüßungsreden und ¾ stündiger Festrede von Brockelmann. Ich bin sehr glücklich über die Aufnahme; denn es war ganz geschlossen, selbst Lüders, dies Fischblut, sprach mich nachher dreimal darauf an und war sichtlich beeindruckt. Die engeren Fachgenossen waren lebendiger, aber auch die alten Historiker wie Weber und Kornemann stimmten mit Wärme zu. Am meisten hat sich wohl Sarre gefreut, obwohl er nichts sagte; denn mein Vortrag bedeutet den Tod des Asiatischen Museum, das den Islam von christlicher und antiker Kunst getrennt und mit China und Japan verknüpft hätte.

 

453. 11.11.1921

(Aus einer Tagung des Hochschulverbandes)

Nach Deiner Abreise holte ich also Krüß15 ab und fuhr mit ihm zur Hochschule. Es waren etwa 100 Professoren und Gäste im Senatsaal, man saß an mehreren Tischen, es gab sehr elegante Brötchen, Bier und Zigarren. Von Spitzen erschien der Landwirtschaftsminister und der Reichstagspräsident, Dulheuer, Schwörer, Wrochem, Pellengahr für das RMI (Reichsministerium des Innern). Schenk hielt (nach kurzer Begrüßung durch Rothe) eine wohlvorbereitete Rede mit allerlei allgemeinen Gedanken, wie eben ein Naturwissenschaftler redet, wenn er etwas von Bedeutung zu einem großen Kreis sagen soll. Immerhin es war aller Achtung wert. Dann antwortete ich – unvorbereitet – in einer längeren Ansprache namens der Hochschulkonferenz (incl. Reich). Ich ging kurz auf die Vorgeschichte des Verbandes, seine Schwierigkeiten, Gegensätze zur Regierung usw. ein, sagte, sie läsen es immer nur in der Zeitung, aber wir bekämen die Prügel, legte dann einige Gedanken über Bildung, Staat und Parteipolitik dar und feierte am Schluß den Verband nicht als Gehaltsausschuß, sondern als akademisches Gewissen des deutschen Volkes.

Nach mir sprachen dann noch Wendorf und Loebe, ersterer Stil Boelitz in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, letzterer sympathisch wie immer. Ich saß neben ihm, und er sprach mich auf meine Redetechnik an. Schon in Kiel habe er’s sich gemerkt, ich redete nicht so allgemein wie die Parlamentarier, sondern ich griffe immer ein Problem heraus und vertiefte das. Das gefiele ihm sehr gut und sei nur nicht ganz leicht, und in diesem Kreis könne er so etwas nicht riskieren. Ist es nicht erfreulich, so fein beobachtenden und anständig denkenden Männern in dieser so unsympathischen Partei zu begegnen?

Gestern Morgen wurde dann endlich der Beschluß über die Zweisprachigkeit der deutschen Oberschule gefaßt.

… Wir kamen dann nach Schluß der Berichterstatter gerade zur Rede von Frau Wegscheider. Boelitz ließ erst vier Redner sprechen und präparierte inzwischen seine Rede, in der auch einige freundliche Worte über mich vorkamen. Bei der zweimaligen Nennung meines Namens gab es ein mir begreiflicherweise wohltuendes „Bravo“ in der Mitte und rechts. –

Wenn Du wiederkommst, bin ich vielleicht fort und zwar in Rom. Eine Idee Bruggers, telefonisch aus Köln übermittelt, Niermann sollte sofort nach Rom fahren. Niermann aber allein ist unmöglich, zumal er weder Französisch noch Italienisch kann. Mir paßt es schlecht, jetzt unmittelbar vor Weihnachten. Aber Eile tut not. So wäre es vielleicht denkbar. Ich ambitioniere diese heikle Mission nicht. In Trier sind aber sehr entscheidende Informationen erteilt worden. Kaas16 informiert sich rückwärts. Es ist jetzt die große Frage, ob das Bayerische oder das Reichskonkordat kaputt gehen wird. Eine Politik können wir nur machen. Ich will jetzt gleich ein kleines Exposé darüber machen. Eine preußische Sondermission zum Papst würde natürlich das Reich sehr verstimmen.

 

454. 15.12.1921

Bode17 beim Minister, um sein Gift gegen Gall zu verspritzen und dem durch die Schenkung seiner drei Bibliotheksmillionen für Museumsbauten entsprechenden Nachdruck verleihen. Ich traf ihn im Vorzimmer, wir sprachen über die Kälte, er meinte, die „innere“ wäre viel schlimmer, die ganzen Museen gingen kaputt, und daran wäre nur Gall schuld. Der Minister, von mir orientiert, empfing ihn allein, hatte den denkbar schlechtesten Eindruck von diesem „galligen“ Greis und war dem Geschenk gegenüber von einer nicht zu übertreffenden Kühle, von der er selbst meinte, daß sie nahe an Unhöflichkeit grenzte. Bode hatte übrigens niemanden eingeweiht und nur tags zuvor bei Mittagessen vor Gästen die fast vom Schlag gerührte Gattin und Kinder von seinen Plänen in Kenntnis gesetzt. Krüß wußte heute Näheres von Bruns. Wir werden die Schenkung m.E. kaum annehmen:

      1. timeo Danaos,
      2. .Familienrücksichten.

Morgen wird sich im Staatsministerium auch der Direktor von U I 18entscheiden. Ich war am Montag mit Boelitz eine Stunde bei von Richter. Er wurde leider durch Dulheuer stark beeinflußt, entschloß sich dann aber nach Rücksprache mit Saemisch, der sehr nett für uns eintrat, die Sache morgen vor das Staatsministerium zu bringen. Die sabotierenden Referenten haben natürlich dafür gesorgt, daß der Etat schon gedruckt ist. Ich sprach nun mit Braun, ließ Siering durch Rammelsberg bearbeiten, habe mich heute mittag bei Deinem Freund am Zehnhof zum Kaffee angesagt. Ich hoffe zu erreichen, daß das Staatsministerium zustimmt, wenn der Antrag aus dem Haus gestellt wird. Sonst erbitte ich feste Zusicherung für den nächsten Etat. Erythopel scheint es verhindert zu haben mit Rücksicht auf abgelehnte Forderungen anderer Ministerien. Als ob hier nicht ein Sonderfall vorläge!

 

455. 2.5.1922

Der Minister hat Deinen Erlaß über die juristische Ausbildung angehalten, will erst noch Vortrag und mit Fraktion reden. Ich habe ihn deshalb mit Krüß etwas umredigiert, d.h. dem Minister seine endgültige Stellung vorbehalten und dem Finanzminister nur auseinandersetzen lassen, von welchen Erwägungen sein Ressort ausgegangen sei. Auch war taktisch unrichtig, daß er anläßlich des Gesetzes über die Abhandlung der Vorbereitungszeit Stellung genommen habe. Das war Haenisch. Nun hoffe ich wird er zeichnen.

 

456. 4.5.1922

Du wirst aus meinem Telegramm an Krüß erfahren haben, daß ich mich nun doch entschlossen habe nach Padua zu fahren, und zwar werde ich aller Voraussicht nach Donnerstag Abend abreisen. Sieh also, daß Du rechtzeitig zurückkommst, damit wir noch ein paar Tage zusammen sein können. Senat und Akademie haben natürlich nicht Schneid außer der Reihe zu tanzen. Es ist aber die deutschnationale Philologenclique, die alles beherrscht. Nernst sagte mir, die Naturwissenschaftler hätte er sehr wohl bestimmen können, aber mit den Philologen wäre nichts zu machen gewesen. (Als Anmerkung geschrieben: Übrigens sagte er mir nach Rücksprache „mit seinen Freunden“, daß er es für das Beste hielte, wenn ich führe. Er wußte nicht, daß die Absicht bestand.) Man ist natürlich lebhaft entrüstet darüber, daß Heidelberg keine Disziplin hält. Mir ist es dagegen sehr angenehm, da ich mir eine bessere Gesellschaft als Bezold – Boll gar nicht denken könnte. Ein ähnliches Telegramm wie an Krüß habe ich auch an Bezold gesandt, um die Herren damit festzulegen. Wen ich als Reisegenossen mitbekomme, ist noch zweifelhaft. Bier hat abgelehnt. So denken wir an Planck, eventuell an Hergesell. Das wird sich erst morgen entscheiden. Ich habe natürlich verlangt, daß ich offiziell von Haniel aufgefordert werden müßte. Das soll geschehen. Ob mich meine Frau begleitet, steht noch dahin. Der Herr Minister hat mir kolossal zugeredet, aber den Ausschlag hat doch der Brief von Bezold gegeben, der wenige Stunden vor dem Krüß`schen Telegramm eintraf.

 

457. 6.5.1922

Heute früh begann ich mit 20-30 Leuten – ein kleines Auditorium übervoll, mehr Leute als Sitzplätze – mein Kolleg. Im Sprechzimmer sprach ich Smend, Harnack19 und Troeltsch.20 Der Vorlesung wohnte Meißner bei und ein Hamburger Kollege mit Frau auf Hochzeitsreise. Auch Heinrich Breuer, der mir tags zuvor einen rührend begeisterten Brief über meinen Leipziger Vortrag geschrieben hatte. Nachmittags stieg dann der Zentralinstitutstee. Achtzehn Personen – die Zimmer machen sich famos, und es kam eine glänzende Unterhaltung zustande. Auch Heinrich Schulz und Spranger erschienen, sowie als Vertreter attachierter Anstalten Dunkmann und Professor Herrmann!


Erstes Wiedersehen mit Italien nach dem Großen Kriege


458. 12./13.5.1922

Ich liege im Bett in Verona:1/2 1 Uhr nachts, noch kann ich nicht schlafen. Da wandern meine Gedanken wieder zu Dir. Nun bin ich wieder in Italien. Der erste Eindruck war stark. Schon die Weinplantagen auf dem südlichen Brenner, der erste in Bozen gekaufte fiaschetto Chiantiwein, die italienischen Leute, die grazilen Menschen, die bizarren Bergformen und dann die Ankunft in Verona. Das ganze Nachtleben des Südens in seinem männlichen Charakter. Café an Café, alles sitzt auf den Straßen, alles verschwenderisch beleuchtet. Rot und weiß blühende Kastanien, Zedern auf dem Platz um einen Springbrunnen, daneben die alte Arena und die öffentlichen Gebäude mit ihren Kolonnaden, die engen finsteren Gassen mit ihrer Architektur, die gerade so in Kairo, in Süditalien oder Spanien stehen könnten. Vor allem aber das Leben auf den Straßen, so ganz anders als bei uns, so viel wärmer, leichter, anmutiger, so viel sinnlicher, aber so viel naiver und anständiger. Was haben wir doch ein so kaltes und nordisches Land. Es packt mich wieder so, dies Italien und mit Wehmut erfüllt mich der Gedanke, daß man nicht jedes Jahr ein paar Wochen hinfahren kann. Die alte Italiensehnsucht des Deutschen, so oft erlebt und seit einigen Jahren verdrängt, sie wacht lebendig auf. Der Weg von Mensch zu Mensch ist hier so viel kürzer, so viel unmittelbarer; man fühlt es, ohne mit jemandem zu sprechen.

Bis zu Beginn des Gebirges hatte ich Berlin nicht loswerden können. Die Brennerfahrt ist doch sehr schön, viel schöner als ich mich entsann. Oder ist man so viel aufnahmefähiger für südliche Schönheit geworden. Macht es die lange Entwöhnung? So entschwand allmählich Berlin in das Nebelmeer des Vergessens. Ich bin ein Italienfahrer und sonst nichts und spüre die Wohltat des weiten Abstandes. Ich hatte das nicht so erwartet und würde Dir sonst energischer zugesetzt haben. Die Eindrücke sind so stark, daß man wirklich aus seinen bisherigen Bindungen gelöst wird. Man lebt ein anderes Leben. Taunus und Schwarzwald sind gewiß schöner als der Grunewald, aber es ist doch schließlich der Ausdruck eines Landes in ver-schiedener Prägung. Italien ist etwas ganz anderes. Vielleicht habe ich es noch nie so stark erlebt. Besonders belebt mich die eigentümliche Sinnlichkeit der Luft und der Menschen. Man ist einmal draußen, wirklich draußen. Gewiß wird man sich selbst nicht los, aber man wird abgelenkt, daß man sich selber vergißt und ganz verwundert sich plötzlich erinnert, daß man noch vor 48 Stunden Berufungen gemacht oder sich über die Extraordinarienfrage aufgeregt hat.

Die Reisegesellschaft war angenehm. Zum Schluß war selbst Partsch müde, dessen unentwegte Robustheit namentlich an den Grenzsperren sich nützlich erwies. Er hat mehr gute Literatur über Padua trotz eiliger Abreise errafft und mitgebracht als Bruns’ bedachte Sorgfalt mir vorgelegt hatte. Er ist unbedingt der denkbar beste Delegierte, trotz Richters Professorengesellschaftspräjudizien. (Bitte nicht weitersagen!)

 

459. Lido (de Venezia), 18.5.1922

Ich habe eine Stunde allein am Strand in den Dünen gelegen; sonnig, wunderbar frische Luft, nur sehr wenig Menschen kamen des Weges, die See war leicht bewegt, blau wie der Himmel darüber, Tausende kleiner Seekrebse spielten in den Wellen oder verzehrten zu Dutzenden eine an den Strand geworfene Riesenqualle. Fern am Horizont zog die italienische Kriegsflotte ab. Ich war völlig losgelöst und ruhte mich aus … Jetzt habe ich den Strand verlassen und sitze bei einer Tasse Tee. Bezold ist um 2 Uhr abgereist, und da bin ich gleich von der Bahn durch den Canale Grande und die Lagune in einer Stunde hier hinaus gefahren. Gottlob hat hier die Saison noch nicht begonnen, dann muß es unerträglich sein …

Ich hätte so viel zu erzählen, Leichtes, Schönes; denn diese Reise ist wunderbar. Venedig ist doch so ganz einzigartig und erfüllt Auge und Sinn so stark, daß selbst ich es auch allein genießen kann. Bisher hatte ich zwar Gesellschaft. Gestern eine große Reihe von Kollegen, meistens aber Bezold und heute er allein. Ich habe mich ihm wieder einmal pflichtschuldig gewidmet, und er war so glücklich darüber. Stundenlang habe ich ihm geduldig zugehört und bin nun wieder ganz im Bilde über seine Arbeiten, obwohl sie mich sehr wenig interessieren. Vor großen Eindrücken schweigt er; das ist wohltuend. Wir hatten eine wunderbare Einfahrt nach Venedig; bei strahlender Sonne fuhren wir am Marcusplatz vor. Natürlich ist man nicht mehr mit dem Schauder des ersten Erlebnisses erfüllt wie einst; aber man empfindet vielleicht tiefer und solider, wenn die Neugier fortfällt und nur das Echte noch besteht. Über so etwas kann man mit Bezold sprechen, aber ich merkte doch deutlich, daß ich die Menschen in zwei Kategorien teile – unbewußt natürlich: die, die ich mit dem Eros erfasse, und die anderen. Bezold gehört bei aller Pietät und Anhänglichkeit meinerseits zu den anderen. Aber er hält doch treu zu mir und ist im Grunde sogar etwas stolz auf diesen Schüler, daß ich immer gern mit ihm zusammen bin …

Und Padua überhaupt! Es ist alles in harmonischer Weise zu Ende gegangen. Boll bekam sogar einen Ehrendoktor wie alle Führer von Universitätsdeputationen. Die Führer der politischen Delegationen schieden natürlich aus. Demnach hätte im strengen Sinne des Wortes kein Deutscher promoviert werden können; denn wir waren ja alle politisch. Das war aber auch wieder unmöglich, so verabredeten wir, daß die infolge irrtümlicher Voranmeldung bereits vorbereitete Promotion Bolls auch vollzogen werden sollte. Er selbst fürchtete etwas die Kritik der Kollegen, aber ich war sehr froh, daß sich alles so gut arrangierte. Nach meiner Rede, die in einem unvergleichlichen Rahmen sich vollzog, wurde ich von vielen Seiten angesprochen, nicht nur Neutrale, auch Engländer und Franzosen stellten sich mir vor; dazu viele Komplimente von italienischer Seite. Man war allgemein sehr erfreut über unser Erscheinen, und das Fest verlief ohne den leisesten Mißton, obwohl der berühmte Belgier Frederic, einer der von uns aus Belgien verwiesenen Professoren, bei der Verteilung der offiziellen Reden als Agent provocateur für Frankreich auftrat. Glücklicherweise hatte ich vorher alles mit den Italienern verabredet und mit deren Takt und mit meiner Ruhe – ich sagte nur einmal bei einem Vorschlag. C’est impossible! – lief dann alles glatt. Daß natürlich in den Festzügen der Studenten die Wagen von Triest, Trentino und Fiume21 besonders bejubelt wurden, ist selbstverständlich, aber darüber braucht man sich nicht aufzuregen. Ich hatte meine Rede italienisch geschlossen, worauf der König nachher bei der Vorstellung zu mir sagte: Sie sprechen ja italienisch! Dieser italienische Schluß einer deutschen Rede war ein guter Gedanke. Man muß eben mit der Mentalität der Romanen rechnen. Die Sache schloß mit einem Lunch auf einem königlichen Schloß, ½ Stunde vor der Stadt. 430 Personen saßen an einem riesenlangen Tisch unter herrliche alten Kastanien in einem prachtvollen Park. Abends war dann das Schlußbankett, wobei ich an der Ehrentafel plaziert war, und danach ein Empfang in einem Privatpalazzo, das Märchenhafteste an gesellschaftlicher Veranstaltung, das ich erlebt habe – einfach ein Märchen aus 1001 Nacht.

 

460. 1.6.1922

(Fahrt nach Templin)

Wir wohnten bei Direktor Gräber, Landé22 im Internat. Templin ist eine ganz einzigartige Schöpfung in köstlicher Landschaft, ein wahres Dorado, ein Land der Seeligen. Zunächst gab es Kaffee, dann Besteigen des Aussichtsturms, Besichtigung der großartigen Sammlungen und Bibliotheken und der ganzen Anlage. Die Jungens haben’s gut! Um 6 (Uhr) erstes Zusammentreffen mit dem lebenden Inventar, freiwilliges Turnen, Schwimmen, Rudern. Die Badeanstalt ist besonders schön, dann Essen gestern wie heute im Internat, 6 Häuser; wir drei wurden so verteilt, daß jede Tischgemeinschaft einmal einen von uns hatte. Es war wirklich sehr nett. Nach dem Abendbrot zusammensein mit dem Lehrkörper bei gut ins Einzelne gehender Unterhaltung. Heute früh Punkt 7 (Uhr) Andacht, dann Unterricht in sämtlichen Klassen besucht incl. Singen und Zeichnen. Metzner glänzte, Landé strahlte. Wir hatten eine Prämie mitgebracht, die nicht der Primus, sondern ein gesundheitlich zarter, aber charakterlich besonders günstig wirkender Primaner von mir erhielt. Die Anstalt ist natürlich kein Landerziehungsheim, aber unendlich viel moderner als Pforta. Ein Lietzianer ist dort, mit dem Landé und ich – getrennt – eingehend über die Unterschiede zwischen diesem neuzeitlichen Erziehungssystem und der am besten aufgeklärten und patriarchalisch zu bezeichnenden, aber durchaus autoritär ausgestalteten Methode Templin unterhielten. Gegenüber Pforta ist Templin das reinste Haubinda …

 

461. 8.6.1922

Krüß trug heute Deine Postkarte über den A.O23. alten und neuen Stils zur Charakteristik der inneren Einstellung der Abteilung zur Hochschulreform bei Beginn eines Vortrages bei mir vor. Richter hat für mich in diesem Punkt überhaupt nur noch ein mitleidiges Lächeln, seitdem er sein Exposé über die A.O.s und Hon24. fertig hat., das er übrigens beim Nachlesen der Vorgänge auf eine Seite hätte zusammendrängen können. Schade, daß mir jede Kampfstimmung und jede Initiative zur Zeit fehlt. Ich war selten so arbeitsunlustig wie in diesen Wochen. Das Durcheinander in der A.O.-Frage ist dadurch gekommen, daß wir die ganze Frage erst nur organisatorisch faßten, daß dann aber die wirtschaftliche besonders infolge der Pseudo-Etatisierung der nichtplanmäßigen A.O.s uns das ganze Schema umwarf. Den Rest gab der Sache die Verfassung mit ihrem Titelverbot. Jetzt ist wirklich guter Rat teuer. Du wirst verstehen, daß ich mit einiger Bitterkeit daran denke, wie mir diese an sich gut und klar durchdachte Sache durch die Umstände versaut worden ist.

 

462. 11.6.1922

Ein zweistündiger Reformvortrag, wo ich zum Entsetzen von Bruns nochmals umschmiß und nun die Extraordinarien neuen Stils mit den Honorarprofessoren gleichstellen will. Alles andere in die Übergangsbestimmungen. Im Grunde gibt er mich recht, und es kommt nun doch wieder auf meine alten Grundanschauungen heraus. Die Sache wird sehr vereinfacht. Die Fusionierung beider Kategorien zu einer einheitlichen im Sinn des Erlasses vom 17. Mai 1919 geben wir in der Form auf, aus taktischen Gründen. Sie kommt aber tatsächlich durch die Gleichheit der Rechtstellung. Ob Extraordinarien oder Honorarprofessoren wird in Zukunft vom Status habilitationis abhängen. Ich halte jetzt mit Bruns und Benecke eine private Konferenz und dann noch eine gemeinsame Schlußkonferenz ab. Vor meiner Abreise muß die Sache in Ordnung sein.

 

463. 14.6.1922

Das Chaos in der Hochschulreform namentlich in bezug auf die A.O.s war mir ganz unbegreiflich. Erst jetzt merke ich, daß offenbar keiner von Euch sich die Mühe genommen hat, meine große Denkschrift vom 2. Juli 1920 zu lesen oder zu behalten. Da steht alles mit größter Klarheit drin. Und Du hast wahrlich kein Recht auf Krüß zu schelten, der Deinen Erlaß Gottlob angehalten hat, in dem Du die Honorarprofessoren für gehobene Extraordinarien erklärst, als ob überhaupt über dies Thema nie geredet worden wäre. Ich mache Dir keinen Vorwurf daraus …

In besagter Denkschrift steht auch schon, wie wir Schritt für Schritt uns durch finanzielle Rücksichten das schöne Konzept verderben lassen mußten. Immerhin ist in zweistündiger Sitzung mit Bruns und Benecke nun doch etwas Brauchbares herausgekommen. Das entscheidende ist ein von mir formierter Satz, daß die Stellung der Extraordinarien neuen Stils dem Staat gegenüber die der Privatdozenten ist, daß aber die Ernennung eine Rechtsmehrung im Rahmen der akademischen Korporation bedeutet. Dadurch verhindern wir die Beamtung und machen doch die Verleihung der Dienstbezeichnung zu mehr als einer Titelverleihung. Die Honorarprofessoren haben wir doch in einer etwas loseren Stellung belassen. Das Gesamt-resultat sieht jetzt den B.(ecker?)’schen Grundplänen doch viel ähnlicher als die inzwischen eingetretene Verwässerung. Ich bin froh, wenn die Sache erst heraus ist. Ich habe in ihr viel Wasser in meinen Wein gießen müssen.

  • Opposition der Universitäten,
  • Erschwerung durch die Kursänderung mit Bezug auf die außerplanmäßigen A.O.s, die zu Anwärtern erklärt wurden, und mit Bezug auf die Lehraufträge
  • und endlich mangelndes Interesse für die ganze Frage in der Abteilung, von dem Augenblick an, als ich durch andere Aufgaben von der persönlichen Leitung abgezogen wurde.

Die damals von mir als eine Art Testament aufgestellte Denkschrift, die auf Bitte Haenischs für Cuno verfaßt war, wanderte ungelesen oder vergessen z.d.A., daß ich sie jetzt erst aus meinen Privatakten heraussuchen mußte. Doch darf ich wohl niemand einen Vorwurf machen. Ehrlich gesagt, war ich selbst müde dran hier geworden und setzte nicht mehr im Einzelnen meine Denkenergie ein.

So ist manches verpatzt worden. Aber wenn ich als Vater der Idee das tat, kann ich da von meinen Nachfolgern erwarten, daß sie meine eigenen Ideen treuer pflegen?

 

464. 14.6.1922

Morgen Dîner bei Nernst zu Ehren von Sir Thomas Barcley, mit dem ich auf Veranlassung Haniels dieser Tage eine 1 ½ stündige sehr interessante Aussprache hatte mit dem Zweck, die deutsch-französischen Beziehungen zu bessern. Painlevé soll jetzt den Besuch Einsteins in Paris hier erwidern. Du kannst Dir denken, daß Nernst einige Mühe haben wird, dafür die Universitäten und Akademien zu erwärmen

 

465. 18.6.1922

Der Abend bei Nernst war köstlich. Eduard Meyer spielte die ihm zugedachte Rolle des Polte-rers köstlich. (Er ist doch ein Kindskopf.) Aber Sir Thomas Barcley war ihm gewachsen und hat ihn so herzerquickend und doch liebenswürdig abgeführt, daß es ein Hochgenuß war. Das kann man nur mündlich erzählen. Es gibt also einen Relativitätskongreß im Herbst, wobei ein Franzose der Hauptredner sein soll. So waren schließlich auch Eduard Meyer und Lüders einverstanden.

Die Akademie hat für Erdmann, Mayer!! gewählt um Troeltsch zu vermeiden. So wird das Akademieproblem erneut akut. Harnack, den ich bei Nernst darüber sprach, war außer sich.

 

466. 22.6.1922

12 Uhr nachts

Ich sitze im Frack in meinem Studierzimmer. Dîner bei Pacelli25. Ich saß neben dem Reichskanzler und Kaas, sonst noch Rathenau, Hermes, Boelitz und einige Staatssekretäre. Es war recht interessant. Ich sprach lange mit Pacelli, erst deutsch über unsere Verhandlungen, dann eine Viertelstunde italienisch über allerlei Wissenschaftliches. Es machte mir Spaß, daß es einigermaßen ging. Die Sache war improvisiert, da Pacelli mich erst nachmittags einlud. Er hatte nur gehört, daß ich abwesend sei. Ich bin ja diese Nacht erst heimgekehrt.

In Godesberg freute ich mich sehr Deines lieben Briefes, vor allem des echt-Wende’schen Echos auf meinen Reformerguß. Ich habe in Köln die Zweigstelle des Zentralinstituts und die Musikpädagogische Woche eröffnet, war dann im Nonnenkloster Nonnenwerth, wo wir entzückend aufgenommen wurden – namentlich die Nonne mit dem Taktstock, die den Chor dirigierte, war köstlich. Eindrücke famos. Diese Kinder werden im Frohsinn erzogen, jedenfalls viel fröhlicher wie in den meisten weltlichen Schulen. Wir wurden famos bewirtet. Generalvikar Tillmann von Trier war da und hatte das große Bedürfnis, seine Saarpolitik zu rechtfertigen. Wir gingen endlos zusammen spazieren. Heuschen und der Oberschulrat warteten ungeduldig und wir kamen dann auch eine halbe Stunde zu spät in Godesberg an, wo wir das Evangelische Pädagogium und das Jesuitenkolleg besichtigten. Auch hier gute Eindrücke. Abends bei Sells in deren idyllischen Heim – eine Insel der Seligen, ein Gartenhaus im großen Park mit freier Aussicht auf das Siebengebirge, ein kleiner Fürstensitz,- alles für 3000 Mark Miete. Auch der letzte Tag war arbeits- und genußreich. Ich besuchte von 8-12 (Uhr) das Deutsche Kolleg und konferierte bei Tisch bis gegen 7 (Uhr) mit Sell und seinem Direktor, einem glänzenden Philologen und Menschen. Der Unterricht stand auf höchster Höhe.

 

467. 24(?).6.1922

Auch mit dem neuen Vorsitzer der Studentenschaft Heyl hatte ich sehr feine und vertrauensvolle Aussprache. Krüß gilt als Vertrauensmann der Nationalisten, was ich ihm heute erzählte. Nur gut, wenn jede Partei im Ministerium einen Vertrauensmann hat; dann erfahren wir alles.

 

468. 25.6.1922

Die Ermordung Rathenaus26 hat wie ein Donnerschlag gewirkt. Die Stimmung in Berlin war furchtbar. Ich hatte am Vor-Vorabend noch mit ihm bei Pacelli diniert. An dem Abend bei Nernst hatte er mir bei Tisch gesagt: „Ich bin der nächste auf der Liste.“ Und doch war etwas Koketterie und etwas Fatalismus dabei. Ich machte gestern die Reichskabinettsitzung in Vertretung von Boelitz mit, die Stimmung war unvergeßlich drückend und gedrückt. Wirth stand seinen Mann und bog geschickt eine sozialdemokratische Dummheit ab. Braun sekundierte ihm sehr geschickt. Natürlich ist alles wieder in Frage gestellt. Die Volkspartei steht in der ernsten Frage, ob sie die Koketterie mit den Deutschnationalen und der Monarchie auf-geben will. Die Arbeiterschaft drängt natürlich nach links. Und doch wäre jetzt der Zeitpunkt für die große Koalition auch im Reich.27. Die Volkspartei spielt aber bereits wieder den Ge-kränkten wegen der Rede Wirths. Nun soll’s mit einem Mal ein Russenattentat sein. Ich zweifle ebenso wenig wie Wirth und alle Nichtdeutschnationalen oder Rechtsvolksparteiler, daß die infame deutschnationale Hetze auch an diesem Morde schuld28 ist wie an dem von Erzberger. Die Notverordnung des Reichspräsidenten ist m.E. gut. Sie ist eine scharfe Waffe gegen den Mißbrauch der neuen Freiheiten, die von der Opposition schamlos ausgebeutet worden sind29. Natürlich schüttet die Linke bereits wieder das Kind mit dem Bade aus. Lloyd George hat ganz recht, es fehlt uns die loyale Opposition.

 

469. 25.6.1922

Wir waren heute im Stadion beim Reichsausschuß (für Leibesübungen?). Eine glänzende Darbietung. Lewald sprach ausgezeichnet. Er hatte dafür gesorgt, daß eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne den Eingang schmückte und nirgends eine schwarz-weiß-rote Fahne zu sehen war. Es war auch das erste Mal so, wie ich ihm boshaft bemerkte. Übrigens habe ich jetzt das Ende Hinzes 30beschlossen. Alle Loyalität in Ehren, aber es geht nicht mehr. Er ist ein Hemmschuh sondergleichen. Selbst Ottendorf und Spandau laufen jetzt Sturm und das Wehrministerium schimpft auch, von allen anderen Feinden ganz zu schweigen. Dominicus ist endgültig abgebogen, aber die Organisation kommt doch. Ich hatte mehrstündige Konferenz mit Krüss und Ottendorf und lasse eine Denkschrift vorbereiten. Ich will Hinzes Rückkehr aus dem Urlaub abwarten, aber dann schlage ich los. Vielleicht schreibe ich’s ihm auch noch in den Urlaub, weil er sonst noch in meiner Abwesenheit allerlei Unheil anrichtet.

 

470. 25.6.1922

Aus Schloß Bieberstein

Im übrigen mache ich hier das ganze Internatsleben von früh 6 Uhr pünktlich mit. Hier in der Rhön ist es einfach herrlich. Schloß Bieberstein liegt auf einem Berg in einem Wald ca. 500 m hoch – ein Ideal für Jungens, die allerdings ordentlich herangenommen werden. Gestern Abend wurde mir zu Ehren im Naturtheater der „Sommernachtstraum“ wiederholt, mit Orchester und Kostümen, mit Scheinwerfern und Fackeln und mit freiwilligem Mitspiel echter Glühwürmchen – einfach ein entzückendes Bild. Es war zwar recht kühl, aber doch genußreich und ging ohne Pause durch. Heute früh 5 Stunden Unterrichtsbesuch mit mancherlei Erfreulichem. Der Oberleiter ist zwar noch von Lietz bestimmt, aber leider nicht die hier benötigte Persönlichkeit. Sein Stellvertreter hat mehr vom Lietz’schen Geiste.

 

471. 16.7.1922

Ich schreibe Briefe und lese Spengler31. Der zweite Band beschäftigt mich noch mehr als der erste. Es ist etwas Ungeheuerliches um dieses Buch und diesen Mann. Ich bin überzeugt, daß von ihm eine Wirkung ausgehen wird, die man mit der Nietzsches vergleichen kann. Mögen alle seine Konstruktionen, vor allem sein manchmal gewaltsamer Periodenschematismus falsch sein, das Buch an sich stellt eine der größten Denkleistungen des Jahrhunderts dar. Eine Max Weber’sche Profundität des Wissens und der Konstruktion. Wie viele kleine Geister wieder daran herumverbessern werden! Ich kann nur ganz bescheiden bekennen, daß ich dieses Buch mit einem wachsenden Katzenjammer lese. Gewiß habe auch ich immer wieder über die Grenzen meines Gebietes hinausgesehen, ja, ich war darin ein weißer Rabe unter meinen Kollegen, aber wie zwerghaft kommt man sich vor, wenn ein Homo novus plötzlich die Formel findet und die Perspektive gibt für Dinge, die man selbst stammelnd geahnt. Ich bin mit viel Hochmut an die Lektüre gegangen, bildet doch das Arabische das Kernstück des zweiten Bandes. Aber ich vergesse jetzt bereits den Katzenjammer und genieße dankbar die wahrhaft grandiose Synthese, die dieser Mann entwickelt. Wie Vieles habe ich selbst schon gesagt, das er nun viel tiefer und ganz anders sieht und faßt.

Bei Manchem greife ich mir an den Kopf. Seine Worte haben oft unmittelbare Evidenz. Und es ist alles keine Detailarbeit, wie die meine immer war – trotz aller Synthese – , sondern es ist eine imponierende Gesamtübersicht, die aus einer geschlossenen Weltanschauung, einem großen eigenartigen System erwächst.

 

472. 22.7.1922

Ich überzeuge mich immer mehr, daß Glück eine Sache ist, die man unabhängig von allem Äußeren in sich hat oder erzeugen muß. Auch das Glück mit oder in einem anderen Menschen wächst doch nur in dem Träger selbst. Glück ist in der kleinsten Hütte, in der schwierigsten Ehe, in den unangenehmsten Arbeitsverhältnissen für einen glücklichen Menschen. Und worin liegt das Glück? In dem Erleben des Satzes: make the best of it. Ist das sehr seicht? Ist das sehr hart? Sehr egoistisch? Es gibt für mich kein absolutes Glück, wie es keine absolute Wahrheit gibt. Aber es gibt eine innere Wirklichkeit, der man sich fügen muß, ob man will oder nicht. Man sollte sie wollen und das Beste daraus machen. Meine Frau schrieb mir wieder, daß ich ein unverbesserlicher Optimist sei, sie erschrecke immer wieder von neuem darüber. Ich sage halt von Natur aus lieber Ja als Nein, ich glaube an das Wahre, Schöne und Gute, bis ich mich vom Gegenteil überzeugen muß und bin dann nie enttäuscht …32

 

473. 22.7.1922

Ich muß nächstens mal einen ausführlichen Vortrag über Deine Reformpläne erhalten; denn ich bin doch schrecklich wenig im Bilde. Es ärgert mich eigentlich; aber Du hast nie von Dir aus mich zu interessieren versucht, sondern diese immerhin doch dringliche Sache mehr nach Art Deiner Privatangelegenheiten behandelt, d.h. mir die Initiative des Ausfragens überlassen. Wenn ich mir das unter dem Gesichtspunkt meines früheren Interesses gerade an diesen Problemen vorstelle, kann ich nur sagen – o quae mutatio rerum. Allzu wohl fühle ich mich auf dem Altenteil allerdings nicht.

 

474. 24.7.1922

Momm ist ein so qualifizierter Beamter, daß seine Verwendung als Kurator schon Raubbau wäre. An Simons schrieb ich heute, den sind wir ja jetzt los. Eine Ernennung zum Reichsgerichtspräsidenten war mir ein wahrer Lichtblick in dieser Zeit der Personalverschiebungen. Auch die Ernennung von Fuchs statt Brugger zeigt doch, daß es noch vernünftige Leute unter den Parteischiebern gibt. Fuchs war mein persönlicher Kandidat. Das neu vergrößerte Zentrum freut mich sehr. Das wäre ein Rahmen, in dem ich auch kandidieren möchte. Da kämen wir doch noch einmal in die selbe Partei. Ich schrieb darüber lang an Richter …, daß ich mich einer aus Demokraten, Volkspartei und Zentrum zusammengeschweißten Partei freudig anschließen würde, auch auf die Gefahr hin, seiner Frau dort zu begegnen. Voraussetzung ist natürlich, daß der rechte Flügel der Volkspartei zu den Deutschnationalen abschwenkt; denn eine bürgerliche Arbeitsgemeinschaft ist nur tragbar gegenüber einer starken Rechten; denn sonst glaubt diesen Bürgerlichen niemand ihre republikanische Geste.

 

475. Anfang Juli 1923 (unsichere Datierung von Wende!)

Um ½ 9 (Uhr abends) begann dann die Konferenz über das Studentenrecht bei mir: Benecke, Irmer, Bruns, Richter und dauerte bei angestrengter Arbeit bis 1 Uhr. Richter blieb bis 2 Uhr. Die drei Anderen mußten zu Fuß nach Berlin zurück. Benecke machte sich dabei ganz famos … Dienstlich ist Einiges von Interesse zu melden:

  • Senat lehnt neue Stellungnahme im Fall Nicolai ab.
  • Hassenpflug zum Rücktritt bereit, bittet ab 1. Juli um Urlaub.
  • Die Chemikervoten sind alle bisher gegen Haber.
  • Smend kommt heute Abend zu mir. Richter hat mit ihm 45 000 Mark verabredet (Leipzig 50 000) und politisches Seminar. Er wird wohl bleiben, obwohl ihn Apelt offenbar sehr eingeseift hat.
  • Haenisch hat rührenden Brief an Dich hinterlassen (mindestens dreimal „mein Lieber …“) damit er alle seine Juden unterbringen kann, besonders in Frankfurt. Er will eben Konzessionen machen, wenn er’s mit Anstand kann, um größeres Unheil zu verhüten.
  • Kluckhohen hat hier R.(ichter?) berichtet, es wäre nicht gelungen, die Bonzen in Münster zu bekehren.
  • Fall Dreuw beschäftigt wieder die Rechtspresse.
  • Infamer Artikel gegen Benecke als Verräter der Studentenschaft in der Deutschen Zeitung.
  • Mein Artikel gestern Abend (in der) Vossischen (Zeitung) erschienen, gleichzeitig in Göttingen.
  • Richter erkrankt, so daß ich morgen mit Hülsen und Küssner allein regiere.

 

476. 23.7.1923

Von Richter habe ich inzwischen einliegenden33 Brief erhalten. Nachdem Du den Deinigen vorgelesen, habe ich keine Bedenken ihn Dir zu schicken; ich hab’s ihm geschrieben und ihn gebeten, Dir auch meine Antwort an ihn (trotz einiger Bitterkeiten) Ich glaube, daß er letzten zuzusenden. Dann brauche ich Vieles nicht zweimal zu schreiben. Auch was ich über den Dir ebenfalls auf diesem Wege zugehenden Ministerbrief geschrieben habe. In dieser Hinsicht hast Du geradezu eine Mission. Wenn Ihr konsequent sein wollt in Eurem Kampf um das Niveau, dann bitte macht es wie ich in meinem Brief an den Minister. So aber schlagt Ihr den Sack, und der Minister merkt nicht einmal, daß Ihr den Esel meint. Kannst Du Krüß nicht einmal die Augen öffnen? Ich glaube, daß er34 letzten Endes doch lieber mit mir geht als mit Krüß. Übrigens glaube ich auch bei Krüß, daß er die Dinge (mit den Studenten) nicht so scharf sieht wie Richter oder Du. Er will sicher nicht illoyal gegen mich sein, aber er wehrt sich eben, ehe er erdrückt wird. Die Parteiangst des Ministers aber ist das A und O allen Unheils. Natürlich rationalisiert er sich alles ganz anders. Mir hängt die Sache wieder mal gründlich zum Halse hinaus …

Soll ich den Kampf aufnehmen oder mich auf meine Privatbasis in der Wissenschaft zurückziehen? Dein Ausscheiden bedeutet eine ungeheure Belastung meines sozialen Triebes.35 Über die zwei Seelen in meiner Brust habe ich an Richter geschrieben. Du wirst es dort lesen.

 

477. 3.8.1923

Die Heidelberger Tage waren in ihrer Fülle doch recht anstrengend. Ich mußte schließlich die Hauptfestrede halten, was bei meiner inneren Einstellung mehr als eine technische Aufgabe war. Mir liegt ja die Jugendbewegung so unendlich viel näher als dies antiquierte Korporationswesen, das nicht den Mut hat, sich von veralteten Erziehungsmethoden und spießerhafter Bürgerlichkeit zu befreien. Ich ließ dann sehr viel „Neuen“ Geist einfließen und hatte damit einen Sensationserfolg, wohl hauptsächlich, weil niemand merkte, wieviel Kritik in meiner Begeisterung steckte und jeder gern das Idealbild als das seinige requirierte …

Gewiß, rednerische Erfolge quittiere ich immer gern. Du kennst mich darin und weißt, daß diese Bestätigungen meines Ichgefühls nun mal eine der Formen sind, in denen ich Anerkennungsbedürfnis empfinde. Du hast diese Schwäche ja oft und liebevoll nachempfunden … Aber zur Sache! Die Kneipe36 war mir physisch unerträglich. Welch’ barbarische Form gesellschaftlicher Sitte, selbst in der durch die Finanznot gemäßigten Einschränkung, die heute allein noch möglich ist. Ich machte fünfmal den vergeblichen Versuch, mit einem alten Freund eine vernünftige Unterhaltung zu beginnen. Schließlich gab ich es auf.. Diese Form jugendlichen Zusammenlebens ist zum Untergang reif, und trotzdem wird sie aus Konservatismus, aus feudaler Gesinnung, weil’s mal dazu gehört und, ich weiß nicht, aus was für Gründen noch, aufrecht erhalten. Mein Verbindungsleben war von Anfang ein Protest gegen diesen Geist und mein Kreis in ihr ein Vorspiel zur Jugendbewegung. Das Entscheidende ist die Beziehung von Mensch zu Mensch. Sie darf nicht durch die Herrschaft von Formen erzwungen werden, die vergangenen Jahrhunderten angepaßt sind.37

Das Bedrückende hier ist die selbständige Weiterexistenz erstarrter Institutionen, die den Geist unserer heutigen Jugend wie in ein Prokrustesbett zwingen. Wie anders ist die Göthische Welt.

Von Heidelberg zurückgekehrt fand ich Fritz Sell mit Frau vor … Dann erwartete ich nämlich den Besuch von Dr. Baum, dem jungen Priester aus Fulda, mit dem ich mich letzthin recht angefreundet hatte. Es waren zwei Tage voll vertiefter menschlich-religiöser Unterhaltung. Ein feiner, freier Mensch, der nach mancherlei Erlebnissen mit einer geradezu strahlenden Resignation zur Erfüllung seiner Nächstenliebe Priester wird. Der Mensch wird noch vielen helfen und wird selbst immer glücklich sein. Wenn alle Priester so wären, so stünde es anders um die Kirche.

 

478. 30.9.1923

Das dienstliche Hauptereignis der Woche war der sehr scharfe Zusammenstoß mit Heinrich Schulz in einer geradezu dramatischen Plenarsitzung des Reichsrats. Vormittags hatte ich im Staatsministerium den preußischen Provinzvertretern einen großen Vortrag über §61 gehalten. Das gab mir Anlaß, den Herren (Trott, von Günther) einmal die Grundlinien meiner Kulturpolitik dem Reich gegenüber darzulegen:

  • Aufrechterhaltung der kulturpolitischen Selbständigkeit der Länder,
  • Arbeitsgemeinschaft mit dem Reich,
  • ein Zusammen-, kein Neben- oder Gegeneinander.
  • Daher Förderung der Reichsverbände als Klammer um das vom Verfall bedrohte Reich,
  • Aber kein Ausbau der Verbände zu neuen Bürokratien (Politik von Schulz); denn dadurch würden die Länder in den Partikularismus getrieben, sie würden sich gegen das Reich zusammenschließen und dessen Bestand erst recht bedrohen.

Meine Darlegungen fanden starken Beifall und ich war mir sicher, daß sie nachmittags mit uns gehen würden. Im Plenum führte ich zum ersten Mal die preußische Stimme, hielt dann mein Referat und verlangte eine Erklärung, welche Verbände nun schließlich das Reich sich vorbehalte. Schulz, der im Ausschuß immer eine klare Formulierung vermieden hatte, gab nun zu, daß er nicht nur die vier großen Volksbildungsverbände, die wir ihm konzediert hatten, sondern noch den Dürerbund und eine Fülle anderer Organisationen, die wir gerade hatten ausschließen wollen, beanspruchte. Nun wurde Bayern wütend, erklärte, das sei gegen die Verabredung (vor Tisch las man’s anders) und brachte einen mit uns verabredeten Antrag ein, wonach Schulz die gleichen Formulare ausfüllen müßte wie die Länder und daß der Überschuß der 5%, die ihm zustanden, an die Länder zurückfließen müßte. Schulz erklärte das für völlig unannehmbar. Ich sprang den Bayern bei und sagte, wir könnten ja die Schulz’ sche Interpretation nicht verhindern, aber wir würden dann bei nächster Gelegenheit die Beteiligung des RMI38 völlig streichen müssen. Ich hatte in meiner ersten Rede Schulz gestützt, nach seiner Erklärung aber mußte ich scharf werden. Dann erfolgte die Abstimmung, auf Antrag namentlich. Ich gab die preußische Stimme für den bayerischen Antrag, und dann folgten lückenlos die preußischen Provinzen, ferner Baden, Württemberg und andere, nur Sachsen, Thüringen, Braunschweig und ein paar kleine gingen mit Schulz, so daß der bayerische Antrag mit erdrückender Mehrheit angenommen wurde.39 Schulz war wütend, die Freundschaft wird ja nun wohl dauernd aus sein. Das Nachspiel im Reichstagsausschuß wird natürlich noch kommen, aber ich werde dann auch dort einmal Fraktur reden.

Dann hatte ich eine lange nicht uninteressante Unterhaltung mit Direktor Lange von der Volksoper. Meinen großen Plan lehnt er ab, er will sein Theater behalten und nur in einem Konzern mit uns eintreten. Das wird sehr schwierig. Da aber auch der Landtag bei Kroll möglichst ein gemischtwirtschaftliches System wünscht, habe ich ihn und Seelig ersucht, getrennte Vorschläge zu machen, um eine Diskussionsbasis zu schaffen. Wenn wir dann noch, wie die Intendanz will, zu reinem Staatsbetrieb kommen, müssen wir wenigstens taktisch die andere Form auf Grund eingehender Verhandlungen als untunlich erweisen können.

Tags zuvor sah ich in der Volksoper „Schneeflöckchen“. Mit einem Mal weiß ich, woher Strauß das entzückende Märchenmotiv im Rosenkavalier hat: russische Musik. Schneeflöckchen ist sehr russisch, ist stellenweise sehr banal, aber volkstümlich mit überstarken Rhythmen. Die Aufführung war gut, aber es ist doch natürlich ein ganz anderes Niveau als bei der Staatsoper, die in der letzten Zeit einfach glänzend ist. Leider wenig erfreulicher Spielplan in der kommenden (Ferien) Woche.

 

479. 6.10.1923

In Politicis hat sich der Minister dagegen gut gemacht. Er war einer der Führer der preußischen Fraktion, die der Vorstoß der Stinnesgruppe noch im letzten Augenblicke contercarierte. Um ein Haar war die Koalition zum Teufel. Es war ein kombinierter Vorstoß: Schwerindustrie + Landbund + Deutschnationale + schwerindustrielle Gruppe im Zentrum und in der Volkspartei. Stresemann hatte vor lauter auswärtiger Politik einen Augenblick die Führung seiner Partei beiseite lassen müssen. Scholz, – der meines Erachtens geradezu beschränkt ist; selbst Haenisch setzte ihn aus dem Sattel – hatte sich zum Werkzeug machen lassen und trat außerdem großspurig auf. Die Zukunft der Volkspartei wird davon abhängen, ob sie die Kraft hat, diese Elemente abzustoßen, wie der Minister hofft. Noch einmal hat der Parlamentarismus gesiegt. Ein Kabinett der Köpfe wird immer ein Rechtskabinett sein. Komisch, aber wahr. Ein solches können wir jetzt nicht gebrauchen; es kommt nicht so sehr auf Führer als auf Gefolgschaft an, und die wird zur Zeit nur durch die Parteien gewährleistet. –

Wegen Roeseler telegraphierte ich, weil er sich erst kurz vor Toresschluß meldete. Ich habe ihn genau orientiert. Er wäre die denkbar beste Lösung, anständig, mild – rechts gerichtet, aber loyal, in Studentensachen und kaufmännisch geschult – seit mehreren Jahren im Verlag für Politik.- Die einzige Frage ist, ob man ihm zuraten soll. Die Sache ist doch sehr unsicher.

 

480. 8.10.1923

Heute früh holte mich Gragger um ½ 11 Uhr ab und wir fuhren im Auto zur Hochschule für Politik, wo im Beisein des Reichspräsidenten das übliche Jahresfest stattfand. Temperamentvolle Rede von Drews, ein etwas breiter, geistreich sein sollender Jahresbericht von Jaeckh, eine schwere, für diese Gelegenheit zu schwere Vorlesung von Meinecke über Hegels Staatsphilosophie (ein Auszug aus seinem Buch über die Geschichte der Staatsraison) und ein flottes, aber sehr kurzes Schlußwort des Staatssekretärs Becker – zur allgemeinen Befriedigung nur drei Minuten dauernd. Das Wetter war unbeschreiblich herrlich und alle Welt schimpfte auf diesen Mißbrauch. Es war ein kleines, aber sehr erlesenes Auditorium. Auf der Rückfahrt brachte ich Krüßens pünktlich zum Darmstädter’schen Essen, veranlaßte dann Gragger, seine Verabredung mit Aloys Brandl zu vergessen, und traf mich mit ihm um 3 Uhr wieder am Arndtgymnasium, diesmal zu einer großen Fahrt an die Havel.

… Dazu kam die leidige Geldnot. Ich mußte höhere Valuta wechseln, um den Hausstand flott zu halten, da die gestern fällige Billion ausblieb. Es sind groteske Zeiten. Selbst die Ministerin konnte ihre Kartoffeln nicht bezahlen und meine Frau und Frau Krüß teilten ein Brot für die beiden Haushalte. Da habt Ihr’s doch besser mit Euren Würsten und Schinken, den Kartoffeln bis zum Frühjahr und den Kohlen bis Dezember.

Im Dienst hauptsächlich Abbau. Helbing will fünf Universitäten schließen, der Minister die Emeritierung abschaffen, weil sie Oberlehrer nicht haben, doch ich gebe keinen Posten preis. Im Reichsrat habe ich die Frage angeschnitten und wenigstens die Erklärung erreicht, daß das Reich den Satz des Abbaugesetzes über die Pensionierung nicht so versteht, daß damit die Emeritierung durch die Pensionierung ersetzt ist, wie man im preußischen Finanzministerium wohl zu interpretieren geneigt gewesen wäre. Das Kämpfen gegen drei Fronten ist manchmal schwierig.

… Im übrigen mache ich mit Boes und Am Zehnhoff Ministerpensionsgesetz. Meine schöne Pension werde ich bei dieser Gelegenheit wohl verlieren. Ist mir auch recht. Allerdings werde ich den Staatssekretär-B-Fond dann nicht mehr so restlos aufrecht erhalten können. Zur Zeit kämpfe ich für Medicus, weil die Landé’sche Stelle unter den Abbau fiele. Ich hoffe, sie für ihn zu retten. Daß die Minister in Zukunft à discrétion ihre Beamten entlassen können, ist eigentlich unerhört. Außer Tüchtigkeit ist nur Kinderzahl eine gewisse Garantie. Ob ich Varrentrapp dabei loswerde? Versetzung auf niedere Stelle unter Beibehaltung des Gehalts ist nun zulässig. An Woldt und Fräulein Ermler wird man aber wohl kaum herangehen können und Rammelsberg und andere Partei- und Revolutionsgrößen. Sei froh, daß Du nur noch Objekt dieser Maßnahmen bist. Die Kuratoren können jetzt keinesfalls entbehrt werden.

 

481. 10.10.1923

Sehr interessant waren die Salemer Erfahrungen mit der Koedukation – im Gegensatz zu den Wandervogelidealen. Hertha hat eine glänzende Position – nur eine Stimme über sie. Selbst die Prinzens lieben sie besonders. Man hat ihr jetzt die beiden Farben verliehen; d.h. die Selbstverwaltung der Schüler hat sie in den sogenannten „Kern“ aufgenommen. Die ganze Erziehung ist auf Erziehung zur Sittlichkeit, Selbstzucht und Staatsgesinnung40 eingestellt. Jeder Flirt und jede Klebrigkeit wird von der Gemeinschaft sofort ausgetrieben. Es herrscht ein merkwürdig freier, recht kameradschaftlicher Geist. Allerdings sind die äußeren Bedingungen – materiell wie personell – auch ganz eigenartig. Hertha hat drei jüngere Mädels in ihrem Zimmer, über die sie liebevoll aber streng herrscht.

Im Zug hatte ich eben eine kleine arabische Unterhaltung mit einigen Ägyptern. Es geht nur noch verteufelt schlecht. Ich komme immer wieder ins Altarabische, was den Modernen aber sehr imponiert, weil das auch für sie „Bildung“ ist. So kommt man leicht in ein falsches günstiges Licht, ein Zustand, in dem ich mich – es ist nun mal mein Verhängnis – in meinem Leben nur zu oft befunden habe und befinde. Nur vor Dir habe ich nie anders scheinen wollen als ich bin.

 

482. 14.10.1923

… wohl aber ist mir Dein Bericht über die Zugehörigkeit des Universitätsrates zum Senat vorgelegt worden. Ich war überrascht über die Stärke des persönlichen Appells. Du scheinst der Sache ein größeres Gewicht beizumessen. Trotzdem hielten Benecke und Richter ein Zurückweichen für unmöglich; das sind eben die Objektiven. Ich habe entschieden, daß folgende Lösung den Universitäten vorgeschlagen werden soll: der Grundsatz der Nichtteilnahme bleibt, aber die Senate sollen das Recht erhalten, durch einstimmigen Antrag die Verleihung des Stimmrechtes ad personam für die Dauer der Amtstätigkeit zu erwirken. Ich nehme an, daß auch Dir diese Lösung sympathischer ist als eine in ihren Auswirkungen zweifelhafte Übergangsbestimmung. Richter war damit einverstanden, auch Krüß; B(enecke?) war nicht dabei.

Heinrich Schulz hat im Reichstag in meiner Abwesenheit obgesiegt, aber es kam schließlich ein leidlicher Kompromiß zustande. Ich sprach mich mit ihm aus und wir schieden friedlich. Er wird jetzt ein Notgesetz über die weltliche Schule vorlegen; Lehrerbildungsgesetz und Reichsschulgesetz sollen zurückgezogen werden.

 

483. 20.10.192341

Dienstlich stand das Beamtenabbaugesetz im Mittelpunkt. Wir hatten eine schwierige Staatsministerialsitzung darüber. Wir waren das einzige Ressort, das den ganzen Unsinn durchdacht hatte und trotz der nur 24 Stunden, die wir Zeit hatten, das viele Folioseiten lange Gesetz, das uns nur in einem Exemplar zugegangen war, zu studieren, entscheidende Amendements vorlegte. Der Hauptunsinn ist, daß die Länder in dem gleichen Tempo, in dem gleichen Umfang und zwar schematisch, nicht systematisch abbauen sollen wie das aufgeblähte Reich. Der preußische Finanzminister steht dabei ganz auf Seiten des Reichs, weil er fürchtet, sonst überhaupt nichts zu erreichen. Nun denke Dir die Rückwirkungen auf Universitäten und Leh-rerschaft! Und dabei nicht wie in Österreich eine einmalige Guillotine bei einer bestimmten Altersgrenze, sondern nach der Tüchtigkeit, d.h. der einzelne Ressortminister bekommt unbeschränkte Gewalt, nach Gutdünken Leute jeden Alters herauszusetzen. Natürlich werden die untüchtigen Revolutionsgrößen mit einem Mal unentbehrlich sein. Schade, daß Du nicht mehr da bist. Der Minister hätte Dich sicher zum Köpfungskommissar bestimmt. Jetzt habe ich Trendelenburg damit betrauen lassen, für U I als Abteilungsreferent Herrn Lammers. 5% sollen schon bis zum 1. Februar verschwinden. Dabei wird die Arbeit vorerst nicht abgebaut. Ich will nun alles so aufziehen, daß eine enorme Dezentralisation eintritt; Abgeordnetenbriefe, Deputationen und Besuche müssen systematisch abgebaut, zahlreiche Gesetze aufgehoben werden. Es wird eine Mordsschweinerei.

Und nun heute die bayerische Überraschung! Ich bin der Meinung, daß die Reichsver-fassung so schnell wie möglich abgebaut und das reine Föderativsystem eingeführt werden muß. Wenn’s nur nicht schon zu spät ist. Hoffentlich sind die zentrifugalen Kräfte nicht so groß, daß Preußen völlig zerfällt. Wenn die Süddeutschen ganz ausscheiden, muß Norddeutschland mit Sachsen einen großen Block bilden. Rheinland und Westfalen werden ja wohl vorerst der Entente überlassen bleiben müssen. Kommen wir aber doch noch einmal auch durch diesen Schlamassel, so wird man nun wohl energisch ans Vereinfachen gehen. Als Endziel wird erwogen, den preußischen Reichstagsabgeordneten auch die Funktionen eines preußischen Parlamentes zu geben und die Provinzialvertreter im Reichsrat als Staatsrat funktionieren zu lassen. Als Vorstufe soll die Zahl der preußischen Abgeordneten auf 2/3 herabgesetzt werden. Dem Sparkommissar Saemisch machte ich klar, daß die Abteilung Heinrich Schulz völlig verschwinden müsse. Ich muß in diesen Tagen immer wieder daran denken, wie wir Zwei die Revolution zusammen erlebt haben.

Am Mittwoch hatte ich übrigens mit Kaestner42 die Paulsen’schen Gemeinschaftsschulen besichtigt – einen ganzen Vormittag lang – zur großen Eifersucht des Ministers, der es am liebsten verhindert hätte. Ich hatte eine lange vertrauliche Aussprache über Kaestner. Er kann ihn nun einmal nicht riechen. Traut ihm nicht, hält alles bei ihm für Popularitätshascherei und befürchtet immer, daß die Kaestner’sche Popularität auf seine, des Ministers, Kosten gehe.

Richter ist mit dem Fall Vietsch (Anmerkung Wendes: Herr Vietsch, später Kurator der Universität Breslau, war als Nachfolger Wendes in Aussicht genommen; Becker war von seiner Bildung und seiner Fähigkeit sehr angetan, hatte aber von Anfang Bedenken wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen von Vietsch mit Richter); er hält sein Verbleiben für unerträglich. Krüß meint, es wäre nicht so schlimm, aber es würde schwierig erst auf dem Hintergrund der Becker’schen Freundesclique. Das sagte er mir auch, aber in der Form, daß ich mir das wohl leisten könne, aber wenn meinen Freunden dann auch gesagt würde, sie machten es ebenso usw. usw. Dabei will Krüß wohl Vietsch halten. Allerdings bekommt jetzt alles durch das Abbaugesetz ein neues Gesicht.

Übrigens hat hier kein Mensch Geld43, und die gegenseitige Pumperei ist grotesk. Wenn nicht Wolf Kühn (Anmerkung Wendes: ein Schulfreund des ältesten Sohnes von Becker) heute früh plötzlich eine Schuld zurückgezahlt hätte, wären wir nach Bezahlung des Voss absolut blank. Morgen wird gottlob wieder gezahlt.

 

484. 11.11.1923

Wir fahren zur Abbaukonferenz der Kultusminister (Chefbesprechung) nach Frankfurt. Un-ser Chef ist im letzten Augenblick erkrankt, so daß ich alles allein tragen darf. Da die preußische Verordnung im Entwurf erst heute fertig wird, bleibt Gürich noch bis heute Abend in Berlin und kommt dann mit endgültigen Instruktionen über Nacht nach. Montag beraten wir in Frankfurt, und in Berlin finden unter Trendelenburg die kommissarischen Beratungen statt; Dienstag telegraphisch einberufene Hochschulkonferenz. Mittwoch endgültige Beschlußfassung des Staatsministeriums. Ich habe heiße Tage voll ernster Beratungen hinter mir. Im Staatsministerium rettete ich am Dienstag durch eine große Rede zum zweiten Mal die Emeri-tierung, die ernstlich bedroht war. Nachträglich wird aber nochmals vorgestoßen vom Finanzminister, und deshalb haben wir die Hochschulkonferenz mobil gemacht.

Am Mittwoch wurde im Staatsministerium beschlossen

  1. Erhaltung der Emeritierung
  2. Abbau nur organisch
  3. Altersgrenze 65, aber still schweigende Verlängerung auf 68 durch Delegation an den Kultusminister.

Der Erfolg war so, daß alles mir gratulierte, selbst der Minister. Der Nachtusch geht jetzt von Remag und Genossen aus, die ihren windelweichen Chef wieder umzustimmen versuchen. Wir haben Kahl mobil gemacht, und ich hoffe auch am Mittwoch wieder Sieger zu bleiben, aber es ist nicht ganz leicht.. Unser Abbauplan sieht im übrigen vor

  • Einsparen von ca. 20 freien Stellen als erste Morgengabe.
  • Einsparen zahlreicher dritter eventuell zweiter Professuren bei Freiwerden.
  • Abbau einiger Extraordinariate.

Im Notfall Abbau von

  1. Braunsberg
  2. evangelisch-theologische Fakultät Münster
  3. Juristische Fakultät Halle
  4. Philosophische Fakultät Frankfurt.

Dies sind alles aber noch Pläne und natürlich streng geheim.

  • Bei den Schulen wird automatische gespart durch Erhöhung der Pflichtstunden,
  • Herabsetzung der Wochenstunden,
  • planwirtschaftliche Zusammenlegungen,
  • Erhöhung der Schülerzahl in den Klassen.44

Auch plane ich Abbau des Orientalischen Seminars und Erreichung unserer zwar reduzierten Pläne auf anderem Weg.

… Am Dienstag mein großer öffentlicher Vortrag45 über den Islam seit dem Weltkrieg. Unmittelbar nach dem Staatsministerium. Ich konnte mich nur ½ Stunde vorbereiten und sprach dann ohne jede Notiz über eine Stunde vor einem ganz vollen Saal mit lauter Celebritäten wie Marcks, Franke usw. Auch meine Frau und Walter waren da. Es ging sehr gut, und das Experiment hatte etwas Verführerisches. Auch die übrigen 6 Vortragsstunden dieser Woche gingen glatt vorüber, sogar mit dem Erfolg, daß die Attachés mich baten, meine Vorlesungen doch noch einige Wochen fortzusetzen. Ich will das auch tun, aber nur einmal die Woche. Die kommende Woche sind es im Ganzen nur 5 Stunden, die übernächste dann nur 4. Ich bin nicht schlecht stolz auf diese Leistung. Ich freue mich doch, das noch zu können. Dabei hat der Dienst nicht im Mindesten gelitten und auch das persönliche Leben nicht, nur der Schlaf, aber eine Zeitlang geht es ja.

Die politische Lage ist noch recht ungeklärt. Die Hitlersache ist wohl erledigt, aber die Sozialdemokratie auch, so daß wieder das bürgerliche Kabinett spukt. Die Volkspartei ist ganz gespalten, ebenso das Zentrum. Die Rechte glaubt nach Abschüttlung von Hitler und Ludendorff ihre Zeit gekommen. Der Sozialdemokratie fehlt infolge der Geldentwertung die Kraft zu energischem Widerstand resp(ektive) freier Mitarbeit. Eine Verfassungsänderung im Sinn der Verselbständigung der Länder muß kommen. Auch Preußen braucht sie.46

 

485. 17.11.1923

Den ganzen Tag über hatte ich Abbaukonferenzen, noch spät abends fuhr ich zum Finanzminister mit Boelitz’ Demission in der Tasche, falls drei Punkte nicht konzidiert würden:

  • Andere Termine bei den höheren Schulen,
  • Streichung der von Bahrfeld formulierten Volksschulparagraphen,
  • Wiederherstellung der im Gesetzentwurf trotz des Staatsministerialbeschlusses gefallenen Emeritierung.

Exzellenz von Richter war sehr nett, wünschte mir, daß er überstimmt werden möchte. Zum Trost ging ich darauf in Tiefland. Am nächsten Morgen früh nochmals Abbaukonferenz, da der Minister natürlich wieder umgefallen war, dann um 10 Uhr große Staatsministerialsitzung. Ich noch vorher bei Braun47, nicht als Staatssekretär, sondern „aus persönlichem Vertrauen“ (natürlich meinerseits). Nun, wir siegen auf der ganzen Linie und zwar in allen Punkten, auch nebensächlichen. Die Hauptkosten der Unterhaltung trug ich. Wir haben bei allen Ressorts einen kolossalen Eindruck geschunden, und es war zwischen den Referenten geradezu ein Gesprächsthema, wie wir alles vorbereitet und taktisch durchgeführt hatten. Bahrfeld fiel vollkommen unter den Tisch, sein eigener Chef ließ ihn fallen. Ich hörte sehr witzige Echos und hatte an dieser wirklich großen Schlacht, der größten dieser Art, die ich mitmachte, einen erheblichen Gefallen. Ich kann Dein Urteil in dieser Sache einfach nicht begreifen. Glaubst Du wirklich im Ernst, daß es erträglich gewesen wäre, den Professoren, die wegen des Kolleggeldes doch schon mehr Verluste erlitten haben als alle anderen Beamten, nun auch noch – und zwar rückwirkend – 25% ihrer Ruhegehaltsbezüge zu streichen? Die Sache mit den Fakultäten ist auch nur ein Plan für den Notfall und ging aus von Braunsberg, dessen wirtschaftliche und sachliche Unsinnigkeit auf der Hand liegt. Auch die theologische Fakultät in Kiel ist Unfug, zwei Hörer auf einen Dozenten, aber trotzdem hoffe ich alle Fakultäten zu halten. Eine ganze Universität abzubauen verbietet sich aus nahe liegenden Gründen. Ich habe zwar das bereits viel zitierte Wort von der geistigen Urproduktion geprägt, die unter allen Umständen erhalten werden müssen, aber irgendwo müssen wir auch hier sparen. Da das keinesfalls bei den Fonds sein darf, werden eben erledigte Stellen bei Doppelbesetzungen und Nebenfächer daran glauben müssen. Tatsächlich können wir Hypertrophes abbauen, wenn z. B. auch mein Plan für den Abbau des Ministeriums mit Streichung von fünf Ministerialratsstellen uns nur schlagkräftiger machen wird. Entscheidend war, daß wir im Staatsministerium durchsetzten, daß nicht Beamte, sondern freie Stellen abgebaut werden, der Entwurf wollte alle unsere freien und eventuell einsparbaren Stellen nicht mitrechnen. Kurz, es ist eine große Sache. Gestern kam das Gesetz in den ständigen Ausschuß, wo Montag die Schlacht fortgesetzt wird. Dort haben wir eine viel bessere Position und ich glaube fast, daß das ganze Gesetz noch scheitert, jedenfalls die Kulturfragen besonders gut abschneiden. Übrigens hat Bayern bereits Protest erhoben; es denkt nicht daran abzubauen. So ist die Frage, die jetzt bereits die Öffentlichkeit mit Protesten erfüllt, noch völlig ungeklärt.

Mittwoch war ein feines Konzert des Domchors in der Hochschule (Palästrinas Messe und andere alte Sachen bis Bach), Donnerstag hatte ich wieder meinen Attachékurs von 5-7 (Uhr) und ging danach mit Goetsch in den Schatzgräber, Freitag Abend hielt ich wieder vor vollem Saal meinen Vortrag „Ägypten nach dem Weltkrieg“. Er war vollkommen neu ausgearbeitet vom ersten bis zum letzten Wort. Zum Schluß bedankten sich die anwesenden Ägypter bei mir. Ich habe nun das ganze Material durchgearbeitet und bin in meiner geschichtlichen Kenntnis Ägyptens wirklich up to date. Heute früh hielt ich dann mein Kolleg, war um 11 Uhr auf der Beerdigung meines alten Lehrers Eberhard Gotheim, an dessen Sarg Alfred Weber sehr schlecht und lang, E(rich) Marcks vortrefflich, Caro feinsinnig und Herkner schlicht sprachen.

Übrigens war mir Dein Brief in Sachen Landwirtschaft besonders instruktiv. Dein amtliches Schreiben hatte den Eindruck gemacht, als ob Du sehr schnell in der Provinz die zentralen Widerstände vergessen hättest, die Dir doch nur zu gut bekannt sind. Die zwei gnädig vom Senat konzedierten Stellen waren sowieso zum Abbau bestimmt. Kiel kam dabei schon sehr gut weg., von der überflüssigen theologischen Fakultät ganz zu schweigen. Werden sie nun landwirtschaftlich besetzt, so würde Kiel zunächst beim Abbau ausscheiden. Du siehst also, hier liegt eine neue Schwierigkeit. Trotzdem werden wir wohl den Versuch nochmals machen, namentlich nach Deinem Brief, der mir einleuchtet. Ob auch Helbing? Ich habe wenig Hoffnung, doch will ich versuchen, via Rantzau den Ministerpräsidenten zu einer Chefbesprechung zu bewegen. Der Augenblick ist natürlich äußerst ungünstig. Der Finanzminister fürchtet, daß alle Ressorts den Abbau sabotieren. Deshalb wird er allem Neuen gegenüber doppelt zurückhaltend sein.

Der Minister ist unerträglich eifersüchtig und nervös. Krüß spielt mal wieder Staatssekretär i.V. Meine neueste Sünde ist, daß ich Smend in der höchsten Not einberufen und Picht ihm beigesellt habe, ohne den Chef vorher zu fragen. Richter war rasend erbost über den Chef. Die Stimmung ist wenig erfreulich, zumal der Minister mal wieder einen gegen den anderen ausspielt. Krüß meinte heute gegen Richter, „er schätze ja die reichen Gaben des Staatssekretärs, aber eigentlich brauche ein parlamentarischer Minister einen anderen Staatssekretär. Jetzt müsse Duwe alle diese Aufgaben erfüllen; natürlich ungenügend.“ Ich glaube allerdings auch, daß Krüß der kongenialere Staatssekretär für den Minister wäre.

 

486. 25.11.1923

Der Anfang der Woche stand ganz unter dem Abbau. Am Bußtag saß ich den ganzen Tag im Ausschuß. Mittags um 5 Uhr war’s klar, daß der Ausschuß Garantien verlangt, die das ganze Gesetz illusorisch gemacht hätten. Außerdem wurde bekannt, daß im Reichstag Sozialdemokraten und Deutschnationale (zusammen die Mehrheit) Anträge auf Aufhebung der Reichsverordnung eingebracht hätten. So ist denn das Staatsministerium am Donnerstag zusammengetreten und hat das Gesetz zurückgezogen. Ich fürchte, nun wird’s noch schlimmer und Dulheuer alle Etatbewilligungen rückwärts revidieren wollen. Hol’s der Teufel.

 

487. 28.11.1923

Heute haben wir das neue Buch des Ministers „Der Aufbau des preußischen Bildungswesens nach der Staatsumwälzung“ lesen müssen und darüber ist es wieder spät geworden. Dabei hatte der Abend miteiner Panne48 am Kaiserplatz begonnen, und ich hatte im eisigen Schneesturm zu Fuß heim laufen müssen. Das Buch ist ein echter Boelitz, unpersönlich und höchstens 10% von ihm. Diese 10% in seinem bekannten Jargon mit etwas dilettantischen, wohl von Richert inspirierten allgemein-philosophischen Ansätzen. Festgelegt hat er sich eigentlich nur gegen die Entschiedenen Schulreformer und für die 9jährige höhere Schule. Es fehlt dem Buch die Würze und die Spannung. In Wirklichkeit leistet er mehr, als man nach diesem Buch von ihm vermuten sollte. Er nennt außer mir (sehr anständig) Richert, Wätzold, Kestenberg und Kühne; Jahnke kommt wenigstens einmal als Leiter einer Sitzung vor. Der Rest versinkt in Anonymität (abgesehen von historischen Größen wie Reinhardt oder Norrenberg). Alle größeren Fragen wie

  • Verhältnis zum Reich,
  • zur Lehrerschaft,
  • zu Haenisch usw.

sind sorgfältig umgangen. Ich bin sehr neugierig auf die Kritik.

Abbauvorschläge des Finanzministers. Die wichtigsten sind

  1. Abbau einer Universität.
  2. Abbau von Fakultäten incl. medizinischer Fakultät Münster.
  3. Abbau des Weltwirtschaftsinstituts
  4. Ersparnisse bei den Kliniken

Die Fonds sind geschont außer den ziemlich belanglosen … Im Allgemeinen sehr gnädig. Die Universität (gemeint ist Frankfurt. Anmerkung Wendes) wird natürlich nicht abgebaut.

Mein Personalabbau des Ministeriums ist fertig. Wird sehr diskret behandelt. Spart 5 Ministerialratstellen, 4 Regierungsratstellen und zahllose Hilfsarbeiter. Es existieren nur zwei handschriftliche Exemplare, eines beim Minister. Aber ohne Abbau- und Pensionierungsgesetz können wir nichts machen.

Dein Kuratorenversammlungsplan ist so gut, daß ich nicht begreife, warum Du ihn verteidigst. Du verstehst doch sonst Scherze. Deine gesellschaftliche Wirksamkeit finde ich fabelhaft. Wo hast Du den verborgenen Schatz gefunden? Wenn ich zu etwas nicht tauge, so ist es zum Botschafter in USA …

Bei der Beerdigung von Gotheim sprach ich neulich Meinecke und auf seine ängstliche Frage nach dem Abbau sagte ich scherzend: Natürlich werden doppelte Professoren abgebaut, überall wo es eine Hypertrophie gibt, wie bei der Geschichte in Berlin. Zwei Tage später kommt Marcks, sich ängstlich erkundigend, ob es wahr sei, daß er und Meinecke abgebaut würden? Ist das nicht köstlich?

 

488. 2.12.1923

Im Ministerium gab’s große Beratungen über die Übergangsbestimmungen für April zum Grundschulgesetz. Kaestner bockte schrecklich und fiel, wie ich Dir vielleicht schon schrieb, bei einer Konferenz im RMI49 bei Jarres dem Minister geradezu peinlich in den Rücken.

Er ist in seiner Gegensätzlichkeit zum Minister und in seiner Seelen-Vater Jahn-Attitüde wirklich manchmal schwer erträglich. Der Minister benimmt sich korrekter als Kaestner verdient, aber K(aestner) hat trotzdem nur die vornehme und ach so billige Geste der Ablehnung aller politischen und parlamentarischen Rücksichten. Es war für ihn recht blamabel, daß die Vorstände der Lehrerverbände sehr viel einsichtiger und entgegenkommender waren. Es sollen also zum 1. April noch einmal alle Kinder aus Vor- und Grundschulen in die Sexta aufgenommen werden, die vor dem 1. Januar 1915 geboren sind und die Aufnahmeprüfung bestehen. Rücksicht auf die sonst leerlaufende Sexta aller höheren Schulen – ein neun Jahre andauernder unmöglicher Zustand – und auf die Privatschulen, die unseren Erlaß auf Umstel-lung zu einem vierjährigen Lehrplan erst nach Beginn des neuen Schuljahres empfingen. (Dank einer sträflichen Bummelei von Leist50.)

Daneben neue Abbauwelle. Vom Plan des Finanzministers schrieb ich schon. Wir sollen eine große Gegendenkschrift innerhalb 8 Tagen ausarbeiten. Ich werde wohl selbst daran glauben müssen, die Mantelnote selbst zu entwerfen. Selbst Exzellenz von Richter wird sich nun wohl endlich zur Niederschrift seines Gegenprogramms entschließen müssen. Die Kuratoren brauchen wir erst nach der Programmschrift für die Details und die Ausführung. Sei froh drum. Sonst hättest Du sie machen müssen.

Über die große Politik ist es leicht Holstein’sche Sprache zu klopfen. Die Lösung Marx51 ist ein Riesenopfer dieses anständigen, versöhnlichen, aber alles andere als bedeutenden Mannes. Man beabsichtigt nach Erteilung des Ermächtigungsgesetzes den Reichstag52 möglichst bis zu den Wahlen heimzuschicken. Hoffentlich lassen sich die Sozialdemokraten darauf ein. Die Demokraten haben sich diesmal – zum ersten Mal – bewährt, indem sie die Ausdehnung auf Preußen verhinderten. Die Deutschnationalen sind haushoch hereingefallen. Sie hatten schon eine preußische Ministerliste aufgestellt Boelitz sollte belassen werden wegen seines Postens (?). Sachlich würde ich es ja doch machen und mich wollte man gnädig „vorerst“ noch im Amt belassen. Ist das nicht köstlich? (Indiskretion von Smend an Richter, die aber streng ver-traulich bleiben muß) …

Mit Wüssing bahnt sich auch ein feines, sehr geistiges Verhältnis an. Vielleicht kommt er doch noch ins Ministerium mit Hilfe von Haenisch, selbst gegen die Megäre der Partei.

 

489. 22.12.1923

Du wirst mein Buch53 und den Prometheus erhalten haben. Lies auch mal ein oder das andere Kapitel in den Islamstudien, vieles ist für gebildete Laien ohne weiteres verständlich, freilich nicht alles, einiges ist sogar unerträglich. Das weiß ich wohl, und doch würde ich mich freuen, wenn Du einmal ein Stündchen auch in die Werkstätte meines früheren Lebens blicken wür-dest, der Du mir den Übergang in die neue Welt so sehr erleichtert und verschönt hast. Der Prometheus – heißt das Eulen nach Athen tragen? – ist diese Weihnachten das große literarische Ereignis für die Jugendbewegung. Hier sind die aktuellsten Probleme formuliert, die auch Goetsch bewegen. Ich will übrigens morgen den ganzen Tag mit ihm verleben …

Dann ist die „Festwoche“ vorbei, wenn auch die Abbaukonferenzen erst nach Neujahr beginnen. Die Kontingentierung beginnt übrigens erst ab 1. Januar. Auch ist das erste Schreiben des Finanzministers nahezu zurückgezogen, so stark hat er es abändern müssen, aber knapp wird’s doch werden bis zum 1. April and after.

Doch ich bin wie Richter54 und rutsche vom Persönlichen ins Dienstliche. Richter prüft zur Zeit und ist glücklich. Er gab heute selbst zu, daß er eigentlich ein noch größerer Schulmeister sei als ich.

 

490. 28.12.1923

Gestern habe ich die Presse durch das endlich fertige Krollhaus geführt. Walter durfte mit und war natürlich seelig, mit Versenkung auf und ab zu fahren und alle sonst verschlossenen Geheimnisse hinter der Bühne vorgeführt zu bekommen. Kroll ist in Technik, Platzverteilung und allgemeiner Linienführung sehr geglückt, doch verderben leider einige sehr kitschige Dekorationen den Gesamteindruck. Über 2400 Plätze. Die Mitglieder der Volksbühne zahlen 1,20 (RM) für den Platz. Das ist doch wirklich Volksoper. Die Doppelbespielung ist natürlich ein Experiment. Meisteraufführungen wie bei der Eröffnung – im andern Haus gibt es dann Butterfly – mit Braun als Hans Sachs dürfen über das äußerst Schwierige des ganzen Unter-nehmens nicht hinwegtäuschen.

Abends war ich dann in Robert und Bertram im Schloßparktheater, um mal zu lachen. Es war auch äußerst harmlos. Gut gespielt, in glänzendem Rahmen muß es sehr wirkungsvoll sein.

 

491. 16.1.1924

Mit heißem Bemühen brachte ich es fertig, das morgen Braun ein Diner zu Ehren von Pacelli gibt. Sämtliche preußischen Minister, Reichspräsident, Kanzler Weißmann und ich sind geladen. Daran schließt sich dann ein Empfang von etwa dreißig Notablen, darunter Harnack, Seeberg, Smend, Kahl, Guardini von Professoren. Das Ganze im Smoking weil – sage und schreibe – der preußische Ministerpräsident (Braun) keinen Frack besitzt. Und dann wollen diese Leute internationale Politik machen. Braun wollte erst gar nicht, nun muß er aber, da alle Minister auf Repräsentationsgelder verzichtet haben und gegebenenfalls der Ministerpräsident einen unbeschränkten Kredit bekommt. Er war sehr ängstlich darin, ich mußte auch den Finanzminister aufbieten. Die Sache kostet 800-1000 Mark. Es ist wirklich begreiflich, daß wir bei solcher Ängstlichkeit international keine Rolle spielen können. Auch andere Hemmungen gab’s. Braun meinte, der Vatikan nütze uns nichts, mache sich nur wichtig und spiele doch nur Frankreich gegen uns aus und umgekehrt, um vatikanische Geschäfte zu machen. Gewiß richtig, aber wir müssen dann doch wenigstens mitspielen, um nicht nur Objekt zu sein. Dabei hat m.E. der Vatikan (genau wie England) alles Interesse an unserer Wiedererstarkung, schon um nicht Frankreich ausgeliefert zu sein. Außerdem ist der Vatikan eine politische Börse ohnegleichen.55 Man kann doch keine Geschäfte machen, wenn man sagt, auf der Börse falle ich doch herein. Schließlich siegte mein Argument, daß wir uns auf unsere Staatspersönlichkeit besinnen müssen und daß wir in Konkordatsfragen und überhaupt kirchenpolitisch dem Reich gegenüber ins Hintertreffen kämen. Bayern gelte schließ-lich international mehr als wir. Weißmann sekundierte gut, Boelitz wollte die Sache gern von sich abschieben, gab mir aber sachlich recht. Wir wollen doch eine Akkreditierung des Nuntius auch bei Preußen. Da muß man ihn doch auch mal einladen. Boelitz glaubte sich der Verpflichtung enthoben, da der Nuntius einmal bei ihm abgesagt hatte, als er ihn – nota bene – am Tag vor seiner Abreise einlud. Am großzügigsten war Schlüter, der insofern mir den letzten Anstoß gegeben hatte, als er mich sondierte, ob er nicht mal den Nuntius einladen sollte. Ich sagte, erst müsse es der Minister rep. der Ministerpräsident tun. Mich aber hatte die Sache schon lange bedrückt. Pacelli ist natürlich selig, und so wird die Sache morgen steigen. Ich habe diese Episode so genau beschrieben, weil sie zeigt, wie schrecklich zur Zeit jede Politik bei uns durch die Kleinbürgerlichkeit unserer „führenden“ Männer gehandicapt ist.

(Über Schaeder im gleichen Brief:)

Ich habe mich diesmal sehr gut mit ihm verstanden, er hat mir sein Leben völlig enthüllt – wirklich ein ungeheures Vertrauen beweisend – und ich habe ihm auch offen gesagt, wie ich ihn sehe. Ein überzüchteter Verstand (degeneriert, hypertrophiert, fast homunculus) sieht alle Schwächen an Menschen und Dingen und ist immer in Gefahr, durch Kritik alles zu verderben. Damit verbunden aber eine tiefe Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Naturgebundenheit und Ehrfurcht. Er sucht immer nach dem Menschen, sieht aber immer nur ein anatomisches Präparat. Hat man das erkannt, so glaubt man seinem Enthusiasmus ebenso wenig wie seiner menschlichen Hingabe, glaubt, alles sei bewußt und gewollt und wirklich das Corrigens seiner Haltung darin, daß er so gescheit ist, daß er immer auch noch mit Fehlerquellen seines eigenen Urteils rechnet und dadurch doch noch zu einer Gesamtwürdigung von Menschen, Wer-ken und Dingen kommen kann. Sein Wille zur Ehrfurcht ist unbestreitbar und dadurch wird er sympathisch. Ich habe viel Verständnis für die tiefe Seelennot eines solchen Menschen. Er gab mir in allem recht.

Das neue Abbaugesetz passierte einmal glatt das Staatsministerium. Wir haben wieder alles durchgesetzt. In dieser Woche kommt es in den Ausschuß. Wahrscheinlich wird es scheitern, weil Volkspartei und Zentrum niemals dem Paar Severing-Freund Blancovollmacht geben werden.

Die mir peinlichste Sparmaßnahme ist mein persönlicher Verzicht auf Autobenutzung, wenigstens als tägliche Praxis. Ich glaube, daß es moralisch notwendig war und meine persönliche Autorität erhöhen wird. Trotzdem fiel’s mir schwer, sehr schwer. Ich bin halt vier Jahre daran gewöhnt. Theoretisch ist es ein Unsinn, aber praktisch war es unvermeidlich.

 

492. 20.1.1924

Vorgestern erschien plötzlich Morsbach bei mir; ich hatte ihm gerade schriftlich die Nach-folge seines Vetters Niermann angeboten. Er sagte zunächst nein; als er dann aber bei mir zu Mittag aß, hatte er plötzlich Lust bekommen, so daß er noch abends vom Minister empfangen wurde. Dem Minister hat er sehr gefallen; er war beinahe enthusiastisch, ein bei ihm gewiß seltener Zustand. Morsbach bat noch um acht Tage Bedenkzeit. Er wird wohl schließlich doch ablehnen, wenn er sich die Sache mit Wildungen nochmals überlegt … Wir haben uns wieder ungewöhnlich gut verstanden und wie alte Freunde miteinander verkehrt. Er ist doch ein ungewöhnlich gescheiter Mensch neben all seiner inneren Anständigkeit und äußerlichen Formen. Der Kerl hat Potenz und weiß es auch. Überdies möchte er gern zu mir. Einmal wird auch was draus werden, wenn auch jetzt vielleicht noch nicht. Das Urteil über ihn im Ministerium des Innern ist übrigens glänzend. Der sehr kritische Kommunalreferent von Leyden, der ihm gar nicht nahe steht, nannte ihn mir gegenüber eine ganz erstklassige Kraft. Auch Meister, Mooshake und andere waren des Lobes voll. Nur Wildermann hatte Bedenken, weil er mal einen Stuß mit Porsch und Heß hatte. Severing scheint ihn besonders zu schätzen, obwohl er doch politisch sein Antipode ist. Er ist eben so offen und gerade hinaus und ohne jeden Falsch. Die Stunden mit ihm waren mir ein reiner Gewinn., nur habe ich Angst vor der Verantwortung, ihn aus seiner derzeitigen schönen Stellung in die Schwierigkeiten unseres Ministeriums zu versetzen. Ich habe ihm dann auch alle diese Nachteile mit brutaler Offenheit auseinandergesetzt. Er dürfte nicht mir zuliebe kommen. Wenn er nicht der Sache wegen käme solle er ja wegbleiben. Jedenfalls hat sich unser stiller Bund bei diesem Anlaß wieder sehr gefestigt.

Morgen beginnt meine Arbeitswoche. Ich habe mir ganz frei genommen und will ins Breite lesen, ob mir nicht etwas für den Kantvortrag einfällt. Ich will auf eine Parallele zwischen der geistigen Lage damals und heute hinaus; d.h. ich will die Gegensätze herausarbeiten, ich will versuchen die Anfänge einer (solchen? Weggelocht!) Seelenlage herauszuarbeiten, die sich zum Beispiel bei Freyer und in der Jugendbewegung, beim Georgekreis, in der pädagogischen Literatur, in den nationalen Strömungen und in anderen geistigen Äußerungen unserer Tage dokumentiert. Der Unterschied zwischen einst und heute zeigt sich typisch in einer Variation des berühmten Kantwortes, das mir Goetsch einst auf die Rückseite eines Aquarells schrieb:

Der gestirnte Himmel über mir und das Du-sagen-dürfen in mir.“ Natürlich wage ich das nur, wenn es mir glückt, das Thema wissenschaftlich zu fassen.

 

493. 27.11924

Ich habe in dieser Woche meine eigene Bildung nicht unerheblich erweitert. Ich habe noch nie so rein nach den Grundlagen unserer geistigen Gegenwart geforscht. Meine Aufgabe ist nicht leichter dadurch geworden; denn die geistigen Grundkräfte der Gegenwart sind teils ohne, teils gegen Kant entstanden. Alles was jetzt ringt und kämpft, hängt irgendwie mit Nietzsche oder mit Marx zusammen. Nun kommt Nietzsche, der Vater der Jugendbewegung und der völkischen Ideologie aus der Romantik, aus der auch der ganze Historismus stammt und, wie Troeltsch fein ausgeführt hat, die geistige Sonderstellung Deutschlands gegenüber Westeuropa zu erklären ist. Hier ist also nur eine seiner indirekten Beziehungen zu Kant. Und Marx hat wohl einen Einschlag Hegel, aber sicher nicht das Erbe Kants, kommt im übrigen glatt aus der Aufklärung, folgt also Herder contra Kant, ja umgeht in seiner geistigen Genealogie geradezu Kant, weshalb es durchaus richtig ist, daß Cuno – der letzte Epigone der sozialistischen Theorie – leidenschaftlich gegen Kant polemisiert. Wie soll man aus all dem einen Kantvortrag bestreiten? Nun möchte ich vom Wandel des Gemeinschaftsgedankens sprechen. „Vom Ich und vom Wir“. Da hat mir Freyers Prometheus sehr gute Dienste getan. Ein ganz feines Buch, nur das letzte Kapitel fällt aus dem Rhythmus. Du mußt es unbedingt lesen. Der Mensch interessiert mich wirklich, wohl mehr Dichter als Gelehrter.

Inzwischen habe ich noch weitere Vortragssorgen. Donnerstag spreche ich für das Zentralinstitut bei Cassierer: „West-östliche Kulturkritik“. Ist das nicht ganz Salon Cassierer?-

Hast Du eigentlich meinen Spenglervortrag gehört?

 

494. 3.2.1924

Am Donnerstag hielt ich um 8 Uhr einen Vortrag „West-östliche Kulturkritik im Salon Cassierer für das Zentralinstitut. Es war ein großer Teil des geistigen Berlin versammelt und lief gut ab, obwohl ich seit 9 Uhr im Dienst und von 4-7 Uhr im Staatsministerium gewesen und deshalb etwas müde war. Danach gab’s noch Tee und Kuchen für einen kleineren Kreis (50-60 Personen).

Den nächsten Abend war Landtag: Orientalisches Seminar von 7-10 (Uhr), Kampffmeyer hatte gut vorbereitet, es war unerträglich. Ich hatte einen so unbeschreiblichen Ekel vor diesem unsachverständigen breiten Geschwätz, daß ich beinahe krank nach Hause kam.

Übrigens vergaß ich zu sagen, daß in Sachen Orientalisches Seminar kein Beschluß gefaßt wurde, da nach dreistündigem Reden noch vier Redner auf der Liste und Repliquen zu erwarten. Ich bin jetzt fest entschlossen abzubauen und meinerseits energisch vorzugehen. Mittwoch soll durch Franke ersetzt werden. Babinger schreibt einen energischen Artikel (Redak-tionsartikel) in der D(eutschen) A(llgemeinen) Z(eitung), ich selbst will die Mühe auf mich nehmen, mit den Abgeordneten zu sprechen. Allerdings habe ich schrecklich viel zu tun, Kampffmeyer hat mehr Zeit. Er stand auch am Abend vor dem Sitzungssaal. Die lächerliche Empfehlung des Hochschulverbandes hat uns mehr geschadet als genützt. Das Reich ist völlig geschäftsunfähig Hötzsch hat starke Opposition in seiner eigenen Partei, Demokraten lau. Volkspartei glatt dagegen, Sozialdemokraten ebenfalls, aber vielleicht zu gewinnen, Zentrum hielt diesmal zurück: alles nur Mißtrauen gegen die Universitäten. Theorie und Praxis seien nicht zu vereinen; ich sei eine Ausnahe und Franke ebenfalls. Man könnte die Wände hochgehen! Das sind die gleichen Leute, die immer nach Reformen schreien und nun beim ersten Schritt mir in den Rücken fallen.

Ich habe außerdienstlich auch viel vor. Der zweite Band56 wird im Eiltempo gedruckt. Er muß nicht nur gedruckt, sondern auch geschrieben werden; denn er bekommt einige neue Kapitel und dann die Nachträge! Dazu der Kantvortrag. Auch haben sich die Attachés durch das Auswärtige Amt erneut gemeldet. Sie wollen immer noch mehr von mir hören, diesmal Marokko und Nordafrika, was mich viel Arbeit kostet, da ich die Sachlage nur bis 1914 durchgearbeitet habe. Zahllose andere Angebote und Bitten habe ich abgewiesen. Jeden Tag liegen welche auf meinem Pult. Aus Zürich wird für diesen Winter nichts, aber im nächsten sicher.

Wegen Niermanns Nachfolge57 verhandelte ich mit Morsbach. Er hat mir einen wundervollen freundschaftlichen Brief geschrieben. Er kommt, wenn ich will. Eine sehr schwere Verantwortung. Ich werde Dir seinen Brief mal schicken. Richter war davon sehr angetan, ebenso der Minister. Bei dieser Gelegenheit hörte ich, daß Du Richter sehr energisch von Morsbach für Deinen Nachfolger abgeraten hättest, mir gegenüber warst Du nicht so entschieden.

 

495. 10.2.1924

Um 4 Uhr wollte Krautinger mit meiner Frau auf einen Wohltätigkeitstee der Ministerdamen in den Landtag und danach in „Viel Lärm um nichts“. Ich wollte in Ruhe arbeiten. Da telefo-nierte morgens die Ministerin an, er sei immer noch krank, und ich soll doch ja kommen. So ging ich denn schließlich mit … Frau Boelitz ist in solchen Sachen von nicht zu beschreibender Ungeschicklichkeit. Es passierte auch sonst Einiges. Die Reichspräsidentin58 wurde am Eingang offiziell erwartet, sie kam aber nicht im Auto, sondern schob sich zu Fuß im Gästestrom ins Haus, niemand half ihr bei der Garderobe usw. Da hilft natürlich kein Arrangement. Es war ungeheuer voll, Bindernagel und der unvermeidliche Clewing …

Ein anderes Erlebnis war Morsbach. Statt langen Kommentars lege ich Dir einen Brief von ihm ein. Er kam dann nochmals her, und in diesen Tagen wird er sich entscheiden. Wildermann hat sein Agrément erteilt. Alles war begeistert von ihm, selbst Schlüter. Richter meinte, man solle keine köstliche Blume aus dem Waldboden lösen und dann sagen, im Herbarium sei sie auch sehr nützlich. Ich habe Morsbach schließlich mehr ab- als zugeredet. Er muß nun als reifer Mensch seinem eigenen Dämon folgen. Ich habe ihm auch die Schattenseiten seiner Stellung so überscharf sehen lassen, daß ich ein gutes Gewissen habe.

Auch mit Götsch hatte ich eine kleine Krise. Er war plötzlich reiner Veganer59 geworden und hat sich das mit einer populären Wissenschaftlichkeit rationalisiert. Im Grunde ist es die asketische Auswirkung einer verdrängten Erlebnis- respektive Enttäuschungsreaktion. Das konnte ich nicht ertragen. Ich sagte ihm, daß ich seiner Höhen mich freute, seine Niederungen ertrüge, aber Subalternitäten wären mir unerträglich. Bisher war er so frei, jetzt macht er sich eine Scholastik zurecht und verrät sich damit selber, glaubt aber nur seine konsequente und berechtigte Lebensform zu entwickeln. Wir haben uns ausgesprochen und ich hoffe, verständigt.

 

496. 17.2.1924

Das Problem der neuen Gestaltung unseres höheren Schulwesens ist im Prinzip gelöst:

vier Typen:

  1. Humanistisches Gymnasium,
  2. Neusprachliches Gymnasium in zwei Typen, mit Latein beginnend, das dann später in Nebenstellung tritt, oder mit Französisch beginnend, wobei von Sekunda ab in Randstellung.
  3. Oberrealschule, d.h. mathematisch- und naturwissenschaftliches Gymnasium und
  4. Deutsche Oberschule, die beiden letzten mit Französisch und Englisch

Bei jedem der vier Typen soll der ganze Unterricht auf das Bildungsideal eingestellt werden. Verzicht auf die sogenannte Allgemeinbildung, die von allem etwas und von nichts was Rechtes weiß. Richert war famos, Richter, Sondag und ich sekundierten, Jahnke60 knurrte und biß an Nebensächlichkeiten herum.

Dann habe ich mit dem Minister den Abbau durchgesprochen. Westphal ist bereits aus-geschieden, Krautinger auf der Bank, Vietsch ab 1. April in Breslau, Irmer in Halle, Varrentrapp kommt als RR ins PSK61 Breslau, Schweckendiek als ORR in Reg(ierungsbezirk) Potsdam, Henke, Borchard, Engwer werden abgebaut, Rammelsberg und Runge gehen in ihre Stellen und werden als Hilfsarbeiter abgebaut. Peters sollabgebaut werden, hoffentlich freiwillig, um Kurator zu werden, Schellberg würde dann das PSK bekommen. Karstädt geht freiwillig, um irgendwo Honorarprofessor zu werden. Wegener kommt vielleicht als Alumnatsleiter nach Plön. Israel hat vier Kinder; deshalb ist der Abbau schwer; deshalb wird vielleicht Lezius gehen müssen. Im Ganzen müssen zehn verschwinden. Der Minister will alle Alten halten, namentlich Klotzsch, Leist, sehr zu meinem Leidwesen. Der Minister hat mir ziemlich nackt gesagt, daß er bereits sei, Benecke (meinen Mann) zu halten, wenn ich ihm helfe, seinen Mann, nämlich seinen Verbindungsoffizier zur Fraktion, den Schulrat Hollmann bei dieser Gelegenheit im Haus zum ORR zu machen. Er wäre bereit, Gall zum Ministerialrat zu machen, um den Stelle für Hollmann frei zu bekommen.. Laß mich darüber schweigen. Natürlich wird es geschehen. Picht bekommt U I K62. Krüß hat übrigens Landé offen abgelehnt, er fände das „ungemütlich“, so sehr er ihn sachlich anerkenne.

Auch über die Universitätsprofessoren haben wir beraten, bisher erst drei Stunden. Es werden viele fallen, aber Kiel kommt sehr gut weg. Übrigens hat der Minister ganz offen mit mir über Jahnke geredet, er beurteilt ihn ebenso wie ich. Er sagte wörtlich: Wenn ich tun könnte, was ich wollte, würde ich Jahnke und Kaestner abbauen, einen Juristen als Direktor über beide Abteilungen setzen mit je einem Dirigenten (Philologe, Schulmann) für die zwei Abteilungen. Dieser Direktor müßte dann Herr Wende sein. Der wird das können. Meinen Sie nicht?

Ich sagte: Können würde er es wohl, aber tun würde er es wohl nicht.

Am Mittwoch ist Ausschuß Orientalisches Seminar. Ich bereite mit Zentrum und Sozialdemokraten ein Kompromiß vor. Organisation soll bestehen, aber de facto soll nach unserem Plan gehandelt werden. Die europäischen Sprachen werden abgebaut.

 

497. 4.2.1924

Als vorigen Freitag im Hauptausschuß von Exzellenzen Kriege und den Trabanten respektive Exponenten Kamffmeyers der Unsinn siegte, Erhaltung des orientalischen Seminars als Kern einer künftigen Auslandshochschule und Einführung der kollegialen Verfassung beschlossen wurde – die Sozialdemokratie ließ mich gänzlich im Stich, da die Partei des Ministers unter Krieges Führung geschlossen gegen mich stimmte, nur Lauscher war glänzend und tadellos -, da erfaßte mich ein derartiger Ekel vor Parlament und Politik, daß ich einem Nervenzusammenbruch nicht fern war. Richter benahm sich vortrefflich, berichtete den nächsten Morgen allein dem Chef, dem es nun etwas zu dämmern begann und der dann nachher mit mir sehr nett und gegen Kriege ziemlich deutlich war. Er wird die Sache nunmehr vor die Fraktion bringen, da er in der Sache ja auf meinem Boden steht. Bei Kriege ist es ein urtümlicher Haß gegen alles was Professoren heißt, bei der Linken ist es die grundsätzliche Unterstützung der Lektoren gegen die Professoren, aber was mich so verletzte, war die Tatsache, daß alle Beteiligten genau wußten, wie ernst ich die Sache nahm, daß es sich hier um den ersten Schritt in der pädagogischen Reform handelt, an der mein Herz hängt, und trotzdem, ja gerade deshalb hat man anders gestimmt, weil man mir mißtraut und weil Kampffmeyer und Genossen von Anfang an gar nicht mit Argumenten, sondern mit Verdächtigungen gearbeitet haben. Das nach einer Kampf- und Arbeitsgemeinschaft von fünf Jahren die Linke, der ich doch wirklich manchen Dienst getan habe, mit einem Knirps wie Kampffmeyer geht und den Staatssekretär und schließlich doch besten Kenner der Materie einfach fallen läßt – das ist Felonie, das verekelt einem die ganze Arbeit. Gewiß wurde es ihr leicht gemacht durch die Haltung der Partei des Ministers. Ohne Kriege hätten sie mit mir gestimmt oder sie hätten sich wie so häufig gern überstimmen lassen. Und da liegt nun der andere Stein des Anstoßes. Man kann sich, selbst wenn man ihm tausend Dienste getan hat, niemals auf den Minister verlassen. Er hat natürlich keinen Anlaß bei seiner Partei mein Lob zu singen. Das ist natürlich. Aber so darf er mich nicht hereinfallen lassen. Ich hatte ihn vorher gebeten, aber er entschuldigte sich selbst mit zu großer Belastung mit anderen Fragen. In der Fraktion wäre die Sache nie besprochen worden, Kriege aber war von Mann zu Mann gegangen. Das alte Waschweib Schuster hatte ich vergebens eine Stunde lang instruiert. Ich habe ja schon in der Studentensache diesen mangelnden Rückhalt beim Minister erlebt, ihn ertragen und mich zurückgezogen. Dauernd kann ich diese Politik nicht ertragen. Diesmal war es eine aus mancherlei Motiven gespeiste höchstpersönliche Niederlage vor dem Hauptausschuß, die ausschließlich mir galt, wobei der Minister gewiß nicht der Anstifter war, aber er hatte es fahrlässig geduldet. Ich frage mich, ob mein Verbleiben im Ernst einen Sinn hat, nachdem man mir so deutlich in einer mir dreifach wichtigen Sache den Verlust meiner persönlichen Autorität dokumentiert hat. Bin ich mir schließlich nicht zu gut dazu? Die Sachau’sche Stelle ist noch frei. Dafür, d.h. für solche Untreue und solche Gleichgültigkeit opfere ich nicht meine letzte Nervenkraft.

Natürlich kann man die Sache noch anders ansehen. Im parlamentarischen Leben wechseln Siege und Niederlagen. Was war es? Eine Resolution. Ich hatte ein klares und deutliches „Unannehmbar“ ausgesprochen und im Rahmen der Exekutive und der Abbauverordnung alles andere vorbehalten. Der Minister hat das gestern Kriege gegenüber bestätigt, was ihn sehr betroffen zu haben scheint. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Die Sache wird ja eines Tages doch sicher durchgeführt.

Also weshalb die Aufregung? Erich, ich bin nun mal nicht der verstandeskühle Politiker, den Manche in mir sehen, sondern ein Mensch, der die Dinge, die er vertritt, beseelt. Der Minister sagte mir, meine Reden seien zu schön und zu suggestiv – infolgedessen würden immer Nebenabsichten dahinter gesucht. Und doch sind es diese Reden, die manche Situation gerettet und durch die ich z. B. am gleichen Tag noch den Minister aus einer sehr peinlichen Situation im Staatsministerium herausgehauen hatte. Gewiß weiß ich, daß ich im Rahmen des Staatsministeriums eine sehr starke Position habe, auch von Ressort zu Ressort namentlich seit den Abbauverhandlungen, aber ich sehe natürlich auch Mißgunst und Neid der kleineren Geister, all das, was man als das System Krüß bezeichnen könnte, womit ich gegen Krüß persönliche Loyalität nichts sagen will. Trete ich jetzt zurück, verliere ich nichts an Liebe, aber viel Haß und Neid. Auch könnte ich keine persönlich vorteilhaftere Plattform für einen Rücktritt haben als eine solche Sache, in der der Hochschulverband und die Berliner philosophische Fakultät geschlossen hinter mir steht. Das gibt auch Richter alles zu und er meint, wenn ich annähme, in Kürze doch weggeweht zu werden, natürlich unter der Voraussetzung, daß ich wirklich wieder Professor werden könnte und wollte. Ein Sprung ins kalte Wasser ist es natürlich, aber nach einem halben Jahr hat man’s überwunden. Nun will ich mich vor jeder übereilten Entschließung hüten. Nichts ab irato, nichts aus meinem gegenwärtigen Übermüdungszustand heraus entscheiden. Dafür ist die Sache zu wichtig. Ich muß Distanz haben. Deshalb werde ich morgen den Minister um 14 Tage Urlaub bitten, vom 1.-15. März, und zu Gragger nach Arosa oder ins Engadin fahren. Bis dahin kann ich die Abbaudirektion fertig haben …

Die Zeit bis dahin muß noch fabelhaft genutzt werden. Druckbogen, einen Aufsatz schreiben, Marokkovortrag vor Attachés, Abbaukonferenz der Staatssekretäre, Einladung von drei Englandkennern für Walter, Konferenz der Provinzialschulkollegien mit Abend in der Deutschen Gesellschaft und was die Woche noch alles bringen wird …

Weißt Du, Erich, ich habe mich in diesen Tagen von einer neuen Seite kennengelernt. Es war die schwerste dienstliche Erschütterung, die ich erlebte, wohl nicht nur, weil die Niederlage in der 16. Arbeitsstunde des Tages erfolgte, sondern weil es eine ganz persönliche Niederlage war in einer Sache, die unbedingt gut und richtig ist. Ich habe nun mal nicht die Richter’sche Verachtung des Parlamentes, irgendwo ist bei mir der demokratische Gedanke ein Ideal, eine Glaubenssache. Ich bin in meinem Glauben an den neuen Staatsgedanken irgendwie erschüttert, und diese Erschütterung verbindet sich mit der Erschütterung des Glaubens an meine persönliche Wirksamkeit im Rahmen dieses Systems. Deshalb ist es die ernsteste Krisis, die ich im Ministerium bisher durchgemacht habe.63

 

498. 2.2.1924 (aus Arosa)

Ich neige auch zu Deinen Gedankengängen. Der Trotz des quand même ist in mir wieder erwacht. Meine Frau war etwas entrüstet über Deine „Beeinflussung“. Ihr wäre wohl das Liebste, wenn ich aufpackte und an eine kleine Universität übersiedelte …

Dafür bin ich noch zu jung. Ich habe ihr mal im Scherz Kiel proponiert. Das ist ihr wieder zu nordisch. Es wird wohl Berlin bleiben. Über kurz oder lang die Universität. Es ist richtig, da-mit nicht zu lange zu warten. Wenn ich an die Freiheit denke, die ich dann hätte! Auf der anderen Seite zwingt mich das Pflichtgefühl an meine jetzige Stelle. Ich prüfe mich noch, ob es wirklich Pflichtgefühl oder Eitelkeit oder Machtverlangen oder sonst was ist. Hier bin ich völlig entspannt und denke gar nicht an den Dienst … Jedenfalls war ich noch nie so erschüttert in meinem dienstlichen Selbstbewußtsein wie diesmal. Ohne Glauben an mich selbst und an meine Wirkungsmöglichkeit kann ich nicht bleiben. Gragger malt mir entzückend die Arbeitsgemeinschaft im Orientalischen Seminar aus, doch ist er vorerst noch für mein Verbleiben. Jedenfalls habe ich hier die nötige Distanz zu ruhiger Überlegung. Auch ist es wohl praktischer – das war Mittwochs Version – den aktuellen Anlaß vorübergehen zu lassen. Die Fakultät würde mich jetzt nicht vorschlagen, weil das wie Byzantinismus aussähe, aber es wäre kein Zweifel, daß sie mich mit Freuden aufnehmen würde.

 

499. 23.3.1924

Diese Woche habe ich viel gearbeitet. Abends meist mit Kant. Der Minister war fort und ich hatte mancherlei Verantwortung. Gestern ist er plötzlich zurückgekommen. Erkrankung und Schiffsstreik, so hat er seine Seereise aufgegeben, und wir hoffen alle zu Gott, daß er schleunigst wieder abreist; er war bis zur Unerträglichkeit nervös. Hoffentlich langen dazu seine Moneten. Auch ich brauche jetzt Ruhe; mit einem nervösen, halb abwesenden Minister kann ich jetzt meine sonstige Arbeit nicht erledigen. Genau wie beim orientalischen Seminar ging es mit Wätzolds Reformplan über die Zusammenlegung der Kunstschulen. Erst allgemeines Hosianna, beim ersten Widerstand allgemeines Kreuzige ihn! Der Landtag fiel der Exekutive in den Rücken. Trotz unserem Unannehmbar beschloß der Ausschuß einstimmig gegen uns und brachte den Antrag ohne unser Wissen gleich den nächsten Morgen ins Plenum, wo er Annahme fand, obwohl ich inzwischen beim Ministerpräsidenten war, der sich querlegen wollte. Nun soll am Dienstag im Staatsministerium beschlossen werden, daß wir uns um diese Resolution nicht kümmern. Natürlich gibt das in der Öffentlichkeit einen Mordsspektakel. Auch mit unserem Abbau im Ministerium hatte ich Schwierigkeiten wegen der Eifersucht der Ressorts, die immer meinen, ich legte sie hinein. Besonders dringend ist die Prolongierung der 65jährigen Professoren. Es sind zwischen 70 und 80. Das gibt natürlich auch neuen Krach.

 

500. 30.3.1924

Ich muß jetzt jede meiner wenigen freien Stunden nutzen, um meinen Kantvortrag zu vollenden. Natürlich steht das kurze Ergebnis in gar keinem Verhältnis zu der Breite meiner Vorstudien, aber ich habe wenigstens selbst einen erheblichen Gewinn davon. Wie herrlich wäre es, 14 Tage ganz für diesen Zweck zu haben, wie wohl jeder der professoralen Redner in Königsberg sie gehabt haben. Am Sonntagabend bin ich immer voll und da wäre es am nächsten Morgen ein Schöpfen aus dem Vollen, aber dann kommt der Tag mit seinen Forderungen und seinem eben besonders zermürbenden Dienst und abends fehlt dann der Zusammenhang und die Spannkraft. Heute habe ich wenigstens die Einleitung niedergeschrieben und den Plan entworfen, „Kant und die Bildungskrise der Gegenwart“.

  • Ich analysiere erst die Bildungskrisis in ihren Quellen und Formen, um dann demgegenüber
  • 1. Kant’s Begründung und Begrenzung der Wissenschaft
  • 2. seine tiefe Ethik als Gegenpole zu entwickeln, nicht um aufzuzeigen, inwieweit er selbst resp(ektive) seine Wirkung an der Krise schuld ist.

Dies alles auf 10 bis 15 Seiten.- Sehr viel gab mir wieder Freyer, dessen Anthaeus (mehr als Prometheus) ich zweimal genau las und eben analysierte. Viel verdanke ich auch Korff’s Geist der Goethezeit und Wust, Auferstehung der Metaphysik, und Dilthey. Dazu natürlich überall Troeltsch -.

Der Minister gottlob wieder abgereist, ich sah ihn nur einmal, er kümmerte sich um nichts. Abbau geht glatt weiter, es war aber eine entsetzliche Hetzerei zum 1. April fertig zu werden. Die sämtlichen Professoren über 65 sind vorerst für ein halbes Jahr verlängert. Inzwischen suchen wir eine definitive Lösung mit dem Finanzminister. Dieser macht uns übrigens mit der Kieler Landwirtschaft erneut Schwierigkeiten. Ich habe aber gute Hoffnung. Ich bin schon neulich mal entsetzlich deutlich geworden. Diese Behörde ist sehr schlecht, namentlich das Generalreferat ist der Aufgabe nicht gewachsen, so daß wir jetzt Helbing und Dulheuer gegen das Generalreferat stützen müssen.

 

501. 23.4.1924

(Bericht über das Kantjubiläum in Königsberg; im Zuge zwischen Berlin und Breslau.)

Von der Hinreise habe ich berichtet, dort großer Empfang mit Zylindern und Autos. Richter und ich bei Hoffmann, dem wir vorher noch schnell 500 Mark bewilligt hatten. Er hätte es sonst einfach nicht geschafft. So sind wir, d.h. diesmal ich, seiner unausgesprochenen Bitte zuvor gekommen, wofür sich rührender Weise die Frau bei mir bedankte. Wir aßen schnell zu Abend und gingen dann noch zu einem kleinen gesellschaftlichen Empfang in einem reichen Privathaus, wo Harnack wohnte. Der erste Tag begann mit langem Ausschlafen, behaglichem Frühstück, das so solenn war, daß ich sogar eine Zigarre danach rauchte. Es regnete, am zweiten Tag schneite es sogar. Der kirchliche Akt mit unmöglicher Rede des Stadtschulrats Stettiner und feiner Ansprache Harnacks, die aber beide nur der Hälfte der Teilnehmer akustisch verständlich waren, wirkte besonders durch die Kostüme und Farben wie durch das historische Milieu. Dann sprach draußen unter leise rieselndem Regen der Oberbürgermeister. Das Grabdenkmal ist würdig und schön geworden, modern, aber im Geist der hochstehenden Pfeiler, nicht in der schematischen Form gut zur gotischen Architektur des Domes passend. Danach Diner beim Kurator: beide Minister, Bludau mit Dompropst, Strunck/Danzig mit Frau, der Rektor von Danzig mit Frau und wir. Sehr anständig, aber nur ein wirklicher Gang mit Schwanz, was mir besonders gefiel. Mit dem Bischof sprach ich lange von unserm Besuch und er erkundigte sich genau nach Dir.

Dann kurze Teevisite bei Eisenlohrs und großer Empfang in den herrlichen Räumen der Stadthalle. Die Egmontouvertüre, dann Rede des Oberbürgermeisters, des RMI (Reichsinnenministers) Jarres und des Ministerpräsidenten. OBM typische OBM-Rede. Jarres desgleichen, aber mit dem ihm eigenen sehr suggestiven seelischen Pathos. Braun hatte seine Rede selbst gemacht, kunstlos und schlicht, aber die Ankündigung der ersten Baurate von 150 000 Mark – ein Erfolg von Hoffmann. – sicherte ihm einen großen Erfolg. Er meinte, die Wiedergeburt solle aus dem Geist Königsbergs erfolgen, aber nicht in schematischer Wiederholung der Freiheitskriege, sondern aus der Kant’schen Vernunft heraus, die zu dem von Kant geforderten ewigen Frieden führen könne. Es lief gut ab. Dann folgte die 5. Symphonie und dann ein köstliches Buffet, wobei nur Richter falsch plaziert war und ich mich im Raum irrte, so daß wir nur Bier statt Burgunder bekamen und wir zum Schluß den Kurator nicht finden konnten, was bei Richter einige Verstimmung gab. Ich hatte mir Jakob und Hartmann gemütlich zusammen gesessen und den Burgunder nicht entbehrt.

Den Höhepunkt bildete aber gestern der akademische Akt im Theater. Der Rektor schlicht und kurz, aber tönend, dann Boelitz, ebenfalls tönend, aber auch gut, sogar sehr gut mit großer Wirkung. Goedeke-Meyers Rede gewann sehr durch das strahlende Ethos und die schlichte Reinheit dieses natürlich etwas dünnen Mannes. Dann gründliche Frühstückspause. Nach zwei Versen Integer vitae kam ich. Wir saßen alle auf der Bühne, ein glänzendes Bild, rechts vom Katheder, auf zwei Thronsesseln der Rektor und Boelitz, links auf bequemen aber etwas weniger vornehmen Stühlen: ich, der OBM, Harnack, dahinter Seeberg Vater, Schenk und einige andere Redner. Es zog über alle Beschreibung und ich danke meinem Schöpfer, daß ich – vorerst – mit einem leichten Schnupfen davon zu kommen scheine. Meine Rede wurde aber freundlich aufgenommen und von einigen sogar als Höhepunkt bezeichnet. Du weißt, wie ich darüber denke. Ich selbst weiß, daß sie gut war, aber ich hatte auch äußerlich alle Satisfaktion. Die Begrüßungsansprache war kurz und abwechslungsreich. Oxford war offiziell vertreten, eine bewußte Geste. Im allgemeinen waren die Ausländer nicht zahlreich, 20 – 25, es fehlten die Romanen, die Schweiz und Holland. Den Schluß bildeten die Ehrenpromotionen, von denen Du gelesen haben wirst. Mein Eulogium ist sehr nett. 1. dem Redner, 2. dem Orientalisten, 3. dem Staatssekretär, dessen von humanistischen Geist diktierte Kulturpolitik die theologischen Fakultäten in schwerer Zeit erhalten habe. Mehr kann ich nicht verlangen. Ich hatte den Eindruck, als ob man mir die Ehrung wirklich gönnte. Das freut mich am meisten. Es ist immerhin ein Zeichen von sich langsam wandelnder Einstellung mir gegenüber.

Abends Bohnenessen mit Bickel als neuen Bohnenkönig und Fidelio.

 

502. 27.4.1924

Inzwischen hast Du meinen Königsberger Bericht erhalten. In Breslau wurde ich sehr angenehm überrascht, da Gragger schon auf dem Bahnhof stand …

Am nächsten Morgen stieg schon um 9 Uhr mein Vortrag, der offenbar gut aufgenommen wurde, obwohl es mehr eine Sammlung von Apercus war als ein Vortrag, aber es ging an einigen Stellen etwas in die Tiefe. Etwas amüsiert hat mich die Wirkung auf die vollständig anwesenden Mitglieder von Regierung und PSK64; ich sprach über Staat und Erziehung, begann mit einer Charakteristik des gegenwärtigen Staates und führte dann aus der Fülle der Probleme der geistigen Lage der Jetztzeit zwei Spannungsverhältnisse etwas ausführlicher aus:

  • Nationalismus und Internationalismus und
  • Nationalismus und Irrationalismus.

Neu war nur der innere Zusammenhang zwischen diesen drei Punkten. Jedenfalls war Kestenberg sehr befriedigt und seine Musikgenossen, denen meine Ausführungen offenbar gut in den Kram paßten. Dann hörte ich selbst noch den nächsten Vortrag über Kunsterziehung von Müller/Freienfels, der schrecklich kitschig anfing, aber dann doch ganz ordentlich war.

 

503. 4.5.1924

Ich beschäftige mich viel mit Abbaureklamationen und Verwaltungsreformen. Landé baut ein Gesetz über die Zusammenlegung der PSK mit den Regierungen. Er will provinzielle Oberschulämter schaffen mit von diesen detachierten Vertretungen an den Sitzen der Regierungspräsidenten. Ich bin umgekehrt für Stärkung der Regierungen, da die Betonung der Provinzen nur der Auflösung Preußens den Weg bereitet65. Da man aber die PSK wegen der Fachaufsicht nicht aufteilen kann, müssen sie m.E. dem Regierungspräsidenten der Provinzialhauptstadt, der ja in Zukunft zugleich Oberpräsident wird, unterstellt und mit den Regierungsabteilungen II verbunden werden. Ein schwieriges Problem. Landé war recht traurig und verwundert, daß ich so wenig ressortmäßig und so allgemein staatspolitisch dächte. Die jetzt projektierte Verbindung der Oberpräsidien mit den Regierungen am Orte haben den Nachteil, die bisher rein fachtechnisch aufgezogenen Regierungen zu politisieren. Natürlich will das die Sozialdemokratie, die wohl politische Oberpräsidenten, aber keine fachmäßig ausgebildeten Regierungspräsidenten zu stellen vermag.. Dabei übersieht sie vollkommen, daß sie damit die Geschlossenheit Preußens, die doch zu ihrem Programm gehört, untergräbt.

 

504. 25.5.1924

Heißer Kampf um die Schulreform mit den Universitätsprofessoren. Richert war nicht glücklich. Nach dem unglaublichen Votum der philosophischen Fakultät glaubte er nichts voraussetzen zu dürfen und langweilte so die Herren, während er sie am zweiten Tag angrobste, bis Richert und ich ihn zurückpfiffen. Spranger verdarb durch eine verärgerte Rede die Stimmung noch mehr. Gottlob mußte der Minister bald gehen, und nun nahm ich die Sache in die Hand und brachte sie, wie ich glaube, zu einem guten Ausgang. Ich und andere merkten bei dieser Gelegenheit, wie stark das Vertrauen ich mich gewachsen ist. Es war aber inclusive dem gemeinsamen Essen in der Deutschen Gesellschaft und Tee beim Minister wahnsinnig anstrengend für den Leiter …

Tags darauf von 9-12 Uhr Fortsetzung der Verhandlungen unter meinem Vorsitz, während um 11 Uhr im anderen Sitzungssaal der Minister den Kampf nach der anderen Seite (Turner- und Leibesübungsleute, Beirat unter Dominicus’ Führung) aufnahm. Um 12 Uhr machte ich im kleinen Sitzungssaal Schluß und wechselte in den großen hinüber, ließ aber Krüß präsidieren.

Das Orientalische Seminar kam nicht zur Verhandlung. Wir werden nur eine Erklärung durch Hollmann verlesen lassen, wenn die Sache nach Pfingsten drankommt.

Dann ist plötzlich die Lehrerbildungsfrage akut geworden, sie soll nächstens im Staatsministerium entschieden werden. Unerwartet kam dann noch die Neuregelung der Gehälter, aus heiterem Himmel mit all den Folgeerscheinungen, die diese Verhandlungen jedesmal für uns haben (wegen der Volksschullehrer und der Professoren). Ich selbst ging in den Reichsrat und mußte deshalb sogar mein Kolleg verkürzen. Es ist eine großartige Leistung von Luther. Notverordnung. Sonst wäre diese notwendige, aber große Bevorzugung der höheren Beamten nie durchzusetzen gewesen. Preußen stimmte im Reichsrat nur zu, wenn das Reich für Dek-kung sorge. Preußen hat keine Mittel. Gottlob ist das Reichskabinett ja nicht an die Zustimmung gebunden. Der Reichstag, der ja von Postschaffnern und Eisenbahnsekretären regiert wird, hätte dieser Regelung nie zugestimmt. Es war die letzte Möglichkeit vor dem Zusam-mentritt des Reichstages. Nun müssen die Länder nach. Ein Aufatmen geht durch die ganze höhere Beamtenschaft.

Gestern war noch eine Deputation der philosophischen Fakultät bei mir, um gegen die Zerteilung der Fakultät zu protestieren (Pompetzki, Spranger, Planck). Ich blieb fest, während Richter Kompromißpläne erörterte, während er mir vorher erklärt hatte, er bliebe nicht im Amte, wenn ich nicht festbliebe. Die Fakultät ist natürlich dagegen, doch es gibt eine Minderheit, der „Novissimi“, wie Spranger sagte: Marcks, Franke, Abert, Gragger und einige andere. Hauptgrund: man sieht sich sonst nie und kann so schön schwätzen, ideologischer Unterbau mit der These von der Einheit der hier verkörperten reinen Wissenschaft. Na, in Ideologien weiß ich Bescheid. Sie hatten jedenfalls den Eindruck, daß auch bei uns gute Gründe vor-liegen. Ich formulierte etwa so:

  1. ideologisch: nicht die philosophische Fakultät, sondern die Gesamtuniversität vertritt die reine Wissenschaft; durch Selbstbefriedigung der philosophischen Fakultät leiden die anderen Fakultäten, verlieren die Fühlung und werden von der Anwendung überwuchert.
  2. praktisch: wird die Fakultät so groß wie hier, arbeitet sie wie ein Parlament mit der ganzen bekannten Oberflächlichkeit solcher Institutionen. Ihr Votum hat deshalb für die Regierung nur noch den Wert eines einzelnen Votums, eben des Referenten. Kleine Fakultäten sind wertvoller, weil hier alle verantwortlich mitarbeiten. Die Bedeutung der Fakultäts-Voten steht im umgekehrten Verhältnis zu ihren Größen.

 

505. 29.5.1924

Gestern und vorgestern schwierige kommissarische Beratungen über die Deckung der Gehaltserhöhungen, an denen ich persönlich teilnahm, da wir die Leidtragenden sein sollen. Bekanntlich tragen wir jetzt ¾ der personellen Schullasten, ein Riesenfortschritt des VDEG gegenüber dem alten VUG. Jetzt soll rückwärts revidiert werden, so daß wir nur noch 3/5 zahlen, da die Gemeinden bei dem Finanzausgleich besser gefahren sind als die Staaten. Ich habe in schwierigen Verhandlungen wenigstens das Prinzip gerettet und eine gewisse Verteilung durchgesetzt. Das Finanzministerium wollte halb und halb teilen, was uns im Kampf um die staatliche Volksschule um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen hätte.

 

506. 1.6.1924

Seit Donnerstag ist natürlich nicht viel passiert, nur daß ich gehört habe, daß – namentlich bei einem Regierungswechsel meine Stellung bedroht sein soll. Ich bin für das Zentrum ein Hindernis zur Macht im Kultus. Die Direktoren sind schwer zu beseitigen, die Leitung wird wohl bei keiner Kombination dem Zentrum zufallen. Also will man den Staatssekretärsposten, namentlich seitdem der derzeitige Inhaber66 wegen Nichtbefriedigung der Wünsche Schlüters und Schellbergs und wegen Einberufung des nicht dem Zentrum versklavten, aber dem Zentrum zugehörigen Sondag persona minus grata geworden ist. Richter hat mir – was niemand wissen darf – eine sub sigillo von Krüß kolportierte Äußerung des Ministers wiedergegeben, wonach der Minister sich weigerte, die Amtsdauer Milkaus zu prolongieren, da meine Positi-on bedroht sei und er mir die Stelle anbieten wolle. Da auch mir von anderer Seite unzufriedene Äußerungen des Zentrums mit meiner Personalpolitik zugingen und keine andere Partei an meiner Objektivität ein Interesse hat, wird meine Herrschaft wohl bald ein Ende nehmen. Da alles heutzutage nach Partei-Arithmetik geht, bin ich ja zweifellos ein Anachronismus. Natürlich denke ich nicht daran, die Nachfolge Milkas anzunehmen. Für mich kommt nur die Professur in Frage. Ich würde wohl ohne Ressentiment ausscheiden, auch gäbe es ja noch andere Wege wieder zur Macht zu kommen, wenn mir soviel daran gelegen wäre. Aber mich reizt die Unabhängigkeit eines Berliner Ordinarius doch auch und würdig wäre diese Position gewiß. Vielleicht geht diesmal noch der Kelch vorüber, nachdem die Deutschnationalen aus der Kombination ausgeschieden und vorerst in Preußen kein Wechsel zu erwarten ist. Der Minister meint allerdings, die Sozialdemokratie wolle sich zwecks innerer Konzentration für die neuen Preußenwahlen aus dem Regiment zurückziehen. Heute ist Braun für sechs Wochen in Urlaub gefahren. Das sieht nicht gerade nach Krise aus, aber man kann nie wissen. Daß der Minister mich aber auch so kühlen Herzens jeden Augenblick opfern würde, wenn er sich auch nur die kleinste Besserung seiner Position davon erwarten darf, steht außer Zweifel.

 

507. 15.6.1924

Martha mit Gigli.67 Ich weiß nicht, ob Du weißt, wer das ist. Es ist der neue große Tenor. Anders als Caruso68; Caruso war Künstler, jeder Ton studiert und bewußt; Gigli ist ein Naturphänomen. Er singt naiv, aber mit einer Süßigkeit und Schönheit der Stimme, wie ich jedenfalls es noch nie gehört. Dabei Geschmack und Temperament, eine gewaltige Fülle noch in der höchsten Höhe, dabei mühelos und liebenswürdig, kein Schauspieler, klein, noch ohne Mätzchen, Anfang der Dreißiger. Es war ein beispielloser Erfolg. Wahre Stürme des Applauses bei offener Szene. Der schlimme Schlager „Martha, Martha du entschwandest“ wirkte wahrhaft tief und groß, mußte da capo gesungen werden, kurz, es war ein Ereignis.

Richter hatte von seinem Beisammensein mit dem Minister allerlei durch Alkohol ausgelöste Vertraulichkeiten über meine erschütterte Stellung mitgebracht und war namentlich auf Krüß geladen. Mit Sprüchen wie: „Wir haben zwei Minister, aber keinen Staatssekretär“ kann man viel Gift säen. Es stünde niemand hinter mir, auch die Sozialdemokraten nicht usw. Richter riet auch meinerseits etwas zu tun. Ich habe mich seit über einem Jahr politisch so völlig zurückgehalten (mit Rücksicht auf den Minister), daß ich allerdings nur noch sehr wenig parlamentarische Beziehungen unterhielt. Ich beschloß eine Aussprache mit Braun und mit Lauscher herbeizuführen, mich vor allem etwas häufiger im Landtag sehen zu lassen. Inzwischen ist ohne mein direktes Zutun Folgendes passiert: Die Sozialdemokratie hat Wind bekommen davon, daß das Zentrum meinen Posten ambitioniert. Drauf hat sie (d.h. König) die Sache vor die Fraktion gebracht und König wurde offiziell beauftragt, Braun, Severing und Boelitz zu sagen, daß sie dem keinesfalls zustimmen würde, daß sie vielmehr das Verbleiben des derzeitigen Staatssekretärs wünschten. Das hat mich doch recht gefreut, wenn ich auch einsehe, daß sie von allen guten Geistern verlassen sein müßten, wenn sie anders handeln würden. Nun habe ich auch eine etwas andere Position, wenn ich mit Lauscher rede. Zu dieser Unterhaltung animierte mich sehr der Abgeordnete Lönartz vom Zentrum, ein rechts-stehender Landrat, jung, frisch, Typ Morsbach, nur nicht ganz so fein, aber sehr kultiviert, galt lange als künftiger Minister des Innern, hat jetzt aber einige Schwierigkeiten im Zentrum, da er Führer des rechten Flügels ist gegen Heß und Hirtsiefer (links), während Forsch die Mitte hält. Wir haben uns seit etwa einem Jahr etwas angefreundet, d.h. wir reden gelegentlich in einer Fensternische des Hauptausschuß-Saales endlos lange zusammen und finden offenbar beiderseits Gefallen aneinander, was sich in einer merkwürdigen Offenheit äußert. Er hatte von dem Mißtrauen gegen mich noch nichts gehört, maß ihm auch wenig Bedeutung zu. Das wären so parlamentarische Wellen, die kämen und gingen. Man kann sich nun all diesem Getriebe und Geschwätz gegenüber gleichgültig verhalten, aber ich glaube, daß reale Politik verlangt, daß man sich von Sentimentalitäten frei hält und sich ganz klar macht, daß mit solchen Mitteln der Kampf um die Macht gekämpft wird. Ich dachte z. B. daran, unter Umständen jetzt den Anschluß an die Demokraten zu vollziehen. Deklariert löst man mehr Vertrauen aus, aber auf der anderen Seite gäbe ich meinen schönen unabhängigen Standpunkt auf. Auf die Dauer ist es völlig unmöglich, so neutral zu bleiben, wie ich es in diesen Jahren war. Und die Rechte wird mir doch nie trauen. Übrigens hatten Krüß und der Minister einen Abgang in allen Ehren geplant: Professur und Direktion der Staatsbibliothek = Nachfolge Harnack. Was könnte ich mehr verlangen? Die Sache ist aber noch nicht ganz akut; denn inzwischen hat Boelitz die Prolongation von Milkau um ein Jahr verlängert.

 

508. 22.6.1924

Wie reich war wieder diese Woche an persönlichem Erleben. Vor acht Tagen der kleine Baum, ein entzückender Mensch, die Illustration zu dem Bibelwort: „Wenn Ihr nicht werdet wie Kinder, werdet Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Er hat etwas vom Heiligen an sich, in seiner strahlenden Güte und Liebenswürdigkeit, seiner Reinheit und Unberührbarkeit, und doch ist er ein ganz moderner Mensch, der auch für den Katholizismus Freiheit will und die Ängstlichkeiten der Kirchenfürsten und der alten Herren in Bezug auf Schulreform und katholische Sondererziehung milde belächelt. Seine religiöse Selbstgewißheit ist einfach wundervoll und geradezu ansteckend. Wir haben uns von 1-10 Uhr ununterbrochen unterhalten und zwar war das kein Geplauder, sondern eine ganz vertiefte Unterhaltung. Ein katholischer Geistlicher, der sich einem Protestanten, wie ich es bin, so restlos offen über alle Fragen des Seelenlebens ausspricht, das ist schon etwas Besonderes. Wir haben uns pracht-voll verstanden, und er war ganz ergriffen.

Wir (d.h. Becker und Gragger. Anmerkung Wendes) sprachen einmal die deutsch-ungarische Politik durch; da bestehen gewisse Differenzen zwischen ihm und dem Auswärtigen Amt. Ich kann Dir nur sagen, daß ich Gragger einfach bewundert habe über die vollkommene Objektivität und Reife seines Urteils. Ich war von der anderen Seite vorgespannt worden und war dadurch in der Lage mitzureden. Es war eine so wundervolle Ebene der Unterhaltung und eine so vollkommene Harmonie des Denkens zwischen uns, wie man sie wohl nie zwischen Vertretern zweier Nationen findet; eine Erhebung ins Menschliche, auf die schließlich doch alles ankommt. Ich bin sehr glücklich, daß sich mein Verhältnis zu Gragger so gestaltet hat. Wir verstehen uns eben nicht nur im Menschlichen vollkommen, sondern wir berühren uns auch im Urteil und im kalten Denken so stark wie nur möglich.

Diese Woche ist nun die amtliche Vorstellung der Sozialdemokraten beim Minister erfolgt. Woldt schickte mir, als er davon erfuhr, einliegenden köstlichen Zettel.69 Der Minister sprach nachher mit mir … Ich glaube, daß ihm mein Ausscheiden in diesem Moment sehr ungelegen käme (mache ich doch jetzt die Propagandaschrift über die Lehrerbildung, wo er völlig meinen von Schwartz etwas abweichenden Standpunkt deckt, und auch in der ihn sehr beschäftigenden Schulreform sind ihm meine Beziehungen und mein Eintreten für ihn ziemlich unentbehrlich). Jedenfalls hat er mir gesagt, er habe nie an einen Wechsel gedacht und er wisse überhaupt nicht, wie das Gerücht entstanden sei; denn an ihn sei man von Seiten des Zentrums nicht herangetreten. Ähnliches hat er auch König gesagt, der mir alles genau berichtete. Ich habe ihm gesagt, ich sei parlamentarisch, wie sich beim Orientalischen Seminar gezeigt habe, deshalb so isoliert, weil ich mich seit meinem Amtsantritt völlig zurückgehalten habe; ich hätte mea sponte mit keinem Abgeordneten Fühlung genommen, hätte allerdings auf Wunsch jeden empfangen, ihm aber loyal berichtet. Den Plan mit den Demokraten habe ich aufgegeben. Ich bleibe was ich bin, werde aber etwas mehr Flankenfühlung halten. Theegarten hat mir auch alles genau berichtet; ihn hatte sich nämlich das Triumvirat Hess, Lauscher, Wildermann kommen lassen, und von ihm weiß ich auch, daß die Methoden von Hess (Vertrauensmännersystem) von den besseren Zentrumspolitikern aufs Schärfste bekämpft werden. Ich mache mir keine Illusionen, glaube aber doch, daß diesmal Hess der Vater der ganzen Sache war, vielleicht weil er hoffte, mich dadurch gefügiger zu machen. Ich schloß dem Minister gegenüber die übrigens sympathische Unterhaltung mit den Worten:

Meines Erachtens beruhe die Stärke meiner Position darin, daß ich für alle Parteien immer noch das kleinste Übel sei, da keine Partei diesen Posten einer anderen gönne70.

 

509. 29.6.1924

Da denke ich zunächst an den Mittwoch Abend; wo ich den sehr geglückten Versuch machte, Guardini und Goetsch mit Gragger und mir zu einer geistigen Einheit zusammenzuschließen. Es war ein ganz feiner Abend, leider war’s für die Veranda zu kalt, wir saßen unter der roten Lampe, nachdem uns die Gattin mit köstlichem Abendessen erquickt hatte. Guardini im großen Sessel, unmittelbar neben der Lampe; seine klaren vergeistigten Züge rembrandtisch beleuchtet, dann folgte Goetsch, nicht so gespannt wie Guardini, aber entspannt, an diesem Abend eigentümliche „Stille des Herrn“. Gragger und ich, die Alkoholiker und Nikotiniker, die wahren Weltkinder gegenüber den zwei Heiligen, bescheiden zurückgelehnt in den zwei Ecken des großen Sofas schon im Dunkeln. Vor uns auf dem Tisch Spiräen und Rittersporn aus dem Garten. Ich kurbelte langsam und vorsichtig an. Wir sprachen vom Nutzen des Aufenthaltes im Ausland, kamen zum Amerikanismus, zur Ethik und Seele der Technik und waren unvermerkt mitten in der Problemstellung der Jugendbewegung. Keiner trat stark hervor, einer warf dem anderen den Ball zu, aber es war eine starke geistige Gemeinschaft, und Guardini sprach mir beim Abschied – wir brachten ihn gemeinsam zur Bahn – seine große Freude darüber aus, daß eine solche geistige Gemeinschaft bei vier von so verschiedenen Welten kommenden Menschen eben doch möglich wäre. Gragger und ich brachten dann noch Goetsch zur Untergrundbahn, wobei die Zwei sich noch gehörig herumstritten über die Frage, ob die Verfeinerung unserer Kultur eine Wertintensivierung oder nur eine Wertverlagerung bedeute, welch letzteres Goetsch mit seiner ganzen Eigensinnigkeit (und wohl einer Spur von proletarischem Ressentiment, natürlich unbewußt) verfocht. Gragger und ich waren uns dafür ganz einig. Die Parallele mit der körperlichen Ausbildung liegt auf der Hand.

Ich will dann mal gründlich arbeiten, besonders meinen Vortrag für Elmau machen. Das Thema wurde geändert, was mich sehr freut und mir die Sache sehr erleichtert. Ich spreche jetzt über das Wesen der deutschen Universität, gemeint ist der Gegensatz zur Fachhochschule, ein Punkt, den die Amerikaner an unserer Bildung immer nicht begreifen.

Da fällt mir noch ein, daß ich Dir doch erzählen muß, wie das Berliner Tageblatt über meine und Röthes Ansprache bei der Eröffnung des Inst(itus) Jud(aicum) berichtete:

Zu dem durch seine vollendete Abgeklärtheit sich auszeichnenden Staatssekretär Becker stand der durch seine Lebhaftigkeit in Wort und Gebärde wirkende Rektor Röthe in einem pikanten Gegensatz.“

Gestern war übrigens Universitätsausflug nach Tegel, ich war zu müde, gab aber als Vorwand an, daß ich am Tage von Versailles nicht auf einen Tanz ginge, worauf Röthe mir erwiderte, diese Gründe müsse er ehren.

 

510. 6.7.1924

… gestrigen Abend … nach einem köstlichen Souper, das ich den Herren Eduard Meyer, Willhelm Schulze, Lüders, Franke, Wilken, Richter und Gragger, d.h. eigentlich zu Ehren Spenglers bereitet hatte, welch letzterer dann aber sein Herkommen verschob und nun am Mittwoch mit den gleiche Herren bei Eduard Meyer zusammensein wird. Wir sprachen über die Frage des Ethnographischen Museums inclusive Professur durch und waren nach einer feinen ganz einheitlichen, bei gutem Wein und roter Lampe geführten Unterhaltung merkwürdig einer Meinung. Ich glaube, daß an diesem Abend ein wertvolles Stück Universitätspolitik geleistet wurde.

 

511. 13.7.1924

Mittwoch war ich mit der gleichen Gesellschaft wie neulich bei mir bei Eduard Meyer zu Ehren von Spengler eingeladen. Spengler hat mir sehr gut gefallen, ein persönlich bedeutend wirkender Mensch von guten Formen und entschiedenem Format. Dazu eine erstaunliche Präsenz gelehrten Wissens aus allen Gebieten. Bester Typ Universitätsprofessor. Spricht ohne Pose meist nur von besseren Dingen oder schweigt. Ausgesprochenes Gefühl für Form, be-sonders der Hamburgischen („Nur ein Hamburger weiß einen Zylinder zu tragen; beim Berliner meint man, er kommt von einer Beerdigung, bei anderen Deutschen denkt man an Krieger- oder Kegelvereinsfeier; bei Hamburger gehört der Zylinder zum guten Anzug.“)

Wir haben mit Spengler verabredet, daß er mit unserer Hilfe ein Buch „Altasien“ schreibt, in dem die ganze Problematik der Hochkulturen Zentralasiens aufgerollt werden soll. Dieser Band ist als Einleitung zu einer Serie gedacht, in der dann Turfan- und Sanderafunde, Persien, China usw. popularisiert werden sollen, wie Tut anch Amon und die ostasiatische Kunst, die nur durch solche geschickte Veröffentlichung das allgemeine Interesse gefunden haben. All das im Zusammenhang mit der neuen Aufstellung des Kunstgewerbemuseums.

Recht nett war diese Woche auch eine Unterhaltung mit Jaeger, der als Nachfolger Bolls nach Heidelberg kommen soll, aber mit viel Geld (er hat jetzt Ministerbezüge. Anmerkung C.H.B.) sich halten ließ. Er leidet sehr unter den Bonzen und fühlt sich isoliert. Ihm fehlt neben seiner unzweifelhaften wissenschaftlichen Potenz die menschliche Kraft für den Kampf, ohne den es nun mal weder mit den Menschen noch mit den Dingen geht. Ich sagte ihm gründlich die Meinung über seine Kieler Rede, bei der einige hübsche Formulierungen nicht über das Versagen gegenüber der Hauptaufgabe entschädigen. Auch Richter erklärte sie direkt für schlecht. Es war Jaeger sehr gesund, daß er einmal auch nicht verhimmelt wurde.

Erfreut wurde ich durch einen sehr netten Brief des Ministers, den das Porsch’sche Schreiben ziemlich erregt hatte. Er ließ es mich nicht entgelten, sondern schrieb mir sehr nett und anständig. Ich nahm inzwischen auch Fühlung mit den Demokraten, indem ich Otto, der mich besuchte, in die ganzen Zentrumsintrigen einweihte. Als er mich fragte, ob die Demokraten nun auch wie die Sozialdemokraten für mich intervenieren sollten, sagte ich, diese Gefahr sei jetzt wohl vorüber, aber sie sollten gefälligst aufpassen und sich in Zukunft energischer für einen ihnen so nahe stehenden Staatssekretär einsetzen. Das versprach er mir dann auch, wie er sich übrigens daran erinnerte, daß er selbst mir seinerzeit davon abgeraten habe, sich äußer-lich zur Demokratie zu bekennen. So sei ich ihnen wertvoller. Ich hatte das vergessen, griff es aber nun sofort auf und bat ihn, in Zukunft mich energischer zu unterstützen …

(Bei einer) Nachtreise von Berlin kommt einem das alles wie eine üble Zeitungslektüre vor, und doch ist das ja mein halbes Leben. Gottlob nur mein halbes, vielleicht nur ein Viertel. Hier geht es mir sehr gut.

 

512. 26.7.1924 (aus Schloß Elmau)

Die Konferenz (Tagung der Europäischen Studentenhilfe des christlichen Studentenweltbundes) selber ist sehr nett. Lauter feine Kerle aus allen Ländern der Welt. Die Romanen fehlen, Frankreich und Belgien mit Absicht. Man hat den Eindruck, als ob die Sache im Wesentlichen eine englisch-amerikanische Veranstaltung wäre. Deutsch und englisch sind die zwei Hauptsprachen, in die alles gedolmetscht wird. Großer Kampf er Franzosenfreunde (Polen, Rumänen, Tschechen), das Französische als dritte Sprache durchzusetzen. Kompromiß schließlich: alle drei Sprachen sind offiziell anerkannt; aus technischen Gründen wird aber alles nur in deutsch oder englisch verdolmetscht, doch kann jeder französisch sprechen. Es gab nach der Statistik nur zwei Teilnehmer, die nur Französisch konnten und sie verstan-den schließlich auch Englisch oder Deutsch. Der Geist ist ganz besonders fein. Vollkommen deutsch-englisch-amerikanische Verbindung. Diese christliche Organisation steht zur Conféderation Internationale des Etudiants wie die Wirtschaftshilfe zur deutschen Studentenschaft; d.h. sie leistet enorme Arbeit, hilft und verbindet die Völker, während die CIE sich wie die deutsche Gesamtstudentenschaft in Prestige- und Verfassungsfragen erschöpft. Es kann kein Zweifel sein, wem die Zukunft gehört. Es wurde hier von den deutschen Mitgliedern mit einer gewissen Befriedigung aufgenommen, daß der deutsche Studententag in Innsbruck in letzter Stunde abgesagt wurde (wurde dann aber auf Einwirkung gerade von hier wieder angesagt). Die geldgebenden Drahtzieher haben offenbar in letzter Minute gestreikt, was ein großer Segen wäre. Was wir mit unserem Studentenrecht wollten, war etwas wie die Wirtschaftshilfe und die Fachschaften. Die politischen Rechtsparteien haben die Organisation mißbraucht und das jetzige Zerrbild der deutschen Studentenschaft daraus gemacht. Es ist köstlich zu sehen, wie das alle wirklichen Arbeiter hier deutlich empfinden. Mir war auch interessant zu hören, daß die eigentlich studentische Arbeit fast durchweg von Leuten geleistet wird, die der Jugendbewegung nahe stehen; nur an der Spitze für die offizielle Repräsentation steht ein Korporationsstudent. Studentische Massenrepräsentation ist natürlich nur mit den Korporationen zu machen, soziale Arbeit nur mit den Nichtkorporierten. Ich hielt gestern Abend meinen Vortrag, der vortrefflich ins Englische übersetzt wurde. Zu diesem Zweck hatte ich ihn in fünf Abschnitte zerlegt. Das ganze dauerte über 1 ½ Stunden und war für alle Teile anstrengend. Trotzdem war es ein sehr großer Erfolg. Zum Schluß wurde ich geradezu umjubelt. Ich habe im Anschluß an Sprangers auch Dir sehr zu empfehlende Schrift „Wandlungen im Wesen der Universität seit 100 Jahren“ sehr viel Eigenes entwickelt, was natürlich viel umstritten werden wird. Der anwesenden deutschen Jugend hatte ich aber aus dem Herzen gesprochen, aber auch die Ausländer waren sehr beeindruckt. Der Vortrag soll nun sofort auch englisch gedruckt werden.

 

513. 31.8.1924

Ich bin sehr neugierig, wie sich die politische Lage im Reich in Preußen auswirken wird. Der Minister sagte mir dieser Tage, es würde beim dem Rücktritt der Volkspartei aus der Koali-tion wohl wieder ein Geschäftskabinett geben. Da könnte ich ja dann wieder mal Minister werden. Ich lachte ihn aus und sagte, daß man dann doch lieber gleich aufhören sollte, was auch das Natürlichste ist und wohl kommen wird, wenn Ende September der Landtag wieder zusammentritt. Da der Reichstag nicht aufgelöst wurde, werden also am 8. programmmäßig die Etatverhandlungen beginnen. Vorher noch schwere Konferenzen mit Episkopat und EOK71 über die Schulreformen, die ich natürlich wieder leiten darf. Die neuen Stundentafeln sind sehr vernünftig. Hätte man sie gleich vorgesehen, wäre der ganze Krach vermieden worden. Um dieses Odium kommen wir nicht herum.

 

514. 7.9.1924

Diese Woche verflog schnell und viel Bemerkenswertes geschah nicht in ihr … am meisten Schwung entwickelte ich an zwei Nachmittagen, einmal als ich Heinrich Schulz zum Mittagessen mit Madeira eingeladen und in einer dienstlichen Unterhaltung mit Karsen. In beiden Fällen gelang es mir mein Gegenüber zu gewinnen. Ich sprach über den inneren Zusammenhänge zwischen Schulreform, Lehrerbildung und neuem Universitätsideal. Beide Herren erklärten das alles für völlig neu und waren sehr beeindruckt, Schulz hätte es am liebsten gleich in ein Reichsgesetz umgegossen. Bei Schulz war es beinahe rührend. Ein anständiger Kerl, der das Gute will, aber so schrecklich dünn und unbedeutend. Karsen ist schon ein anderer Kerl, mit dieser mir so angenehmen jüdischen Gescheitheit. Seine Bücher über die neue Schule sind sehr lesenswert, aber dafür eitel, etwas jüdisches Berlin-W in Mischung mit sozialistischem Idealismus und entschiedenem Schulreformertum. Im Grunde glaube ich, auch er anständig, mit mancherlei Verdrängungen und sozialem Ehrgeiz, aber auch mit einer guten Portion echten und guten Ehrgeizes.

Die Schulverhandlungen mit den Vertretern des Episkopats waren unergiebig, um so besser ging’s bei den Philologen, die sich zur Stoßtruppe für den Minister entwickelten. Mit dem EOK ging’s ganz behaglich bei einer Zigarre in meinem Zimmer. „Wir auch“ — damit ist alles gesagt. Wären sie allein, hätten wir sie völlig in der Hand. Die Evangelischen ahnen nicht, wie sehr sie die Zeit und Gelegenheit mißverstehen, wenn sie nichts Besseres zu tun wissen, als die Katholiken zu kopieren.72

 

515. 11.9.1924

Am Dienstag hielt ich eine große Rede im Ausschuß, 45 Minuten über Lehrerbildung. Es war einmal wieder wie in alten Zeiten eine Rede mit Schwung und in einem großen Rahmen. Den Auszug für die Presse (halb Benecke-Becker, halb nur Becker) lege ich Dir ein73. Natürlich gibt das nur ein vollkommenes Bild. Aufnahme bei der Rechten sehr gut, bei der Linken Enttäuschung wegen der politisch unvermeidbaren Konfessionalisierung. Mein Ziel ist doch Mischung des Rationalen und Irrationalen zu einem neuen Bildungsideal74, die aufklärerische Linke wertet nur den Intellektualismus, Zentrum und Deutschnationale haben aus ihrer Ideologie heraus Verständnis für meine Forderungen, ohne damit zu ahnen, daß sie damit den neuen Geist in ihre feste Burg herein lassen. Am erfreulichsten war nur, daß das ganze anwesende Haus (Generaldebatte) mal wieder merkte, daß der Becker noch nicht verkalkt und vertrottelt ist.

Das Zweite war ein erneuter Besuch von Barlachs Armen Vetter im Schauspielhaus … doch ein ganz fabelhaftes Stück, das bedeutendste seit der Revolution. Du mußt es sehen, wenn Du’s noch nicht kennst. Das geht im Menschlichen bis auf die Knochen. Kein Mensch wagte zu klatschen, den ganzen Abend nicht. Harro meinte, es wäre wie King Lear, das Menschliche wirke so stark, daß man gar nicht auf das Künstlerische achten könne.

 

516. 21.9.1924

Die TagungJugend und Bühne“ verlief ausgezeichnet. Der Hauptredner des ersten Tages war Goetsch, sprach eine Stunde und hatte großen Erfolg. Seine Rede war eine seltsame Mischung von Historizität und Radikalismus, aber durchaus echt. Er ist eben in einer Periode des Übergangs, voll Skeptizismus gegen die Pädagogik. Es ist unehrfürchtig, einen Menschen erziehen zu wollen, d.h. ihm vielleicht wesensfremde Kategorien, Ideen usw. aufzwingen zu wollen. Ich selbst sprach nur einleitend, daß wir bei der Bühne nicht an das Publikum, sondern an die Spieler dächten und daß das Problem der Tagung sei, der Jugend zu helfen, im Schauspiel Ausdrucksformen ihrer Selbst zu finden. Die theatralischen Darbietungen waren zum Teil glänzend, zum Teil sehr konventionell, stellenweise platzten die Gemüter aufeinander, aber das war schließlich der Zweck der Übung. Nohl sprach gut über das Jugendspiel im Rahmen der kulturellen Gesamtsituation. Er wies nach, daß es die gleiche Bewegung wie Sturm und Drang ist. Briefe des jungen Herder könnten von Goetsch geschrieben sein. Immerhin ist Nohl leider auch schon ein Bonze, nicht ganz so schlimm wie Spranger. Er kam zu seinem Vortrag und reiste unmittelbar wieder ab, ohne sich um die Tagung zu kümmern. Das ist das Verhältnis unserer Professoren zum Leben.

 

517. 27.10.1924

Du wirst Dich über die plötzliche Fahrt nach Frankfurt (Main)gewundert haben. Aber der Minister sagte ab und ich mochte die doch immerhin erhebliche Jahrhundertfeier des Physikalischen Vereins nicht gern Krüß überlassen, zumal die Frankfurter mich persönlich dringend gebeten hatten. Es war das übliche Essen und Trinken. Bei Kotzenberg einfach schlemmerhaft mit amüsantem Geplänkel Haenisch – Krüß bei Tisch. Ich neben der Hausfrau und dem ganz köstlichen Begründer des Deutschen Museums sitzend. Morgens die übliche Feier, 12 Ansprachen und eine Festrede abends. Großes Festessen von 300 Personen mit Damen im Frankfurter Hof. War meine Morgenansprache feld-, wald- und wiesenmäßig, so gab ich mir abends zu einer großen Rede auf das Vaterland sehr viel Mühe, ich hatte einen guten Tag und die Rede kam mit großem Schwung heraus. Ich glaube, Du würdest Dich auch gefreut haben. Jedenfalls war der Eindruck stark. Solche allgemeinen Reden liegen mir doch am besten. Ich schloß mit einem Vergleich: Das Vaterland ist wie eine eherne Glocke: vivos voco. Nur wenn die Lebenden sich rufen lassen, wird das fulgure frango möglich

Für ähnliche Anlässe ist dem Herrn Kurator75 dies Rezept zu empfehlen – gottlob bin ich auch ein Exminister, sonst würdest Du wohl kaum mit mir verkehren.

Jarres scheint aber doch auszufallen, wie ich von Richter höre. Wer außer Kanitz und Boelitz kommt, ist mir auch unbekannt. Ich bedauere nur, daß ich diesen großen Tag im Hause Wende nicht miterlebe. Nach Frankfurt ließ mich der Minister sofort fahren, zu Dir aber will er natürlich selber. Ich hatte schon leise zu hoffen gewagt, daß er mich auch in Kiel um seine Vertretung bitten würde …

Ich habe vorigen Montag mit dem Attachékurs begonnen unter Assistenz der zuständigen Referenten. Ich beginne mit Faschoda und arbeite durch reine Fragen die ganze Politik Englands und Frankreichs bis zur Entente heraus. Es war sehr anstrengend, ging aber gut und ergab trotz dem Frage- und Antwortspiel ein Bild. Morgen werde ich’s ebenso mit der russischen und deutschen Politik machen.

 

518. 2.11.1924

… machte dann in einigen ruhigen Stunden meinen Elmauer Vortrag druckfertig, der zum Schluß noch erhebliche Lichter aufgesetzt erhielt, wenn ich auch andere Gedanken für später zurückstellen mußte. So habe ich die in Religion, Volk und Arbeit liegenden Gemeinschaftsideale nicht weiter herausgearbeitet, auch darauf verzichtet, auf Schelers neues Buch „Soziologie des Wissens“ einzugehen. Dies Buch hat mich namentlich in seinen (übrigens nicht von Scheler geschriebenen) Schlußkapiteln außerordentlich beschäftigt. Du wirst gar nicht umhin können, die Schlußkapitel für Dein Kolleg zu lesen. Ich will Dir das Buch zu Weihnachten schenken. Wenn Du es schon vorher brauchst, so laß es mich wissen. Ich bin anderer Meinung wie der Autor, aber fand es doch fabelhaft interessant, geradezu aufregend. Diese Lektüre war der stärkste sachliche Eindruck der Woche.

Übrigens verlebte ich eine fabelhaft ruhige Woche, ich war alle Abende zu Haus, kam aber vor Akten nur wenig zum Elmauer Vortrag und gar nicht zum Islambuch. Das muß, wenn der Vortrag fertig ist, in der nächsten Woche werden. Auch heute Abend muß ich noch für die Attachés ochsen. Morgen soll das Meerengenproblem und die deutsche Orientpolitik behandelt werden. Dabei gibt es nächste Woche mancherlei Störungen; Montag mittags und abends Grenzlanddeutschtum mit zwei Essen in der Deutschen Gesellschaft, Mittwoch ein Vortrag über Islam als Weltanschauung in der Lessinghochschule (reiner Gelderwerb), außerdem am gleichen Tag Graggers Geburtstag. Ferner kommt meine Frau zurück, dazu die ganze Woche Ministervertretung. Es ist schrecklich. Ich bliebe jetzt so gern mal eine Woche daheim, alle meine wissenschaftliche Pläne ausreifen zu lassen. Am 15.-17. November kommt dann Vortrag in Düsseldorf und dito Godesberg. Wo soll man da Band II vollenden?

 

519. 9.11.1924

Ich habe inzwischen in Minoritätenschutz gemacht. Die Auslandsdeutschen Europas haben vor zwei Jahren eine Organisation geschaffen, die zum ersten Mal ihre Tagung in Berlin hatte. Es war sehr interessant mit den deutschen Abgeordneten in Polen, Ungarn, Rumänien Dänemark usw. – vertreten waren 11-12 Länder – zusammen zu sein. Das Auslandsdeutschtum ist erwacht. Mir ist es sicher, daß diese 10-20 Millionen Deutsche in Europa außerhalb unserer Grenzen dazu bestimmt sind, der deutschen Außenpolitik eventuell auch im Völkerbund den Weg zu weisen. Die Lösung des Osteuropaproblems ist m.E. nur unter deutscher und ungarischer Führung möglich. Hier liegt eine unserer größten Aufgaben. Montag saß ich von 1 Uhr mittags bis 2 Uhr nachts in der Deutschen Gesellschaft mit diesen Herren zusammen, nur unterbrochen von meinem Attachékurs.

 

520. 21.12.1924

In Karlruhe (Thoma-Feier) war es sehr nett. Ich wurde am Bahnhof von Schwörer abgeholt, in das alte schöne Repräsentationshaus gebracht und bewirtet. Dort fand nach der Feier auch das Essen statt; von auswärts noch Jarres, Bazille. Ich saß bei Tisch neben Hellpach, der als Staatspräsident gut repräsentierte. Wir sprachen davon, daß wir es in unserer Jugend- und Dozentenzeit niemals hätten träumen lassen, noch einmal gemeinsam in dieser Form Baden und Preußen zu vertreten.

Montag früh war ich in Berlin zurück, abends „Die Rose vom Liebesgarten“ (von Pfitzner), altmodisch, fast unerträglich kitschig, lauter Wagnermotive, sehr anstrengend. Dienstag großer Opern- und Theatertee beim Minister. Ich sprach lange mit Arndt-Ober, Ebert, der Straub, der Schön usw. Es war besonders nett durch die Menschen, bei etwas mangelhaftem Arrangement. Danach ein völlig verfehlter Abend in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Der Vortrag dauerte (sehr langweilig, Prandl!) bis ½ 11 Uhr, so daß der Minister, der auf eine Rede präpariert war, ausriß und ich dann eine Antwort an Harnack improvisieren durfte. Ich fuhr mit Schmidt-Ott und Schumacher mehr tot als lebendig heim, hatte dabei aber gewisse Pharisäergefühle …

Ich will die vier Feiertage, die es diesmal gibt, gründlich ausnützen. Am 2. Januar abends fahre ich dienstlich nach Holland, um den holländischen Orientalistenkongreß mitzumachen und mit Massignon und Sir Thomas Arnold die Wiederaufnahme der internationalen Orientalistenkongresse vorzubereiten.

Am 7. (Januar) bin ich zurück. Am 8. spricht hier Gragger, am 15. ich in Leipzig vor der Studentenschaft über das Themas „Vom Sinn des akademischen Studiums“, ein Parallelthema zu meiner kleinen Schrift; diesmal nicht vom Standpunkt der Professoren sondern der Studenten. Am 12. Februar soll ich dann in Zürich, am 6. März in Basel sprechen. Vorher muß unbedingt Band II fertig sein.


Regierungsumbildung in Preußen. Rücktritt Boelitz’


521. 11.1.1925

Über mir schlägt mal wieder die Arbeit zusammen. Du wirst gelesen haben, daß ich mal wieder das Ministerium verwese. In dieser Krisenzeit legte ich aber Wert darauf, nicht als halber Minister zu gelten, sondern Braun hat auf Webers und meinen Wunsch die offizielle Leitung beider Ministerien übernommen, so daß wir nur ihm, nicht dem Landtag staatsrechtlich verantwortlich sind., was namentlich für Weber, der sowieso gehen will, eine unmögliche Zumutung war.

Die politische Lage ist schwer erträglich. Die deutschnationale-volksparteiliche Haltung bei der vaterländischen Kundgebung im Landtag wegen der Kölner Zone, die ich auf der Minis-terbank miterlebte, war das Schlimmste und Beschämendste, was ich je im Parlament erlebt habe. Die Haltung der Volkspartei, die an allem schuld ist, erledigt diese Partei in meinen Augen für alle Zeiten.. Du wirst ja nun wohl am meisten an meinem persönlichen Schicksal interessiert sein.. In der Zentrumspresse geht ein Kesseltreiben gegen das Kultusministerium los, das offenbar – es wird nicht offen gesagt – Herrn Hess auf meinen Posten führen soll. Es ist allerdings unerträglich, daß von acht leitenden Stellen keine und von 29 Ministerialrats-stellen nur sieben durch Katholiken besetzt sind. Außerdem liegt ein Urantrag Porsch vor, die Schulreform zu sistieren bis Vereinbarungen mit allen Ländern getroffen seien –also volle Sabotage. Da muß ich zuvorzukommen versuchen. Ich sprach mit Richter und Landé und war dann gestern Abend bei Braun, der mir volle freie Hand zu Verhandlungen mit dem Zentrum erteilte. Ich werde dem Zentrum anbieten:

  • 1. die Stelle von Jahnke (U II Höhere Schulen). (Jahnke soll sich am Tage meiner Betreuung seine Pensionsbezüge haben ausrechnen lassen).
  • 2. Die Stelle von Klotzsch (beide können ohne Schaden leicht durch bessere Kräfte ersetzt werden).
  • 3. eventuell die durch Schwarz’ Rücktritt frei gewordene Ministerialratstelle.
  • 4. Konzession des Canisius-Kollegs, d.h. Zulassung neuer privater höherer Lehranstalten konfessionellen Charakters (überdies nach der Verfassung gar nicht zu verhindern, nur bisher von Landé sabotiert, der aber jetzt selbst dafür ist; ich halte diesen Auspuff zur Verhinderung der Konfessionalisierung des gesamten höheren Schulwesens für unerläßlich).
  • (5.) Als Gegenkonzession kommt die Erhaltung des evangelischen Staatssekretärs und die Schulreform in Frage.
  • (6.) An Klotzsch’s Stelle ein katholischer Schulmann, vielleicht Abgeordneter Gottwaldt gegen Niederlegung seines Mandats, ein verständiger, wirklich sachverständiger Mann

Schwieriger ist der Ersatz Jahnke. Man wird einen Zeloten präsentieren (Göcking). Wir wollen versuchen gegen das Zugeständnis eines strammen Zentrummannes bei U III76 und in Anbetracht von Schellenberg und Metzner etwa Sieburg oder Wende durchzusetzen, die aber nicht als voll gelten und von denen Wende als Jurist gewisse Schwierigkeiten mit der Philologenschaft bedeuten würde, sonst eventuell Metzner. Es kämen auch Lönartz oder Lammers als Juristen in Frage. Vielleicht aber geht das Zentrum auf’s Ganze und beseitigt mich. Ich habe Braun – ganz abgesehen von meiner Person – darauf hingewiesen, daß das für alle freiheitlich Gesinnten und den Protestantismus unerträglich wäre, da ein Zentrumsmann ständig bleiben und nie wieder zu beseitigen wäre. Er sah das ein. Ich will nun noch mit Boelitz und den Demokraten sprechen. Boelitz hat mir beim Abschied sehr anständig gedankt und gesagt, er würde auch öffentlich sagen, daß er mit mir nie Differenzen gehabt hätte. Dienstag wird er sich offiziell verabschieden. Die Sozialdemokraten sind offiziell bei mir gewesen, daß ich im Fall meiner dauernden Beauftragung unter keinen Umständen Krüß mit meiner Vertretung beauftragen möchte. Die Position hat er sich sowieso bei mir lange verscherzt gehabt.

Am Mittwoch kommt dann die große politische Aussprache. Braun hat mir vertraulich gesagt, daß er natürlich zurücktreten würde, daß er es aber für einen Unfug erachtet habe, das gleiche Schlamassel wie im Reich auch in Preußen eintreten zu lassen. Es sei leichter eine Regierung zu zerschlagen als eine neue wieder aufzubauen. Richter und Boelitz sind sehr contre coeur ausgetreten. Die Politik der Partei unter dem Diktat der Industrie und der Provinz ist heller Wahnsinn77. Eine Rechtsregierung geht natürlich ebenso wenig wie eine Linksregierung und das preußische Zentrum, noch mehr als das des Reichs, ist stramm links. Ich glaube auch nicht an ein Lutherkabinett; es wäre die verschleierte Reaktion, alias Bürgerblock. Das Reich kann nur existieren mit einem Kabinett ohne Deutschnationale und ohne Sozialdemokraten, die aber beide je nach den Vorlagen für das Kabinett stimmen müßten. Sonst kommt bestimmt ein Kabinett Wirth, was überhaupt nach außen das Beste wäre. In Preußen ähnliche oder große Koalition. Hoffentlich sind wir am Sonntag klüger.

In Leyden war’s ganz reizend. Snouk hatte mich, Sir Thomas Arnold und Massignon bei sich logiert. Massignon mußte im letzten Augenblick aus Gesundheitsgründen abtelegraphieren. Trotzdem war’s ganz famos. Hier ging gleich der Schlamassel los.

Ich halte Donnerstag in Leipzig einen Vortrag über das Wesen und Sinn des akademischen Studiums.

 

522. 18.1.1925

Es ist nämlich in diesen Tagen so viel passiert, daß ich es kaum alles erzählen kann. Deshalb nur die große Linie der Verhandlungen über die Nachfolge Boelitz!

Zunächst sprach ich mit dem Vorstand der Demokraten Schreiber und Otto. Sie wollte ich ebenso wie die Sozialdemokraten mobil machen, daß sie den Staatssekretärsposten gegen das Zentrum unter allen Umständen verteidigen müßten. Bei dieser Aussprache sagte mir Schreiber, sie freuten sich sehr über meine Anregung; denn sie hätten schon selbst mit mir sprechen wollen. Das Ministerium würde voraussichtlich ihnen zufallen und da wäre natürlich auch mein Name genannt worden. Sie verlangten nur eine energische republikanische Politik gegenüber Schule und Universität und eine weitgehende Veränderung in den leitenden Stellen des Ministeriums. Der Skalp von Krüß und Nentwig78 wurde gefordert. Ich redete ihnen gut zu, sie sahen ein, daß dem Zentrum Konzessionen gemacht werden müßten; ich sagte, daß ich nicht noch einmal für Wochen oder Monate Minister werden wollte; ich müsse im Ministerium als Staatssekretär erhalten werden. Selbst wenn es für das Zentrum schwer erträglich sei: ich unter einem demokratischen Minister und unter mir Kaestner und Menzel, der von den Sozialdemokraten als Nachfolger designiert ist. Die Aussprache war sehr vertrauensvoll. Ich hörte nachher von Otto unter vier Augen, daß er eine Ministerkandidatur abgelehnt habe (die Aufgabe sei ihm zu heikel und zu schwer), daß man nun an Schreiber denke, der aber dem ganzen Aufgabenkreis völlig fernstehe. Deshalb der Gedanke an mich, da kein anderer Kandidat vorhanden sei. Im ähnlichen Sinn sprach ich mit König und Woldt, und König berichtete mir, der Anschlag auf meinen Posten wäre abgeschlagen. Die Sozialdemokratie habe bei den Verhandlungen erklärt, meine und Kaestners Stellung wäre außer Diskussion. Das Zentrum schiene sich mit Jahnkes Nachfolge abzufinden, eventuell noch U IV (Pflege der Kunst, auch Staatstheater). Die Sozialdemokratie wolle Krüß durch Wende ersetzen. Ich erklärte das für sehr schwierig, da ich fürchtete, daß das Ausscheiden von Richter zur Folge haben würde. Dann kam die große Überraschung – eine lange Unterhaltung mit Lauscher und Wildermann. Das Zentrum d.h. der Fraktionsvorstand bietet mir in aller Form das Ministerium an. Man sähe allerdings ein, daß es mir nicht zugemutet werden könne, für ein paar Monate Ministerschaft ein baldiges völliges Ausscheiden einzutauschen. Das Kabinett Braun würde voraussichtlich später durch ein Rechtskabinett ersetzt werden. Dies könne nur mit Hilfe des Zentrums zustande kommen. Sie wollten mich verpflichten, mich auch in dieses neue Kabinett mit zu übernehmen. Boelitz werde nie wieder kommen; er habe bei allen Parteien ausgespielt. Dem Zentrum, das selbst nie das Ministerium beanspruchen könne, sei ein sozialdemokratischer Minister ebenso unerträglich wie ein liberaler im Stil von Boelitz. Das Zentrum wolle das Ministerium am liebsten unter mir neutralisieren. Natürlich müßte dann ein Katholik Staatssekretär werden. Es entspräche der Gerechtigkeit, daß der erste Mann im Haus immer evangelisch, der zweite dann aber auch immer Katholik sei. Sie würden keinesfalls einen Parlamentarier präsentieren, (Kandidatur Hess wäre nie in Frage gekommen), sondern einen geschulten Verwaltungsjuristen. Ich machte sofort darauf aufmerksam, daß ich als Parteiloser nicht die Puppe in der Hand eines allmächtigen Zentrum-Staatssekretärs werden wolle, aber ich hatte doch das Gefühl, als führte mich Satan auf einen hohen Berg und zeige mir alle Herrlichkeit der Welt; denn die Ver-Geßlerisierung des Kultusministeriums war ja immer mein Ziel. Die Herren boten mir Bedenkzeit an und Lauscher schloß mit Bezug auf den Anfang der Unterhaltung (über Porsch’s Brief an Boelitz mit dem Mißtrauensvotum gegen mich), ich möchte aus diesem Angebot ersehen, mit welchem Grad von Mißtrauen mir das Zentrum gegenüberstehe.

Den nächsten Tag( am Sonnabend) sprach ich ganz offen über dieses Angebot mit den Demokraten. Sie waren sehr überrascht, erfaßten aber sofort ihren parteipolitischen Vorteil, da ihnen auf diese Weise ein zweiter inoffizieller Kabinettsminister zufalle; denn sie hatten durch unsere offene Aussprache großes Vertrauen zu mir gefaßt. Sie rieten mir, nun ganz sicher der Partei nicht beizutreten. Nur der stramme Zentrums-Staatssekretär erschien ihnen unerträglich. Vielleicht wäre das Zentrum zu haben für einen Katholiken als Staatssekretär, der nicht Zentrumsmann sei, wenn ihm außerdem ein strammer Zentrumsmann als Nachfolger Jahnkes zugebilligt wäre. Wieder tauchte die Kandidatur Wende auf. Das wäre ihnen und den Sozialdemokraten recht und doch vielleicht für das Zentrum erträglich. Sie sehen nämlich mit mir ganz klar, daß eine Ablehnung des Angebots dazu führen könnte, daß nach einer kurzen demokratischen Herrschaft beim Eintritt eines Rechtskurses mit dem Minister auch ich verschwinden könnte und daß dann das Zentrum als Kaufpreis für die ohne es unmögliche Rechtsblockbildung von den Deutschnationalen ohne jede Hilfe den Staatssekretärsposten eingeräumt bekommen würde. Ob es unter diesen Umständen nicht richtiger wäre, mich als dauernden Minister zu etablieren. Ein Staatssekretär des Zentrums würde, solange ich Minister bin, ja auch schwer aufkommen. Natürlich arbeitet das Zentrum auf weite Sicht.

Die gleichen Gedanken besprach ich dann mit König, der durch Hess bereits orientiert war und den Gedanken mit Bezug auf unsere frühere Verabredung zunächst ablehnte. Als ich ihm obige Gedanken entwickelte, wurde er doch stutzig und meine, mit Wende ja, sonst sei es aber doch sehr riskiert, zumal er einen Rechtsblock für unmöglich halte. Es werde, wenn Braun jetzt mit der kleinen Koalition bleibe, sicher bald im Reich und Preußen die große Koalition folgen. Jedenfalls wird aber bei den Verhandlungen zwischen den Parteien diese Frage eine Rolle spielen und für Dich kann es, wie die Dinge auch laufen, eine große Genugtuung sein, daß Du für die maßgebenden Linksparteien als einzig möglicher katholischer Staatssekretär nach mir in Frage kommst. Es scheint, daß Woldt Dein Impressario gewesen ist, allerdings als Nachfolger von Krüß, gegen den Woldt eine starke Hetze bei allen Linksparteien inszeniert hat. Sein Kredit ist so minimal, weil man ihm Charakterlosigkeit vorwirft. Ich habe zunächst zum Guten geredet, aber Dein Brief hat mich doch sehr entscheidend beeinflußt, so daß ich ihn wohl werde fallen lassen. Ich warne nur allseitig, jetzt nicht zu radikal vorzugehen, weil dann bei einem Rechtsblock der unvermeidliche Rückschlag erfolgen müsse. Übrigens wird Richter als Leiter von U I (Universitäten) unschwer durchzusetzen sein.

Als ich all diese Neuigkeiten Richter bei Tisch unvorbereitet versetzte, war er sichtlich erschüttert. Heute gestand er mir, daß er in diesem Augenblick, was ihm sehr selten passiere, das erdrückende Gefühlgehabt habe, der Lage geistig nicht gewachsen zu sein. Heute behauptet er ganz klar zu sehen, er will mir aber erst morgen seine Ansicht verraten. Ich vermute, daß er unter Kautelen für Annahme des Zentrumplanes ist.

Ich bin noch nicht so weit; denn ich glaube, daß es ein Vabanquespiel ist. Allerdings ist das Risiko, ob ich ja oder nein sage, ziemlich gleich. Wird jetzt Schreiber Minister, so wird er eine hemmungslose Kampfpolitik betreiben und mich dadurch restlos mitkompromittieren. Kommt der Rechtsblock, bin ich bestimmt erledigt. Auf der anderen Seite mache ich mir kein X für ein U vor, daß das Zentrum nur den Staatssekretärsposten erstrebt, der ihm – da es bei jeder politischen Kombination ausschlaggebend ist – nie wird entwunden werden können. Da nun das Zentrum den Posten aber will, ja wollen muß, wäre es verkehrt, ihm die Notwendigkeit aufzuerlegen, den Posten im Kampf zu erzwingen. Bekommt es ihn unter der Auflage einer ständigen demokratischen Ministerschaft und unter Mitwirkung bei der Auswahl der Person durch die Linke, sind m.E. alle Garantien gegeben, die bei der allmächtigen Stellung des Zentrums überhaupt denkbar sind.

Was nun mich persönlich betrifft, so kann ich nicht ewig Staatssekretär bleiben.79 Für den Staatssekretär ist es viel peinlicher sich alle halbe Jahre an einen neuen Minister zu gewöhnen als für einen Ministerialdirektor. Nun bin ich doch schließlich keine geborene Adjudantennatur. An Boelitz habe ich mich schwer gewöhnt, aber am Schluß war doch ein leidlicher modus vivendi gefunden und unsere beiderseitigen Reden beim Abschied am Dienstag waren von einer allseitig auffallenden persönlichen Wärme. Auch von seiner Seite. Er hatte auf die Dauer doch schließlich erkannt, daß ich eben doch sein bester und loyalster Berater gewesen war. Das hat er privat und öffentlich in sehr anständiger Weise zum Ausdruck gebracht. Der Schluß war also sehr harmonisch. Aber doch schon unter ihm gab es Reibungen, ich bin ja nicht überempfindlich, aber mir lag die zweite Stelle doch manchmal nicht. Wenn ich nun an den mir menschlich nicht unangenehmen, aber völlig unsachverständigen und persönlich als taktlos verrufenen Schreiber denke, wird mir etwas bang, namentlich wenn ihm in wenigen Monaten eine nee unbekannte Größe folgen sollte, und der alte Tanz von neuem begonnen werden muß mit all den Begleitumständen eines Wettlaufs um die Gunst des neuen Herrn und immer wechselnden Einflüssen von außen. Kann man dann ein Ausharren von mir eigentlich erwarten? Natürlich weiß ich, was ich der Sache und den von mir zusammengebrachten Menschen schuldig bin und oberste Parole soll mir sein, dasjenige zu tun, was mich noch mit der größeren Wahrscheinlichkeit für einige Jahre von maßgebenden Einfluß bleiben läßt. Hätte ich die Gewißheit drei bis Jahre Minister zu leiben, würde ich ja sagen. Ewig kann ich auch nicht Staatssekretär bleiben. In drei bis fünf Jahren wäre ich wohl auch als solcher aufgebraucht. Dann wären auch die wichtigsten Aufgaben gelöst, die ich begonnen. Dann wäre auch das historische Bild meiner Tätigkeit abgeschlossen und ich doch noch jung genug, im Rahmen der Universität etwas zu leisten. Den endgültigen Abgang nähme ich lieber als Minister denn als Staatssekretär. Eine zweite Rückkehr auf den Staatssekretärsposten ist politisch und menschlich ausgeschlossen. Deshalb glaube ich, daß ich richtig tun würde anzunehmen unter der Voraussetzung daß nicht nur das Zentrum sondern auch die Sozialdemokraten und Demokraten meine Ernennung wünschen und damit einverstanden sind, daß ich auch in einem Rechtskabinett bleibe, ohne dadurch kompromittiert zu werden. Ob man schon überall einsichtig genug ist, den großen Vorteil für die Demokratie zu erkennen, der in der Neutralisierung des Kultusministeriums unter meiner Leitung läge, scheint mir zweifelhaft, aber vielleicht gelingt oder richtiger schenkt mir ein Gott die Lösung dieses riesigen Problems. Sie ist nur möglich, wenn mir die drei Parteien ihr Vertrauen bewahren; deshalb verkaufe ich mich keiner und beabsichtige nur ja zu sagen, wenn sie alle einverstanden sind; denn dem Zentrum kann ich nur ein Gegengewicht gegenüberstellen, wenn ich mich jederzeit auch auf die Linksparteien stützen kann. Im Augenblick wird von allen Seiten mit mir gerechnet und ich habe für den Moment fast mehr Vertrauen wie in alten Zeiten. Ich wage nicht zu glauben, daß sich meine Sachlichkeit durchgesetzt hat. Es sind die Umstände und der gegenseitige Neid, die mich wieder Mal in den Vordergrund treten lassen. Vielleicht bin ich doch in drei Monaten Mitglied der philosophischen Fakultät. Ich habe den Glauben, daß mein fatum mich doch den Weg führen wird, der mir bestimmt ist.. Du siehst aus all den Verhandlungen, daß ich die Hände nicht in den Schoß lege und meinen Verstand und Willen nicht ausschalte, aber schließlich geht es doch, wie’s gehen muß. Vor meinem nächsten Sonntagsbrief wird sich’s wohl entschieden haben. Ich bin sehr ruhig und die heutige Abreise von Gragger beschäftigt mich – ehrlich gesagt – innerlich mehr als die ganze Ministerkrise. Beim zweiten Mal ist es keine Erschütterung mehr, und es gehe wie es mag, die Wissenschaft habe ich immer im Hintergrund.

… Gestern sprach ich bei der Festsitzung der Lessinghochschule vor einem Vortrag von Scheler, der ihn für mich für Berlin unmöglich gemacht hat. Am Donnerstag sprach ich in Leipzig. Es war riesig nett. Ich fand ein rein studentisches großes Publikum und freute mich über das Interesse und den Beifall. Abends lange mit Litt und den führenden Leuten der Studentenarbeit zusammen

 

523. 24.1.1925

Deine Zustimmung war mir sehr wertvoll. Sie vollendete die Einheitsfront meiner Freunde: Richter, der sich genug darüber wundern konnte, daß Du die gleiche Meinung hattest, auf die er bei sich nicht schlecht stolz war, Benecke, Landé, Gragger, Leist, lauter selbständig urteilende Leute. Auch König und Woldt ließen sich bekehren und die Demokraten Schreiber und Otto, mit denen ich verhandelt hatte. Aber die Fraktionen sind anderer Meinung.

  • Einmal trauen sie dem Zentrum nicht über den Weg. Es sei nur ein Mittel zu meiner Beseitigung. Gewiß, Wende wäre allen recht, aber er würde doch bei erster Gelegenheit durch einen strammen Zentrumsmann ersetzt.
  • 2. sind sie der Meinung, daß das Odium, die Staatssekretärsstellung dem Zentrum auszuliefern, der Rechten überlassen bleiben müsse.

Welch wunderbarer Agitationsstoff für die Linke, während man offenbar jetzt die Kritik der Rechten fürchtet, da es als Verschacherung ausgelegt würde. Daß diese gleiche Kritik einsetzen wird, wenn jetzt zwei Ministerialdirektorstellen dem Zentrum zufallen, hält man offenbar für unerheblich. Man will mich also unbedingt auf meinem Posten erhalten, so daß das Zentrum kaum seinen Willen durchsetzen wird und die schöne Idee der Geßlerisierung des Kultusministeriums wieder einmal begraben ist. Im Augenblick ist also keine Gefahr, daß ich Kultusminister werden könnte.

Ob durch den Rücktritt Brauns, den ich auch für unvermeidbar hielt, wie Dir Benecke geschrieben haben wird, die Situation sich verschieben wird, ist natürlich noch nicht zu übersehen. Ich glaube im Bezug auf mich kaum; denn leider gibt es auch keinen protestantischen Ersatz für mich, der unmittelbar einleuchtet – oder weißt Du einen? Ich wäre jedenfalls in Verlegenheit, einen zu benennen. Jedenfalls bin ich neugierig, wie man die Preußenkrise lösen will. Das Zentrum ist zu verärgert (und kann auch mit Rücksicht auf den linken Flügel der Reichstagsfraktion nicht anders), als daß ein Rechtsblock in Preußen möglich wäre. Ohne Zentrum ist aber die Rechte zu schwach. Es bleibt also nur ein Übergangskabinett mit zwei Sozialdemokraten, 1-2 demokratischen Ministern und einem Rest von Fachministern. Vielleicht würde die Volkspartei ein solches Kabinett tragen. Jedenfalls hat das Zentrum jetzt alle Trümpfe in der Hand. Schade, daß die Linksparteien keinen Staatsmann haben, der stärker ist als der Parteiargwohn und der Parteidogmatismus. Ich habe übrigens bei den Verhandlungen Lauscher offen gesagt, daß man auf der anderen Seite sein Angebot an mich nur als Finte ansähe mich dauernd kaltzustellen. Ich glaube, daß er es ehrlich meint, und auch Lönartz (jetzt bête noire), mit dem ich persönlich näher stehe, sagte mir, daß es wirklich ehrlich gemeint sei. Ich glaube auch, daß das wirklich kluge Zentrum in seinem eigenen Interesse ein Dauerministerium Becker lieber sehen muß als irgendeine andere Kombination, wenn meine loyale Zusammenarbeit mit einem ihrer Vertrauensleute gewährleistet wäre. Aber die Taktik und die Angst vor der rücksichtslos infamen Kritik der Gegenseite hindert jedes Abkommen auf sachlicher Basis. Vermutlich würde dann auch wieder sofort das Mißtrauen der Linken gegen mich einsetzen, wenn ich zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Zentrum gelangte. Auch darf man nie vergessen, daß es zu viele Parlamentarier gibt, die glauben, den Marschallstab im Tornister zu tragen, als daß man neidlos einer Kombination zustimmen könnte, die meine Freunde und ich, wie ich glaube, aus echt staatsmännischem Denken heraus im Interesse der Sache fordern. Deine Ausführungen sind mir ganz aus der Seele herausgeschrieben. Ich sehe die Sachlage genauso an wie Du und hätte danach gehandelt.

Heute früh war ein großer Empfang bei Eduard Meyer aus Anlaß seines 70. Geburtstages. Ich eröffnete die endlose Reihe von Gratulanten mit einigen warmen Worten im Namen des Ministeriums, mit dem er oft so unzufrieden und das mit ihm so oft unzufrieden gewesen sei, aber man müsse es verstehen, die politischen Belange von den gelehrten und menschlichen zu trennen usw. Er war sehr erfreut und seine Antwort war fast eine Festrede auf mich. Er dankte mir besonders, daß ich die sachlichen Differenzen nie auf’s Persönliche übertragen hätte. Seine Freunde hatten für ihn eine Spende gesammelt für eine Reise nach Ägypten, wohin er, der Geschichtsschreiber des alten Ägypten, nie gekommen ist. Das Ministerium hat 2000 Mark beigesteuert und wird im Notfall auch noch mehr tun.

Vorgestern machte ich den Opernball mit. Es war eine sehr geglückte Veranstaltung. Ein Parkettboden war zwischen der untersten und der Balkonetage gelegt. Die Ministerloge lag unter dem Fußboden. Aus der alten Kaiserloge ging man über eine Freitreppe in den prachtvollen Saal. Die Bühne war ein Garten, ganz vorn ein Beet von 4000 echten Tulpen, hinten echte und falsche Taxushecken vor dem Rundhorizont, also ganz als ob man aus dem Saal ins Freie träte. Der Garten im gleichen Barockstil wie das Haus. Alle Türen herausgenommen, die Logen vermietet, überall ein glänzendes Publikum in bunten Farben. Vorträge des Orchesters, Kleiber dirigierte die Blaue Donau und den Brüderleinchor aus der Fledermaus mit vier Dutzend Solisten, Kemp, Tauber, Braun Schlusnus und tutti quanti. Es war einfach fabelhaft. Wir blieben bis 1 Uhr; ich freundete mich besonders mit Frau Kemp an, die mich neulich in der Carmen mit Gragger (wir waren allein) genau beobachtet hatte. Sie muß sehr gute Augen haben.

Mein Kolleg am nächsten Morgen um 9 Uhr fiel mir dann nicht ganz leicht. Mit den Attachés bin ich jetzt auch fertig. Es wird Zeit, daß ich etwas zur Ruhe komme.

Morgen tagt hier die deutsche Studentenschaft. Sie hat mich eingeladen, an ihrer Aussprache im Hauptausschuß teilzunehmen. Ist das nicht eine fabelhafte Wendung? Ich werde auch hingehen und zuhören. Sie wollten gern, daß ich spreche. Das habe ich mir aber freigehalten.

 

524. 1.2.1925

Gestern war nämlich unter meinem Vorsitz die große grundsätzliche Aussprache zwischen der Jugendbewegung und den Schulmeistern über die Lehrerbildung. Die Referate waren schrecklich dilettantisch, die Debatte danach von bemerkenswerter Höhe. Es wurde ihnen gründlich die Meinung gesagt, aber selbst Spranger sagte doch schließlich: die Lehrer-bildungsreform wird im Geist der Jugendbewegung gemacht oder sie wird überhaupt nichts. Es waren sehr feine Menschen zusammen. Dabei alle Kandidaten für die Nachfolge Schwartz, die sich produzieren durften, Grau, Türkenschmid usw. Ich denke übrigens daran, die Lehrerbildungsreform von einem Juristen machen zu lassen: eine köstliche Lebensaufgabe. Schade, daß Du nicht mehr als Ministerialrat kommen würdest. Ich denke jetzt an Lohmeyer. Bei der Tagung witzige kleine Spezialduelle, so Sprenger – Breysig. Glänzend war Guardini,80 Lothar Schreyer, Götze/Hamburg usw.

 

525. 8.2.1925

Am Montag ging die Lehrerbildung weiter, ja erreichte erst ihren Höhepunkt in einer fabelhaft fein geschliffenen Diskussion Guardini – Nohl. Guardinis Einfluß auf die Studentenmassen des alten bürgerlichen Typs mag gering sein, seine Wirkung auf die bewegte Jugend aller Schattierungen ist enorm. Jedenfalls war er einer der führenden Köpfe dieser im Ganzen doch sehr geglückten Tagung. Großonkel Spranger hielt sich Montag fern, er gehört auch nicht zu den Schaffenden, sondern zu den Kritisierenden. Es entstand auch ein innerkatholischer Dissens zwischen Schneider /Köln und Guardini. Ersterer wollte vom Standpunkt seiner starken Glaubensposition so etwas wie Kulturkrise gar nicht gelten lassen, während Guardini wohl im Glauben die feste Position gegeben sah, aber gerade deshalb die ganze Not der neuen Krise besonders scharf empfand.81 Auf dem Höhepunkt der Debatte ergriff ein Student das Wort und schilderte bescheiden, aber meisterhaft die Lage vom Standpunkt der Studenten aus. Er wies den die Wissenschaft stets im Munde führenden Professoren nach, daß auch sie höchstens in 1-5% der Fälle auf die alten Quellen zurückgingen, daß sie aber in 95-99% der Fälle auf Tradition bauten und mit Intuition arbeiteten. Es war ein junger Historiker namens Schuchardt, wohl ein Sohn des Professors. Ich habe ihn mir Mal für nächste Woche bestellt.

Was war sonst noch? Ein wütender Artikel von Bode gegen mich wegen des Asiatischen Museums. Ein Angriff des Reichsboten, daß auch ich den berühmten Autographendieb Dr. Hauck empfohlen hätte, ich, den auch das Jesuitenkolleg genehmigt hätte. Dieser Dr. Hauck ist leider Ruperte. Ich habe ihm 1919 gleich nach der Revolution mal eine Visitenkarte als Einführung ausgestellt, weil mich der Direktor des Badischen Landesarchiv Obser, ein hochangesehener Mann, darum ersucht hatte. Natürlich ist auch Obser Ruperte. Gottlob weiß das einstweilen noch niemand. Über Hauck, der mir stets sehr unsympathisch war, und von dem ich mich immer sehr ferngehalten habe, wurde immer wegen §175 gemunkelt, aber niemand wußte etwas Gewisses, sonst wäre er ja nicht Ruperte geblieben. Nun ist er auch dabei ertappt worden. Die Sache ist mir nicht angenehm, da ich wohl Zeuge werde sein müssen, aber ich bin mit der Empfehlung ja nicht leichtsinnig gewesen. Es gehört doch zu meinen Aufgaben, auswärtigen Gelehrten die Arbeit zu erleichtern, wenn sie, wie Hauck, glänzend empfohlen waren. Bei den Gerichtsakten sollen sich Empfehlungen vieler angesehener Leute befinden, was mir natürlich sehr angenehm ist. Natürlich muß der Mann verrückt sein oder jedenfalls den Sammlerfimmel haben, dem nichts heilig ist.

In der Ministerkrise nichts Neues. Ich hoffe auf ein Kabinett Marx. Man spricht von zwei Möglichkeiten:

  • Weimarer Koalition + zwei Fachminister, um der Volkspartei zwei Sitze aufzuheben oder
  • Zentrum + Demokraten + Fachministern.

In beiden Kombinationen ist von mir die Rede. Dabei wird mit Lammers als Staatssekretär gerechnet, wenigstens in der zweiten Kombination, während in der ersten die Stelle für mich frei bleiben würde.


Und immer noch Parteienpoker …


526. 15.2.1925

… Die Sache liegt so. Nachdem die Sozialdemokratie ohne mit der Wimper zu zucken, um Severing zu halten, den Staatssekretärsposten im Kultusministerium an das Zentrum verschachert hatte, blieb mir die Wahl zwischen dem Ministerposten und der Professur. In dem Augenblick, wo einem ein Dauerposten als Minister geboten wird, wegen eines Zentrumsstaatssekretärs mit großer Geste auszuscheiden, wo doch die ganzen Vorbesprechungen über eine Geßlerisierung immer mit einem dem Zentrum nahestehenden Staatssekretär gerechnet hatten, wäre m. E. ein Theatercoup gewesen, der mich vielleicht bei einigen Professoren beliebt gemacht und mir vielleicht eine schöne Plattform zur Rückkehr an die Universität geboten hätte, aber vor meinem Gewissen hätte ich diese Preisgabe meiner bisherigen Arbeit und dies Aufgeben und Verlassen all meiner Mitarbeiter, die sich nicht als Primadonnas sondern als sachlich anonyme Arbeiter an einer Verbesserung der Verhältnisse fühlen, nicht verantworten können. Natürlich bin ich nicht blind, ich sehe ganz genau und vielleicht noch klarer als Du oder Richter die Schwierigkeiten, aber ich halte mich für verpflichtet, wenigstens einmal den Versuch zu machen, mein gewiß nicht geringes Programm zu verwirklichen, ehe ich die Flinte ins Korn werfe und mit großer Geste ausscheide. Jetzt mich sperren, hätte mich nur mit dem Zentrum dauernd verkracht, da ich ja damit die These meines bösen Willens akzep-tiert hätte, ohne mir rechts und links auch nur einen Freund zu erwerben. In diesen Regionen und diesen Kämpfen steht man als Sachlicher und Parteiloser ganz allein, man kann sich nur durchsetzen, wenn man ohne große Posen der Sache zu dienen versucht und schließlich den Glauben an sich nicht verliert, daß es einem schließlich doch gelingen wird sich durchzu-setzen. Scheide ich jetzt aus, verärgere ich alle und meine Rolle ist ausgespielt. Zeige ich jetzt guten Willen, scheitere aber an den Verhältnissen, habe ich vor mir selber, vor meinen Freunden und vor den beteiligten Parteien einen rühmlichen Abgang. Dabei sehe ich die Verhältnissse auch ganz nüchtern gar nicht so hoffnungslos an, da Demokratie82 und Zentrum ein egoistisches Interesse daran haben, mich zu halten. Das Zentrum kann keinen Evangelischen bekommen, der so viel Verständnis für den Katholizismus hat und über einen katholischen Staatssekretär schwinden alle Bedenken, die sie gegen mich als Vertreter der katholischen Interessen in der Leitung haben mußten. Auch wissen sie ganz genau, daß mit dem Moment meines Ausscheidens ihr katholischer Staatssekretär bedroht ist, der für den evangelischen Volksteil nur unter einem ständigen evangelischen Minister tragbar ist. Das weiß man im Zentrum ganz genau. Die Demokraten haben in einer großen Koalition nur das Anrecht auf einen Minister; halten sie mich als Neutralen (daher die mit mir verabredete Ablehnung!) haben sie de facto zwei Minister.

Bleiben schließlich die Personalfragen. Ich war über Lammers stets anderer Meinung als Ihr, bin es z.T. auch in Bezug auf Krüß. Ich sehe beide Männer sehr genau, genauer sehe ich aber auch Richter und Dich sehr genau, vielleicht genauer, als Ihr selber Euch seht und ich kann keinesfalls meine Entscheidung von kleinen Ressentiments und Reibungen innerhalb einer Abteilung abhängig machen.

… Ich hatte dabei allerdings auch mit Dir gerechnet und schon mit Lammers und Marx darüber gesprochen, daß ich Dich gern als Direktor von U II83 haben möchte. Ferner will ich mir Morsbach als Nachfolger von Lammers holen. Jedenfalls werde ich mich sichern. Ob ich Dich durchsetzen kann, weiß ich nicht. Nach Deinem Brief weiß ich nicht, ob ich’s überhaupt versuchen soll. Schreibe mir bitte bald ein Wort darüber. (…)

Natürlich wird Lammers erst genannt, wenn das Kabinett für länger gesichert ist. Stürzt es gleich wieder, bleibe ich Staatssekretär; denn Marx hat mir gesagt, daß er zu viel Verantwortungsgefühl habe, mich jetzt dem Kultusministerium zu entziehen, wo ich unentbehrlich sei.

 

527. 18.2.1925

Die Vorstellung verlief in den üblichen Formen, die Rechte schwieg, nur die Kommunisten machten die übliche Begleitmusik. Nach der ganzen Stimmung sieht es so aus, als ob man rechts den Start nicht unnötig erschweren wollte, aber von langer Dauer kann dies Kabinett nicht sein. Ich bin recht freudlos an die Ministerschaft hin und brauche meinen ganzen Optimismus, um gegen meine eigene Skepsis anzukommen. In der Hinsicht kannst Du beruhigt sein. Ich weiß, daß ich einen schweren Gang gehe. Als ein gutes Omen betrachte ich es, daß der Deutschnationale Bäcker von der Deutschen Tageszeitung mich mit den Worten ansprach: „Sie werden wohl wie Marius sieben mal Konsul werden.“

Bei allem amor fati drückt es einen Menschen wie mich, der sein Schicksal gern selbst in die Hand nimmt, so ganz in das Geschiebe der Parteimaschinen hineingeraten zu sein und so gar nichts aktiv tun zu können, mein Schicksal als Minister beeinflussen zu können. In dieser Zwangsläufigkeit arbeitsfreudig zu bleiben, ist schon schwer genug; aber gar führen zuwollen, selbst zu glauben und andere zum Glauben zu zwingen – und ohne den gibt’s keinen Erfolg – ist eine Aufgabe, die den letzten Rest seelischen Elans fordert, zu dem ich überhaupt fähig bin. Immer wieder beschleicht mich das Gefühl, ob ich nicht wünschen soll, daß ich bald aus all dem heraus und in die Stille der Universität zurückkomme. Aber einstweilen halte ich den Kopf hoch und lasse mich nicht entmutigen. Hat es das Schicksal anders bestimmt, nach den Erfahrungen der letzten Wochen wird mir das Ausscheiden leichter als zuvor. Aber ich fühle einstweilen noch die Verpflichtung an die Aufgabe und an die Mitarbeiter …

… In einem Prospekt von Salem84 stand neulich so schön: Die meisten Deutschen denken, wie rette ich mich am besten aus dem allgemeinen Zusammenbruch. Salem will lehren: Wie helfe ich am besten und wo stehe ich in dem allgemeinen Zusammenbruch. Und wenn ich jetzt zerrieben werde, so bin ich eben im Kampf gefallen und habe das Bewußtsein, mich einer Sintflut entgegengestemmt zu haben. Wer den Sumpf zu kanalisieren sich bemüht, bekommt schmutzige Hände und Füße und erstickt vielleicht dabei, aber er tut doch besser daran als sich abseits zu stellen und mit Selbstgefälligkeit zu sagen: Was für ein abscheulicher Sumpf!85

 

528. 7.3.1925

Die Trauerfeier (für Reichspräsident Friedrich Ebert86. Anmerkung Wendes) war für mich das Ereignis. Weißt Du, es war schon ein Unterfangen, und ich bin eigentlich stolz darauf, daß ich nach durchreister Nacht doch noch zwischen 4 und 11 Uhr nachmittags und abends etwas so Anständiges zusammengebracht habe. Die veränderte Situation magst Du daran erkennen, daß ich mir abends um 10 Uhr als Kritiker und Kontrolleur nicht Richter sondern Landé kommen ließ, dessen Hauptkritik war, die Sache sei gewiß zu hoch und vielleicht etwas zu besinnlich …

Zu erzählen, daß ich mit reizenden Briefen und Anerkennungen z. T. mir ganz unbekannter Personen geradezu überschüttet wurde, darunter ein ganz reizender Brief von Wolfgang Heine, daß Quelle & Meyer sofort die Drucklegung erbat, was ich aber ablehnte, ein anderer Brief die sofortige Drucklegung und Verteilung in den Schulen forderte, daß dann mehrere Sozialdemokraten mir allerlei abbaten, im demokratischen Club, wie ich zufällig hörte, meine Rede für den besten aller Ebertnachrufe erklärt wurde, Marx und Hirtsiefer geradezu begeistert waren usw. usw. Auch im Haus war die Aufnahme ungeteilt freundlich. Leist meinte, vor Arosa wäre ich zu einer so mutigen Rede gar nicht imstande gewesen. Jedenfalls habe ich mir bei der gesamten Linken ein Vertrauenskapital erworben; aber auch die Zeit war sehr freundlich und Boelitz hat sich zu Duwe87 anerkennend ausgesprochen. Auch sonst hörte ich nur freundliche Echos, selbst die Rechte hat kaum etwas einzuwenden gehabt. Was mich am meisten freute, ich hörte zufällig auch einige Echos von der Wirkung auf die zuhörende Jugend, die stark beeindruckt schien, was allerdings nicht allein auf mein Konto, sondern auf die höchst würdig verlaufene Gesamtfeier zurückzuführen ist. Du kennst mich genug um zu wissen, daß ich nicht aus Eitelkeit nach Lobsprüchen dürste, daß ich aber nicht frei von dem Wunsch nach Anerkennung bin. Im allgemeinen habe ich auch, wie ich glaube eine ziemlich richtige Einschätzung meiner Leistungen …

Die Situation ist noch ganz ungeklärt. Ich vermute, das definitive Verhältnisse erst nach der Reichspräsidentenwahl eintreten, ob das Kabinett jetzt weitervegetiert oder ob ein Provisorium geschaffen wird.

Übrigens habe ich alle Trauerfeierlichkeiten mitgemacht. Ich ging hinter dem Sarg bis zum Potsdamer Bahnhof. Seitdem nichts Neues. Heute im Landtagsausschuß die Schulreform vor dem Zentrum gerettet.


Über die Republik und die Selbstverantwortung


529. 15.3.1925

Hoffentlich löst sich diese Woche die Krise. Dann geht der Landtag in die Osterferien und ich kann als Minister mir etwas Ruhe gönnen. Werde ich nicht wieder Minister, habe ich um so mehr Ruhe; bis ich wieder Staatssekretär werde, vergeht immerhin einige Zeit; werde ich gar Professor, hätte ich unbeschränkte Zeit. Weißt Du, ich würde ganz gern mal wieder für ein Jahr Professor; ob ich’s länger aushalte, nur Professor zu sein, weiß ich nicht. Einstweilen steckt noch zu viel praktischer Tatendrang in mir.

Das ewige Gerede der demokratischen Presse von der Sabotage durch Universität und Schule hat nur den Erfolg, daß die Rechtspresse sich freut, die Opposition sich bestärkt sieht und die Republikaner entmutigt werden. In Wirklichkeit sind die Republikaner felsenfest. Natürlich nicht die freisinnige Auffassung der Republik, wohl aber die Staatsform. Ich würde viel mehr mit der Suggestionskraft der Republik arbeiten. Was für ein Erfolg, daß das deutschnationale Kabinett Luther88 in meiner Programmrede die Republik 4-5 mal nennt. Wenn von dem ständig wachsenden republikanischen Gedanken geredet wird, glauben schließlich auch die Gegner dran oder werden zum mindesten unsicher und verlieren jedenfalls die schöne Herzensstärkung, daß die republikanische Presse alle Tage Klagelieder darüber singt, daß die Reaktion im Wachsen sei. Gewiß, die Jugend berauscht sich, aber kaum hat sie die Universität verlassen, zwingt sie das Leben zu ganz anderen Erkenntnissen.. Ich habe merkwürdige Bekenntnisse leidenschaftlicher Deutschnationaler in dieser Hinsicht erlebt. Die Vernunft marschiert. Auch ich bin kein Republikaner aus Leidenschaft sondern aus Vernunft. Die Republik war doch eine Notlösung. Make the best of it – ist unsere Aufgabe. Man kann sich am Gedanken der Selbstverantwortung und der Gemeinschaftsverantwortung begeistern und damit die Republik bejahen, aber man kann doch von uns, die wir alle früher überzeugte Monarchisten waren, weil die Monarchie uns groß gemacht hat, nicht erwarten, daß wir uns für die Notlösung nach dem Zusammenbruch begeistern. Deshalb muß nicht immer die Weimarer Verfassung verherrlicht werden – das ist ein pädagogischer Unsinn – sondern die Erziehung zur Selbstverantwortung. Der republikanische Gedanke darf nicht von außen, von dem Zwang der Verfassung her, sondern er muß von innen heraus, vom neuen Zeitgeist, vom neuen Menschen her der Jugend nahe gebracht werden. Ich habe viel mehr Glauben an die Zukunft der Republik als die ganze freisinnige Presse, die in Nachäffung Bismarck’scher Methoden nun per ordre du Mufti republikanische Gesinnungsmacherei mit drakonischen Methoden betrieben haben will, ohne zu bedenken, daß sie damit eine wirklich echte auf der Selbstverantwortung aufgebaute Demokratie einfach totschlägt und sich der gleichen Methoden bedient, gegen die sie im alten Staat nicht genug hat eifern können. (…) Eine neue Wendung im Zeitgeist ist von den Dogmatikern noch stets und überall als Abfall von unserm Geist der Philosophie, der Religion usw. erklärt worden. Das Absolute ist stets etwas Zeitgebundenes oder gar Subjektives89.

Gestern wurde mir eine Professur in Utrecht angeboten. Schrieb ich Dir schon, daß Eduard Meyer und ich gleichzeitig als Mitglieder der Budapester Akademie in Aussicht genommen sind? Ich las es bisher bloß im – Steglitzer Anzeiger und hörte es von Gragger. Farkas erzählte mir, es stünde alles in ungarischen Zeitungen. Offiziell weiß ich von nichts.

 

530. 22.3.1925

Aus einer gestrigen Unterhaltung mit Boelitz entnahm ich, daß man beim Wiederzusammentritt des Landtags ein Beamtenkabinett zu bilden beabsichtigt, in dem aber nicht ich, sondern ein offenbar ein national zuverlässigerer Beamter (sprich Volksparteiler Personalschieber unter neutraler Beamtenmaske) das Kultusministerium bekommen soll, während man so gnädig sein wird, mich wieder die Arbeit des Staatssekretärs tun zu lassen. Das natürlich nur, wenn es nach dem Kopf der Volkspartei geht. Ich verstand Boelitz bei der Unterhaltung nicht recht und sagte ihm, ich würde wohl wieder Staatssekretär werden, wenn der Mann mir zusagte. Beim Nachdenken über diese Unterhaltung wurde mir aber ganz klar, daß das ein Fühler hatte sein sollen, und daß ein sogenannter neutraler Beamtenminister als Chef für mich doch völlig indiskutabel sei. So schrieb ich noch gestern in diesem Sinn an Boelitz, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. Schon ein neutraler politischer Minister sei für mich schwer tragbar. Ich würde aber bleiben, wenn der Mann mir gefiele. Ein neutraler Beamtenminister aber müsse mir sachlich unterlegen sein und bedeute ein solches Mißtrauensvotum der Parteien, daß ich dann nicht bleiben könne. Boelitz hatte gesagt, ich wäre jetzt eingesprungen und würde, wenn im Herbst dann wieder ein politisches Kabinett käme, als Übergang wohl auch einen Beamtenminister ertragen können. Da hat die Volkspartei aber die Rech-nung ohne den Wirt gemacht. Man will den Parteien nahestehende Minister nehmen, nicht Parlamentarier, aber offenbar solche, die gehorchen. Zwei Sozialdemokraten, zwei Zentrum, zwei Deutschnationale, ein Volkspartei(ler), ein Demokrat. Da für die Volkspartei Präsidium und MdI90 nicht in Frage kommen, will man offenbar das nächstwichtige Beamtenministerium in die Hand bekommen. Ich bin der Meinung, da soll man offen sagen, daß es sich um ein politisches Kabinett handelt. Ich mache jedenfalls diese Heuchelei, in der die Lösung auf Kosten meines persönlichen Ansehens geht, nicht mit. Natürlich werde ich Zentrum und Demokraten vorher warnen.-

Natürlich beschäftigt mich das sehr und ich fange an, diese ständige Unsicherheit meiner persönlichen Position für so unerträglich zu halten, daß meine Arbeitsfreudigkeit in Frage kommt und ich dann lieber wieder zur reinen Wissenschaft zurückkehre.

 

531. 28.3.192591

Eine Lösung der Krise ist nicht abzusehen. Die Boelitz’sche Idee, von der ich Dir schrieb und die er dann nach meinem Brief mündlich als eine auftauchende Möglichkeit bezeichnete, ist offenbar der Wunsch der Rechtsparteien. Ich sprach sie mit Schreiber durch, der sie für völlig indiskutabel erklärte. Ein Beamtenkabinett müsse mich als Ministerübernehmen, unter einem Beamten könne ich nicht wieder Staatssekretär werden, wohl unter einem Politiker. Die Demokratie 92wolle aber überhaupt kein Beamtenkabinett. Ich weiß nicht, wie sie’s lösen wollen. Ein zweiter Wahlgang und die Wahl von Marx würde das Zentrum so der Sozialdemokratie verpflichten, daß das Zentrum in Preußen sich auf kein Rechtskabinett einlassen kann. Ich nehme an, daß die Bedingung sein wird, unter der die Sozialdemokratie für eine Wahl von Marx zu gewinnen sein wird. Gegen Marx spricht in vielen Kreisen eine wachsende kulturkämpferische Einstellung, die ihrerseits eine Reaktion auf die Ansprüche des Zentrums darstellt. Viele Verständige erhoffen in letzter Stunde eine Einheitskandidatur Simons.

Es wird Dich freuen zu hören, daß mich die Akademie von Rußland in Leningrad mit sehr schmeichelhaften Worten zum korrespondierenden Mitglied ernannt hat. Das war mir eine völlige Überraschung und dabei hat kein Gragger mitgewirkt. Offenbar die Wirkung der Islamstudien.


Wieder Kultusminister in Preußen


532. 5.4.1925

Heute empfing ich meine dritte Ernennung zum Minister, diesmal gezeichnet Braun. Braun wird im Falle eines Mißtrauensvotums den Landtag auflösen. Da nach dem Ausfall der Wahlen93 – sie ergaben für Preußen eine starke absolute Majorität für die Weimarer Koalition – die Rechte keinerlei Interesse an einer Auflösung hat, wird sie es wohl nicht darauf ankommen lassen. Die Volkspartei hat sich zu sehr festgelegt, um jetzt gleich einzutreten, so rechnet Braun mit einer Dauer des Kabinetts mindestens bis zum Herbst und dann mit dem Eintritt der Volkspartei. Braun hat sehr nett zu Weißmann gesagt, er lege keinen Wert auf einen dritten Sozialisten. Er hätte dafür lieber mich als Kultusminister. Da Zentrum und die Demokraten auch ein Interesse an meinem Verbleiben haben, wäre damit eine Chance gegeben, daß ich auch bei der Wiederherstellung der großen Koalition bleiben könnte.

  • Zwei Sozialdemokraten,
  • zwei Volksparteiler,
  • ein Demokrat und
  • ich.

Vermutlich würde die Volkspartei dann Handel und Justiz bekommen. Ursprünglich war ihr die Finanz zugedacht, Höpker-Aschoff hat sich aber überall – im Staatsministerium, Reichstag, Landtag – so über alles Erwarten glänzend eingeführt, daß nur eine Stimme der Begeisterung herrschte, selbst in seinem Ressort, das ihn kaum wieder gehen lassen wird. Natürlich wird dann auch wieder die Kultusfrage auftauchen, aber wenn Lammers dann Staatssekretär ist, wird man kaum riskieren, den Ministerposten einem Neuling auszuliefern und gegen Boelitz sind alle Parteien, vielleicht sogar seine eigene.

Die Vorgeschichte war nicht uninteressant. Vor der Wahl des Ministerpräsidenten hatten sich Sozialdemokraten und Demokraten auf Braun geeinigt und die Zustimmung des Zentrums schien sicher. Im letzten Augenblick brach das Zentrum unter dem Druck seines rechten Flügels aus und erklärte die Wahl eines Sozialdemokraten für untragbar. Das Zentrum schlug Höpker-Aschoff (Demokrat) vor. Um 5 Uhr schloß die Staatsministerialsitzung, in der Höpker noch nichts wußte. Fünf Minuten danach begann die Wahl. Höpker war außer sich und verließ wütend das Haus. Er wurde im zweiten Wahlgang gewählt. Er weigerte sich anzunehmen und das Zentrum sah gleichzeitig seine Dummheit ein, zumal die Sozialdemokraten sehr ver-schnupft waren. Die Wahl Brauns schien gesichert. In diesem Augenblick bekamen die Demokraten Größenwahn. Sie meinten, nicht nur den preußischen Ministerpräsidenten, sondern auch den Reichspräsidenten aus ihren Reihen stellen zu können. Namentlich Schreiber hielt Höpker-Aschoff auf die Dauer für unsicherer als Braun, da das Zentrum, wenn Marx einmal gewählt sei, sicher bald die Koalition sprengen werde, um den sozialistischen Ministerpräsidenten loszuwerden. Gottseidank siegten aber die Sozialdemokraten und Zentrum, zumal Höpker keinesfalls wollte. So legte Höpker nieder und am nächsten Tag wurde Braun im ersten Wahlgang mit 220 Stimmen gewählt. Braun übernahm sofort die Geschäfte. Gestern früh verabschiedete sich Marx von uns; als der zufällig älteste der Minister (Severing, Hirtsiefer und Am Zehnhoff fehlten) sprach ich ihm den Dank der Kollegen aus. Eine halbe Stunde später eröffnete Braun die fällige Staatsministerialsitzung. Er als neuer Ministerpräsident, wir als alte geschäftsführende Minister. Er wollte uns erst nach Anhörung des interfraktionellen Ausschusses ernennen. Die wichtigsten Punkte dieser Sitzung werden mir denkwürdig bleiben:

1. Bestätigung des Todesurteils über Haarmann.
2. Beratung der Aufwertung und
3. Verabschiedung der großen Schulreform, die nun mit dem neuen Schuljahr in Kraft tritt.

Dabei begab sich etwas Merkwürdiges. Schon einige Tage vorher hatte die Sache angestanden, war aber auf Drängen des Zentrums (Wildermann steckte dahinter) abgesetzt worden. Das Zentrum wollte uns noch zwingen, die dritte Religionsstunde in Sexta zuzugestehen. Ich sprach mit Wildermann und vereinbarte diesen Kompromiß. Inzwischen war durch Marx’ Rücktritt eine Zentrumsstimme verloren gegangen und das Zentrum hatte mit mir nicht mehr die Majorität. So wurde mein Antrag, die dritte Religionsstunde zu genehmigen, gegen meine und Steigers94 Stimme abgelehnt, wäre aber auch abgelehnt worden, wenn zwei fehlende Zentrumsminister anwesend gewesen wären. Dann wurde die Reform ohne diese Konzession einstimmig angenommen. So hat sich die Betriebsamkeit des Herrn Wildermann bitter ge-rächt. Hätte er die Reform annehmen lassen und danach mich zur Einführung der dritten Religionsstunde veranlaßt, wäre alles glatt gegangen. Jetzt liegt ein

Staatsministerialbeschluß vor, der von diesem Kabinett nie wieder aufgehoben werden wird.. Wildermann hatte ge-meint, Marx könne ohne die dritte Religionsstunde nicht in den Präsidentenkampf gehen. Hätte er geschickter operiert, wäre der Kompromiß unter Marx glatt zu erreichen gewesen. Jetzt ist er unmöglich geworden, Marx allerdings auch nicht mehr kompromittiert. Furchtbar lächerlich machte sich im letzten Augenblick in der Sitzung noch Hinze vom Wohlfahrtsministerium durch eine verspätete sachliche Polemik. Er hatte gar nicht gemerkt, daß es seinem Chef nur auf die dritte Religionsstunde ankam. Ich mußte ihn ziemlich grob darauf aufmerk-sam machen, daß sein Chef mir bereits zugesagt hatte, auf meinen Kompromiß einzugehen. Jedenfalls bin ich froh, daß die große Sache nun endlich flott ist.

C. H. Becker (rechts neben Reichspräsident Paul von Hindenburg) bei der Einweihung der Neuen Wache in Berlin (nach 1925)
C. H. Becker (re. n. Reichspräsident Paul von Hindenburg) bei der Einweihung der Neuen Wache in Berlin, nach 1925

Marx95 hat sich in all den Wochen nicht gerade geschickt benommen. Er ist kein Führer und ganz gewiß nicht bedeutend. Er ist aber kolossal anständig. So hat er noch am letzten Tag den preußischen Protest gegen das polnische Konkordat gezeichnet, was ich ihm um so höher anrechne, als es 1. sein letzter Tag war und 2. das Reich vor lauter Leisetreterei (Bergen ist mehr muntius in partibus als deutscher Botschafter) nicht mitmachen wollte. Schließlich siegte mein Argument, daß der Vatikan nur froh sein könne, wenn wir protestierten, da ihm dadurch Polen gegenüber der Rücken gestärkt würde. Dabei wußte Marx ganz genau, daß es uns gerade auf seine Unterschrift ankam, die in Rom natürlich ganz anders wirkt als die von Braun.

Weiter hatte ich diese Woche den Besuch des österreichischen Kultusministers Schneider, mit dem ich danach zum Frühstück beim österreichischen Gesandten und zum Tee bei der österreichischen Kolonie geladen war. Abends waren wir in der Aida. Am Sonnabend sehr nettes Frühstück beim Reichspräsidenten Simons zu Ehren der Hochschule für Politik. Ich saß neben der sehr netten und klugen Hausfrau. Morgen bin ich schon wieder bei ihm eingeladen zu Ehren der klassischen Philologen, die unter der Ägide des Zentralinstituts eine Tagung „Das Gymnasium“ veranstalten. Ich selbst werde Mittwoch einen Empfang von 70-80 Personen aus diesem Anlaß veranstalten. Kostet das 1 ½ fache meiner Repräsentationsgelder für einen Monat.

 

533. 21.4.1925

Gott schütze uns vor Hindenburg! Seine Rede, die ich heute las, zeigt doch eine Naivität, die alles Erwartete übertrifft. Hier stimmen die Orden für Hindenburg, offenbar hat der Vatikan gegen das Zusammengehen mit der Sozialdemokratie bei Marx protestiert, die Weltgeistlichkeit stimmt für Marx.96

 

534. 26.4.1925

Wird Hindenburg gewählt, so fürchte ich nicht die außenpolitischen Wirkungen; es kann sogar nützlich sein, wenn er den Eintritt in den Völkerbund und den Garantiepakt zeichnen muß. Aber verhängnisvoll wird die Wirkung innenpolitisch sein, indem die Reaktion Mut schöpft und sich versteift. Wird Marx gewählt, so wird die Verärgerung recht groß sein, zugleich aber die Erkenntnis dämmern, daß selbst der populärste Mann Deutschlands die Linksentwicklung nicht hat hemmen können. Der Wahl Hindenburgs dürfte die Auflösung des preußischen Landtags ziemlich bald folgen, bei einer Wahl von Marx dürfte die Rechte einlenken und im Herbst die große Koalition wiederkehren. Wird Hindenburg gewählt, wird niemand mehr von der Rationalität des deutschen Volkes reden dürfen. Dann ist es ein reiner Erfolg des Sentiments.97

Hast Du im Samstagblatt der Voss(ischen Zeitung) die entzückende Notiz von Sling gelesen? Die Menschen sind wirklich so. Wie viele verständige Menschen mir gesagt haben, eigentlich wäre es ein Unsinn, aber sie könnten einfach nicht anders …

Gestern früh fuhr ich mit Gragger nach Salzwedel, von dort im Auto nach Lüchen, wo in der im Werden begriffenen Volkshochschule auf Schloß Colbern eine Tagung der studentischen Gruppenführer des Wandervogels98 stattfand. Mich hatte Goetsch zu einem Vortrag erschlagen. Noch nie hatte ich ihn in seinem engeren Kreis gesehen. Es war ganz famos. Was sind das doch für famose Kerle. Ca. 50-60 Studenten, von denen man jedem anmerkte, daß er es gewohnt ist selbst den Mittelpunkt seines Kreises zu bilden. Viel Zucht und Disziplin.

  • Vormittags 6 Stunden Landarbeit,
  • dafür freie Kost und Logis.
  • Nach 2 Stunden Siesta
  • geistige Gemeinschaftsarbeit, Vorträge, musikalische Kurse (Goetsch; ich hörte ihn 1 ½ Stunden über den Unterschied von Rhythmus und Metrik sprechen. Es war fein.)
  • Ich sprach über Staat und Kultur, ebenfalls 1 ½ Stunden.
  • Nach dem Abendessen saßen wir alle in gemütlicher Diele um ein loderndes Kaminfeuer. Einige erzählten von der Bulgarienfahrt des schlesischen Gaues.

Diese Stunden werden mir inhaltlich und malerisch unvergeßbar sein. Das nette Zusammensein mit Gragger, mit dem ich heute früh nach eigentümlich stiller Sonntagsfeier (unter Goetsch’ Leitung Duette, Terzette, Quartette, Chor, meist klassische Musik, dann etwas Morgenstern als Bibelersatz) zurückfuhr …

Die Denkschrift über die Lehrerbildung von Von den Driesch ist fertig und ging an den Finanzminister. Außer mir finden sie auch andere kritische Stimmen (Kaestner, Landé) ganz ausgezeichnet. Ich eröffnete Von den Driesch, daß er umziehen könne. Der Mann war eine vorzügliche Wahl.

Im Mai habe ich ein schreckliches Programm:

  • 6.-7. Mai Deutsches Museum in München
  • 11. Mai Buchhändlerverein, Leipzig
  • 15.-17. Mai Münster, Medizinische Fakultät
  • 21.-23. Mai Auslandsinstitut Stuttgart
  • 17.-19. Juni Bonn
  • 27. Juni Altona

 

535. 3.5 1925

Also Hindenburg. Ich denke jetzt: make the best of it. Vielleicht führt seine Wahl doch zu einer gewissen Entspannung, namentlich wenn die Rechte jetzt sieht, daß in Preußen, das übrigens Marx gewählt hat, nichts zu machen ist. Im Landtag war man erst über die m. E. nicht sehr glückliche Rede Brauns erbost und Campe sprach noch sehr feindlich. Allmählich schlug der Wind um, und am Donnerstag war eine ganz behagliche Stimmung mit Liebeswerben von allen Seiten. Außer der Sozialdemokratie will niemand eine Auflösung. Die Rechte propagiert das Beamtenkabinett, die Linke die große Koalition. Braun hat sich bereit erklärt, zwei Volksparteiler aufzunehmen, verlangt aber vorher das Billigungsvotum für das jetzige Kabinett. Zu welcher Umgestaltung man dann kommt, weiß noch niemand. Eigentlich war HöpkerAschoff nur Platzhalter für Excellenz von Richter. Nun hat er aber so eingeschlagen, daß sein Ausscheiden ein Wahnsinn wäre, was allgemein eingesehen wird. So wird wohl Schreiber oder ich oder wir beide daran glauben müssen. Schreiber wird von der Industrie nicht allzu gern gesehen, wie ich diese Woche auf dem Festessen des Industrie- und Handelstages zu bemerken glaubte., aber er ist der Vorsitzende der Fraktion. Mich kann man ja als Staatssekretär halten. Immerhin wird man kaum zwei politische Demokraten in einem Kabi-nett der großen Koalition belassen. Eher wird man mich als Zweiten schlucken. Das Justiz-ministerium ist sozusagen frei, da Am Zehnhoff schwer krank ist. Wirtschaft und Justiz wären ja auch für die Volkspartei bei der augenblicklichen Lage mehr als ausreichend. Aber Du weißt, im politischen Leben kann man nie etwas vorher sagen, und ich werde mich erst als Minister fühlen und nach oben ziehen, wenn dieses Kabinett wirklich steht. D.h. Ernennungen mache ich bereits ohne Rücksicht, so sind König und Gottwald Regierungsschulräte in Berlin geworden, aber eine wirklich klare Kulturpolitik kann ich erst machen, wenn ich festen Boden unter den Füßen habe.


Tod des ehemaligen preußischen Kultusministers Haenisch


Zwischen zwei Schlafwagennächten habe ich Freitag in Wiesbaden Haenisch zu Grabe geleitet. Fabelhafte Teilnahme der Bevölkerung. Am Grabe war’s die reine Maifeier. In der Regierung war nur geladenes Publikum. Würdiges und schönes Arrangement. Nach dem Vizepräsidenten sprach ich. Mein Vorredner hatte die Person gut und richtig geschildert. Ich würdigte deshalb in ganz freier Rede mehr den Kultusminister. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Haenisch starb an Embolie nach einer Venenentzündung, er erkannte die Lebensgefahr, in der er schwebte, wollte nicht sterben, aber dann hat ihn doch ganz plötzlich der Tod überrascht. Er sagte: Mir wird so eigentümlich, aber ehe man irgend etwas tun konnte, war er tot. Vier bis fünf unversorgte Kinder, keine Pension und diese Frau (mit Bubikopf!). Natürlich wird gesorgt werden. Du wirst Dir denken, daß dieser Tod auch mir nahe ging. Ich habe ihn gern gehabt, nicht lieb; ich sah in klar in seinen Vorzügen und Schwächen. Immerhin verkörperte er auch für mich ein bedeutendes Stück meines Lebens; er hat mich schließlich zum Staatssekretär gemacht und meine Wirkung ins Breite erst ermöglicht. Er hat objektiv eine große historische Rolle gespielt und wenn ich in meiner Rede sagte, daß sein Name in Ehren genannt werden würde, solange es eine deutsche Bildungsgeschichte gäbe, so war das mehr als Trauerrhetorik. Du hast ja alle Phasen meiner inneren und äußeren Stellung zu ihm vor, während und nach seiner Ministerschaft miterlebt, so daß es zwischen uns der nicht der Worte bedarf. Ich will später einmal versuchen, ihn literarisch zu würdigen. Im Augenblick fehlt mir der Trieb, die Kraft und die Zeit.

Gestern hatte ich eine lange, höchst peinliche Unterhaltung mit Schillings. Ich fürchte, wir stehen wieder mal vor einer Krise. Ich habe ihm diesmal alle Bedenken gegen ihn enthüllt bis auf seinen Vertrag mit Frau Kemp. Morgen kommt er zu Wort. Ich erzähle nach Abschluß der ganzen Sache. Sie beschäftigt mich sehr.

 

536. 11.5.1925

Von den köstlichen Münchener Tagen hat Dir meine Karte gemeldet. Politisch bemerkenswert war das Fehlen der Reichsfarben im Stadtbild. Bayern ist eben bayerisch und gehört zum Reich nur insoweit es zahlt. In Bezug auf das Deutsche Museum wurde die Reichsregierung sehr gefeiert, das große Preußen, das doch aus seiner Steuerkraft 2/3 der Reichszahlung aufbringt, wurde überhaupt nicht erwähnt, wozu die Redefaulheit von Braun, der von dem vergnügungssüchtigen Weismann dirigiert wurde, nicht wenig beitrug. Bayern, Reichsregierung und Reichstag hieß das Trio. Daß es daneben noch einen Reichsrat gibt, davon spricht man nur, wenn bayerische Belange bedroht sind. Dann ist Preußen gut genug zu helfen, aber daß Preußen zum guten Teil das Deutsche Museum bezahlt hat, davon dürfen die Bayern nichts hören. Im übrigen war es sehr nett, ein schwaches, sehr schwaches Festspiel von Hauptmann wurde durch gute Regie gerettet. Immerhin waren es unvergeßliche Tage; denn es ist auch eine Kunst, Feste richtig zu feiern.

Am Tag nach der Rückkehr war die Abstimmung. Wie erwartet, wurde das Mißtrauensvotum mit einer kleinen Majorität von acht Stimmen abgelehnt. Die Festigkeit von Braun hatte gesiegt. Auch Adenauer verschloß sich der Notwendigkeit, so sehr auch das Zentrum die Auflösung vermeiden wollte. Das von der Volkspartei gewünschte Beamtenkabinett scheiterte an der Festigkeit der Linken. Braun will die Koalition gern vergrößern, ich glaube aber kaum, daß die Volkspartei vor dem Herbst beitritt. So wird vermutlich alles beim Alten bleiben. Braun meinte in München zu mir, ich würde ja wohl unter allen Umständen bleiben, aber ehe die Verbreiterung da ist traue ich dem Frieden nicht recht.

Im Ministerkreis brachte ich die Nichtbeteiligung des Reichsbanners am Hindenburgeinzug zur Sprache, die ich für eine kapitale Dummheit halte. Leider sah ich aber, daß Severing und Braun die Zurückhaltung billigten, vielleicht sogar veranlaßt haben, weil sie Mord und Totschlag bei einem gemeinsamen Aufmarsch fürchteten.

Gestern Abend hörte ich den Rigoletto mit Schlusnus und Gigli, welch letzterer 2000 $ pro Abend bekommt. Es war fabelhaft. Heute früh fuhr ich mit Richter und Schmidt-Ott selbander nach Leipzig. Wir hatten eine rückhaltlose Aussprache über die Notgemeinschaft, hörten dann hier in vier Stunden 45 Reden, leben aber noch, nachdem wir zwei uns allein zwei Stunden im Café gestärkt haben. Jetzt gehen wir gleich zum Festessen (Jahrhundertfeier des Buchhändlerbörsenvereins. Anmerkung Wendes) und fahren spät abends zurück. Natürlich habe ich eine (wohl die kürzeste) der 45 Reden gehalten.

 

537. 17.5.1925

… es war das übliche akademische Fest (Eröffnung der medizinischen Fakultät Münster. Anmerkung Wendes), sehr provinziell. Man stand immerfort auf der roten Erde und der Landeshauptmann spielte die Rolle des ungekrönten Königs mit dem Applaus und der Popularität des gekrönten. Herr Dieckmann ist aber auch offenbar eine Nummer. Ich verstand mich gut mit ihm. Die Professoren wirken durchaus zweitklassig. Der gute Grützmacher an der Spitze gab sich ehrliche Mühe, aber das Niveau war durchweg unter dem Strich. Ich mußte drei mal reden, bei der Übergabe, beim Festakt, wo ich einiges Grundsätzliches über Leben und Wissenschaft insbesondere mit Bezug auf die Medizin sagte, und beim Festessen auf das Vaterland. Das Arrangement war mit viel Würde und recht schlecht. Beim Festakt war der halbe Saal leer, weil die Studenten wegen des lächerlichen Frackzwangs (morgens um ½ 10 Uhr!) fortgeblieben waren. Der Kommers war am 3 (!) Tag abends, wozu ich natürlich nicht bleiben konnte. Ehrenpromotionen Schindowski (mit recht), Helbing und Lammers. Richter war offenbar mit Absicht übergangen und doch ist er schließlich der Vater der Fakultät. Der Vorgang hat mein objektives Gerechtigkeitsgefühl verletzt. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die gute materielle Lage der Professoren Richters Werk ist, im Kampf gegen Helbing errungen, aber die Professoren ehren Helbing und übergehen Richter. Auch ist es charakteristisch, daß sie Lammers bevorzugen, während sie gegen Richters Selbstbewußtsein empfindlich sind. Die Glätte von Lammers hätte niemals erreicht, was Richters Ellenbogen geschaffen haben … In diesem Fall hat man Richter Unrecht getan. Der Personalreferent kann’s nie allen recht machen und niemand weiß, wo eigentlich die Hauptleistung des Personalreferenten liegt. Du wirst verstehen, daß mir diese Desavouierung von Richter bei dem Spannungsverhältnis zu Lammers und andererseits Helbing schon rein ressortpolitisch höchst unbequem ist.

Meine Wahl in die Ungarische Akademie ist im letzten Augenblick gescheitert. Die Sektion hatte mich einstimmig vorgeschlagen, die Zeitungen mein Bild gebracht. Dann hat die geheime Wahl des gesamten Senats meine Kandidatur scheitern lassen. Ein persönlicher Feind von Gragger hat mit Briefen aus München, wonach meine Wahl – im Zeitalter Hindenburgs – die deutsche Gelehrtenwelt verletzen würde, da ich ein roter Revolutionär sei, die stockkonservativen, fachlich unzuständigen Mitglieder zur Ablehnung gebracht. Die Sache ist für den ungarischen Kultusminister, der den Antrag gestellt hatte, unangenehmer als für mich; denn natürlich ist es auch eine Opposition gegen ihn. Aber charakteristisch bleibt auch dieses Ereignis für die Professorenschaft. Sie sind sich überall gleich. Gragger ist sofort aus der Akademie ausgetreten. Es ist im Interesse der deutsch-ungarischen Beziehungen zu wünschen, daß nichts davon in die Zeitungen kommt.

 

538. 4.6.1925

Ich warte jetzt auf die Fühlung mit dem Zentrum. Mit Lammers sprach ich gestern zwei Stunden lang, vollkommen offen, er war sehr einverstanden mit meinen geplanten Maßnahmen und stellte sich vor allem ganz nett zu einem Direktorat Richter. Mir ist ganz lieb, daß Krüß gewisse Ahnungen hat, um so vorbereiteter ist er. Ich spreche erst mit ihm, wenn alles fest steht. Ich glaube nicht an eine völlige Umgestaltung des Kabinetts, wie volksparteiliche Organe flöten. Es wäre auch ein Wahnsinn. Immerhin suche ich mir Sicherungen zu schaffen, ehe ich Lammers ernenne. Mit Kaestner, Richter, Hüttebräuker bei der übrigen Zusammensetzung kann aber selbst ich zur Not über Bord gehen; vor der Umgestaltung aber wäre es eine Katastrophe. Daß Boelitz mitmacht, sagte ich Dir wohl. Braun drängt jetzt …

 

539. 7.6.1925

C. H. Becker ( in Budapest, 1920er Jahre mit Robert Gragger, dem Direktor des Collegium Hungaricum in Berlin?)
C. H. Becker ( in Budapest, 1920er Jahre mit Robert Gragger, dem Direktor des Collegium Hungaricum in Berlin?)

Mit Lammers sprach ich, wie ich vielleicht schon schrieb, diese Woche noch einmal gründlich, aus Loyalität; ich glaube es war gut, jedenfalls stimmt er allen meine Plänen zu. Gäbe der Himmel, daß nicht eine neue Kabinettskrise alles wieder fraglich macht. Ich glaube, daß nach der Neuordnung das Ministerium steht und in meinem Sinn weiterarbeitet, selbst wenn ich in absehbarer Zeit über Bord gehe. Die Verbesserung ist so augenfällig, daß ich das Urteil der Geschichte ruhig abwarten kann. Wenn ich vorher ausschiede, bliebe allerdings nur ein Trümmerhaufen, jedenfalls würden dann die Folgen meines Ausscheidens katastrophal sein. Das Zentrum tagt morgen, ich kann mir kaum denken, daß man so töricht sein wird, die chronische Krisenmacherei im Augenblick fortzusetzen. Nur Am Zehnhoff ist abgängig. Das Zentrum könnte ruhig den Sitz abgeben und einen der Volkspartei genehmen Mann hinzu lassen. Gott weiß es am besten, – sagt Mohammed.

 

540. 14.6.1925

Unser langes Telefongespräch heute früh hat mir bis in die tiefste Seele hinein wohl getan und mir nach dem langen Ringen dieser Tage und der plötzliche stürmischen Wendung wieder Ruhe und Sicherheit gegeben. Die erste Aussprache mit Lauscher und Wildermann war schon Anfang der Woche, richtig, am Dienstag Nachmittag im Landtag. Es war gerade Staatsministerialsitzung, ich hatte mich für die ersten Stunden bei Braun mit Rücksicht auf diese Aussprache beurlaubt, so saß ich dann 2 ½ Stunden mit den zwei Priestern im Ministerzimmer, ich bot ihnen eine Zigarre an und hielt ihnen dann einen Vortrag, der etwa eine Stunde dauerte. Der Rest war Diskussion. Ich merkte gleich, daß Lauscher an Richter sein Mütchen kühlen wollte. Richter hatte ungeschickte Bemerkungen losgelassen wie die: Herr Lauscher hat es befohlen. Lauscher kündigte mir für den Fall von Richters Ernennung einen frisch-fröhlichen Kampf an. Zwar deutete er an, daß er sich nach einer gründlichen Aussprache mit Richter vielleicht werde besänftigen lassen, nachdem ich in allen Tonarten Richters Lob gesungen und einige der schlimmsten Mißverständnisse aus der Welt geräumt hatte. Dann kam – wie komisch für mich – Deine Präsentation. Du gehörst zwar nicht zu ihnen, aber sie vertrauen Dir und die Hochschulen ebenfalls … man trauere überall Dir nach usw. Ich sagte zunächst, daß Du mir ganz gewiß recht seiest, auch hätte ich diesen Plan wohl erwogen. Am besten wäre natürlich euer Zusammenwirken, aber Richter könne die zweite Stelle nicht vertragen. Sollte er als Direktor, was ich nicht glaubte, wirklich versagen, so wäre es ja ein wundervolles Bewußtsein, Dich immer in Reserve zu haben. Bis dahin wäre dann auch der neue Personalreferent eingearbeitet. Aber all das half nichts. Wir beschlossen die Sache ein paar Tage zu beschlafen und am Sonnabend weiter zu besprechen. Ich habe in der Zwischenzeit weder mit Richter, der dann gleich verreiste, noch mit Dir gesprochen; dafür aber mit Gragger, Landé und Leist. Diese drei waren nun so geschlossen für Dich, daß mir in meiner Festigkeit bange wurde … Landé war so baff über diese glänzende Forderung des Zentrums, daß er ihm innerlich allerlei abbat. Er meinte, Richter müsse eben Dirigent werden. Dieser letzte Rat erfolgte aber erst gestern, als am Vormittag die zweite Aussprache mit Lauscher stattfand, in der mit noch größerer Festigkeit Richter erneut abgelehnt wurde. Eine Er-nennung wurde als höchst unerwünscht bezeichnet. Nach Tisch fuhr ich sofort zu HoepkerAschoff99, trug ihm die ganze Sache unter vier Augen vor und erhielt seine Zusage, daß Richters Stelle mit dem Etat 1926 in eine Dirigentenstelle umgewandelt werden solle. Hoepker hatte gewisse Bedenken wegen der Katholisierung von U I neben dem Staats-sekretariat. Die gleich Bedenken hatte Braun gehabt, obwohl beide Deiner Person trauen, aber die fürchteten den Eindruck im Lande. Ich glaube, daß Lauscher aber gerade diesen Erfolg erstrebt, wobei sich alle darüber klar sind, daß Du kein Zentrumsmann bist, wenn ich auch für richtig gefunden hatte, Lauscher unter der Hand zu versetzen, daß Du zwar nicht kirchlich wärest, aber in Kiel doch Zentrum gewählt hättest, welch Letzteres saß und für die Zukunft vielleicht nützlich ist.

Auf unser Gespräch von heute früh hin bin ich nun entschlossen, Richter zu forcieren. Ich glaube wie Du, daß mit dem Ministerialdirektorposten endlich innerer Anspruch und äußere Stellung ins Gleichgewicht geraten …

Meine Position Krüß und der Öffentlichkeit gegenüber wird dadurch auch erleichtert. Mit Krüß hatte ich vor einigen Tagen eine erste Aussprache. Ich sagte ihm, daß im Zusammenhang mit der neuen Besetzung des Staatssekretariats ein größeres Revirement und daß dabei auch eine neue Besetzung der Direktorstelle von U I100 zur Diskussion stehe. Ohne ihm einst-weilen Gründe anzugeben, wollte ich ihn loyalitätshalber davon in Kenntnis setzen, damit er gegebenenfalls nicht zu sehr davon überrascht sei. Da ich seine Verdienste um das Ministerium zur Genüge kenne und der Verlust eines so sachverständigen Mannes schwer tragbar wäre, quälte ich mich sehr mit diesem Problem und ich würde jedenfalls alles dafür tun, sein eventuelles Ausscheiden in den denkbar vornehmsten Formen zu vollziehen und hätte ihn in diesem Fall als Generaldirektor der Staatsbibliothek in Aussicht genommen. Trotz seiner Bemerkung gegen Dich fiel er aus allen Wolken. Er sei doch ganz unpolitisch und immer loyal gewesen; er möchte doch wissen, wie man ihn aus politischen Gründen beseitigen könne. Ich mochte mich in diesem Augenblick noch nicht auf die Gründe einlassen, da mir, (trotz Deiner Stellung und der aller meiner Freunde) die Beseitigung von Krüß sehr schwer fällt. Er ist 18 Jahre im Haus und ich kann ihn keiner Illoyalität überführen …; er führt die formalen Geschäf-te von U I besser als wie Richter es je tun wird; er hat mich meist besser orientiert und mehr zugezogen als Richter in seinem Machtbereich; bestünde nicht mein persönliches Vertrauen in Richter, hätte ich bei ihm mehr über Ausschaltung meines Person zu klagen als bei Krüß; endlich hat Krüß Interessen und Beziehungen gehabt und initiativreich gepflegt, die für das Ministerium sehr wichtig und nützlich waren, wo Richter noch erst die Anfänge zu begründen haben wird … Ich komme nicht darüber hinweg, daß ich … einen Menschen, der nichts verbrochen hat, als daß er etwas zu subaltern ist, der aber 16 Jahre dem Ministerium treu gedient hat und mehr Verdienste hat, als ihr beide je habt anerkennen wollen, auch menschlich wehe tun muß und ihn verbittere und kränke …

Mich hat noch nie eine Verantwortung so gedrückt wie diese (federleicht wiegt dagegen die Entscheidung im Falle Jahnke und Klotzsch), mein ethisches Gefühl steht hier in einem unüberwindlichen Konflikt mit meinem realen Denken. Ich bin eben nicht der, der ohne Skrupel um einer Sache willen über Leichen geht. Dazu kommt die äußere Schwierigkeit, daß die Enthüllung der letzten Gründe vor der Öffentlichkeit ganz unmöglich ist. In unserer Unterhaltung sagte mir Krüß, es habe ihn gekränkt, daß ich beim Auftreten der Kandidatur Lammers kein Wort des Bedauerns gefunden hätte, daß er nun nicht Staatsekretär werden könne. Das hätte sein Verhältnis zu mir getrübt. Darauf habe ich ihm ganz ehrlich geantwortet: Ein solches Wort des Bedauerns wäre eine Lüge gewesen, da mein Verhältnis zu ihm nach der Ära Boelitz ein anderes gewesen wäre wie vorher und daß ich ihn, auch wenn ich ganz frei gewesen wäre, jetzt nicht mehr zum Staatssekretär gemacht hätte, ganz abgesehen davon, daß die Linke meiner Ministerschaft widersprochen hätte, weil man befürchtete, ich könnte ihn zum Staatssekretär machen. Darüber dürfe er sich nicht täuschen, daß die ganze Linke ihn unbedingt und entschieden ablehne; schon beim letzten Etat wäre nur mit Mühe ein starker Vorstoß gegen ihn abzulenken gewesen. Seine Stellung zwischen Boelitz und mir sei schwierig gewesen, vielleicht ohne seine Schuld, aber jedenfalls de facto sei dadurch eine Entfremdung zwischen mir und ihm eingetreten. Er fand diese Bemerkung sehr aufschlußreich. Ich sagte ihm auch wahrheitsgemäß, seine eventuelle Entfernung sei keine unmittelbar politische, sondern nur die sachliche Folge politischer Notwendigkeiten. Unter mir als Staatssekretär hätte er ruhig bleiben können. Die letzten Gründe: Richter oder er, Geist oder Bürokratie infolge der Ernennung von Lammers werde ich ihm erst nach gefallener Entscheidung mitteilen …

Ich freue mich, daß Du dazu ja sagst, daß Du mich stärkst und es verlangst, obwohl es gegen Deinen eigenen Vorteil geht, (obwohl ich Deine Haltung voll verstehe und würdige; auch ich habe bald genug und würde eine Ausschiffung im Herbst ohne Bitterkeit hinnehmen; das Ministerium wäre jedenfalls dann in allen wichtigen Punkten gut besetzt.) …

Auch sonst leide ich oft unter der Verantwortlichkeit der Ministerschaft. Sie zermürbt. Das kann nur beurteilen, der sie selbst getragen – vielleicht gewöhne ich mich daran, aber in der Tiefe wächst die Sehnsucht nach der Ruhe und geistigen Arbeit. Es war mir ungeheuer sympathisch, wie ein Griff in mein Inneres, als Du heute früh sagtest, Du hättest nicht mehr nur Ehrgeiz, Du sehntest Dich auch nach wissenschaftlich-literarischer Arbeit. Ich betrachte es jetzt als meine Mission, das Ministerium personell in Ordnung zu bringen. Dann kann ich gehen und in der Stille meiner Vertiefung leben. Vorerst aber stehe ich noch im Reich des Handelns…

Das Hauptereignis dieser Woche war im übrigen die Einigung über die Lehrerbildungsfrage in einer Chefbesprechung mit dem Finanzminister. Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt. Die Kommissare des Finanzministeriums knurrten etwas über die aufgeführte Komödie, da ich vorher mit Hoepker gesprochen hatte. Ich komme sehr gut mit ihm aus; er ist tüchtig und menschlich sehr sympathisch.

Mein Besuch in Neustrelitz101 war eine Konzession an das Strelitzer Ministerium. Dieser Staat von 100 000 Einwohnern hat in seiner Hauptstadt von 12-15 000 Einwohnern eine Doppelanstalt gebaut im Stil des Arndtgymnasiums. Darüber war das ganze Land so stolz, daß man diese Tat drei Tage feierte. Ich war nur einen Tag mit Zierold da, Festzug, Aulaakt (mit Ansprache von mir), Festessen von 300 Personen im Schloß, wobei ich in der Mitte zwischen Ministern (ein Demokrat, ein Deutschnationaler) saß, Autofahrt in die entzückende Umgebung und Heimreise. Ich hatte zum Unziehen (natürlich Frack) die Zimmer, die zuletzt der Kaiser bewohnt hatte; es war eine köstliche Verbindung norddeutschen Herrentums mit demokratischer Staatsverfassung. Strammstehen der Diener und der Schüler, damit aber wieder viel freie Meinung. Als Ganzes recht lehrreich und schön, namentlich Natur und Kunst im Schloß. Der alte Fürstensitz war doch eine Kulturquelle, wie die im Gemeinwesen an ihrer Stelle nie wird werden können. Die neuen demokratischen Kommunen können an den alten Höfen zur Not aufrechterhalten, was die Fürsten geschaffen. Kulturelle Höhepunkte waren nur selten aus sozialem Bedürfnis geschaffen. Nur Großstaat und -stadt können einen Ersatz bieten; in der Provinz verhindert das soziale Bedürfnis oder die soziale Not kulturelle Leistungen, wie sie zum notwendigen Glanz der Duodezfürsten gehörten.

 

541. 21.6.1925 (Bonn)

Ein französisches Reiterregiment102 zieht mit viel Klimbim an meinem Fenster vorbei. Ich habe eine unerwartete stille Stunde im Königshof, da der Schlußnachmittag der Rheinfeier so verregnete, daß das Festspiel (im Freien) abgesagt werden mußte…

Vorigen Sonntag gründliche Aussprache mit Richter, am nächsten Tag mit Krüß, mit Lammers, mit Lascher usw. usw. Ich kann nur das Resultat geben: ich werde jetzt wohl nur Lammers – Jahnke – Hüttebräuker – Boelitz erledigen (letzterer auch zweifelhaft, da ihm Campe 103abrät, er selbst will aber). Das Zentrum blieb gegen Richter fest; neue Version: das Odium, Krüß zu beseitigen und meine Freunde an seine Stelle zu setzen, sei untragbar; natürlich fürchtet man das Odium für Lammers und unterschätzt das Odium im Fall von Richters Ausscheiden. Vielleicht später, wenn Krüß mal freiwillig ginge. Neue Situation: Krüß will freiwillig; er hat plötzlich gemerkt, welche Bedeutung diese wichtige Stellung für ihn hat. Sehr offene, sehr harmonische Aussprache. Nun ist mein Plan, Krüß im Herbst ohne Dispositionsstellung zu versetzen; dann bekommt Richter ohne Odium die auf natürlichem Wege frei werdende Stellung. Damit müßte dann auch das Zentrum zufrieden sein. Richter will keinesfalls gegen das Zentrum. Wegen Klotzsch laß ich mich noch etwas drücken, um das Odium gegen mich zu mildern. So ist die Situation zur Zeit.

Inzwischen Rheinlandfahrt. Es war eine großartige Sache, politisch sehr wichtig. Preußen hat dabei enorm an Sympathien gewonnen. Der Eindruck ist allgemein. Auch ich habe mein Teil dazu beigetragen. Ich hatte Glück mit einer großen Tischrede beim Festbankett im Gürzenich. So beglückwünscht bin ich noch nie worden. Ich will die ganze Episode mal in die Maschine diktieren. Sie ist etwas umständlich zu beschreiben. Adenauer war am Vormittag beim festlichen Frühstück im Rathaus maßlos entgleist, in dem er einmal alle Beschwerden gegen Preußen vom Kölner Standpunkt zusammenfaßte. Es entstand dadurch eine ziemliche Mißstimmung und ich hatte abends vor 700 Menschen die heikle Aufgabe, die Sache in Ordnung zu bringen. Nun, es glückte. In liebenswürdiger Form drehte ich alle Adenauer’schen Argumente in ihr Gegenteil um, ohne es zu sagen, worüber sich der Teilnehmer des Frühstücks eine ungeheure Heiterkeit bemächtigte, so daß die Situation schon gewonnen war, als ich das Wort von dem preußischen, dem Adenauer’schen Köln104 prägte. Die Rede ist mit Absicht nicht im Wortlaut in die Zeitungen gekommen, wird aber nun doch vielleicht gedruckt werden, jedenfalls sprach mich heute der Landeshauptmann darauf an. Weißt Du, es war eine verdammt heikle Aufgabe, vor einem so großen Kreis im Gürzenich über das Verhältnis der Rheinlande zu Preußen zu sprechen, aber ich hatte einen guten Tag und sprach mit aller Offenheit z. B. vom katholischen und protestantischen Kaisertum, die beide der Geschichte angehörten, vom Verhältnis zur katholischen Kirche usw. Ich habe noch nie so viel Satisfaktion von einer Rede gehabt. Die fremdesten Menschen sprachen mich darauf an. Heute hielt mich schon einer für einen Rheinländer. Ich hatte auch noch das Glück, daß vor mir der Reichsminister Frenken eine einfach senile Rede hielt.

Ich habe außerdem noch vier mal gesprochen, drei mal in Bonn, bei Tisch, bei der Eröffnung des Hygienischen Instituts und auf dem großen Studentenkommers in der Beethovenhalle; und einmal heute unter freiem Himmel auf Grafenwerth in der sogenannten Weihestunde. Ich machte sämtliche Düsseldorfer und Kölner Veranstaltungen mit, ohne eine Stunde Pause.

 

542. 22.8.1925

Bei mir ist nämlich der unerhörte Zustand eingetreten, daß ich augenblicklich ohne verfügbare Freunde bin. Robert sitzt noch in Tähany105, woher ich gestern einen sehr behaglichen Brief von ihm hatte, Richter ist auf der Rückreise von Italien, Harro106 nach längerer Faltbootfahrt auf dem Rhein in Kassel, Goetsch mit seiner Spielgemeinde auf einer Konzertreise in Norwegen, Ulrich Noack auf dem Weg nach Italien, wo er nach glänzend bestandenem Doktorexamen den Winter verbringt, Landé ist gestern Abend von der Hochzeitsreise beseligt heimgekehrt, ich sprach ihn heute früh telefonisch, er beginnt auch morgen wieder seinen Dienst, Leist und Niessen habe ich telefonisch gesprochen, sie haben sich sehr befreundet und mir das beide glücklich berichtet; Benecke ist noch auf urlaub, Farkas war gestern den ganzen Abend bei mir, er mußte natürlich ganz genau alles über Ungarn hören und war riesig nett, leider ist er nach Budapest berufen. Das ist ja wohl mein näherer Freundeskreis in Berlin. Es ist mir eigentlich ganz recht, mal etwas Zeit für mich zu haben.

 

543. 30.8.1925


Betrachtungen über die Zukunft


Hab Dank für Deinen guten Brief mit dem sehr richtigen Schlußappell. Ich bin jetzt gelöst von jedem Ehrgeiz, so frei vom „Kleben“, so stoisch eingestellt, daß ich nur noch das tue, was ich für richtig halte im Sinn meiner klar gesehenen Vermittlungsaufgabe. Falle ich dabei, nun dann habe ich niemanden, am wenigsten mir selbst vorzuwerden. Ich denke jetzt oft daran, daß mein Vater, der noch viel Geld hätte verdienen können, in meinem Alter in den Ruhestand trat. Er stand dem Leben wohl ähnlich gegenüber wie ich. Gewiß würde ich mich freuen, die großen Gefahren, die der Lehrerbildung drohen, noch zu bekämpfen und im Kampf um das Gürich’sche Reichsschulgesetz, das die Politik des kommenden Winters beherrschen wird, noch meinen Mann zu stehen, aber wenn es nicht geht, habe ich noch so unendlich viele Ressourcen und verlebe gern mal wieder einen Winter in Rom oder in Kairo und kehre dann zu dem zurück, dem immer mein Interesse gegolten, nunmehr gereift und abgeklärt. Auch kann ich dann vieles Allgemeinkulturelles besprechen und würdigen und wissenschaftlich vertiefen, wozu man in der Kleinarbeit des Tages ja doch nicht kommt. Ach, weißt Du, und etwas mehr akademische Freiheit! Ich war diese Sklaverei, deren Segen ich nicht verkenne, doch nie gewöhnt und mit zunehmendem Alter kommt man zurück à ses premières amours. Das Leben hat mir alles gegeben , was ich billigerweise erwarten konnte, ich lasse mich ja gern noch weiterhin von ihm beschenken, aber ich fordere nichts mehr und ich habe nur das Gefühl, ihm noch etwas schuldig zu sein. Und aus diesem Gefühl heraus bleibe ich auch gern noch im Amt, solange es die Verhältnisse gestatten. Halte das nicht für eine billige Sattheit, ich glaube, Du würdest mir Unrecht tun, auch nicht für Müdigkeit, – ich bin nicht müde, sondern stecke noch voller Arbeitslust und Initiative, Aufgaben wie Menschen gegenüber. Wie soll ich’s nennen? „Lieben ohne Begehren“.

 

544. 6.9.1925

Das Urteil, das Du über meine Reden hörst, ist wohl richtig, ebenso wie der Grund, den Du selbst dafür angibst. Boelitz sagte mir einmal, meine Reden wären zu „schön“, um zu wirken, man glaube mir die Begeisterung nicht und halte alles für Diplomatie. Ich gebe mir allerdings Mühe Niveau zu halten und rede aus Selbstachtung lieber über die Köpfe weg, als daß ich Banalitäten sage und Schlagworte gebrauche. Woldt meinte einmal, ich wäre zu differenziert für die an klare Formulierungen gewohnten Zuhörer – immer das gleiche Echo in verschiedener Form. In den letzten Jahren war ich zudem unter Boelitz zu ständigem Lavieren gezwungen. Diesmal hatte ich im Geiste Deines Rates, meiner Überzeugung und meiner Freiheit von irgendwelcher Kleberei beschlossen, ohne Rücksicht auf die Parteien eine ganz eindeutige Stellung einzunehmen.107 Der Erfolg war denn auch bei meinen zwei politischen Reden ganz unverkennbar. Meine Freunde waren sehr zufrieden, Landé sagte, es wäre vorzüglich gewesen, ich hätte einen selten guten Tag gehabt. Ich glaube wirklich frei von Eitelkeit zu sein, glaube aber selbst, daß ich ganz gut abgeschnitten habe. Durch sehr törichte und leicht zu widerlegendende Angriffe der Deutschnationalen gegen mich und Kaestner hatte ich die günstige Gelegenheit, die Lacher auf meine Seite zu bekommen. Ölze saß reichlich blamiert da und das zweimal, ebenso Kickhöfel, das Haus lachte. Mein sehr energisches Eintreten für Kaestner verschaffte mir das im Parlament immer geschätzte (weil einfache) Prestige der Ritterlichkeit. Der Fall Lessing war weiter eine Plattform, hier ist wirklich nichts dran zu verdienen, namentlich da ich Lessing als Mensch und Literat glatt fallen ließ, die Ablehnung durch die Studentenschaft für begreiflich erklärte, aber mich zu meinem Schutz fest auf den Boden des Rechts und der Autorität stellte. Das Echo ist denn auch recht günstig. Der Vorwärts sagte zum Beispiel: „Eins sei vorweggenommen, das Ministerium Becker wird gehalten.“ Folgte Lob meiner Ritterlichkeit und meiner Energie. Auch über meine Personalpolitik habe ich sehr deutlich gesprochen; es müsse die Linke im Geiste der Parität stärker in den Behörden vertreten sein und schließlich war dann auch die Rechte eigentlich sehr zahm. Geärgert habe ich mich nur über Boelitz, der fragte, warum der Staatssekretärsposten so lange unbesetzt geblieben sei. Ich antwortete sofort: aus den gleichen Gründen, aus denen auch unter ihm politisch umstrittene Posten oft Wochen und Monate lang unbesetzt geblieben seien. Im Ganzen konnte ich nur sagen, daß die Stimmung sehr gut war und zwar durchweg und daß die Rechte sich loyal benahm, selbst Herr Winkler, als ob sie bereit wäre, mich zu schlucken, jedenfalls gegebenenfalls gute Miene dazu zu machen bereit sei. Frau Wronka (Zentrum) lobte und dankte für meine zwei Allensteiner Reden, die in Ostpreu0en großen Widerhall gefunden hätten, ein Deutschnationaler sprach mich privat begeistert über meine Gürzenichrede an, also ein gewisses Echo finden meine Reden doch auch in breiteren Schichten. Allerdings sind das alles politische Reden, wie ich sie eben als Staatssekretär nicht gehalten habe.108 Durch dies Hervortreten bin ich plötzlich in der Presse viel beachtet, die Rechte spricht gelegentlich vom Kabinett Braun – Severing – Becker, kurz, wenn das mein Schwanengesang gewesen sein sollte, so habe ich einen anständigen Abgang; vielleicht aber ist es ein neuer Anfang. Ich werde zu Beidem Ja sagen. Jedenfalls wird mir niemand Halbheit, Schwäche und Unentschiedenheit vorwerfen. Ich habe die gewollte klare Linie gezeigt, und diese Linie ist meine persönliche, die überparteiliche-treuhänderische. Wer nicht den Mut hat, sich einmal zwischen alle Stühle zu setzen und sich doch zu behaupten, der soll lieber überhaupt nicht Minister werden.

Auf Angriffe Leinerts sprach ich dann sehr frei und offen über die Studentenschaft, beson-ders den Studententag und bat, etwaige Differenzen doch nicht allzu tragisch zu nehmen. Es sei eine allgemeine Beruhigung erfolgt. Pinkerneil quittierte mit einem Dank für die „wahrhaft vornehme Art“, mit der ich über die Studentenschaft gesprochen hätte. In academicis habe ich ein energisches Eingreifen im Einzelfall mit verständnisvollem Abwarten im großen Ganzen zu verbinden versucht. Der bisherige Direktor von Hannover hat mir heute früh geschrieben und sich energisch gegen die Äußerungen des Abgeordneten Schuster gewandt und mir seine volle Zustimmung zu meiner persönlichen Haltung im Falle Lessing ausge-sprochen.

… Montag sah ich die Jungfrau im Schillertheater, einzelne schöne Bilder, als Ganzes zu sehr ver-strindbergt und ver-shawt. Ganz anders am Dienstag „As you like it“ mit der Bergner bei Barnowski –ganz ausgezeichnet, erholend, ganz modernisierter Shakespeare. Donnerstag Pawlowa bei Kroll, erstklassig, aber vieux jeu. Heute Abend gehen wir nach der Abreise der Kinder noch in den Rosenkavalier

Von Gragger immer gute Nachrichten. Er hat wieder ganz große Pläne. Graf Klebelsberg will die gesamte Ausbildung des Gelehrtennachwuchses nicht nach der neuen Cité Universitaire in Paris, sondern nach Berlin legen, 80 Stipendiaten, ihnen ein Haus in Dahlem bauen usw. Du kannst Dir denken, wie sehr das Gragger und mich bewegt. Auch ist das eine ganz große außenpolitische Sache.

 

545. 12.9.1925

Das große Evenement dieser Tage ist der Besuch des französischen Kultusministers De Monzie in Berlin, der erste französische Ministerbesuch seit dem Kriege. Er kommt zu mir, da die Sache nicht politisch sondern kulturpolitisch aufgezogen werden soll. Ich hole für das Auswärtige Amt sozusagen die Kastanien aus dem Feuer. Dienstag um ½ 2 Uhr feierliches Frühstück bei mir im großen Saal, 24 Gedecke mit französischem Botschafter, Vertreter des Auswärtigen Amtes, Harnack, Einstein, Frank, Scheel, Bruns, Wiegand, Falcke, Schillings, Schmitt-Ott usw. Vom Hause: Lammers, Richter, Trendelenburg, Leist. De Monzie ist ein großer Redner und möchte gern ein Tribunal haben. Wir ziehen die Sache als Besprechung auf mit möglichstem Ausschluß der Öffentlichkeit. Ich werde ihn nach Tisch im Teesalon begrüßen und alles an Reserve vorbringen, was möglich ist. Ich habe schon ein schönes Wort: Le cauchemar de l’occupation. Natürlich halte ich die Rede deutsch, spreche aber sonst französisch. Am Montag halte ich Vorbesprechung mit den Professoren. Du kannst Dir denken, daß es allerlei Vorverhandlungen gab und tausend Bedenken von A III109! Die Botschaft hatte einen sehr geschickten Unterhändler, der ganz an meinem Strick zieht. Schwierigkeiten, ob Ministerpräsident einzuladen usw. Hoffentlich glückt es, die Presse zu bändigen. Du siehst, daß ich mir professorale Rückendeckung verschafft habe. Ich freue mich sehr, daß Scheel kommt. De Monzie weiß, daß er keine Frankophilen vorfindet, dafür aber Leute, hinter denen jemand steht. Das Auswärtige Amt hat die Sache entriert, d.h. die Initiative lag bei De Monzie. Machen darf ich’s.

 

546. 15.9.1925

Es wird Dich gewiß interessieren, wie alles abgelaufen ist (Besuch von De Monzie), wenn Du wohl auch von Scheel Bericht erhältst, will ich Dir doch sagen, daß ich sehr befriedigt war. Ich glaube auch alle anderen, jedenfalls beglückwünschten mich die Herren vom Auswärtigen Amt und auch Schmidt-Ott lebhaft. Die heutige redigierte Pressenotiz ist durch die Wünsche der Franzosen so umfangreich geworden, daß die Presse sicher nur Bruchstücke davon bringen wird …

Heute Abend rief mich auch noch Stresemann an, um sich zu erkundigen. Seit mehr als einem halben Jahrhundert der erste französische Ministerbesuch in Berlin. Die ganze Kopenhagener Reise De Monzies war nur arrangiert, um unauffällig nach Berlin zu kommen. Er war von zwei Presseleuten, die ich aber nicht einlud, und dem Doyen der Faculté des Lettres der Sorbonne begleitet, Professor Brunot110, der nach dem Minister sehr eindrucksvoll sprach. Schon um 10 ¼ Uhr machte mir De Monzie seinen Besuch. Er blieb eine Stunde; er hatte Hesnard mitgebracht, ich hatte Leist als U IK Referenten zugezogen. Wir sprachen sehr offen, die in meiner Rede angedeuteten Punkte vertiefte ich dabei. Ein reiner Politiker, dem es aber mit der kulturellen Annäherung ernst ist. Er hat sich selbst so exponiert, daß ihm Stresemann einige journalistische Hilfen gab. Er bestritt auf’s Lebhafteste, daß die französische Regierung den Julibeschluß des Conseil de Recherches inspiriert habe, alles sei nur die Tat von ihm nicht zu beeinflussender wild gewordener Professoren (tout comme chez nous). Er wiederholte das auch in seiner Rede und bemerkte humorvoll, es sei eine Koketterie der Professoren, gegen die Regierung Opposition zu machen, was allseitiges breites Schmunzeln auslöste. Um ½ 2 Uhr war dann das Frühstück, 29 Gedecke im großen Saal, wirklich sehr anständig und elegant, gut und schnell serviert, dann Übersiedlung zur Zigarre in den Teesalon. Nachdem der Kaffee gereicht war, bat ich Platz zu nehmen und hielt dann im Sitzen einliegende111 Ansprache auf Deutsch, während ich sonst französisch mit ihm gesprochen hatte, was wirklich trotz dem langen Mangel an Praxis noch sehr gut ging. Ein Legationsrat aus dem AA gab abschnittsweise eine vorher mit meiner Mitwirkung festgestellte Übersetzung. Dann sprach De Monzie ohne Übersetzer. Der übrigens sehr feine Botschafter De Margerie saß dabei wie ich bei Reden von Haenisch. Es lief aber sehr gut ab, er sprach vielleicht eine halbe Stunde, sehr geschickt, sehr offen und machte sichtlichen Eindruck. Dann dankte ich mit wenigen Worten auf deutsch, er habe den Grundstein zum Tempel des Vertrauens gelegt und wir wollten alle helfen, weitere Bausteine zusammenzutragen. Brunot übersetzte das gut ins Französische und sprach dann selbst ganz besonders wirkungsvoll mit hoher Anerkennung von der deutschen Wissenschaft. Dann war Schluß (4 Uhr) und man ging allseitig sehr befriedigt auseinander. Der Einzige, der sich im privaten Gespräch an De Monzie gewagt hatte, war Krüß. Ich glaube, ich kann mit Ruhe die Kritik der Presse abwarten; denn deutlicher als ich hätte kein Deutschnationaler sprechen können.

(Randvermerk:) Hedwig saß zwischen De Monzie und Braun, die von Schubert und Lammers umrahmt wurden, ich zwischen De Margerie und Schmitt-Ott, neben denen wieder Harnack, Einstein und Zweigert saßen.


Besuch des ungarischen Kultusministers (?) von Klebelsberg


547. 28.10.1925 (im Zuge zwischen Bebra und Frankfurt)

Die vorige Woche stand ganz im Zeichen von Klebelsberg. Der Mann ist gut, ein Kulturpolitiker von Rang, Jesuit der Erziehung nach, aber auch mit der ganzen geistigen Beweglichkeit und Weltnähe jesuitischer Schulung. Es begann mit einem Diner im Haus von Schmidt-Ott. Den folgenden Morgen Besuch der Museen, wir haben tatsächlich besichtigt: Staats-bibliothek, Altes Museum, Neues, Neubau, Kaiser-Friedrich-Museum, Schloßmuseum und Völkerkundemuseum. Es war viel, aber imponierend, namentlich das, was museumstechnisch nach dem Krieg geleistet worden ist. Dann sehr glänzendes Frühstück bei mir, 36 Personen mit Braun, Hoepker, Schreiber; Schiele hatte wegen der beginnenden Krise abgesagt, dann Botanisches Museum und -Garten, Bauplatz, Tee bei Wiegand, ½ 8 Uhr Empfang in der alten Aula mit glänzender Rede des Gastes. Mittags hatten wir uns gegenseitig gefeiert. Am nächsten Morgen Fahrt nach Potsdam. Besichtigung beider Sternwarten, Frühstück bei Schiele mit Luther, Stresemann, Geßler, Schlieben; Besprechung bei der Notgemeinschaft, Tee bei Harnack in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, schließlich Festoper mit ca. 100 gelade-nen Gästen, mit Luther, Schiele, Schubert, Braun, Severing und danach Souper im Bristol; Auswärtiges Amt unter Vorsitz von Schubert. Am letzten Tag drückte ich mich vormittags und Schmitt-Ott zeigte die Kaiser-Wilhelm-Institute, Frühstück im Bristol durch Ungarische Gesellschaft, Rede des Geschäftsträgers; da nur Heilbron anwesend war, antwortete ich ganz improvisiert. Nachmittags ungarische Schule, Institut, Collegium (Hungaricum. BB) ohne mich. Abends großer Empfang im Kaiserhof durch Gragger und mich (Gesellschaft der Freunde des Ungarischen Instituts). Rede von mir zum Lobe Graggers, er hatte Fieber, aber gottlob ein sehr feines Medikament (?), so daß alles gut ging, Musik und gutes Essen, ca. 150-180 Personen. Klebelsberg bedankte sich bei mir, daß ich Gragger so anerkannt hätte: „Gragger ist für uns mehr wert, als unsere ganze Gesandtschaft.“ Dies Lob freute nun wieder mich riesig. Gragger vermied es taktvoller Weise, mich zu loben. Sein ganzes Auftreten an diesem Abend war so voll Charme, daß alles von ihm begeistert war.

 

548. 11.11.1925

Die Landtagswoche ist sehr gut verlaufen. Meine Rede trug mir sogar einen Leitartikel in der Frankfurter Zeitung ein. Das Echo war enorm. Professor Warburg/Hamburg sandte mir einen köstlichen Nachdruck von „Ritter, Tod und Teufel“ mit der Widmung „Einer für Viele“. In Aachen sprach auch alles davon. Kurz und gut, ich glaube zufrieden sein zu können. Ich hielt acht Reden.

 

549. 16.11.1925

Neue Schillingskrise. Zu seiner geschäftliche Unfähigkeit ist er jetzt auch noch frech geworden. Die Abteilung wünscht seine sofortige Entlassung (§626 BGB). Man legte mir einen Erlaß vor (durchgezeichnet bis zum Staatssekretär), der mich in der Öffentlichkeit unmöglich gemacht hätte. So habe ich selbst einen Gegenentwurf gemacht, der politisch möglich ist und ein Plädoyer gegenüber der Öffentlichkeit enthält, in die er ja doch sicher dringen wird. Ich bin nach einer langen Aussprache mit Kleiber, der mir auch menschlich einen vortrefflichen Eindruck macht, diesmal zum Durchgreifen entschlossen. Aber ich fürchte, es gibt einen Mordskrach.

… Eine Freude war heute ein guter Vortrag eines meiner Attachés. Auch meine beiden Doktoranden hatte ich vorige Woche mal bei mir. Das war professoral und nett. Es gibt noch eine bessere Welt neben der amtlichen mit ihrem Ärger und ihren Enttäuschungen.

 

550. 29.11.1925

Die Schillingskrise hat mich zu stark mitgenommen. Ich bin durch U IV 112, obwohl ich alle nur denkbaren Hemmungen einschaltete, maßlos hineingeritten worden. Gewiß hatte ich einen Sturm erwartet, aber einen solchen doch nicht. Immerhin schont man mich, hinter allem steht Zweierlei:

  1. §626 ist der Todfeind aller Journalisten, die seit Jahr und Tag für Nichtanwendbarkeit dieses Paragraphen auf Geistesarbeiter kämpfen.
  2. der einfach überwältigende Haß gegen Seelig und Kestenberg.

Schillings ist jetzt Panier, im Grunde interessieren sich noch nicht 5% der Schreier für ihn, man will aber den Sturm aus den beiden genannten Gründen. Zur Zeit wird über einen Vergleich verhandelt. Ich will die fristlose Entlassung aufgeben und eine freiwillige Verabschiedung genehmigen, dazu Meisterklasse (wie Pfitzner). An die Oper darf er keinesfalls zurück, sonst gehe ich. Zur Form war ich gezwungen, weil Schillings jede Weiterarbeit und auch eine Besprechung bei mir ablehnte, wenn er nicht recht bekäme. Der Betrieb stockte und er ging in die Presse, da mußte ich eingreifen. Immerhin hätte ich vielleicht noch eine andere Form

wählen können. Die Unfähigkeit von U IV war furchtbar. Jetzt hoffe ich, wenn ich die Sache überlebe, mit eiserner Person Ordnung schaffen zu können. Weißt Du, es ist ein verdammtes Gefühl, die gesamte öffentliche Meinung geschlossen gegen sich zu haben. Man fragt sich, ob man wirklich so unrecht hat. Dabei habe ich in der Sache recht, die Form war vielleicht falsch. Erfreulich war die Haltung naher und ferner Freunde, z. B. Woldt, der glänzend arbeitete, Carl Ebert, auch Richter verdient alle Anerkennung.

 

551. 6.12.1925

Der Fall Schillings ist zu kompliziert, um ihn darstellen zu können; das gibt mal ein schönes Kapitel in meinem Buch über Dynamik der Kulturpolitik. Jedenfalls habe ich viel aus der Sache gelernt. Der Staatssekretär ist noch heute der Meinung, daß er, bei aller Voraussicht aller Konsequenzen noch einmal entscheiden müßte, genau ebenso handeln würde. So denkt ein alter Staatsanwalt. Ich würde in der Sache das Gleiche tun, aber die Öffentlichkeit besser vorbereiten und das Parlament zum Karnickel machen. Das Parlament hat sich übrigens gut benommen, die Koalitionsparteien haben mir sagen lassen, daß sie das Vorgehen des Ministers billigen, eine Krise könne für mich nur entstehen, wenn ich zuviel von Versöhnung und Einlenkung reden würde. Schillings hat vor dem Landtag sehr schlecht abgeschnitten, und auch die öffentliche Meinung schwenkt langsam um. Hinter dem Sturm stehen drei große Mächte:

  • alle, die unter dem §626 stehen, d.h. alle Journalisten hatten ein brennendes Interesse daran, bei dieser Gelegenheit den verhaßten Paragraphen zu diskreditieren. Hintergrund: Neider der Angestelltenschaft gegenüber dem Beamtentum.
  • Bühnengenossenschaft contra Bühnenverein. Auch für sie ist Schillings nur Etikette. Der Sturm geht gegen Seelig, 113der im Grunde mit Jessner, Arthur Wolf und Winter eine unumschränkte Herrschaft ausübt, da in sämtlichen Theaterorganisationen immer wieder die gleichen vier Männer sitzen: Bühnenverein, Verband gemeinnütziger Theater, Verein Berliner Theaterdirektoren, Landesbühnenorganisation, Ministerium, Volksbühne, Bühnenvolksbund, Schiedsgericht, Tarifausschuß usw. Hauptschwierigkeit: der Staat als Kunstbehörde und gleichzeitig als Arbeitgeber; Gegensatz zwischen Arbeitgeber und –nehmer. Diktatur des Bühnenvolksbundes (Gerst, hinter dem das Zentrum und Deutschnationale stehen) im Bunde mit Seelig als Staatsaufsichtsbehörde; eine 2 ½ stündige Unterredung mit Rickelt und Wallauer haben Richter und mir gründlich die Augen geöffnet, aber Abhilfe ist sehr schwer, da das ganze Parlament Seelig hält, die Linke wegen seiner Parteizugehörigkeit, die Rechte wegen dem Gegenspieler Gerst, der seine Macht von Seelig bekommt wie der Mond sein Licht von der Sonne. Deshalb auch die ganz andere Haltung des Parlaments gegen-über der Öffentlichkeit.
  • Gegensatz zwischen der artistischen (l’art pour l’art) Auffassung der Feuilletonisten und der mehr pädagogischen des Ministeriums. Sozialisierung der Kunst, Kunst im Dienst der Volkserziehung, Kroll, Rolle von Kestenberg.

Dazu Imponderabilien wie Mitleid mit Schillings, Abneigung gegen Macht der Bürokratie, Antisemitismus, gesellschaftliche Verklitterung von Schillings (Stresemanns Sohn komponiert, Schillings führt das Machwerk auf. Geheimrat Deutsch von der AEG hat den Dirigenten Brecher zum Schwiegersohn usw. usw.. Kleiber sagte mir gestern: „Hat Ihr Sohn nicht vielleicht auch ein Adagio komponiert; ich bin gern bereit es zu dirigieren.“

Sachlage: Thema wird bei der dritten Lesung des Etats angeschlagen werden. Koalitions-parteien sprechen nur dazu, wenn es von anderer Seite angerührt wird. Ich soll:

  1. festbleiben.
  2. Beamte decken.
  3. feststellen, daß das Ministerium nie Schillings künstlerische Tätigkeit beschränkt hat.

Schillings sitzt offiziell auf dem hohen Roß, sucht hinten herum zum Vergleich zu kommen. Boelitz sucht den großen Mann als Vermittler zuspielen. Heute Mittag ruft mich Weismann an, Schillings hat ihn angerufen: Vergleich für ihn und die Kemp: 200 000 Mark. Ich lache ihn aus. Nach ¼ Stunde: Entscheid, Schillings Rechtsanwalt habe eingegriffen, der Vergleich dürfe nicht von Schillings ausgehen, ziehe alles zurück. Ich werde die kalte Schulter zeigen. Er wird schon kommen. Die Presse hat einfach unser Material nicht abgedruckt. Nur die Frankfurter Zeitung, die auch für uns Stellung nahm. Das Feuilleton ist natürlich schwer an die Leine zu legen, namentlich in Berlin. Ich bin bereit, Schillings eine Meisterklasse zu geben, was er törichterweise abgelehnt hat.

Fall Jessner ist beigelegt. Ich ließ ihn warten, bis er windelweich war. Plan: Direktorium Winter, Kleiber, Hörth, bis neuer Intendant (nicht ausübender Künstler) gefunden. Sofortiges Engagement von Leo Blech. Jedenfalls christlicher Intendant. Etwaige Veränderungen in der Abteilung nur sehr allmählich möglich. (Wegen des Parlaments, das im laufenden Etat Ministerialratsstellen für Seelig und Kestenberg beantragt hat.) Nentwig ist einfach katastrophal, aber die Deutschnationalen halten ihn, wie überhaupt mein Rezept von der parteipolitischen Mischung sich diesmal glänzend bewährt hat.

 

552. 26.12.1925

(Mit Bezug auf die Becker von mir zu Weihnachten geschenkten Wanderjahre in Italien von Gregovorius. Anmerkung Wendes.)

Es war das einzige Buch auf meinem Weihnachtstisch, aber nicht deshalb allein bildete es meine eigentliche Festtagslektüre. Ich las das ganze Caprikapitel, freute mich der schönen, schlichten Darstellung, ich kannte jeden Punkt, den er beschreibt, wenn auch jetzt manches schrecklich modernisiert ist. Wie schön muß es damals gewesen sein, Italien zu bereisen! Auch meine Eltern sind noch im Wagen114 in Rom angekommen. Die Verschandelung von Capri liegt zwischen meinem ersten (1898) und vierten (1905) Besuch Capris. Gewiß, die große Fahrstraße nach Anacapri bestand schon 1898, damals war ich mit Willy Bornemann dort, das Jahr darauf mit Bezolds vom römischen Orientalistenkongreß, 1900 mit Reger (?) und Scheuerlein (?) auf der Durchreise nach115 Spanien und Ägypten. Als ich dann auf der Hochzeitsreise 1905 14 Tage lang dort war, hatte Krupp schon seine Schauerstraße nach der Piccola Marina gebaut und überhaupt, wie würde Gregovorius sich anders haben ausdrücken müssen! Immerhin blieb doch noch Vieles unberührt, die Insel ist in ihrer Schönheit unzerstörbar, weder konnten ihr die20 Villen des Tiberius den Zauber nehmen, noch die neuen Kunststraßen und die Fremdenflut. Man hat dort noch heute eine südlich Meer- und Felseneinsamkeit wie nirgendwo wieder so bequem, wenn man den Mut hat, von den großen Straßen abzubiegen. Du siehst, es ist hier wie überall im Leben.

 

553. 15.1.1926

Die einzige Störung bildeten einige dienstliche Echos in der Berliner Presse. Schillings – Bode – Kunstpolitik. Der Artikel in der Deutschen Allgemeine Zeitung hat doch eine Fülle technischer Mängel. Selbst mit Deiner Verbesserung halte ich diese Lösung nicht für möglich, obwohl ich sie selbst in Weimar, aber aus ganz anderen Gründen verfochten.

Hauptgründe für die Krisen sind:

  1. Die durch die Staatsumwälzung herbeigeführte Schwächung der Autorität der Regierung. Es wird heute besser regiert, aber jeder Skribent und Interessent hat dank einer sensationslüsternen Presse heute ein größeres Echo als die Männer an der Macht. Ein Staatssekretär, welcher Art auch immer, würde genau die gleichen Schwierigkeiten haben wie ein Ministerialdirektor. Allerdings ein lebendiger Ministerialdirektor und ein guter Pressereferent könnten ein anderes öffentliches Echo erzielen.
  2. Der Mangel an Arbeitskräften. Wir haben die gewaltige Aufgabe der staatlichen Theater- und Musikpflege übernommen mit zwei Hilfsarbeitern. Und wie soll ich dann großzügige Personalwandlungen eintreten lassen, wenn man mit den alten Leuten nicht weiß, wohin und für neue keine Stellen hat? Daß endlich sture Greise von Weltruf wie Bode und Liebermann seit dem Wegfall der Krone nicht mehr zu regieren sind, ist selbstverständlich. Aber das sind Übergangserscheinungen. Ich will jetzt in Berlin die ganzen Dinge selbst in die Hand nehmen und vielleicht schon in der ersten Lesung des neuen Etats in einer großen Rede oder in einer Denkschrift) behandeln.

 

554. 24.1.1926

Ich will jetzt die Fühlungnahme mit der Öffentlichkeit selbst in die Hand nehmen und alle führenden Journalisten nach und nach empfangen oder eventuell zum Frühstück einladen. Mehr Repräsentation! Trotz meiner Schulden, der Finanzminister muß helfen. Braun war ganz meiner Meinung. Inzwischen liegt ja der Erfolg mit Blech vor, auch sonst fängt die Presse an mich wieder besser zu behandeln. Donnerstag gab ich ein kleines Frühstück mit zehn Personen zu Ehren Telecki mit zwei Gesandten und Professoren, es glückte gut und gestern einen Tee von 90 Personen aus Anlaß der Konferenz über die Neugestaltung des medizinischen Studiums. Die Befriedigung über den Ausgang dieser offenbar recht hochstehenden Aussprache war allgemein. Jedenfalls war das Ergebnis dieser ersten Woche nicht schlecht. Ich fragte Braun vor allem, ob das Kesseltreiben gegen mich tiefere Gründe habe, dann würde ich mir jetzt keine Mühe mehr machen. Er versicherte mir, davon sei nicht die Rede, es seien mehr Zufälligkeiten und mangelnde Disziplin der demokratischen Presse. Auch König versicherte mich des Gleichen. Ich will nun die Besprechungen mit Th(eodor) Wolff und Bernhard (natürlich separat) beginnen. Morgen empfange ich Frau Luise Wolf, die theatergewaltige Agentin, übermorgen Frau Kemp! Wenn nur nicht so viel politischer Kleinkram wäre! Gestern zwei Stunden Staatsratsplenum von einem Niveau, das gottserbärmlich war. Die Pädagogischen Akademien kommen in Fluß. Etwas bedrückend sind die bevorstehenden Entscheidungen in der Minoritätenfrage, weil ein paar verbohrte und offenbar eitle Schleswig-Holsteiner die ganze Regierungspolitik beherrschen respektive sabotieren wollen. Von den Schleswig-Holsteinern habe ich übrigens die Nase voll. Bei der kleinsten Meinungsverschiedenheit fallen sie gleich ab. Mögen sie doch! Man läßt sich in Berlin davon zu viel imponieren. Die Minoritätenfrage wird gegen den Zehnerausschuß entschieden werden. Es geht einfach nicht anders wegen Polen.116 Die von fünf bis sechs Leuten beherrschte Presse ist nicht Schleswig-Holstein. Ganz Europa wartet darauf und wird dementsprechend unsere Staatskraft beurteilen, ob Berlin den Mut hat, sich gegen fünf bis sechs Schleswig-Holsteinische Krakeler durchzusetzen. Dort oben meint man stets, Kiel, Schleswig oder Flensburg wäre der Nabel der Welt. Das alles natürlich diskret. Ich werde die Sache schon so drehen, daß das Staatsministerium als Ganzes und nicht der Minister für Wissenschaft die Sache entscheidet.

C. H. Becker bei der Grundsteinlegung (einer Pädagogischen Akademie?) Foto aus dem Archiv von Michael Becker
C. H. Becker bei der Grundsteinlegung (einer Pädagogischen Akademie?)
Foto aus dem Archiv von Michael Becker

 

555. 7.2.1926

Das war eine volle Woche mit ungeheuer angeschwollenen Aktenmassen als Weekend-Sonderausgabe. Ich war nur den Sonnabend zu Hause, sonst Presseball (durchgetanzt!), Diplomatendiner bei Weismann mit viersprachiger Unterhaltung, Werfel-Inszenierung bei Reinhardt, parlamentarischer Abend Garnich, hochpolitischer „Liberaler“ Abend in der Deutschen Gesellschaft zur Vorbereitung der Zusammenarbeit von Demokratie und Volkspartei, die unter dem neuen Wahlrecht unvermeidlich wird usw …

Dazu wechselnde Frühstücke, … einmal mit Bernhard (von 2-5 ½ Uhr). Theodor Wolff ist doch sehr viel mehr als Bernhard. Erneute Sitzung mit Frau Kemp, hoffe sie jetzt versöhnt zu haben. Daneben neue Regelung des Abiturs, Sitzung mit den Schleswig-Holsteinischen Abgeordneten über die Minoritätenfrage. Der große Taktiker Scheel will sich mit den Hauptdrahtziehern nicht überwerfen. Dies ganz reiner Provinzstandpunkt. Die Bayern sind unitarisch gegenüber dem Partikularismus Deiner derzeitigen Landsleute. Man kann im Schützengraben keinen Feldzugsplan machen; das wollen aber die Schleswig-Holsteiner und vergessen dabei ganz, daß sie im Grenzkampf nicht über den Rand ihres Grabens schauen; einer sagte direkt: „Wir wollen den Kampf!“ Damit hatten wir gesiegt; denn wir wollen eben keinen Kampf, sondern Verständigung.

 

556. 14.2.1926

Am Dienstag große Aussprache mit Stresemann über Minoritätenpolitik. Er stand da, wo ich vor drei Monaten stand, ehe ich die Sache studiert habe. Interessantes hochstehendes Redegefecht vor ca. 50 Ministerialbeamten aller Ämter. Wir schnitten gut ab und wenn er jetzt mit unserem Erlaß nach Genf geht, hat er eine ganz andere Position, als wenn er auf die Auslandsdeutschen und die Schleswig-Holsteiner mit ihrer camouflage117 unter der Parole Kulturauto-nomie hereingefallen wäre. Danach Notgemeinschaft mit guten Reden, ich saß zwischen Luther und Loebe und hatte so ganz netten Abend. Mittwoch Frühstück bei mir über Organi-sation des internationalen Studentenwerkes mit Schairer, Tillmanns, Cons. Hoffmann, dem amerikanischen Leiter des Europ(ean) Stud(ents) Relief, Excellenz Michaelis, Picht und unseren Herren. Wir fanden einen guten Weg. Danach Konferenz mit Tietjen – Bös über Theaterfragen, bleibt noch alles in Schwebe. Diner beim Nuntius mit Hindenburg und allen Botschaftern. Ich saß zwischen dem französischen Botschafter und dem belgischen Gesandten, mußte den ganzen Abend französisch sprechen und fuhr dann um 11 Uhr mit Braun noch auf den Bierabend des Finanzministers118. Am Donnerstag aß ich mit den Orientalisten in der Deutschen Gesellschaft, am Freitag gab ich zu Ehren Schnitzlers119 einen Literaturtee, auf dem das ganze literarische Berlin anwesend war (Sudermann, Kerr, Schaffner, Caborn, Monty Jacobs usw., dazu die Bergner). Es verlief glänzend und war die offizielle Einleitung der neuen Politik.

… Berlin lebt schnell und ich glaube, meine Position in der letzten Zeit sehr verbessert zu haben. Auch nehme ich die Sache nicht so tragisch, weil ich in keiner Weise klebe, sondern manchmal mich zur Wissenschaft zurücksehne. Mich hält jetzt nur noch der Glaube an meine Mission, mehr ein Pflichtgefühl als eine besondere Freude. Übrigens vergaß ich vorige Woche zu schreiben, daß mich auch Pompecki als Rektor einlud und bei Tisch eine große Rede auf mich hielt. Für Berliner Rektoren immerhin ein Novum. Immerhin bin ich froh, all dem ohne Eitelkeit und ohne Selbsttäuschung gegenüberzustehen. Ich mache mir kein X für ein U vor, weder über meine Position noch über meine Autorität noch über meine Beliebtheit, sondern tue ruhig meine Pflicht, gebe allerdings mein Letztes an Kraft, aber bin jederzeit „zu sterben bereit“, ohne Bitternis, vielleicht sogar ohne Bedauern. Dabei glaube ich doch, der Geeignetste für diese Aufgabe zu sein. Und das läßt mich trotz allem den Kopf hoch halten.

 

557. 7.3.1926

Vor der Abreise (nach Hamburg und Bremen) hatte ich noch 1 ½ stündige Aussprache mit Max Reinhardt. Ganz aussichtslos ist die Sache nicht, jedenfalls eine große Versuchung für ihn. Aber er müßte erst seinen eigenen großen Conzern auflösen, respektive vergesellschaften, was nicht einfach ist. Wir haben uns persönlich sehr gut verstanden und er meinte, wenn ich dauernd Minister bliebe, möchte er’s schon riskieren. Er bat um einige Wochen Bedenkzeit, ehe wir die Details diskutieren. Natürlich absolute Geheimhaltung. Inzwischen geht der Kampf mit Wiegand los. U IV ist wirklich eine dornenreiche Aufgabe …

Inzwischen wird mein Interview in der Schleswig-Holsteinischen Presse erschienen sein. Am Wortlaut habe ich keinen Anteil gehabt, nur am Willen. Auch mit den Deutschnationalen habe ich mich verständigt, wenigstens mit den ostpreußischen Interessenten, denen meine Argumente doch starken Eindruck machten.

Am Freitag war große Tanzsoiree bei Stresemann, ich saß mit der Kemp eine Stunde lang auf einem Sofa zur allgemeinen Gaudi. Schillings war auf der Durchreise hier und sah meine Einladungskarte zum Straußtee liegen. „Du hast doch natürlich abgesagt?“ Barbara:

Natürlich.“ Zu mir: „Später sag ich’s ihm mal, aber den einen Tag auf der Durchreise konnte ich ihn doch unmöglich damit aufregen.“

Hess und Lauscher waren offiziell bei mir und erhoben Protest gegen Menzel120 als Klotzsch’s Nachfolger. Ich besprach die schwierige Lage offen mit ihnen, auch über Dich, den sie wohl schätzen, aber sich in keiner Weise anrechnen lassen wollen. „Er gehört nicht zu uns.“ Sie waren auch sehr beruhigt, daß Du nicht nach Bonn willst, da sie dorthin einen der Ihrigen haben wollen.

 

558. 13.3.1926

Sehr unangenehm war ein Beschluß des Staatsministeriums, durch den Röthe allein von der Prolongierung (er hat nur noch 1 ½ Jahre) ausgeschlossen wurde. Ich blieb mit Schreiber allein. Kapitale Dummheit!. Ich war heute mit Richter bei Braun und er hat dann schließlich zugestimmt, daß die Sache noch mal ans Staatsministerium soll. Hoffentlich geht’s durch. Es wäre sehr peinlich.

 

559. 21.3.1926

Über Dich reden wir in letzter Zeit viel, je näher Gürichs 121Rückkehr kommt. Kaestner möchte Dich so bald als möglich haben … Das Haus sähe Dich am liebsten als Nachfolger von Klotzsch, nachdem das Zentrum offiziell gegen Menzel protestiert hat. Schon ist die Sozialdemokratie angemeldet, die natürlich auf Menzel bestehen wird. Es ist eine verteufelte Situation.

Diese Woche stand im Zeichen des Besuches zweier holländischer Akademiemitglieder zwecks Verhandlungen über den eventuellen Eintritt in den Conseil. Die Sache kommt in Ordnung, obwohl der Hochschulverband mal wieder auf’s falsche Pferd gesetzt hat. Ich gab einen Tee, Külz, der übrigens sein Reichsschulgesetz inclusive Motivenbericht ganz persönlich als Referent ausarbeitet (er ist wirklich sachverständig), gab ein Frühstück, Haber ein Abendessen.

… Vorher hatte ich in der Staatsministerialsitzung den unsinnigen Beschluß wegen Röthe wieder rückgängig gemacht. Er ist also prolongiert, aber es war ein Kampf.

 

560. 19.4.1926

Die Unterhaltung mit Lauscher, die Deiner Abreise folgte, war positiver als ich erwartet hatte. Nach ihm hätten Zentrum und Sozialdemokratie keine Bedenken gegen Deine Nachfolge im Dirigentenposten. Ich traue aber dem Frieden noch nicht ganz, zumal ich höre, daß die Demokraten an Deinem Katholizismus Anstoß nehmen. Das muß noch geklärt werden. Jedenfalls war von „Bewährungsfrist“ bei Lauscher keine Rede. Es war ein glattes Ja, wie ich mir zweimal bestätigen ließ. Aber Du kennst ja diese Politiker, ich bin viel zu skeptisch, um diese ideale Lösung schon für sicher zu halten …

Viel Ruhe bringt die Freiwoche nicht. Ich will zu Hause die Schrift über die Pädagogische Akademie schreiben und meine Danksagungen erledigen. Dienstag Diner auf der amerikanischen Gesandtschaft, Mittwoch auf der Schwedischen Gesellschaft, Donnerstag in der schwedischen Ausstellung, nachmittags und abends Landtag Kunstetat

 

561. 25./26.4.1926 aus Rheinsberg

Montag früh, ich sitze ganz einsam im Wald auf dem Boden, mit dem Rücken an eine Kiefer gelehnt, die Schreibunterlage auf den Knien. Über mir ein klarer blauer Himmel, vor mir, vom zarten Frühjahrsgrün kaum verborgen, ein entzückender kleiner Waldsee, der Böberechensee. Er ist schöner als sein Name, ganz unbesiedelt und hat im Wanderbuch einen Stern. Was sagst Du zu diesem absonderlichen Gebaren, daß ich, ausgesucht ich, die Einsamkeit suche? Nun, ganz freiwillig ist sie nicht. Freitag nach Eröffnung der schwedischen Kunstausstellung und Absolvierung des Etats bin ich mit Robert im Auto hinausgefahren, 2 ½ Stunden, Benzin 3.20 (Liter)! Wir machten einen großen Gang durch das entzückende Rheinsberg mit seinem herrlichen Park, aßen gut zu Abend, bummelten noch bei Mondschein und schliefen (ich wenigstens) herrlich. Sonnabend besichtigten wir das Schloß, aßen leicht und fuhren dann mit dem Auto nach Neuglobsow, wo wir am Stechlinersee herumwanderten, dann brachte ich Robert nach Fürstenberg in Mecklenburg an die Bahn, er mußte leider wegen anderer Verpflichtungen heim, während ich in einer halben Stunde durch dunklen Wald nach Rheinsberg zurück fuhr. Ich wollte gern meine Schrift über die Pädagogischen Akademien fertig schreiben. So blieb ich denn zum erstenmal seit langer Zeit allein an einem solchen Ort. Es gefällt mir offen gesagt ganz gut. Ich bin offenbar nur aus Bescheidenheit bisher der irrigen Meinung gewesen, daß ich’s mit mir allein nicht aushielte. Ich machte gestern früh einen 2 ½ stündigen Gang, den Rest des Tages bis in die späten Abendstunden saß ich auf meiner Veranda und schrieb und schrieb. Heute früh ist’s nun einfach göttlich schön … Wenn ich mit meiner Schrift fertig bin, fahre ich gleich heim.

 

562. 9.5.1926

Am Freitagabend war ich in einer Abschiedsveranstaltung für die 50 nach Amerika zu verschickenden jungen Diplomingenieure in der Deutschen Gesellschaft, wo Stresemann wieder eine ganz gute Rede hielt, die ich allerdings zum Teil schon einmal von ihm gehört hatte. Gestern eröffnete ich die Kunstausstellung …

 

122

 

563. 24.5.1926

Ich habe in diesen Tagen schwer gearbeitet. In zwei nächtlichen Sitzungen von 9-1/2 2 Uhr habe ich meinen Vortrag nieder geschrieben. Ich bin zufrieden mit ihm. Thema:

Die preußisch-deutsche Kulturpolitik seit dem Krieg“, also ein Gegenstück zu Klebelsbergs Rede. Grundideen der neuen Zeit, Kirchen, Wissenschaft, Kunst, Schule. Vorn und hinten Liebenswürdigkeiten, na, Du wirst ihn ja lesen. Das Programm ist enorm. Diners bei Klebelsberg, dem Minister des Äußeren, dem Ministerpräsidenten und dem Reichsverweser. Viertägige Autofahrt durch Ungarn …

 

564. 6.6.1926 (Ungarnreise)

… Ich habe Deiner in mancher stillen Stunde gedacht, aber das war nur nachts möglich; denn tagsüber waren wir immerfort unterwegs. Es war fabelhaft schön, aber auch fabelhaft anstrengend. Am meisten habe ich durchgehalten, ich habe nie schlapp gemacht, trotz meiner 16 Reden (jede verschieden über das gleiche Thema. Richter war manchmal etwas eifersüchtig, aber ich habe trotzdem ein par stille Stunden (richtiger halbe Stunden) mit Robert gehabt. Verwöhnt, beschenkt, gefeiert bin ich heimgekehrt. Ganz Ungarn feierte meinen Besuch, alle Zeitungen, selbst die kleinsten Provinzblätter waren voll davon, überall eine fast unglaubliche Deutschenfreundschaft, bei Bauern wie Bürger, bei Staatschef und Ministern, bei Männern und Frauen, bei Katholiken wie Calvinern, in Budapest wie in Tokay, in Deheran wie in Peco, in der Matra wie am Plattensee und über allem Wein und Wein und Stimmung und Sonne und Gastfreundschaft und Liebe – kurz, es war unerhört und kaum vorstellbar …

***


Eintritt Wendes als MinDirig. von Abteilung U III


Nachtrag nach dem Rücktritt Beckers vom Amt


565. 15.2.1930

Ich werde innerlich bisher ganz gut mit mir fertig. Gearbeitet habe ich noch nichts und will auch nichts verdrängen, weil ich diese gewaltige Amputation sich ausleben lassen will. Ich bekomme zahllose Zeitungsausschnitte und wenn man alles besser weiß, bekommt man ein ganz interessantes Bild von Wert und Unwert der Presse. Heute habe ich mich sehr über den eingesandten Brief eines volksparteilichen Studenten in der Kölnischen Zeitung gefreut. Auch Grimme schrieb mir einen guten Brief über seine Rede. Es hätte dieser Entschuldigung nicht bedurft, ich hatte ihm schon vorher auf die Ausführungen in der Frankfurter Zeitung, der einzigen deutschen Zeitung hier, geschrieben, daß ich richtig verstünde. Wie wirkte denn die Rede auf Dich? Offenbar war sie psychologisch nicht sehr geschickt, aber er hätte mit Engelszungen reden können, es wäre ihm doch alles verdreht worden; und schließlich mußte er doch etwas sagen, das seine Position in seiner Partei stärkte. Das ist doch seine erste Aufgabe, die auch in unserem Interesse liegt.


1 Erich Wende *1884 in Schlesien, in einer katholischen Pädagogenfamilie groß geworden, Jurist, zuerst über 3 Jahre im Provinzialschulkollegium Münster; Mai 1917 ans Preußische Kultusministerium berufen, dort Nachfolger Beckers in der Hochschulabteilung unter Minister Haenisch, 1919 Vertreter von Staatssekretär Becker, der in Weimar bei der Verfassungsgebenden Versammlung mitwirkte. Besuchte mit Becker sämtliche preußischen Universitäten. 1923 erster hauptamtlicher Kurator der Universität Kiel; 1926 zurück ins MK unter Leitung Beckers als Ministerialdirigent der großen Volksschulabteilung mit 20 Referenten! 1927/8 schwere Besoldungskämpfe. 1930 Rücktritt Beckers. Der Finanzminister streicht in einem Coup die Mittel von 7 der 14 Pädagogischen Akademien! Juni 1932 Ministerialdirektor. Nach Machtraub durch die Nazis im April 1933 in den einstweiligen Ruhestand versetzt, Wende noch keine 50! Wollte Amtsrichter werden, wurde Landgerichts-direktor in Berlin (Scheidungsrichter, zuletzt Patentrichter); bereits Mai 1945 wieder Amtsrichter in Berlin-Ost, wechselt er 1947 zu seinem letzten Chef KM Grimme nach Hannover als Staatssekretär: Wiederaufbau der Akademien mit dem alten Personal, so vorhanden. Sein Hochschulrecht (1926) war ebenso aktuell wie Beckers und seine Schriften über die Pädagogischen Akademien (1926). Kurz vor der Pensionierung wurde er 1950 nach Bonn berufen als Leiter der Kulturabteilung des Bundes. 1954 Pensionierung. (Quelle: Einleitung zu den Briefauszügen C.H. Beckers von 1954, Manuskript aus dem Archiv Michael Beckers)

2 Kultusminister war nach der Revolution Adolf Hoffmann (gemeinsam mit Haenisch) und zwar vom 14.11.1918 bis 4.1.1919

3 Dr. jur. et phil. Helfritz war im Ministerium Schmidt-Ott bereits 1918 Hilfsarbeiter, wie Wende und Trendelenburg

4 Konrad Haenisch war Kultusminister vom 4.11.1918 bis 21.4.1921, mit Becker als Staatssekretär. 1923 RP in Wiesbaden

5 Hervorhebung des Herausgebers.

6 Hervorhebung des Herausgebers.

7 Dr. jur. et phil Helfritz wurde unter Schmidt-Ott Hilfarbeiter im MK wie Wende und Trendelenburg

8 Naumann war im Ministerium Schmidt-Ott einer der 4 Abteilungsdirektoren.

9 Schellenberg war 1921 MR in der Abteilung Höheres Schulwesen.

10 Otto Boelitz war Kultusminister vom 7.11.1921 bis 6.1.1925, Staatssekretär Becker

11 Hervorhebung vom Herausgeber.

12 Dto.

13 Hervorhebung des Herausgebers

14 dto.

15 Dr. Krüß war bereits unter Schmidt-Ott Vortragender Rat (wie Becker), wurde dann unter Boelitz-Becker Leiter der Abteilung U I (Hochschulen) als MinDirig., und MR Wende.

16 Ludwig Kaas, *1881 Trier + 1952 Rom, Theologe und Politiker, MdR des Zentrums, das er 1928-33 leitete. Stimmte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu, ging 1933 nach Rom.

17 Dr. von Bode, Generaldirektor der Kgl., später Preußischen Museen, nebenamtlich im MK tätig.

18 Es wurde dann Krüß.

19 Adolf von Harnack *1851 Dorpat +1930 Heidelberg, evangelischer Theologe, Kirchenhistoriker. Professor in Gießen, Marburg, ab 1888 in Berlin. 1905 Direktor der Königlichen Bibliothek (>Preußische Staatsbibliothek). 1911-30 Präsident der von ihm mitinitiierten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft >Max-Planck-Gesellschaft. Kanzler des Ordens Pour le mérite.

20 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1921 Berlin, evangelischer Theologe, Kirchenhistoriker, Professor in Bonn und Heidelberg (>Max Weber), 1914 nach Berlin

21 1919 neu gewonnene Territorien Italiens.

22 Abteilung U II

23 Es handelt sich um die außerordentlichen Professoren und – später – um die Honorarprofessoren.

24 Außerordentliche und Honorarprofessoren

25 Eugenio Pacelli *1876 + Castel Gandolfo 1958, 1917 Nuntius in Bayern, 1920-29 fürs Reich; Kardinal, 1930 Staatssekretär Papst Pius XI, dessen Nachfolger er 1939 wurde.

26 Walther Rathenau, Reichsaußenminister, wurde im Juni 1922 ermordet. Sohn von Emil R., der die Patente Edinsons erwarb und 1883 die Deutsche Edinson-Gesellschaft gründete, aus der die AEG entstand.

27 Hervorhebung vom Herausgeber.

28 S.o.

29 s.o.

30 Hinze war schon unter Schmidt-Ott Vortragender Rat im MK

31 Es handelt sich um den „Untergang des Abendlandes“ (1918-22). Oswald Spengler *1880 in Blanken-burg/Harz + München 1936. 1908-11 Gymnasiallehrer in Hamburg, dann freier Schriftsteller in München.

32 Hervorhebung vom Herausgeber.

33 Liegt nicht beiden Akten. Der Herausgeber.

34 I.e. MP Braun

35 Hervorhebung vom Herausgeber. Wende wurde Kurator an der Universität Kiel.

36 Becker war seit seiner Heidelberger Studienzeit Mitglied der Rupertia.

37 Hervorhebung vom Herausgeber. Die Verbindungen überlebten auch den 2. Weltkrieg. Während meiner Studienzeit in Freiburg 1956/57 hatte ich äußerst unangenehme Auseinandersetzungen mit einem Korporierten, die von völliger Unkenntnis und Intoleranz geprägt waren.

38 Reichsministerium des Innern

39 Hervorhebung vom Herausgeber.

40 Hervorhebung des Herausgebers.

41 Krisenjahr der Weimarer Republik:

 

  • RK Josef Wirth 1921-22) scheitert an Reparationsfrage. Währungsverfall.
  • RK Wilhelm Cuno (1922/23): Inflation erreicht Höhepunkt. Alliierte drängen auf Reparationserfüllung.
  • Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet, der Litauer im Memelland. Cuno fordert passiven Widerstand an der Ruhr.
  • Das Kabinett der Großen Koalition unter RK Gustav Stresemann bricht den passiven Widerstand ab.
  • Kommunistische Unruhen in Hamburg (Oktober) und Beseitigung der KPD-SPD-Regierungen in Sachsen und Thüringen durch „Reichsexekution“.
  • Liquidierung des Hitlerputsches in München: Höhepunkt der Spannungen zwischen dem Reich und Bayern. Der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr (1934 ermordet) unterstützt die nationalen Kräfte in München : Ausnahmezustand im Reich September 1923. Kahr weigert sich den Völkischen Beobachter (NSDAP) zu verbieten. Erst nach der Niederschlagung des Hitlerputsches und dem Rücktritt Kahrs wird der Konflikt mit Bayern beendet.
  • Die Konstituierung einer separatistischen „Rheinischen Republik“ scheitert, ebenso wie jene eines „Autonomen Pfalzstaates“ (Dtv-Weltgeschichte Band 2)

42 Leiter der Abteilung U III (Volksschulwesen)

43 Die Inflation in Deutschland:

  • 1914 1 Dollar = 4,20 RM;
  • 1919: 8,90 RM;
  • Februar 1920: 99,00 RM,
  • Juli 1922: 420 RM;
  • Januar 1923: 50.000 RM;
  • Juni 1923: 100 000 RM;
  • August 1923: 4.600.000 RM;
  • Oktober 1923 : 25.000.000.000 RM; (25 Milliarden!)
  • November 1923: 4.200.000.000.000 RM (4,2 Billionen!!)

44 Diese Sparmethoden sind bis heute – 2007 – noch im Schwange: Kinder haben eben keine Lobby!

45 Gewiß in der Hochschule für Politik, wo Becker im Auftrag des Auswärtigen Amtes an der Hochschule für Politik die Attachés unterrichtete.

46 Hervorhebung des Herausgebers.

47 Braun, preußischer Ministerpräsident

48 des Dienstwagens

49 Reichsministerium des Innern

50 MR Leist in U III (Volkschulwesen)

51 Wilhelm Marx, Reichskanzler 1923/4 (Zentrum), mit Außenminister Stresemann

52 Der 1. Reichstag tagte von 1920-1924: 88 Sitze KPD, 102 SPD, 21 Bayerische Volkspartei, 64 Zentrum, 30 Deutsche Demokratische Partei DDP, 65 Deutsche Volkspartei DVP, 71 Deutschnationale Volkspartei DNVP,

9 Sonstige

53 C.H.Becker, Islamstudien. Band 1:Vom Werden und Wesen der islamischen Welt. Quelle & Meyer, Leipzig 1924

54 MR Richter (Abteilung U I Hochschulen) war Honorarprofessor

55 Hervorhebungen vom Herausgeber.

56 Band 2 der „Islamstudien“, erschien erst 1932 bei Quelle & Meyer, Leipzig (Konsequenz der Inflation 1923)

57 U II Höheres Schulwesen

58 d.h. die Frau des Reichspräsidenten Ebert

59 Veganer (englisch), Vegetarier, der auch auf Eier und Milch verzichtet.

60 MD Jahnke leitete die Abteilung U II Höhere Schulen

61 Provinzialschulkollegium. RR Regierungsrat, ORR Oberregierungsrat

62 Unterabteilung K? jedenfalls wird Picht 1924 MR in U I

63 Hervorhebung vom Herausgeber.

64 Provinzialschulkollegium

65 Hervorhebung vom Herausgeber.

66 D.h. Becker

67 Beniamino Gigli, italienischer Sänger *1890 Recanati +1957 Rom ; lyrischer Bühnentenor, Konzertsänger; gestaltete auch Filmrollen. (Brockhaus multimedial 2004)

68 Enrico Caruso, italienischer Sänger *1873 Neapel + 1921 Neapel; galt als bester Tenor seiner Zeit; er vereinte technisch vollendet beherrschte Stimme mit großer schauspielerischer Begabung. (Brockhaus multimedial 2004)

69 Liegt nicht bei. Der Herausgeber.

70 Hervorhebung des Herausgebers.

71 Katholisches Episkopat und Evangelische Kirche.

72 Hervorhebung vom Herausgeber.

73 Liegt nicht bei. Der Herausgeber.

74 Hervorhebung vom Herausgeber.

75 I.e. Wende in Kiel

76 Volksschulwesen

77 Hervorhebung vom Herausgeber.

78 MD Nentwig leitete die Abteilung F (Stiftungsfonds, Klosterkammer)

79 Hervorhebung vom Herausgeber.

80 Romano Guardini *1885 Verona +1968 München. Katholischer Religionsphilosoph und Theologe, Professor in Berlin (1939 zwangsemeritiert), Tübingen und München. Dort hatte er noch Ende der 50er Jahre immer ein volles Haus: seine Vorlesungen waren ein Genuß.

81 Hervorhebung vom Herausgeber.

82 Gemeint ist die DDP

83 U II: Höheres Schulwesen

84 In Salem befindet sich bis heute eine renommierte Privatschule, gegründet von Otto Hahn. Nach 1933 mußte er emigrieren und ging nach Schottland, wo er Gordonstown aufbaute.

85 Hervorhebung des Herausgebers.

86 Friedrich Ebert *1871 +28.2.1925 in Berlin. Erster Reichspräsident des Deutschen Reiches 1919-25, SPD. Große Machtfülle lt. Verfassung: Direktwahl; Ernennung des Reichskanzler; Notstand lt. §48 WV

87 Referent Duwe war schon unter Boelitz-Becker (1922) in der Zentralabteilung, ebenso 1926.

88 Hans Luther *1879 +1962 bildete 1925 sein 1. Kabinett mit dem Zentrum, BVP, DNVP (Stresemann)

89 Hervorhebung vom Herausgeber.

90 Ministerium des Innern

91 Am 29.3.1925 fand die Präsidentenwahl statt. Kandidaten waren Ludendorff, Dr. Jarres, Dr. Marx, Dr. Held, Dr. Helpach, MP Braun, Thälmann u.a.. Im zweiten Wahlgang am 26.4. erhielt von Hindenburg 14,65 Millio-nen Stimmen, Dr. Marx 13,75, Thälmann 1,93, Sonstige 0,13

92 i.e. die DDP

93 Die Preußischen Landtagswahlen vom 7.12.1924 ergaben für die SPD 114, Zentrum 81, DDP 27 Abgeordnete (=222 Abgeordnete).

94 Steiger war Zentrumspolitiker, Landwirtschaftsminister, wohnte in Steglitz. Sohn Alfred war ein Freund meiner Eltern und wurde nach 1945 Landesbankdirektor in Münster, Enkel Heinhard ging mit dem Herausgeber zur Schule, wurde Juraprofessor in Gießen.

95 Wilhelm Marx *1863 +1946 (Zentrum) bildete im November 1923 das neue Reichskabinett. Nach den Reichstagswahlen im Mai 1924 bildete er sein 2. Kabinett. Im Oktober 1924 erneute Auflösung des Reichstages nach Abstimmung über den Dawes-Plan, der angenommen wird. Im Dezember 1924 erneute RT-Wahlen, Marx tritt zurück; sein Nachfolger wird der parteilose Hans Luther *1879 +1962 mit einem Kabinett aus Zentrum, BVP, DVP, DNVP (Außenminister Stresemann)

96 Hervorhebung vom Herausgeber.

97 Dto.

98 Der Wandervogel, gegründet 1896, wurde zum Ausgangspunkt der Jugendbewegung. Ziele: Überwindung der Großstadtzivilisation und jugendspezifischer Lebensstil. Die Jugendbewegung entsteht 1900 als eine pädagogische, geistige, kulturelle Erneuerungsbewegung mit dem Ziel aus eigener Kraft eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung zu finden.

99 Preußischer Finanzminister 1925 (DDP, MdL)

100 In der Tat ist Richter als MinDirig. und Leiter der Abteilung U I (Hochschulen) aufgeführt im Handbuch 1926.

101 Neustrelitz ist heute Kreisstadt im Landkreis Mecklenburg-Vorpommern in waldreicher Umgebung am Zierker See; 23 700 Einwohner; Landestheater, Stadtmuseum; elektrotechnische, Nahrungsmittel und Metallindustrie.

102 1923 marschierten französische und belgische Truppen ins Rheinland und das Ruhrgebiet ein. Durch die Annahme des Dawes-Plans kommt es zu einer Entspannung in den deutsch-französischen Beziehungen dank Stresemann. 1925 wird der Locarnopakt unterzeichnet, dessen Sinn Stresemann u.a. darin sieht, die Rheinlande dem Reich zu erhalten; 1925 Räumung des Ruhrgebiets, 1926 der Kölner Zone. Erst 1929/30 wird die zweite Rheinlandzone (Koblenz) von den Franzosen geräumt.

103 D Dr. von Campe, DVP-Fraktionsvorsitzender im Preußischen Landtag 1924.

104 Hervorhebung des Herausgebers. Konrad Adenauer war von 1917-33 Oberbürgermeister von Köln und Vorsitzender des Reichsrats. Ein Separatismus Adenauers gehört in den Bereich der Legende!

105 meint er wohl Tihany am Plattensee?

106 Harro Siegel

107 Hervorhebung des Herausgebers.

108 Hervorhebung des Herausgebers.

109 I.e. vom Abteilungsleiter MD Kaestner (Volksschulwesen)

110 Ferdinand Brunot, *1860 +1938, Sprachwissenschaftler an der Pariser Sorbonne, Hauptwerk: Histoire de la Langue francaise dès origines à 1900.

111 Liegt leider nicht bei. Der Herausgeber.

112 Abteilung U IV dient der Pflege der Kunst, auch Staatstheater. Leiter MD Nentwig.

113 Hervorhebung vom Herausgeber.

114 Wohl eher in der Kutsche! BB.

115 Wohl eher von Spanien nach Kairo vgl. seine Reiseberichte im Ersten Teil seiner Privatkorrespondenz.

116 Hervorhebung vom Herausgeber.

117 Le camouflage, französisch: Tarnung

118 Höpker Aschoff, Preußischer Finanzminister (DDP)

119 Arthur Schnitzler *1862 Wien + 1931 Wien, zunächst Arzt (Interesse an Hypnose und Traum), dann Schriftsteller.

120 1926 ist Menzel MR in Abteilung U III (Volkschulen)

121 Gürich wird ebenfalls 1926 MR in Abteilung U III (Volksschulen)

122 Leider setzen die Briefe Beckers hier aus; durch die räumliche Nähe erübrigten sich leider die instruktiven Bemerkungen Beckers, die einen tiefen Einblick in seine Tätigkeit bieten. Der Herausgeber

Deutsche Allgemeine Zeitung, 1930

HA.VI.Nachl. C.H.Becker. Rep.92 Becker D. Nr. 182

382. Dr. Fritz Klein an C.H.B. Berlin, 3.2.1930

Chefredakteur der D.A.Z.

(Maschinenmanuskript)

Hochgeehrter Herr Minister!

Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen anläßlich Ihres Ausscheidens aus dem Staatsdienst, in dem Sie so große Verdienste erworben haben, noch persönlich zum Ausdruck bringe, wie sehr ich die politischen Machenschaften, die Ihrer Ministertätigkeit ein Ende machten, und die jedes Gefühl der Dankbarkeit verleugnende äußere Form Ihres Abganges bedauert habe. Was ich hierüber für die Öffentlichkeit zu bemerken hatte, ist gestern, vorbehaltlich einer ausführlichen Würdigung, in der ‚Deutschen Allgemeinen Zeitung’ gesagt worden. Sie werden aus meinen Worten herausgelesen haben, daß wir trotz mancher Gegnerschaft in bestimmten Fragen Ihren Leistungen stets gerecht geworden sind, und uns zu denen rechnen können, die eine Vorstellung von der Füller innerpolitischer Schwierigkeiten hatten, die Ihren Bestrebungen durch unser unglückseliges Parteiwesen bereitet wurden.

Lassen Sie, hochverehrter Herr Minister, mich noch ein Wort besonderen Dankes für die mir oft erwiesene Unterstützung meiner politischen Arbeit hinzufügen und der Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie Ihr großes Können und die hohe Achtung, die Ihnen in der internationalen Gelehrtenwelt entgegengebracht wird, an anderer wichtiger Stelle weiterhin für unser Vaterland einsetzen können.

Mit dem Ausdruck besonderer Hochachtung Ihr stets ergebener (gez.) Dr. Fritz Klein.

 

383. Dr. Fritz Klein (D.A.Z.) an C.H.B. Berlin, 17.12.1930

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Professor!

Die Nationalsozialistische Partei ist ein nicht mehr zu übersehender Faktor des öffentlichen Lebens Deutschlands geworden. Die Frage, ob es möglich sein wird, sie in absehbarer Zeit zur Regierungsverantwortung mit heranzuziehen und welche Folgen dies für Deutschland gegebenenfalls hätte, steht im Vordergrund des allgemeinen Interesses. Die ‚Deutsche Allgemeine Zeitung’ möchte die Auffassung einiger weniger Persönlichkeiten der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft hierüber ihren Lesern in der Weihnachtsnummer vor Augen führen und wendet sich daher an Sie, sehr verehrter Herr Professor, mit der Bitte, sich zu der Frage:

Ist eine Regierungsbeteiligung der Hitlerpartei wünschenswert und welches wären ihre Folgen?1

Äußern zu wollen. Für den Fall, daß Sie – wie ich aufrichtig hoffe – meiner Bitte entsprechen wollen, darf ich folgendes hinzufügen: Eine kurze (vielleicht 30 Zeilen umfassende) prägnante Wiedergabe Ihrer persönlichen Meinung erscheint mir als die geeignete Form der Antwort, was natürlich keine zwingende Vorschrift sein soll.

Darf ich um eine kurze Benachrichtigung bitten, ob das Manuskript bis zum nächsten Montag, den 22. d.Mts., in meinen Händen sein wird? Ich begrüße Sie, sehr geehrter Herr Professor, mit dem Ausdruck meines besonderen Dankes und in Vorzüglicher Hochachtung als

Ihr ganz ergebener (gez.) Dr. Fritz Klein.

 

384. C.H.B. an Dr. Fritz Klein. Berlin, 18.12.1930

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr Dr. Klein,

Ich danke Ihnen herzlich für die Aufforderung, mich in Ihrer Zeitung über die Regierungsbeteiligung der Hitlerpartei zu äußern. Ich war die letzten Monate in den Vereinigten Staaten und habe noch nicht wieder genügend politische Fühlung gewonnen, um mich mit einiger Autorität über die angeschnittene Frage zu äußern. Ich bin im Zusammenhang mit meiner wissenschaftlichen Arbeit und mit meiner großen Auslandsreise augenblicklich auf ganz andere Probleme eingestellt und hoffe, daß Sie Verständnis dafür haben, daß ich mich aus der innerpolitischen Diskussion noch einige Zeit heraushalten möchte.

In der Hoffnung, Sie bald einmal wiederzusehen bin ich mit verbindlichen Grüßen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (C.H.B.)


1 Hervorhebungen von Dr. Klein

Prinz Max von Baden, 1923 + 1929

HA VI. Nachl. Becker. Rep.92 B. Nr.6188

318. C.H.B. an Prinz Max von Baden, Salem (Baden). Berlin, 16.11.1923

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Hochzuverehrender Prinz.

Euer Hoheit telegrafische Anfrage über Oberschulrat Michaelis habe ich sofort in empfehlenden Sinne beantwortet. Wenn ich mir eine briefliche Begründung vorbehielt, so geschah es in der Absicht, Euer Hoheit über die Stellung von Michaelis im Berliner Schulleben kurz zu informieren.

Michaelis ist unzweifelhaft ein tüchtiger Schulmann und guter klassischer Philologe und dienstlich besonders mit Prüfungsvorschriften und Examensanforderungen vertraut. Wenn auch der alten Schule angehörig, hat er doch Verständnis für moderne Experimente bewiesen, wovon ich mich persönlich bei einem gemeinsamen Besuche der städtischen Versuchsanstalt auf der Insel Scherfenstein im Tegeler See überzeugen konnte. Natürlich ist er nicht die bezwingende und führende Persönlichkeit, die Reinhardt war, und ich würde es nicht als im Interesse der Schloßschule liegend erachten, wenn er als dauernder Leiter in Frage kommen sollte. Dafür ist er doch zu altmodisch und dem neuen Stande der Dinge zu fern stehend. Politisch ist er wohl ziemlich ahnungslos, wirkt deshalb aber wie alle sogenannten Unpolitischen im Sinne der Rechten. Jedenfalls sind manche seiner Maßnahmen und Handlungen so gedeutet worden, und es hat sich ein wahres Kesseltreiben der Linken gegen ihn entwickelt, wodurch er zu einer gewissen Belastung für die Regierung wurde. Irgendetwas disziplinär zu Ahndendes ist ihm nicht vorzuwerfen gewesen. Aber seine Unfähigkeit, sich der neuen Zeit anzupassen, hat uns doch veranlaßt, ihm einen freiwilligen Rücktritt vor dem Erreichen der Altersgrenze zu erleichtern.

Ich wollte das ganz offen sagen, um Euer Hoheit vollkommen ins Bild zu setzen, kann aber nur wiederholen, daß er, losgelöst von der Berliner Atmosphäre und herausgenommen aus der ständigen Verärgerung durch Zeitungsangriffe, bei seinem unbedingten pädagogischen Geschicke und seiner hervorragenden klassisch-philologischen Bildung als vorübergehender Leiter der Schloßschule nur wärmstens empfohlen werden kann.

Darf ich diesen Anlaß benutzen, Euer Hoheit noch einmal Dank zu sagen für die liebenswürdige Aufnahme, die ich in Schloß Salem gefunden habe. Euer Hoheit wissen, welch warmes Interesse ich der Salemer Schule entgegenbringe, und ich kann nur wiederholen, das alles, was ich gesehen und gehört habe, mich in der Überzeugung bestärkt hat, daß unter Euer Hoheit Patronat ein sehr ernster und bedeutungsvoller Versuch unternommen wird, dem ich volles Gelingen wünsche.

Mit der Bitte, der Frau Prinzessin meine ehrerbietigste Empfehlung übermitteln zu wollen, habe ich die Ehre, Euer Hoheit mit besonderer Verehrung zu begrüßen

Als Euer Hoheit ergebenster (C.H.B.)

 

319. C.H.B. an Berthold Prinz von Baden, Salem. Berlin, 6.11.1929

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Telegramm (?)

Zum Heimgang Ihres Herrn Vaters1 spreche ich Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Mutter meine und meiner Frau innigste Teilnahme aus. In stolzer Freude werden Sie immer Ihres Vaters gedenken können, der in schwerer Zeit sich rückhaltslos dem Vaterlande zur Verfügung gestellt hat und dessen edle Menschlichkeit allen unvergeßbar sein wird, die das Glück seiner persönlichen Bekanntschaft genießen durften.

Kultusminister Becker


1 Prinz Max von Baden *1867 +1929 wurde im Oktober 1918 Reichskanzler

Gertrud Bäumer, 1929-33

HA VI Rep.92 Becker B.Nr. 6273

315. MdR Gertrud Bäumer1 an C.H.B., Kultusminister. Berlin 28.8.1929

(Maschinenmanuskript)

Verehrter Herr Minister!

Wenn ich Ihnen das beiliegende Manuskript übersende, so geschieht in der Annahme, daß es Sie interessieren wird, das von Ihnen geprägte Wort vom dritten Humanismus schon in der internationalen Diskussion zu finden. Bei dem Internationalen Kongreß für Pädagogik in Genf Ende Juli hat Albert Thomas, der Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, einen der Hauptvorträge über das Bildungsproblem des Arbeiters gehalten und in diesem Vortrag das Stichwort vom „neuen Humanismus“ programmatisch gebraucht. Ich habe in meinem Vortrag über die Verbindung von beruflicher und allgemeiner Bildung dieses Stichwort von Thomas aufgenommen, und darum dachte ich, daß das Manuskript Sie interessieren würde. Es ist in englischer Sprache, weil nur von der englischen Übersetzung, die ich selbst angesichts des zu 47 % angelsächsischen Publikums gegeben habe, mir eine Nachschrift zur Verfügung stand.

Es war sehr interessant, wie auch in verschiedenen Ansprachen das gleiche Problem aus dem pädagogischen und schulorganisatorischen Entwicklungsstand der verschiedensten Länder, – auch des Ostens – auftauchte.

Ich brauche das Manuskript nicht zurück.

Mit verbindlicher Empfehlung (gez.) Gertrud Bäumer

 

316. C.H.B. an MR’ Dr. Bäumer, MdR. Berlin, 12.9.1929

(Maschinenkopie)

Sehr verehrte gnädige Frau!

Von einer Auslandsreise nach Berlin zurückgekehrt, fand ich hier Ihre freundlichen Zeilen vom 28. August d. Js. vor, für die ich Ihnen verbindlich danke. Das ihnen beigefügte Manuskript habe ich mit lebhaftem Interesse gelesen.

Natürlich bin ich mit der Tendenz sehr einverstanden, namentlich auch mit der Schlußforderung der einheitlichen Leitung der Allgemein- und Berufs-Schulausbildung. Leider sind wir in Preußen davon noch weit entfernt. Ich wäre aber für jede Hilfe in dieser Richtung außerordentlich dankbar.

Mit verbindlichen Empfehlungen

Ihr sehr ergebener (C.H.B.

Anlage

Vortrag von Gertud Bäumer auf dem Pädagogik-Kongreß in Genf 1929

Mr. Albert Thomas at the end of his very impressive speech on Saturday has put the question, if in fact vocational toil for the great mass of the population engaged in industrial work can be the whole meaning of their life – if educators as well as social reformers have not to face a higher aim; man as he is in himself, in his own rights, his own pride an dignity, “the form complete” –as Walt Whitman says. And he spoke of a new educational ideal rising with the emancipation and social development of the working classes, which has already been given the name of the “new humanism”.

I want to stick to this word. For it is just the formula for the solution of the educational problem of which I have to speak: the problem how to combine the proper equipment of the young people for the battle of life with that deeper an more general culture of their personality, which from a higher, not purely utilitarian, point of view, for the sake of the dignity of human life has to be indispensable and everlasting key-aim of education. And we have to face this task not only as a question of the preservation of “humanities” in the schemes of higher or university education, but also – and chiefly – as the quite new and modern question, how to give this culture to the masses together with that just as indispensable vocational training in the work they are likely to follow.

In all countries, whose economic and social life has been shaped by technical development, we note an ever-growing tension between the rising exigencies of vocational life on education and the worker’s performances and the ideals of broadness and totality of human and personal culture. The question, how to adapt the educational system to these economic necessities and at the same time preserve space for the human culture of body and soul and for the training of the spiritual and moral forces needed by the community just as badly as practical faculties – this has put himself as the very central problem of the construction as well as of programs and methods of the educational system. Discussion in all countries is full of these problems – in the newspapers as well as in the deliberations of educational circles and administrations.

  • On the one side the complaints of the so called practical people, that schools in devoting too much of their time to “useless” subjects, do not properly equip their scholars for life,
  • on the other side the struggle of the teachers to persuade the public of the worth of culture for its own sake, –

  • on the one side the obstinacy of old tradition against the necessities of a fundamentally changed world,

  • on the other a rather flat and short-sighted under-appreciation of everything that is not “useful” in a very primitive and superficial sense of the word.

It is one of the fatal effects of this cruel commercial rivalry and this passionate and frenzies struggle between Nations that everywhere man is sacrified to business and industry. Production can’t – even if it would like to – escape the incessant urge of competition to raise its efficiency by rationalising, even if this efficiency can only be attained at the price of degrading man – as Mr. Thomas has pointed out – into an annex of the machine. Certainly – the psycho-technical science – beginning with its American pioneers – has begun to realise that the working man is not simply a mechanical force, but a living being with a soul, but investigations into the nature of this living instrument of production only goes as far as its use as working force is concerned, and the statements on the motives and moves of this production instrument end with the last stage of the assembly line. The psycho-technical science is indifferent towards the workers as fathers and mothers, sons or daughters, neighbours or citizens. It is not interested in their taste and thirst for the treasures of culture, or in the deeper questionnings on life stirring within them, or the great thoughts of eternity coming to them.

Everywhere we see two stages in the development of education. In the historical beginnings of the public school-systems – be their roots founded in a want of religious or of civic education – they certainly aimed at a general human education, be it ever so simple and primitive, and did not take the child merely as a future worker. The ascent of education from the elementary school to College and University meant an increasing and deepened cultivation of what the Romans called “humanitas” – an educational ideal and a name that have been preserved in the European educational systems.

This development is interrupted and even broken off by the irresistible claims of the new professional life. The professional system under the influence of applied science has become at the same time immensely specialised, subdued to a whirl of incessant changes and, being splintered up in endless purely mechanic occupations, yet as a whole intellectualised.

The educational systems adjusted themselves, at first hesitatingly, then rather rapidly, to these new circumstances. Today we see an immense increase of professional and technical training in all countries, together with the organisation of vocational guidance and new and modern regulations of all sorts of apprenticeship. The expanding of the modern system of equipment for industrial life is on the point of overgrowing the traditional school system and yet is still far from its final standard.

This remarkable progress of vocational training in the last decades presents two aspects. On the one side it is part of an armament in the feverish economic competition of the nations; on the other side is a very valuable educational movement to meet new wants for skilled work in the best way and to give the young people in a rational and systematic form what otherwise they had to pick up by chance.

But while we are all still trying to meet the incessant demand for all kinds and types of vocational training, the question of the fate and everlasting right of the “humanitas” ideal is advancing upon us, strengthened by a new and very strong political reason: the progress of democracy and the political responsibility of all citizens for all the big questions of national life. The working man, who in his team work on the assembly line has to accomplish the same operation scores of thousands of times, as a citizen bears equal responsibility with the University man, and in many countries – for instance my own – represents the strongest political power. On his vote depend not only the questions of peace and war, of economic and social politics, but also the questions of education and culture. This means that his training cannot be confined to his outfit for work. He too has a right and a claim to this idea of “humanitas”, taken in the new and modern sense Mr. Thomas had in his mind, when he spoke of the humanism needed. With the traditional cultivation of “humanitas” at school there is connected the character of exclusiveness, the concentration of culture on a small class of people, leaving the thirst of improvement and knowledge of the multitude to that bit of elementary teaching given in the primary schools and to pure vocational drill. What we need is an education in “humanitas” that means raising the level of feeling and thought of the masses in a form adapted to their needs and to the necessities for their life, giving them, as Mr. Gilbert Murray said, higher wishes and surer beliefs.

In saying this I realise, that there is a great difference in the social conditions of Europe and the New World. In a country with so many unexploited possibilities and resources of the United States, with such confidence in still growing property you can encourage the largest numbers of students to work their way through college, and the main question seems to be to give everybody a chance to get on. I take from a little book of John Bunn the figure of students enrolled in Colleges and Universities of the U(nites) St(ates) is 500 000 on a population of 119 millions. Germany with a population of about half as many millions has only an enrolment of 112 000 in her Universities, which yet give rise to very serious anxiety, because it is undoubtedly much too large for the limited openings in higher professions. Therefore we have to try to confine the ascent to university to the very fittest – taking them of course from all classes of the people. And as far as I see the same rather tragic situation prevails in other European countries: that they have an expanding competition of highly trained intelligence and too little professional space for them.

But even if the percentage of candidates for higher professions could be raised much higher than it can be with the limited opportunities of Europe – the big mass still remains in the middle and lower sphere of professional life. And the great problem for all the countries is, how to raise the cultural level of these masses, without neglecting the urgent training for skilled work.

Now there are two ways possible to accomplish this.

  • The one is the prolongation of general and fundamental education before vocational training or professional work is beginning. I do believe that we must come to an obligatory school attence of nine years –combined with what Mr. Thomas asked for: a prohibition of child labour up to the fifteenth year.
  • But on the other hand I do not believe in the usefulness of encouraging or even compelling masses of practically gifted children to go through secondary schools, before they are admitted to certain professions or institutes for professional training. There seems to be after the war in European countries an overflowing of secondary schools by children, who are not of the intellectual type with which secondary educations as preparation for University must reckon and who are thrown out of their proper way, without being capable to perform really valuable work on their new lines. By these types the sharp division between the cultured and the uncultured classes will not be abolished, but embittered by disappointment and failure.

  • Therefore we must try an other way and that is to penetrate vocational training with sufficient elements of general culture, to “humanise” it – if I may take up once more the formula of the “new humanism”, that is to say to widen and to deepen it – in preserving its strictly professional character. Boys or girls have to be impressed throughout their professional training by the greater sphere of responsibility spreading all around their professional activities, being closely and by many organic relations connected with it, and demanding not only efficiency in work but a standard and an individual power of mental refinement, character and human and social value. I believe that the words of Walt Whitmann to a pupil still apply to the situation of labour in modern society: “Is reform needed? Is it through you? The greater the reform is needed the greater the Personality you need to accomplish it.”

This programme demands in some sense a new idea of culture. The academic man of Europe brought up on the venerable classical ideas of a spiritual culture based on philosophy and historical knowledge and thought, has some difficulties in catching up with another possibility: the educational ideal of a man who just like the artisan of the Middle ages is in every sense up to the demands of his circle of life:

 

  • as a worker,
  • as a citizen,
  • as a member of his church,

and impresses us with the simple harmony and the round efficiency of his life, without having gone all this long way through thoughts and arts and performances of all ages and Nations in order to be cultivated. We can’t under so changed and so much more complicated circumstances revive that man in his sane and simple totality – but we may create a modern type of him, and whoever on politics or other spheres of social life has come in touch with the representatives of labour of today, must know this modern type.

We must loosen this sharp division of one group of schools giving what we call “general education” and excluding strictly any professional aspect, even the general training of manual qualities – and another group giving nothing but vocational training without any broader background. We must realise, that human education of those masses of our young people who go to work from the primary school or after a very short vocational training cannot be achie-ved in that space of time that it demands a very systematic care of the age of manhood or womanhood.

Let me point out the chief items of what is necessary:

  1. a vocational guidance for the young people leaving the obligatory school, that is not only aimed at to finding them a job, but – in cooperation with the school – looks after their human qualities and bears in mind that the profession has to serve not only a means of their earning living but as the happy or unhappy sphere of all their active forces.

  2. An educational spirit in shops and factories and all places where young people are employed, whether they go through regular apprenticeship or whether they are and remain unskilled. We have before our legislation in Germany just now a new law, that does not only regulate apprenticeship after modern principles but charges the employer with a responsibility for the general bodily and mental welfare of all the young people, in their employ, apprenticed or not, beyond the mere questions of labour protection.

For a young boy or girl entering working life at fourteen or fifteen the question of further human development is a question of spare time. Children imprisoned in an eight hours work day without holydays besides Sundays cannot, with very few exceptions, be expected to have energies left for self-improvement and any concentrated work of self education. It is the tension between the perhaps often unconscious longing for it and the hard and tiring pressure of work that leads very often to the crisis of this age. That there really exists a very strong longing, a very strong feeling of a claim that youth has to all-sided human development, is shown by our youth-movement, that can be defined as a reaction of youth itself against the human shortcomings in the conditions of modern life. As to the labour-conditions their demand is that young people under eighteen should have paid holidays, and a great exhibition of all our youth-organisations last year has shown, that they are able to make use of these holidays in a way that all educators can only heartily endorse.

  1. The continuation-school, that has to be obligatory up to the eightieth year. There has been much discussion, whether the continuations-school had to be a prolongation of primary schools or part of a vocational education. The decision in Germany, though both forms are existing side by side, has, I may say, been given in the latter sense and the continuation-school is now called “Berufsschule”. But that does not mean that it is nothing but a complementary vocational training for the prentices and young workers. Its ideal is very clearly – and is ever more clearly worked out – to widen the aspect of the professional work which remains the centre of the continuation-school, by physical training, personal culture, civil education and a deeper understanding of the national roots of their existence.
  2. The programmes and methods of vocational schools, technical schools, schools of commerce a.s.o.. In these programmes and methods the tendency to develop a new type of “humanism” out of the very centre of practical efficiency has its broadest field of action. I do believe that for my country as well as for other European countries the most important and promising educational work is to be found here, in the raising of level of all these institutes not be merely multiplying and specialising the subjects, but by preparing a higher and broader conception of them.

  3. This can only be done by the qualification of the teachers. We train the teachers for our professional schools in vocational teachers-training-colleges (berufspädagogische Institute). To enter these institutes they must have the maturity for the University and at least two years of professional work or a training in a vocational school. The studies in the VTTrC take two years and we mean to extend them further to three years. The idea is, that these teachers have to combine the aspects of higher education with a perfect experience in the practical work, which their scholars want to learn. So, being at home in both spheres of education, they are enabled to educate the new type we want: a youth with a solid practical training, with all necessary qualities for nature of their education protected against the danger of being swallowed up by commercialism.
  4. One last item: in the question of administration. In my opinion, the merging of the two great aims of an educational system: practical efficiency and human culture can only be fully guarantied, if the administration of the vocational and the general branches of education at the centre is not separated. A vocational training system under the auspi-ces of industrial or commercial boards is always in danger of sacrifying the education-al to the purely utilitarian tendences. I would like to mention the brilliant speech with which Mr. Herriot in France defended the reform by which he put the vocational school system under the Ministry of Education.

Perhaps many of you think that there is too much idealism in the conception of this new humanism rising out the whirl and haste of industrial life, out of factories and shops and all the places of economic struggle. But as educators we have to look at the possibility with an eye of faith. For it is the only way, to revive the ideals which have once formed European culture, under circumstances, that must otherwise without doubt ultimately defeat them.

317. Gertrud Bäumer an C.H.B. Berlin, Charlottenburg, Fürstenplatz 1, 13.1.1933

Verehrter Herr Minister!

Ich danke Ihnen sehr für die Übersendung Ihres Aufsatzes, den ich in der Vossischen Zeitung schon gelesen hatte, und auch dafür, daß Sie mein Buch in Ihre Charakteristik einbezogen haben. Inder Beurteilung allerdings des Buches von Helbing stimme ich nicht ganz mit Ihnen überein.- Aber das ist zu weitschichtig für briefliche Darlegung.Vielleicht findet sich einmal eine Gelegenheit, darüber zu sprechen.

Mit verbindlicher Empfehlung (gez.) Dr. G. Bäumer


1 Gertrud Bäumer *1873 Bethel + 1954, führend in der deutschen Frauenbewegung, gab mit Helene Lange die Zeitschrift „Die Frau“ heraus (1931-44), MdR

Auswärtiges Amt, 1922-33

 

VI HA Nl Becker. Nr. 80

304. Auswärtiges Amt an C.H.B., Staatssekretär. Berlin, 31.5.1922

Hier: Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Potsdamer Str. 120

J.Nr.IX. B. 11511. Auf die Eingabe vom 15. November (1921)

(Maschinenmanuskript)

Das Auswärtige Amt ist davon überzeugt, daß die Auslandsabteilung des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht für das Deutschtum im Auslande von großer Bedeutung sein kann, und es ist daher zur Förderung der Arbeit dieser Abteilung bereit, nach Maßgabe der verfügbaren Mittel dem Zentralinstitut zunächst eine einmalige Beihilfe von 40 000 Mark zu gewähren. Die Legationskasse ist angewiesen, diesen Betrag dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht auf Anfordern auszuzahlen. Insoweit dem Auswärtigen Amte in Zukunft die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, wird es auch im nächsten Jahre auf einen alsdann dortseits erneut zu stellenden Antrag gern einen weiteren Zuschuß in Aussicht nehmen.

Das Auswärtige Amt darf bei diesem Anlaß die Erwartung aussprechen, daß ihm im Vor-stande der Jubiläumsstiftung Sitz und Stimme eingeräumt wird, um so mit der Arbeit der Auslandsabteilung in engere Fühlung kommen zu können.

Im Auftrage gez. Soehring.

 

305. Maltzhan, Auswärtiges Amt, an C.H.B. Berlin, 25.6.1923

Attaché-Ausbildung in Berlin

(Becker wird der Themenkreis

Der Kreis der orientalischen Frage (Vorderasien, der Islam und die Politik der Großmächte angeboten. Vgl. auch DHfP)

Generalprogramm

1. Geschichte

I.

  1. Geschichte des europäischen Staatensystems und der großen Politik. (…)
  2. Hauptlinien und Grundtendenzen der deutschen Geschichte mit besonderer B Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts (…)

II.

  1. Staatenkunde, Einleitung und Gesamtübersicht vom geopolitischen Standpunkte.
  2. Die angelsächsische Welt

a) England und seine Kolonien
b) Nordamerika

  1. Die romanische Welt
    1. Frankreich
    2. Italien
    3. Spanien
    4. Südamerika
  2. Die slawische Welt, Ost- und Südosteuropa
  3. Der Kreis der orientalischen Frage
    1. Islam und europäische Großmächte
    2. Persien, Türkei, Nordafrika
  4. Der Ferne Osten
    1. China
    2. Japan

III.

  1. Demokratie, Arbeiterbewegung, Sozialismus (…). Parteibildung und Parteiprogramme, vor allem in Deutschland mit vergleichendem Ausblick nach England und Frankreich.
  2. Internationale Mächte und Bewegungen (kirchlicher, rechtlicher und sozialer Art) und ihre Organe in ihrem Verhältnis zum Staatensystem und ihre Wirkung auf dieses.
  3. Meister der Politik in der neueren Zeit ( Richelieu, Friedrich d.Gr., Katharina II, Napoleon I., Hardenberg, Cavour, Disraeli, Bismarck)

IV.

  1. Geschichte, System und Technik des diplomatischen Dienstes.
  2. Übungen an Hand von Akten des Auswärtigen Amtes.
  3. Geschichte, System und Technik des Nachrichtendienstes

B. Volkswirtschaft und praktisches Wirtschaftsleben

  1. Der Aufbau der Weltwirtschaft und die Stellung der deutschen Volkswirtschaft in ihr
  2. Geld- und Kreditwesen.
  3. Die Handelspolitik der wichtigsten Staaten
  4. Handel und Verkehr.
  5. Kapitalistische und sozialistische Wirtschaftsordnung
  6. Finanzsystem der Großmächte.
  7. Technik des Welthandels.
  8. Innenorganisation der Unternehmungen einschl. Buchhaltung und Finanzwesen.
  9. Ein oder zwei Studienreisen jedes Jahr sowie kleinere Besichtigungen landwirtschaftlicher, gewerblicher u.a. Betriebe in Berlin und näherer Umgebung.

C. Recht

  1. Grundfragen des deutschen Staatsrechts unter besonderer Berücksichtigung der für den auswärtigen Dienst wichtigen Kapitel.
  2. Vergleichendes Verfassungsrecht (Haupttypen der Staatsverfassungen)
  3. Hauptfragen des Völkerrechts.
  4. Völkerrechtliche Übungen.
  5. Der Vertrag von Versailles und die durch ihn geschaffenen Rechtsverhältnisse

Vorlesungen und Übungen

 

306. C.H.B. an AA Berlin, 2.7.1923

(Zustimmung Beckers.)

Wenn ich die Formulierung richtig verstehe, so wird von mir keine Vorlesung oder Übung über die Vorderasienpolitik der Mächte im allgemeinen erwartet, sondern eine spezielle Beschränkung auf den Islam als Problem der inneren und äußeren Politik für orientalische wie europäische Staaten.

 

307. AA (Herr Freytag) an C.H.B, Preußischer Kultusminister. Berlin, 3.3.1928

(Maschinenmanuskript)

Sehr verehrter Herr Staatsminister!

Erlauben Sie mir im Anschluß an unser Gespräch von Mittwoch Abend, Ihnen, nachdem ich mich noch genauer informiert habe, Folgendes mitzuteilen:

Die vollzogene Ernennung von Herrn Professor Herzfeld zum wissenschaftlichen Sachver-ständigen der Gesandtschaft in Teheran hoffe ich, Ihnen in kurzer Zeit mitteilen zu können. Da diese Bestellung in einem gewissen Zusammenhang mit der Frage von sogenannten Kulturattachés steht, bestanden zunächst gewisse Bedenken, die aber jetzt behoben sind.

Wie ich Ihnen schon mündlich auseinandersetzen durfte, ist die Einrichtung des Archäologischen Instituts in Konstantinopel lediglich um ein Jahr aufgeschoben. Ich habe mit dem Botschafter Nadolny vereinbart, daß die Verankerung des Instituts im Etat des Jahres 1929 erfolgen wird. Herr Nadolny glaubt, daß bis dahin eine Einigung mit den Türken in dieser Frage erzielt werden kann. Herr Professor Schede hat jedoch bereits jetzt volle praktische Arbeitsmöglichkeit, da ich ihm aus dem Fonds meiner Abteilung in diesem und im kommenden Rechnungsjahr einen Zuschuß von je 35 000 Mark zur Verfügung stelle.

(gekürzt)

 

308. C.H.B. an MinDir, de Haas, AA. Berlin, 14.7.1930

(Maschinenkopie) Nr. III A 2451

Hochverehrter Herr Ministerialdirektor,

Anbei überreiche ich den mir freundlichst übersandten Ministerialpaß mit ausgefüllter Unterschrift und unter Beifügung der gewünschten Paß-Photographien. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich der Sache so freundlich annehmen. Mit meinem preußischen Ministerialpaß habe ich bisher nie Schwierigkeiten gehabt und ich weiß nicht, ob die preußischen Bestimmungen in diesen Punkten wirklich so streng sind wie die des Reiches. Aber mir ist es unter allen Umständen lieber, im Auslande auf einen Reichspaß als auf einem Länderpaß zu reisen, da ich zu den Leuten gehöre, die der Meinung sind, daß nach außen nur das Reich als solches auftreten sollte. Wenn für den Sichtvermerk meines Sohnes1 noch irgendwelche Unterlagen notwendig sind, so darf ich vielleicht darauf hinweisen, daß er mich erstens als Sekretär begleitet und zweitens die Gelegenheit benutzen möchte, seine im vorigen Jahre in den Vereinigten Staaten angefertigte Dissertation über amerikanisches Budget-Recht noch einmal an Ort und Stelle zu überprüfen.

Mit verbindlicher Empfehlung und aufrichtigem Dank Ihr ergebenster (C.H.B.)

 

309. AA an C.H.B. Berlin, 30.7.1931

(Maschinenmanuskript)

Sehr verehrter Herr Professor!

In Vertretung von Herrn Geheimrat Terdenge, der sich zur Zeit in Urlaub befindet, beehre ich mich Ihnen auf Ihre liebenswürdigen Zeilen vom 26.Juli 1931 mitzuteilen, daß eine Befreiung von der Ausreisegebühr für die Teilnehmer an internationalen wissenschaftlichen Kongressen leider nicht möglich ist. Dem Auswärtigen Amt, das in der Angelegenheit nicht federführend ist, steht irgendwelche Einwirkung auf die Gestaltung der Ausführungsbestimmungen nicht zu. Auch für den Kauf von Devisen können leider keine besonderen Vergünstigungen vom AA vermittelt werden. Das Amt muß es unter den gegebenen Verhältnissen den zu den Kongressen entsandten Vertretern ebenso wie seinen eigenen Beamten überlassen, ihre Reisen nach den allgemein geltenden Bestimmungen einzurichten.

Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung Ihr sehr ergebener gez. (Riehl)

 

310. C.H.B. an das AA. Berlin, 5.8.1931

(Maschinenkopie)

Nachdem der Völkerbund mich mit einer Mission nach China betreut hat, über die dem Auswärtige Amt das Nähere bekannt ist, bitte ich mir zum Zwecke dieser Reise einen Ministerialpaß ausstellen zu wollen und mir zugleich die nötigen diplomatischen Visen zu beschaffen. Da die Ausreise über Amerika und die Rückreise über Vorderasien geht, werde ich folgende Visa brauchen:

  • Vereinigte Staaten von Amerika
  • Canada
  • Japan
  • China
  • Niederländisch-Indien
  • Britisch-Indien
  • Irak
  • Persien
  • Syrien
  • Egypten.

Voraussichtlich werde ich nicht alle Visa brauchen; aber die genaue Route für meine Rückreise steht noch nicht fest, und so ist es wohl richtiger, diese Rückreisevisa sich zu verschaf-fen. Ebenso bitte ich vorsehen zu wollen, daß ich auch im Notfall mit der Sibirischen Eisenbahn zurückfahren kann (russisches Visum).

Um in Bezug auf mein Reisegepäck keine Schwierigkeiten zu haben, wäre ich dankbar, wenn mir eine Grenzempfehlung für die Vereinigten Staaten, Canada und Japan verschafft werden kann. (…)

Die Personalien nach meinen bisherigen Pässen sind folgende:

  • D. Dr. Carl Heinrich Becker
  • Staatsangehörigkeit: Preußen
  • Geburtsort: Amsterdam
  • Geburtsdatum: 12. April 1876
  • Wohnort: Berlin-Steglitz, Schillerstr.2
  • Gestalt: Mittel, schlank
  • Gesicht: oval
  • Augen: blau
  • Haar: dunkelblond
  • Besondere Kennzeichen: keine.

In ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

311. AA, Freudenberg an C.H.B. Berlin, 26.4.1932

VI W 3655/32

Hochverehrter Herr Minister!

Wie ich Ihnen heute früh in Aussicht stellte, erlaube ich mir, Ihnen hiermit Durchdruck eines Berichts des Generalkonsulats Shanghai mit einer Serie von Bildern über die Zerstörungen der Tun-Chi-Hochschule zu übersenden.

Mit angelegentlichen Empfehlungen bin ich gez. Ihr aufrichtig ergebener Freudenberg

Anlage des Deutschen Generalkonsulats Shanghai vom 31.3.1932

Inhalt: Auswirkungen des japanisch-chinesischen Konflikts auf die Tun Chi Universität

Anbei beehre ich mich einen Satz von dreizehn Lichtaufnahmen in je vierfacher Ausfertigung von den Universitätsgebäuden und den Dozentenhäusern der Tun Chi Universität mit dem Anheimstellen geeignet erscheinender Verwendung vorzulegen.

  • Bild 1 zeigt das Hauptlehrgebäude der Universität, dessen Dach und Vorderfront einige Volltreffer erhalten hat.
  • Bild 2 zeigt die Lehrstätten, das Maschinenhaus und Elektrolaboratorium. Das Dach des Maschinenhauses (Mitte des Bildes) ist erheblich beschädigt, das Elektrolaboratorium (rechte Seite des Bildes) durch eine Fliegerbombe fast vollständig zerstört.
  • Bild 3 zeigt das Innere des durch die Fliegerbombe zum Einsturz gebrachten Elektrotechnischen Instituts.
  • Bild 4 zeigt den noch nicht ganz vollendeten Neubau des mit deutschem Gelde im vorigen Jahre gebauten Lehrgebäudes für die Mittelschule, das verhältnismäßig geringfügige Beschädigungen am Dache erlitten hat.
  • Bild 5 zeigt das Alumnat und alte Lehrgebäude, das ebenfalls Beschädigungen am Dach und der Vorderfront erhalten hat.
  • Bild 6 zeigt im Hintergrund das gleiche Gebäude wie Bild 5, im Vordergrund die Schmalseite des im Sommer vorigen Jahres fertiggestellten Physiologischen Instituts, das besonders schwer mitgenommen ist.
  • Bild 7 zeigt die Woosung-Rehde zugewandte Rückfront des Physiologischen Institut,.
  • Bild 8 eine Innenaufnahme des gleichen Instituts.
  • Bild 9 zeigt die erste der in zwei Blocks von je vier Häusern gebauten Dozenten-wohnungen, die von dem chinesischen Generalsekretär der Universität bewohnt wurde. (…)
  • Bild 10 zeigt das außerhalb des eigentlichen Universitätsgeländes gelegene Dozentendoppelhaus, das von den Professoren Stumpf und Requard und den Mittelschullehrern Rehbein und Schade bewohnt wurde.
  • (…)
  • Die Bilder 11 bis 13 zeigen das Innere des oberen Stockwerks der Wohnung des Dekans der technischen Fakultät, Professor Slotnarin. Die Inneneinrichtung der anderen Dozentenhäuser ist teils weniger, teils aber noch erheblich stärker zerstört oder beschädigt (Auf der Rückseite der Fotos ist vermerkt Zerstörung durch Granaten!)

Die Gesandtschaft in Peping und die Botschaft in Tokyo erhalten Abschrift dieses Berichts unter Beifügung je zweier Ausfertigungen des Satzes der Lichtaufnahmen.

Der Verband für den Fernen Osten erhält einen Satz der Aufnahmen durch den Dekan der technischen Fakultät direkt. Gez. Frh. v. Rüdt

 

312. C.H.B. an AA, Kulturabteilung, Gesandter Freitag. Berlin, 4.6.1932

(Maschinenkopie)

Unter Bezugnahme auf meinen mündlichen Vortrag bei dem Herrn Gesandten Freitag und nach persönlicher Rücksprache mit mehreren Herren der Abteilung beehre ich mich als Vizepräsident des internationalen Pädagogen-Kongresses in Nizza (Weltbund für Erneuerung der Erziehung) eine Unterstützung des Kongresses im Interesse einer würdigen Vertretung des Deutschtums bei dieser internationalen Aussprache zu beantragen. Indem ich einen deutschen Prospekt und ein für den internen Gebrauch gedrucktes vorläufiges Programm beifüge, möchte ich hervorheben, daß ich mich zur Übernahme des Vizepräsidiums nur entschlossen habe, nachdem die bisher von einer bestimmten Richtung getragene deutsche Sektion des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung sich mit anderen pädagogischen Richtungen unter meinem Vorsitz zu einer Beratung zusammengefunden hatte, in der für eine paritätische Vertretung aller modernen Richtungen in der deutschen Pädagogik Sorge getragen war.2
Ich halte eine Vertretung Deutschlands bei diesem Kongreß deshalb für notwendig, weil er bei den anderen großen Nationen stets ein erhebliches Echo gefunden und sich zum größten internationalen pädagogischen Kongreß entwickelt hat. Da auf solchen Kongressen nicht ver-hindert werden kann, daß weniger geeignete Elemente mangels einer offiziellen Vertretung das Deutschtum und die deutsche Politik kompromittieren, scheint es mir dringend nötig, wenigstens für diejenigen Gebiete, an denen wir ein politisches Interesse haben, ruhige und sachverständige Beauftragte zu Worte kommen zu lassen.

(Im folgenden bittet Becker um Reisestipendien für 12 Pädagogen wegen der allgemeinen Schwierigkeit der privaten Finanzen. Insgesamt fordert er 3000 RM.)

In ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

313. AA, Gesandter Freitag an C.H.B. Berlin, 12.6.1932

VI S 3036 (Maschinenmanuskript)

Für eine deutsche Beteiligung an dem diesjährigen Internationalen Pädagogen-Kongreß in Nizza habe ich Ihrer Anregung entsprechend aus Mitteln des Auswärtigen Amts 3000 RM (Dreitausend RM) bereitgestellt.

Die Legationskasse des Auswärtigen Amts hat einstweilen Anweisung erhalten hiervon 1000 RM … zu überweisen.3 Den Restbetrag von 2000 RM bitte ich ergebenst entweder unmittelbar oder durch die Deutsche Pädagogische Auslandsstelle zum Zeitpunkt des tatsächlichen Bedarfs, gegebenenfalls in Raten vom Auswärtigen Amt anfordern zu wollen.

Ich wäre dankbar, wenn aus dieser Reichsbeihilfe nicht mehr als 10 deutsche Vertreter mit Reisezuschüssen versehen würden, da eine zehnköpfige Vertretung Deutschlands auf dem Kongreß hier angesichts der gespannten Finanzlage des Reichs für ausreichend erachtet wird.

Die Deutsche Pädagogische Auslandsstelle, Berlin, hat Kenntnis von diesem Schriftwechsel erhalten, mit der Bitte, zu gegebener Zeit für die Beibringung von Verwendungsnachweisen über die Beihilfe Sorge zu tragen. Im Auftrag Freytag

 

314. Deutsche Botschaft Rom via AA an C.H.B. Rom, 25.1.1933

(Maschinenkopie)

Chinesische Kommission zum Studium des Unterrichtswesens in Italien.

Dieser Tage ist eine sechsköpfige chinesische Kommission, die sich zwei Wochen in Italien zum Studium des Unterrichtswesens aufgehalten hat, wieder abgereist, um die Studienreise in Österreich und Rußland fortzusetzen. Die Kommission hat sich in Mailand, Genua, Rom und Neapel aufgehalten. Ihre Reise in Italien war durch die italienische Kommission für geistige Zusammenarbeit im Einvernehmen mit den zuständigen Ministerien vorbereitet worden. Nach den in der Presse erschienenen Berichten über die Reise ist von der Kommission ein sehr umfangreiches Programm durchgeführt worden.

Auffallend ist die große Aufmachung, mit der die chinesischen Gäste hier, offenbar aus politischen Gründen, empfangen wurden.

2 Presseberichte, (liegen nicht bei).

(Gez.) Hassell.


1 Es handelt sich um Walter Becker, meinen Patenonkel, der leider Anfang des Zweiten Weltkrieges fiel.

2 Hervorhebung vom Herausgeber

3 Das sind bereits verauslagte Kosten bei der Vorbereitung des Kongresses in Deutschland.

Dr. Asmis, 1920-29

HA VI. Rep.92 Becker A. Nr.71

296. Reichsministerium des Innern (III), Dr. Asmis an C.H.B. Berlin, 18.9.1920

(Maschinenmanuskript)

Hochverehrter Herr Staatssekretär!

Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen auszusprechen mit welcher Genugtuung und Freude ich aus den Tageszeitungen Ihre Ausführungen zu dem Thema Bildungsaufgaben im neuen Deutschland anläßlich der Kieler Herbstwoche für Kunst und Wissenschaft gelesen habe. Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir, falls der Vortrag im Druck erscheinen sollte, ein Exemplar der Veröffentlichung zugehen lassen würden. Aus Äußerungen des Herrn Staatssekretärs Schulz am heutigen Vormittage entnehme ich, daß Ihre Darlegungen zur Flaggenfrage ihn mindestens in dieser Beziehung nachdenklich gestimmt hatten.

In aufrichtiger Verehrung Ihr sehr ergebener gez. Dr. Asmis.

 

297. Dr. Asmis an Minister C.H.B. Berlin, 26.11.1921

(Maschinenmanuskript)

Hochverehrter Herr Minister!

In der Annahme, daß die Vorgänge in Afrika auch heute noch für Sie Interesse habe, erlaube ich mir in der Anlage einen Sonderabdruck meines soeben in den Preußischen Jahrbüchern erschienen Aufsatzes Afrikanische Weltprobleme zu übersenden. Es würde zweifellos interessant und wertvoll sein, wenn einmal von berufener Seite auch die Frage untersucht würde, wie sich der Islam zu den jetzt in Afrika sich ankündigenden Umwälzungen stellt.

Mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung Ihr aufrichtig ergebener gez. (Geheimrat)1 Dr. Asmis

PS. Anmerkung Beckers: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Anlage absenden: Becker, Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte .(1920?)

 

298. Dr. Asmis an C.H.B. z.Z. Taschkent, 12.4.1923

Sehr geehrter Herr Staatssekretär,

mein Aufenthalt in Taschkent hat mich mit Ihrem Spezialkollegen, der früher in Petersburg, jetzt an der hiesigen Universität wirkenden Professor Schmidt zusammengeführt, der z.Z. Rektor des hiesigen orientalischen Instituts ist. Ich habe in Herrn Schmidt einen sehr geschei-ten, liebenswürdigen Herrn kennen gelernt, der den dringenden Wunsch hat, wieder mit der ausländischen, insbesondere der deutschen Gelehrsamkeit und innerhalb dieser mit Ihnen in wissenschaftlichen Konnex zu kommen. Sind doch die sämtlichen Professoren hier von der wissenschaftlichen Außenwelt nahezu völlig abgeschlossen. Herr Schmidt hat nur für Sie und für die Bibliotheken Berlin und Leipzig je ein Exemplar seiner letzten erst während des Krieges herausgekommenen Veröffentlichung, für die er auch deutsche Handschriften benutzt hat, übergeben. Ich lasse Sie Ihnen anliegend zugehen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die für die Bibliotheken bestimmten Werke an diese weiterleiten würden.

Herr Schmidt würde sich, glaube ich, sehr freuen, wenn Sie ihm Ihrerseits Ihre letzten Veröffentlichungen über die Beziehungen von Islam und Christentum zukommen lassen würden. Sind Sie dazu bereit, so stelle ich Ihnen anheim, das Buch über die Kurierstelle unseres Auswärtigen Amtes, Wilhelmstraße 76 zusenden zu lassen. Ich werde es dem Herrn Schmidt aushändigen. Mich würde es ebenfalls freuen, wenn Sie sich hierzu entschließen würden, da ich die Herstellung von Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Gelehrsamkeit für eine wesentliche Unterstützung bei der Herstellung allgemeiner guter deutsch-russischer Beziehungen halte. Ich lebe hier jetzt in der „Welt des Islam“. Das Ferghanatal, Buchara, Samarkand, Chiwa, Hierer (?unleserliche Bleistift-Handschrift), Aschchabad sind u.a. auch meine Reiseziele. Kann ich an einem der Orte für Ihre Arbeiten irgend welche (….) Beschaffungen vornehmen, so bin ich dazu gern bereit. Auch zur Aufnahme von Photographien.2 Nur bitte ich Sie mir das möglichst umgehend mitzuteilen, da ich einige der Orte wohl schon in nächster Zeit aufsuchen werde. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß ich in die chinesischen Grenzgebiete, die ja auch ganz überwiegend mohammedanisch sind, komme.

Mit bester Empfehlung Ihr Ihnen aufrichtig ergebener gez. Dr. Asmis

Adresse: Auswärtiges Amt, Berlin, Wilhelmstraße 76, Kurierstelle, Nachsenden

 

299. C.H.B. an Dr. Asmis, Taschkent. Berlin, 17.5.1923

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Asmis!

Ich danke Ihnen vielmals für die Vermittlung der „Schmidt’schen“ Bücher und für Ihr freundlichen Zeilen aus der Welt des Islams. Von Herrn Krüß habe ich gelegentlich schon von Ihrer hochinteressanten und Sie gewiß sehr befriedigenden Reise erfahren. Spezielle Wünsche habe ich leider nicht, da ich ja vom heiligen Bürokratius aufgefressen bin. Nur nebenher lese ich noch Kolleg. Zurzeit halte ich historische Übungen über das Leben Mohammeds vor 12 Mohammedanern und 4 Christen; eine nicht uninteressante Aufgabe.

Wir leben hier in einer schweren Zeit, und ich sehe mit Sorge der Zukunft entgegen.

Mit verbindlichsten Grüßen und besten Wünschen Ihr ergebenster (C.H.B.)

Herrn Geheimrat Dr. Asmis, Auswärtiges Amt, Kurierstelle, Berlin, abgesandt 24.5.

 

300. Dr. Asmis an C.H.B. Eldena in Pommern, 23.6.19239

Sehr verehrter Herr Minister,

ich komme am 26.und 27. des Monats nach Berlin und werde im Hôtel Habsburger Hof am Anhalter Bahnhof wohnen. Sie würden mich zu besonderem Dank verpflichten, wenn Sie mich am 26. vormittags oder zu beliebiger Stunde am 27. empfangen könnten. Ich möchte, anknüpfend an unsere letzte Unterhaltung auf dem Abendessen der D.A.J.4 Ende April des Jahres, gern einige Fragen dienstlicher und persönlicher Art mit Ihnen besprechen. Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir telefonisch oder schriftlich in den Habsburger Hof Nachricht zu schicken zu lassen, ob Sie meinen Wunsch erfüllen können.

In alter Verehrung Ihr aufrichtig ergebener gez. Dr. Asmis

Anmerkung Beckers: Für Marienbad zurücklegen. 8.7.

 

301. C.H.B. an Dr. Asmis. Marienbad, 23.7.1929

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr Asmis!

Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief aus Pommern, den ich erst in der Stille meines Marienbader Kuraufenthaltes beantworten kann. Es tut mir aufrichtig leid, Sie am 26. und 27. nicht empfangen zu können, da ich erst am 10. August nach Berlin zurückkehre. Ich würde mich riesig gerne wieder einmal ausführlich mit Ihnen unterhalten haben und gebe die Hoffnung nicht auf, daß das doch noch zwischen meiner Rückkehr und Ihrer Ausreise möglich sein wird. Ich bitte Sie dann möglichst bald nach dem Verfassungstage im Ministerium unter Privatsekretariat anzurufen, um einen Termin zu verabreden.

Mit verbindlichen Grüßen in bekannter herzlicher Verehrung Ihr ergebenster (C.H.B.)


1 Zusatz des Empfängers

2 Unterstreichungen von Becker.

3 Muß wohl 23. Juli heißen!

4 Deutsche Auswärtige Gesellschaft?

Raymund Aron, 1932

HA VI. Rep.92 A. Nr.69

293. Raymund Aron an C.H.B. Berlin-Wilmersdorf, Landhausstr.14 (o.D.)

A mesure qu’on a plus d’esprit, on trouve qu’il y a plus d’hommes originaux. Les gens du commun ne trouvent pas de différence entre les hommes.

294. C.H.B. an Raymund Aron. Berlin, 19.11.1932

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr Aron!

Ich danke Ihnen freundlich für das Zitat. Es ist allerdings so pointiert, daß ich es leider nicht zitieren kann, ohne die Amerikaner zu beleidigen, und liegt mir fern.

Ich denke gern an unsere Unterhaltung zurück und sende Ihnen anbei zwei Aufsätze, von denen Sie den italienischen behalten wollen, während ich Sie leider bitten muß, mir den deutschen zurück zu schicken, da es mein letztes Exemplar ist. Ich glaube aber, daß es eine schöne Basis für eine Diskussion zwischen uns werden wird.

Mit verbindlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

295. Raymund Aron an C.H.B. Berlin, den 12.12 1932

Sehr geehrter Herr Minister!

Ich schicke Ihnen Ihren Aufsatz zurück und bitte um Entschuldigung für die

Verspätung.

Natürlich bin ich im großen und ganzen mit Ihrem neuen historischen Bewußtsein einverstanden. Und ich würde gern Ihre These als Anfangspunkt für eine Diskussion hinnehmen. Wenn man die Laizität des Positivismus überwunden hat, bleibt noch eine schwierige Aufgabe zu erfüllen: eine neue Methode, die neue Philosophie der Geschichte aufzubauen. Die Verhältnisse unserer Geschichte und dem Geschehen sind ja lange nicht so einfach, wie der frohe Positivismus sich vorgestellt hat. Aber desto notwendiger wird die Reflexion, die uns die Grenzen und den Wert der historischen Kenntnisse klar macht. Ohne diese positive Lösung des Problems bleibt die Überwindung des Positivismus ein Ende des Skeptizismus und nicht ein Fortschritt des philosophischen Bewußtsein.

Die heutige Krisis ist nicht nur die Befreiung von einer toten Materialsammlung und des unmöglichen Wie einer Abbildung der Realität, sondern auch die Unfähigkeit an ihren alten Glauben zu verzichten, weil man keinen anderen hat und weil das Absterben der Götter langsam vor sich geht.

Dazu kommt, daß wir selbst zu viel Geschichte erlebt haben, um nicht auf einer Seite das Bedürfnis zu empfinden, auf die Vergangenheit zurückzugreifen und wir nicht auf der anderen Seite die Problematik der geschichtlichen Rekonstruktion wir am Leibe gespürt zu haben – und diese Rekonstruktion brauchen wir doch! Weil wir mitten in der tragischen Wirklichkeit stehen, wo alles wieder in Frage gestellt wird, verlangen wir nach einer Wieder-eroberung der Vergangenheit um zur Zukunft vorwärts zu gehen und die Kontinuität wieder-herzustellen. Wir wollen, daß die Historie der Gegenwart dient und doch kann die Wissen-schaft dem Leben wirklich helfen, wenn sie wahr ist. Doch diese Spannung zwischen dem Lebensbedürfnis und dem Wahrheitsideal, zwischen dem geschichtlichen Erleben und dem Vertrauen ist die Historie.

Aber diese Spannung ist nun die Gegebenheit. Es ist Pflicht und Ziel, in der Tat und der Philosophie den Gegensatz auf einer höheren Stufe des Denkens und der Lebenseinstellung aufzuheben

Entschuldigen Sie diese vagen und kurzen Bemerkungen, die Ihnen zeigen werden, mit welchem Interesse ich Ihren Aufsatz gelesen habe, und wie gern ich mit Ihnen über diesen Fragenkomplex diskutieren würde.

Mit dem Ausdruck aufrichtiger Sympathie und vorzüglicher Hochachtung verbleibe ich

Raymund Aron

van Aubel, 1920

A VI Rep.92 Becker A. Nr.74

291. C.H.Becker an van Aubel1, Vorsitzender der deutschen Studentenschaft. Berlin, 24.8.1920

Der Staatssekretär (Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr van Aubel.

Sie bitten mich um Auskunft darüber, woher das Gerücht über den Abbau der Universitäten entstanden ist. Ich will Ihnen das gern vertraulich mitteilen. Dabei glaube ich kaum, eine Indiskretion zu begehen, nachdem an verschiedenen Stellen bereits die Veranlassung bekannt geworden ist. Die Debatte über einen Abbau der Universitäten setzte ein, als Frankfurt genötigt war, um staatliche Hilfe zu bitten. Im Finanzministerium glaubte man schon unter Südekum, die nötigen Summen nicht aufbringen zu können, ja, man liebäugelte mit dem Gedanken, an den Universitäten zu sparen. Dabei ging man von dem richtigen Gedanken aus, daß Deutschland z.Zt. zu viel Akademiker erzeugt, und daß eine weitsichtige Finanzpolitik eine Überflutung mit Beamtenanwärtern hintanhalten muß. Damals suchte ich in einem Privatbrief, den Minister Südekum davon abzubringen, Frankfurt eingehen zu lassen und brauchte dabei die unvorsichtige Wendung, daß ich wohl bereit sei, mit mir reden zu lassen, wenn die absolute finanzielle Notlage uns dazu zwänge, eine oder die andere Universität zu reduzieren, daß aber die Universität Frankfurt als kultureller Vorposten gegen Frankreich eine nationale Notwendigkeit sei, und daß es eine politische Dummheit ersten Ranges sei, gerade Frankfurt eingehen zu lassen2. Dieser Privatbrief ist dann irgend einem geschäftigen Referenten in die Hand gefallen, und der hat darauf sofort in einem amtlichen Schreiben zu äußern gewagt, daß das Kultusministerium den Abbau von Universitäten auch für nötig hielte. Bei der Aussprache im Staatsministerium anläßlich der Subvention für Frankfurt habe ich ausdrücklich erklärt, daß nur ein völliger Zusammenbruch unserer Finanzen eine solche Maßnahme rechtfertige, und daß selbst dann eine Zusammenlegung nur auf Grund der Verabredung zwischen verschiedenen Ländern erfolgen könne. All das waren für mich aber nur taktische Äußerungen, da ich wußte, daß eine solche Vereinbarung nie zu erzielen sein wird, und ich hoffte, durch ein solches Vorgehen den sehr gefährdeten Bestand Frankfurts zu retten. Letzteres ist ja nun auch tatsächlich gelungen, und damit wäre die Sache erledigt gewesen, wenn nicht durch den inzwischen ins Amt getretenen neuen Finanzminister Lüdemann das Abbauproblem ein vollkommen neues Gesicht erhalten hätte.

Lüdemann ist Techniker, hat wohl auch einmal auf der Technischen Hochschule studiert, schwört aber auf die sogenannte mittlere technische Erziehung3. Auf der gleichen Linie liegen seine Pläne über volkswirtschaftliche Mittelschulen. Nun muß man wissen, daß weite kreise der Sozialdemokratie mit großem Mißtrauen gegen das reaktionäre Beamtentum erfüllt sind. Man lehnt die Akademikerwelt als fortschrittsfeindlich überhaupt ab und sucht, im angeblichen Interesse des neuen Staates die Reservoire zu unterbinden, aus denen sich die Akademikerwelt rekrutiert: Universitäten und höhere Schulen. Nach den schlechten Erfahrungen, die man mit manchen neuen Männern in amtlichen Stellen gemacht hat, sieht man ein, daß man die Arbeitersekretäre vor ihrer Verwendung auf wichtigen Posten akademisch bilden muß. Auch erfordert die tägliche Mitarbeit der Arbeiterschaft an allen möglichen Stellen akademische Funktionäre. Daher der Gedanke, der, wenn er richtig ausgeführt wird, auch meiner Überzeugung nach zweifellos zum Nutzen des Vaterlandes dienen wird. Von seinen Urhebern wird er allerdings manchmal mißverstanden. Jedenfalls entspringt er bei vielen von diesen einem Gefühl des Mißtrauens und der Feindschaft gegenüber der alten Akademikerwelt. Diese Arbeiterakademien kosten natürlich Geld. Dieses Geld möchte man bei den Universitäten durch einen bisher sehr unklar vorgestellten Abbau ersparen. Damit hofft man zugleich die Zahl der Studierenden herabzusetzen, was natürlich völlig falsch ist. Dabei fordert man auf der anderen Seite die Zulassung der Volksschullehrer zu den Universitäten. Sie sehen also schon daraus, wie wenig durchgedacht der ganze Plan ist. Trotzdem hat Herr Lüdemann es für richtig gehalten, gleich nach seinem Amtsantritt ein großes Rundschreiben nicht nur an sämtliche preußische, sondern auch an die Reichsressorts gehen zu lassen, in dem er den Abbaugedanken im Zusammenhang mit der Begründung von Arbeiterakademien einer grundsätzlichen Aussprache zu unterziehen empfiehlt. Gegen alle bisherige Übung ging dieses Schreiben ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Kultusministerium heraus, und dieses Schreiben ist es, daß die große Beunruhigung hervorrief, da es ganz naturgemäß nicht geheim bleiben konnte. Wir waren darin ersucht, kommissarische Besprechungen einzuleiten.

Wir haben daraufhin erklärt, daß die Fürsorge für die Universitäten Sache der Länder und nicht des Reiches sei, und haben in Aussicht genommen, auf der bevorstehenden Hochschul-konferenz der Länder in Bad Elster die Möglichkeit einer Rationalisierung des Betriebes zur Debatte zu stellen. Die kommissarischen Besprechungen haben wir abgelehnt. Es ist übrigens sehr interessant gewesen zu beobachten, daß sich Herr Lüdemann auf der ganzen Linie eine Abfuhr holte. Manche Ressorts haben sogar sehr deutlich geantwortet4. Ich beabsichtige nun, zum kommenden Etat eine kleine Denkschrift dem Landtage vorzulegen, in der diese Frage erörtert werden soll. Wir müssen natürlich mit Rücksicht auf die Finanzziele eine behutsame Universitätspolitik treiben und können nicht mehr so aus dem Vollen wirtschaften wie vor dem Kriege. Aber von Schließung einzelner Universitäten darf m.E. überhaupt keine Rede sein. Ich denke mir Einsparmöglichkeiten nach der Richtung, daß wir z.B. nicht mehr an jeder Universität 3 Professuren für klassische Philologie haben, daß man aber beim Freiwerden einer dieser Stellen den Posten nicht streicht, dafür aber ihn durch einen Nationalökonomen oder den Vertreter einer neu aufkommenden Disziplin besetzt. Weiter sollen bestimmte Universitäten besondere Aufgaben bekommen, wie Göttingen Mathematik und Physik. An diesen Orten sollten dann mehrere Professoren des betroffenen Faches nebeneinander wirken, während an anderen Universitäten nur ein Normalbetrieb aufrecht erhalten bleiben soll. Wer sich auf einem Gebiet wirklich wissenschaftlich spezialisieren will, muß dann die Universität aufsuchen, an der gerade sein Fach eine besondere wissenschaftliche Vertiefung und einen reichen Ausbau erfährt. Es werden ja dann doch immer noch zwei Hauptstätten für jedes Fach in Preußen bleiben, da die Sonderstellung Berlins5 unter allen Umständen gehalten werden soll. Als meine Hauptaufgabe für die nächsten Monate betrachte ich es, der Öffentlichkeit klar zu machen, daß die Ausgaben für die Universitäten geradezu eine Lappalie darstellen in un-serem Gesamthaushalt, wenn man bedenkt, daß sie doch die letzten geistigen Produktionsstätten und Kraftquellen darstellen.6

Das wäre leicht, wenn nicht die unverantwortliche Verhetzung von rechts und links den Riß zwischen der Arbeiterwelt und der Akademikerschaft noch immer vergrößerte. Ich habe in diesen Tagen einen Aufsatz über die Unterrichtspolitik der französischen Revolutionszeit7 gelesen, und da war es mir dann doch sehr amüsant zu sehen, daß damals auch die Universität Paris die Führerin der Reaktion gewesen ist. Sie mußte schließlich sogar geschlossen werden und wurde erst unter Napoleon wieder eröffnet. Hoffentlich kommt es bei uns nicht so weit. Dabei habe ich die feste Überzeugung, daß die Universitäten gar nicht so reaktionär sind, wie sie meist gemacht werden. Leider werden nur die Entgleisungen einzelner Professoren und Studenten und die Torheiten einzelner Korporationen oder Verbände verallgemeinert. Von dem Bewußtsein der vaterländischen Verantwortlichkeit ihres politischen Auftretens sind die meisten Deutschen doch leider noch sehr weit entfernt. In dieser Hinsicht erhoffe ich mir eine große Erziehungsarbeit von der deutschen Studentenschaft. Wenn sie nur die Professoren gleich mitziehen könnte!

Damit hoffe ich, Ihren Wunsch erfüllt zu haben, und wiederhole die Bitte, diesen Brief im Wesentlichen zur persönlichen Information für Sie und Herrn Benecke, den ich freundlich grüßen lasse, zu benutzen.

In aufrichtiger Hochachtung Ihr ergebenster gez. Becker.

 

292. C.H.B. an van Aubel, Göttingen. Berlin, 20.6.1920

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Sehr verehrter Herr van Aubel!

Durch ein Versehen im Geschäftsgang ist das Protokoll der Hanstein-Tagung erst nach Eintreffen Ihres Telegramms wieder in meine Hände gelangt, und ich habe erst gestern Abend Gelegenheit gehabt, mich genauer über den Inhalt zu informieren. Ich kann Ihnen nur sagen, daß mich die Lektüre ganz ungemein befriedigt hat. Die Hanstein-Tragung hat offenbar auf einer erstaunlichen geistigen Höhe gestanden. Ich freue mich sehr, daß dies Protokoll gedruckt wird, und wünsche den Gedanken allen Erfolg. Ich trage aber doch Bedenken, meinerseits ein Vorwort dazu zu schreiben. Bei der Umstrittenheit des Problems müßte dieses Geleitwort außerordentlich vorsichtig abgefaßt sein und könnte sich nur in allgemeinen Gedanken bewegen. Es würde dann voraussichtlich überall citiert und eine Festlegung des Ministeriums daraus gefolgert werden, während ich es im Interesse der Sache liegend erachte, wenn das Ministerium in keiner Weise mit dem Gedanken einer humanistischen Fakultät verknüpft wir. Die Idee ist nun einmal aus der Studentenschaft heraus geboren, und die Idee wird sich in ihrem berechtigten Kern umso leichter durchsetzen, je weniger es danach aussieht, als ob das Ministerium die Sache unter seine Fittiche nähme.

Persönlich glaube ich, daß die Verwirklichung des Gedankens der Arbeitsgemeinschaften – eine in sich geschlossene Fakultät kommt ja wohl nicht in Frage – ausschließlich von den zur Verfügung stehenden Persönlichkeiten abhängen wird. Hoffentlich glücken die praktischen Versuche in Göttingen, wo der Boden ja besonders geeignet ist. Ich werde es mir angelegen sein lassen, den Gedanken auch sonst zu fördern, wo die persönlichen Bedingungen gegeben sind. Ich darf Sie wohl bitten, diesen Brief als Privatbrief zu betrachten.

Mit verbindlichen Grüßen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (C.H.B.)


1 Herr cand.jur. van Aubel war Student in Göttingen und lebte Jüdenstr.21

2 Hervorhebung vom Herausgeber

3 Hervorhebung vom Herausgeber

4 Hervorhebung vom Herausgeber.

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

6 Hervorhebung vom Herausgeber.

7 Hervorhebung vom Herausgeber.

Dr. Andreesen, 1920-23

HA VI Rep.92. Becker A Nr.51

Korrespondenz mit Dr. Andreesen, Leiter der Deutschen Landerziehungsheime 1920-23

286. Dr. Andreesen an C.H.B., Unterstaatssekretär. Schloß Bieberstein bei Fulda, 8.6.1920

Sehr geehrter Herr Unterstaatssekretär!

Die Reichsschulkonferenz wird mich in dieser Woche nach Berlin führen. Es wäre mir außerordentlich erwünscht, wenn Sie mir gelegentlich meiner Anwesenheit in Berlin eine kurze Unterredung gewähren könnten. Herr Oberregierungsrat Kumerow, der zur Zeit gerade hier in Bieberstein zu Gast ist, empfahl mir mich an Sie zu wenden.

Es liegt mir sehr am Herzen, mit ihnen Rücksprache darüber zu nehmen, in welcher Weise Erfahrungen der D(eutschen) Landerziehungsheime für das größere öffentliche Schulleben nutzbar gemacht werden könnten, und in wieweit der Staat an einer weiteren Entwicklung der Heime interessiert wäre. Darf ich Sie bitten, mir gütigst eine kurze Mitteilung zukommen zu lassen, wann und wo Ihnen mein Besuch genehm sein wird. Ihre Nachricht wird mich am besten unter der Anschrift: Reichs-Schulkonferenz erreichen.

Ich weiß wohl, daß Sie gerade in diesen Tagen sehr stark in Anspruch genommen sein werden und bedauere außerordentlich, daß ich Sie mit dieser Bitte belästigen muß. Doch wäre es mir im Interesse der Sache von großem Wert, wenn Sie mir diese persönliche Unterredung einräumen könnten.

Indem ich Ihnen für Ihre Mühe im Voraus meinen besten Dank ausspreche, bleibe ich in vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener gez. Dr. Andreesen

Leiter der Deutschen Land-Erziehungsheime

 

287. Dr. Andreesen an Minister C.H.B. o.O., 1.5.1923

(Maschinenkopie)

An den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Preußen, Berlin.

Durch das Provinzial-Schulkollegium in Cassel ist uns die Entscheidung des Herrn Ministers über unsere Eingabe betr. Freiere Gestaltung der Reifeprüfung am D(eutschen) Landerzieh-ungsheim Schloß Bieberstein mitgeteilt worden. Wir entnehmen daraus mit Befriedigung, daß der Herr Minister grundsätzlich nicht abgeneigt ist, den Deutschen Landerziehungsheimen eine Reifeprüfung in der gewünschten Art zu genehmigen. Der Aufforderung liegt in der Anlage bei eine Zusammenstellung der Lehrziele für die drei Gruppen A-C, die von der Ib1 an gebildet und in der Reifeprüfung als solche berücksichtigt werden sollen

Zu den Bemerkungen des Herrn Ministers ist noch folgendes zu sagen: Wir stimmen vollkommen damit überein, daß zu den Kernfächern, entsprechend Ziffer I der Richtlinien vom 24.1.1922 die Fächer Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften hinzukommen. Wir bitten jedoch, unter Naturwissenschaften hierfür Physik zu verstehen. Die Grundlage der Chemie ist in der IIa2 gelegt worden, der weitere Ausbau der Chemie würde der naturwissenschaftlichen Gruppe überwiesen werden; der Kernunterricht in den Naturwissenschaften stellt Physik in den Mittelpunkt und behandelt chemische Probleme nur im Anschluß und in Verbindung mit dem Physikunterricht.

Es wird ferner vermerkt, daß das Zeichnen übersehen worden sei und hinzutreten müsse. Wir bitten das Zeichnen in der Prima zu den fakultativen Fächern stellen zu dürfen. Der Zeichen-und Kunstunterricht erfährt in den Heimen eine besondere Pflege. Nach den sehr bemerkenswerten Ergebnissen der Versuche des Herrn Heckmann in Ilsenburg ist besonders das Alter der Unter- und Mittelstufe befähigt für zeichnerische, malerische und plastische Gestaltung. Es überwiegen hier die beobachtenden und intuitiven Fähigkeiten; auf der Oberstufe stellt sich ein stark in Erscheinung tretendes Überwiegen des logischen Denkens ein und verdrängt vielfach die ursprünglich künstlerischen Begabungen. Um den Zeichenunterricht fruchtbar zu machen, ist es daher ratsam, ihn auf der Unterstufe zu konzentrieren und die wichtigsten Fähigkeiten: perspektivisches Zeichnen, Formen-, Farb- und Raumsinn bis zum Abschluß der IIb3 zu entwickeln. Von diesem Gesichtpunkt ausgehend haben wir in den Heimen in den Klassen VI, V und IV4 einen sehr breiten Raum gewährt, teilweise 3-6 Stunden. Die Ergeb-nisse des Zeichen- und Kunstunterrichts in den Heimen sind in ganz Deutschland und sogar im Ausland als besonders bemerkenswert anerkannt worden. Wir bitten, uns die Möglichkeit zu gewähren, dem Zeichenunterricht auch fernerhin in diesen erprobten Bahnen weiter zu pfle-gen und für die Landerziehungsheime das Zeichnen von der IIa als wahlfreies Fach zu gestat-ten, wie es ja auch in den Gymnasien und Realgymnasien der öffentlichen Schulen schon von IIb an der Fall ist.

Daneben wird ein Reißbrettzeichnen im Anschluß an die darstellende Geometrie verbindlich betrieben für die Schüler der mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe.

Als Lehrziele in den allgemein verbindlichen Fächern (Kernfächern) werden für die Reifeprüfung durchaus die Lehrziele angenommen, welche in den Lehrplänen der öffentlichen Oberrealschulen festgelegt sind. Wir glauben, daß wir in Deutsch, Geschichte und Physik in den Kernfächern sogar darüber hinaus gehen können. In Mathematik ist im Kernunterricht auf die Behandlung der kubischen Gleichungen und die darstellende Geometrie verzichtet, dafür aber die Differentialrechnung mit ihren Anwendungen eingehender behandelt.

Für die einzelnen Gruppen besteht die Minderleistung nicht in einer Herabsetzung der Lehrziele in einzelnen Fächern, sondern darin, daß für jede Gruppe 1-2 Fächer ausfallen und durch andere ersetzt werden.

Für Gruppe

A) Kulturgeschichtliche Gruppe: Ausfall: Französisch, Chemie, dafür Mehrleistungen in Deutsch, Geschichte und als neue Fächer Philosophie und Staatskunde.

B) Sprachliche Gruppe: Ausfall: Chemie, dafür Mehrleistungen in Englisch gegenüber den Zielen der Oberrealschule und in Philosophie, in Französisch die Leistungen der Oberrealschule.

C) Naturwissenschaftliche Gruppe: Ausfall: Französisch, dafür Mehrleistungen in Chemie, Mathematik, Biologie, Physik gegenüber dem Lehrplan der Oberrealschule. Diese Gruppe wird besonders zu selbständigem experimentellen Arbeiten angeleitet werden.

Es werden ferner Zweifel geäußert, ob wir in Französisch entsprechende Mehrleistungen aufbringen könnten. Hierzu ist zu sagen, daß allerdings nach dem Kriege die Leistungen in den Sprachen bei der ersten Reifeprüfung nicht erfreulich waren, bei guten Leistungen in Deutsch, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften; daß aber diese Mängel bei den letzten Prüfungen ständig geschwunden sind, so daß die Leistungen in Englisch bei der letzten Prüfung schon im Durchschnitt über genügend standen, in Französisch in der Mehrzahl auf genügend. Bei der für die Neuordnung vorgesehenen Stundenzahl wird Englisch in der sprachlichen Gruppe weit stärker getrieben werden, so daß hier die Leistungen unbedingt erheblich gesteigert werden können. In Französisch wird mit einer kleinen Gruppe interessierter Schüler und größerer Stundenzahl als bisher gearbeitet werden, so daß anzunehmen ist, daß auch hier die Leistungen sich noch verbessern lassen und mit dieser Gruppe mindestens die Leistungen der Oberrealschule zu erreichen sind. Die sprachliche Gruppe hätte dementsprechend für den Ausfall in Chemie aufzuweisen ein Mehr in Englisch und Philosophie bei gleichen Leistungen in den übrigen Fächern und wahrscheinlich Mehrleistungen in den deutsch-geschichtlichen Fächern.

Wir hoffen, daß nach diesen Darlegungen der Herr Minister sich entschließen wird, der vorgeschlagenen Neuordnung unter Verpflichtung auf die beigelegten Lehrziele seine Genehmigung zu erteilen.

Anlagen (fehlen)

D(eutsches Land-Erziehungsheim Ilsenburg (Harz)5

 

288. Dr. Andreesen an Staatssekretär C.H.B. Schloß Ettersburg, 5.5.1923

(Maschinenmanuskript)

Hochverehrter Herr Staatssekretär!

In der Anlage erlaube ich mir, den Durchschlag einer Eingabe unmittelbar zu übersenden, in Beantwortung des Schreibens des Provinzial-Schulkollegiums Cassel vom 30.3. d.J. (S.1971), in dem uns die Stellungnahme des Herrn Ministers mitgeteilt wurde; die Eingabe selbst wurde auf dem Dienstwege über das Provinzial-Schulkollegium Cassel eingereicht. Der Unterzeich-nete bittet, am Freitag, den 11.5. in Berlin vorsprechen zu dürfen, um Ew. Hochwohlgeboren persönlich nähere Auskunft noch dazu zu geben und zugleich Bericht zu erstatten über die Neugründungen der Heime, die in den letzten Wochen verlegt worden sind: Schloß Ettersburg bei Weimar und Schloß Gebesee bei Erfurt an Stelle des aufgelösten Heimes Ilsenburg. Eine Mitteilung, wo an diesem Tage und zu welcher Stunde eine mündliche Besprechung genehm wäre, erbittet der Unterzeichnete nach Schloß Ettersburg bei Weimar. Ich habe Herrn Staats-minister Boelitz und Herrn Ministerialdirektor Jahnke ebenfalls um eine Unterredung an diesem Tage gebeten.

In vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst gez. Dr. Andreesen.

Handschriftliche Anmerkung Beckers: Herrn RR Drews, bitte den Herrn an die gewünschte Adresse mitzuteilen daß ich bereit bin, ihn am Freitag zu empfangen, daß ich aber die Stunde noch nicht absehen kann und zu erfragen bitte (wegen der Verhandlungen des Landtages) evtl. im Ministerium oder im Landtag. CB 5/3

Preußisches Kultusministerium

 

289. Regierungsrat Drews an Dr. Andreesen, Schloß Ettersburg. Berlin, 8.5.1923

Sehr geehrter Herr Direktor!

Im Auftrage des Herrn Staatssekretärs Professor Dr. Becker teile ich auf das an ihn gerichtete gefällige Schreiben vom 5. d. Mts ergebenst mit, daß der Herr Staatssekretär gern bereit ist, Sie am Freitag, den 11. d.Mts. zu empfangen. Da gegenwärtig aber der Etat unseres Ministe-riums im Landtage zur Verhandlung steht, kann weder Ort noch Stunde des Empfangs ange-geben werden. Vielmehr läßt der Herr Staatssekretär Sie bitten, nach Ihrer Ankunft in Berlin dieserhalb gefälligst im Ministerium anzufragen und, falls der Herr Staatssekretär dann im Landtage weilen sollte, ihn freundlichst dort aufzusuchen.

Mit vorzüglicher Hochachtung gez.Drews (?), Regierungsrat

PS. Gemäß Anordnung des Herrn Staatssekretärs Herrn MinDirektor Dr. Jahnke zur gefälligen Kenntnisnahme vorgelegt. Gez. Drews 8/5. J 9/5.

Deutsches Landerziehungsheim Haubinda bei Hildburghausen (Thüringen)

 

290. Dr. Andreesen an C.H.B. Haubinda, 18.5.1923

Sehr verehrter Herr Staatssekretär!

Entsprechend den Anregungen, die ich im Ministerium erhielt, habe ich beiliegende Eingabe dem Herrn Minister übersandt. Ich erlaube mir, Ihnen einen Durchschlag der Eingabe direkt zuzusenden und bitte Sie, die dort gestellten Anträge zu befürworten.

Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst gez, Dr. Dreesen

Anmerkung eines Sachbearbeiters: Auskunft von Herrn Landé: Die Eingabe ist im Ref.U II. Durch Staatsbeihilfen für private Knabenschulen kann nicht geholfen werden. Reichszuschuß für begabte Schüler beantragen, kann dorthin gegeben werden (…unleserlich)

Anlage vom 18.5.1923 zu dem obigen Brief

Bitte um staatliche Beihilfe für die Heimerziehung

Der Unterzeichnete bittet, der Stiftung „Deutsche Landerziehungsheime“ aus den Mitteln des preußischen Staates eine Beihilfe zuteil werden zu lassen, damit die Stiftung ihre Auf-gaben in diesen Zeiten weiterhin erfüllen kann. Es erübrigt sich, über die Bedeutung der Deutschen Landerziehungsheime für das heutige Schul- und Erziehungswesen sich auszu-lassen. Sie stellen wohl den z.Zt. größtangelegten Versuch dar, neue Wege für das Erzie-hungswesen zu suchen. Diese Versuche sind seit nunmehr 25 Jahren mit dem dazu notwendigen Ernst und auch nicht ohne Erfolg durchgeführt worden. In dieser Würdigung stimmt die wissenschaftliche Pädagogik mit dem Urteil der Eltern und Fachleuten aller politischen Richtungen überein.

Die Landerziehungsheime haben diese pädagogische Sendung bisher ganz aus eigenen Kräften erfüllt und sind auch weiterhin wohl imstande, sich aus eigenen Kräften zu halten. Wenn trotzdem die Hilfe des Staates angerufen wird, so geschieht es, weil gerade in den jetzigen Zeiten die Durchführung der gesteckten Ziele im Sinne des Stifters, Dr. Lietz6 auf besonders große Schwierigkeiten stößt und andererseits die Lösung der gestellten Aufgaben heute wichtiger denn je ist. Folgende Gründe sollten den Staat veranlassen, diesem Unter-nehmen seine Unterstützung zuteil werden zu lassen.

  • 1. Der Staat hat selbst das größte Interesse an derartigen pädagogischen Versuchen. Auch das öffentliche Schulwesen folgt dem Gesetz der Entwicklung. Es kann jedoch neue Bahnen erst beschreiten, nachdem sie nach allen Seiten erprobt sind. Es gibt wenig Schulen in Deutschland, die ein so geeignetes und breites Feld für pädagogische Versuche im weitesten Sinne gewähren. Es wird insbesondere darauf hingewiesen auf die Bedeutung des handwerklichen Unterrichts, der in den Heimen eine besondere Rolle spielt. Wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal den Versuch gemacht, einzelne Schüler so weit auszubilden, daß sie mit der Reifeprüfung zugleich ihre Gesellenprüfung im Tischlerhandwerk ablegen können.

Derartige Versuche, das Handwerk als Bildungsmittel dem Lehrgang einer höheren Schule einzufügen sind, selbst wenn sie nicht vom Staate übernommen werden, in ihren Ergebnissen für die Öffentlichkeit von Bedeutung, besonders in Hinblick auf das brennende Problem der Trennung und Entfremdung von Geistes- und Handarbeit.

Ich weise ferner darauf hin, wie hier zum ersten Mal der Versuch gemacht ist, den jungen Menschen nicht allein durch den Unterricht zu erziehen, sondern durch die Gesamtheit des Lebens, insbesondere durch seine Eingliederung in ein Gemeinschaftsleben und seine Beteiligung an allen wirtschaftlichen und praktischen Aufgaben, die das Leben in einer abgeschlossenen ländlichen Wirtschaft dem Einzelnen stellt. Nicht von außen auferlegte Zwecke, sondern die Eigengesetze der Erziehungsaufgabe sollen die Schulform bestimmen7.

  • 2. Die Heime haben ferner seit langem einer großen Anzahl von jungen Lehrern eine Fülle von Anregungen gegeben, mit denen sie nach kürzerem oder längerem Aufenthalt in den Heimen in den staatlichen Dienst zurückkehrten und so das Unterrichts-wesen des Staates mit den bei uns gewonnenen Erfahrungen befruchteten. Die öffentliche Schule vermag niemals den jungen Lehramtskandidaten eine solche Ausbildung geben. Die öffentliche Schule kann ihnen eine hervorragende methodische Ausbildung geben; daß Heimleben, welches zu den engstem Zusammenleben der Jugend zwingt, vermag Verständnis für die Jugend und pädagogischen Takt zu entwickeln, welches die Grundlagen des Unterrichts und der Erziehung sind. Daneben haben seit langen Jahren zahlreiche Schulmänner des öffentlichen Schuldienstes die Heime zum Zwecke des Studiums besucht und gewiß mancherlei Anregungen mit fortgetragen.
  • 3. Der Staat hat auch in ganz anderer Richtung ein unmittelbares Interesse an den Heimen und eine Verpflichtung ihnen gegenüber. Es werden schon jetzt in den Heimen fast 400 Schüler und Schülerinnen erzogen, die sonst der öffentlichen Schule zur Last fielen. Wir nehmen dem Staate eine große Aufgabe, schon im Rahmen der bisherigen Schule ab, deren Lasten er sonst selbst tragen müßte. Über den bloßen Unterricht8 hinaus widmen sich die Heime insbesondere der erzieherischen Aufgabe der Schule, die der Staat bisher nur zum geringen Teil in Angriff nehmen konnte; diese Lücke in unserem Bildungswesen wird von weiten Kreisen immer stärker empfunden. Die großstädtischen Verhältnisse haben sich so entwickelt, daß sie die Erziehung der Kinder vom 10. Lebensjahre an durchweg nur ungünstig beeinflussen können.9 Der wirtschaftliche Kampf, das Berufsleben und die vielfach unglücklichen Familienverhältnisse machen es mehr und mehr unmöglich, daß die Eltern selbst die Aufgabe der Erziehung übernehmen, ganz abgesehen davon, daß aus ländlichen Kreisen viele Eltern die Erziehung ihrer Kinder anderen anvertrauen müssen, weil in der Nähe ihres Wohnsitzes eine öffentliche höhere Schule sich nicht befindet. Der Staat hat bisher diese erzieherische Aufgabe nicht oder nur in seltenen Fällen in Angriff genommen. Die Nachfrage nach guten Erziehungsschulen ist in den letzten Jahren so ungeheuerlich gestiegen, daß auch die bestehenden Landerziehungsheime und ähnliche Schulen sie bei weitem nicht mehr befriedigen können, ein Beweis, daß hier ein Aufgabenkreis vorliegt, für den noch durch keine öffentliche Einrichtung gesorgt ist. Wenn in den vier Jahren nach dem Kriege die Schülerzahl der Heime sich nahezu verdoppelte, so zeigt das, daß ein dringendes öffentliches Bedürfnis vorliegt. Die Reichsschulkonferenz hat anerkannt, daß die Unterstützungspflicht des Staates gegeben ist, wenn ein öffentliches Bedürfnis vorliegt. Der Staat hat auf dem Gebiete des weiblichen Unterrichts diesen Grundsatz bereits befolgt. Das erzieherische Bedürfnis verlangt ebenso dringend ein Eingreifen der Staatshilfe.
  • 4. Der Staat bedürfte ferner das größte Interesse daran haben, daß die Heime ihre besondere soziale Aufgabe weiter, bzw. noch besser erfüllen können, die bisher wohl noch von keiner anderen Schule in dem Maße angepackt worden ist. Die Heime arbeiten seit ihrem Bestehen an der Überbrückung der sozialen Gegensätze unseres Volkskörpers, einmal durch die Ausbildung eines Gemeinschaftslebens, welches Geistes- und Handarbeiter umfaßt und in der Schule die handwerkliche Tätigkeit ebenso hoch bewertet wie die geistige. Wir haben ferner stets, neben Kindern aus begüterten Kreisen Kinder aus den arbeitenden Schichten unseres Volkes mit erzogen. 1914 gründete Dr. Lietz ein Waisenheim, welches im besonderen diese soziale Aufgabe erfüllen sollte. Die Durchführung in diesem Sinne ist durch die Entwicklung der letzten Jahre sehr gefährdet. Es besteht die große Gefahr, daß der Schülerkreis der Heime sich mehr und mehr auf eine Schicht reicher Eltern beschränkt, ganz im Gegensatz zu den Absichten des Gründers. Diese Entwicklung könnte nur durch Hilfe des Staates vermieden werden.-

Ganz im Sinne des Gründers haben wir im letzten Jahr in Haubinda unseren Aufgabenkreis dadurch erweitert, daß wir junge Arbeiter als „Werkschüler“ in unsere Schulgemeinschaft aufnahmen, die an unserm ganzen geistigen Leben Anteil haben, nach einem ausgewählten Plan an dem Unterricht der Schüler teilnehmen, daneben in Arbeitsgemeinschaften besonders weitergebildet werden, zugleich aber handwerklich, besonders in den Schülerwerkstätten, als Lehrer sich betätigen können und so mit ihrem Handwerk in Verbindung bleiben. Die nicht unbeträchtlichen Mittel für die Durchführung dieser Aufgabe wurden aus eigenen Kräften aufgebracht. Wir sehen hierin einen beachtenswerten Versuch, dem Volkshochschulgedanken in eigener Weise zu verwirklichen mit dem Ziel einer Vertiefung des Handwerks und ohne die sonst leicht eintretende Entfremdung.

  1. Die Heime dürften in besonderer Weise dafür geeignet sein, die schon in der Verfassung festgelegte Forderung des Aufstieges begabter Menschen aus unbemittelten Kreisen durchzuführen. Sie können den Kindern aus den unteren Ständen eine höhere Bildung vermitteln und zwar nicht nur intellektuelles Wissen sondern auch die für sie viel wichtigere Erziehung in einer Umgebung, die ihnen eine Heimat werden kann und ihnen die gleich oder günstigere Bedingungen gibt, wie sie die Kinder der bemittelten Stände in der Stadt zu haben pflegen. Die Organisation der Heime dürfte auch am ehesten dazu geeignet sein, junge Arbeiter, die erst nach Verlassen der Volksschule als für eine höhere Bildung befähigt erkannt werden, in abgekürztem Lehrgang noch bis zur Reifeprüfung zu bringen.

An der Lösung dieser Aufgaben hat der Staat gewiß ein dringendes Interesse. Die Heime haben zwar ihren Aufgabenkreis trotz der wirtschaftliche Schwierigkeiten10 ständig weiter ausgedehnt, haben alles getan, um eine Verengung ihres Schülerkreises auf eine bloße Oberschicht zu vermeiden. Die Mitarbeiter, die sich durchweg aus Idealismus gerade diese ihre Arbeit gewählt haben, haben noch stets auf die dringendste Sicherung ihrer Existenz freiwillig verzichtet, wenn sie dadurch die Arbeit in den Heimen wertvoller gestalten konnten. In dem ständigen Konflikt zwischen ideellen Forderungen ihrer Arbeit und ihrem persönlichen Bedürfnis haben sie in einem Maße auf letztere verzichtet, das in keinem Verhältnis zu der von ihnen geleisteten Arbeit steht. So scheint eine Unterstützung des Staates aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt. Es werden folgende Wege vorgeschlagen:

1. Der Staat stellt der Stiftung eine einmalige oder, wenn möglich, jährliche Beihilfe zum Ausbau der Heime zur Verfügung.

2. Er errichtet eine Anzahl von Freistellen, für die der Erziehungskostensatz wie für die übrigen Schüler gezahlt wird, z. Zt. Unter Berücksichtigung der Steigerung der letzten Wochen M(ark) 500 000 vierteljährlich11. Die Besetzung dieser Freistellen bleibt den Behörden überlassen.

3. Er stellt den Heimen Lehrmittel zur Verfügung bzw. Mittel, solche anzuschaffen, besonders Landkarten, Bücher für die Schüler- und Lehrerbibliotheken. Es wäre vielleicht möglich, Überweisungen von Büchern, die an öffentlichen Schulen geschehen, auch in gleicher Weise den Heimen zukommen zu lassen.

4. Er besoldet die Studien-Assessoren, die an den Heimen tätig, aber aus dem Staatsdienst nur beurlaubt sind.

5. Er stellt Mittel zur Verfügung zum Ausbau der Heime, Anschaffung von Betten usw. um das dringende öffentliche Bedürfnis nach Erziehungsschulen in höherem Maße zu befriedigen. Neben öffentlichen Mitteln kämen vielleicht auch Einkünfte aus sonstigen Stiftungen in Frage, die unter staatlicher Aufsicht stehen und ihren Stiftungszweck z.Zt. nicht erfüllen können. Eine Zusammenfassung der Kräfte einzelner Stiftungen auf die oben angegebenen Ziele dürfte wertvoller sein als eine Zersplitterung.

Der Unterzeichnete ist gern bereit, nähere Unterlagen beizubringen oder mündlich im einzelnen Auskunft zu erteilen.

Gez. Dr. Andreesen

Oberleiter der Deutschen Landerziehungsheime

Schloß Bieberstein in der Rhön


1 Unterprima

2 Obersekunda

3 Untersekunda

4 Sexta, Quinta und Quarta

5 Aus dem Briefkopf des Deutschen Landerziehungsheimes Ilsenburg geht hervor, daß sich dort die Klassen VI-IIIb befinden, in Haubinda (Thüringen) die Klassen IV-IIb, in Bieberstein die Klassen IIb-I

6 Hermann Lietz, Dr. phil., Pädagoge, *1868 +1919. Gründete 1898 nach englischem Vorbild in Ilsenburg/Harz das erste Landerziehungsheim, dem 1901 Haubinda, 1904 Bieberstein, 1914 Landwaisenhaus Veckenstedt (Wernigerode) folgten. Bei kulturkritischer Grundeinstellung betonte Lietz ländliche Lage, hygienisch-asketische Lebensweise, körperliche Betätigung und patriarchalisch-musisch bestimmtes Gemeinschaftsleben. Werke: Emlohstobba (1897), Die deutsche Nationalschule (1911), Lebenserinnerungen (hg. 1920). Brockhaus 1996

7 Hervorhebung vom Herausgeber.

8 Ich zitiere einmal als Beispiel aus den beigefügten Lehrzielen für Deutsch: Die Entwicklung der deutschen Literatur ist dabei bis zur Gegenwart durch Proben einzelner Schriftwerke zu vervollständigen. ..; für Geschichte: Es ist dabei Wert zu legen auf diejenigen Gebiete, die für das Verständnis der Kultur und des Staatslebens der Gegenwart besonders wichtig sind; für Englisch: Durch die Lektüre soll Verständnis für die Erscheinungen des englisch-amerikanischen Kulturlebens geweckt werden, die für Deutschland besonders wichtig geworden sind und die zu weltpolitischem Denken erziehen können. Bei der Auswahl der Stoffe in der Oberstufe sind zu berücksichtigen: 1. die englische Literatur durch die Lesung moderner Prosaschriftsteller und geeigneter Dichtwerke, besonders Shakespeare, Byron, Carlyle, Emerson, Ruskin 2. der englische Parlamen-tarismus, besonders Macaulay (Die englische Revolution) (Freytag), Freeman (Growth of the English Constitution 3. die amerikanische Demokratie (Wells (The Future of America) , Brooks (A trip to Washington) (Freytag) 4. der englische Imperialismus (Seeley (Expansion of England) Parrott (Britain overseas); Lektüre einer englischen Zeitung.

9 Hervorhebung vom Herausgeber.

10 Wir befinden uns mitten in der Hochphase der Inflation!

11 Vgl. obige Anmerkung.

Richard Anschütz, 1915-19

HA VI. Rep.92 Becker A Nr.55

Briefwechsel mit Prof. Richard Anschütz, Direktor des Chemischen Instituts der Universität Bonn

282. C.H.B. an Seine Magnifizenz. Herrn Geheimrat Richard Anschütz Bonn, 9.11.1915

Ew. Magnifizenz

danke ich nochmals schriftlich für das Vertrauen, das Sie in mich setzten, als Sie aufforderten, am 27. Januar die Kaisergeburtstagsrede zu übernehmen. Nach reiflichem Überlegen habe ich mich entschlossen, die ehrenvolle Aufgabe anzunehmen, und ich werde mich nach Kräften bemühen, ein Thema zu wählen, das zugleich aktuell und doch nicht politisch, sondern wissenschaftlich ist. Sobald der Plan fester steht, werde ich mir erlauben, einmal persönlich mit Ihnen Rücksprache zu nehmen.

Sollte ich um diese Zeit als Dolmetscher Verwendung gefunden haben, so würde es ja ein Leichtes sein, eventuell mit Hilfe Ew. Magnifizenz mich für den 27. Januar frei zu bekommen. Ich glaube aber, daß ich dann so wie so frei sein werde, da ich in der ersten Hälfte Januar in Berlin für die Deutsch-türkische Vereinigung tätig bin und deshalb wohl für den ganzen Monat reklamiert werde.

Mit verbindlicher Empfehlung

bin ich in bekannter Verehrung Ew. Magnifizenz ergebenster (C.H.B.)

 

283. Rektor Anschütz an C.H.B. Bonn, 5.2.1916

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr College!

Hierdurch beehre ich mich Ihnen ergebenst mitzuteilen, daß die Kommission von Ihrem freundlichen Anerbieten das angegebene Thema

Die Türkei und Wir

für den Universitäts-Ostergruß zu bearbeiten gern Gebrauch machen und den Aufsatz in die Sammlung aufnehmen wird.

Ich erlaube mir Sie noch einmal an die Aufforderungsbedingungen zu erinnern, die den Umfang und die Lieferzeit betreffen. Nach dem mit dem Verlag vorgesehenen festen Ab-machungen darf der Einzelbeitrag den Umfang von 5 Oktavseiten (etwa 29-30 Zeilen die Seite) nicht übersteigen und muß am 29. Februar druckfertig (mit Maschinenschrift geschrieben) auf dem Rektorat sein. Nur dadurch wird eine rechtzeitige Fertigstellung des Büchleins ermöglicht.

Da der Verlag der Universität 3500 Exemplare kostenlos zu liefern verpflichtet werden soll, so kann von ihm eine Honorarzahlung nicht gefordert werden.

Für Ihre Bereitwilligkeit spreche ich Ihnen noch meinen verbindlichsten Dank aus.

Gez. Anschütz

 

284. Prof. Anschütz an Unter-Staatssekretär C.H.B. Bonn, 26.8.1919

Sehr verehrter Herr Kollege!

Viele von uns, unter denen auch ich mich befand, haben es aufrichtig bedauert, daß Sie zum schlichten Jubiläum unserer Universität nicht kommen und einige Tage unter uns weilen konnten, da wir über Ihre Reformpläne gern mit Ihnen gesprochen hätten. Denn durch die im Laufe des Sommersemesters gepflogenen Beratungen in der Fakultät hat jeder von uns Gele-genheit gehabt, sich über seine Stellungnahme zu diesen Plänen klar zu werden. Neuerdings hat sich unser Kollege Goetz bemüßigt gesehen, in der Kölnischen Zeitung vom Sonntag, 27. Juli Nr. 643 einen Aufsatz über Hochschulreform und Hochschullehrer zu veröffentlichen. Was er darin von den naturwissenschaftlichen Instituten und Institutsdirektoren sagt, wird der Leser, da Goetz Bonner Professor ist, unwillkürlich auf Bonner Verhältnisse beziehen, in die Goetz keine Einsicht hat. Was Goetz denkt, kann mir gleichgültig sein, aber großen Wert lege ich darauf, daß Sie die richtige Anschauung von den Verhältnissen haben, wie Sie an dem meiner Leitung unterstellten Institut geordnet sind. Meinen Darlegungen schicke ich eine Abschrift der Zusammenstellung meiner Honorareinnahmen und -abgaben für das Rech-nungsjahr 1913 voraus, die mir Geheimrat Hövermann auf meinen Wunsch anfertigte. Dieses Jahr brachte mir vor dem Krieg die höchsten Einnahmen:

  • Im Sommer-Semester 1913 hörten 325 Studierende anorganische Experimentalchemie.
  • Im Winter-Semester 1913/14 hörten 298 Studierende organische Experimentalchemie
  • Im Sommer-Semester 1913 hatten die praktischen Übungen im Laboratorium belegt: 196 Chemiker, Lehramtskandidaten und Pharmazeuten, 150 Mediziner
  • Im Winter-Semester 1913/14: 190 Chemiker, Lehramtskandidaten und Pharmazeuten, 66 Mediziner.

Die Honorareinnahme für das Rechnungsjahr 1913 hat betragen:

  • Experimentalchemie A 2528,00 Mark
  • Praktikum für Pharmazeuten B I. 5372,00 M

Davon ab an Prof. Frerichs I’1790 3581,33 Mark

  • Praktikum für Mediziner B II 6698,00 M

Ab an Prof. Benrath II’2232 4465,33 Mark

Ab für Oberlehrer B III 3774

Ab an Prof Benrath III’ 1258 2516,00 Mark

  • Großes Praktikum B IV 5712,00 M

Ab an Prof. Benrath 910 M

Ab an Prof, Trimbach 102 M

Ab an Prof. Kippenberger 102 M

Ab an Prof. Frerichs 102 M IV’ 1224,00 M 4488,00 Mark

____________

40334,66 Mark

Für den Quaestor als Tantième – 806,69

Bleiben 39527,97 Mark

Gestundete Honorare C 472,39

Für den Quaestor ab 94,48 377,91

_____________

39 905,88

Davon bleiben abzugsfrei 3000 M

Einzubehalten sind von 1000 M 25% = 250 M

Von 35 905,88 M 50% = 17 952 M 18202,94 Mark

____________

bleiben bar 21 702,94

gez. Hövermann

Zur Erläuterung dieser Zahlen bemerke ich folgendes:

Von den Praktikantengebühren des Direktors erhalten am hiesigen chemischen Institut die Abteilungsvorsteher ein Drittel, nur die Gebühren der organisch arbeitenden Praktikanten erhält der Direktor unverkürzt, da am Institut noch kein Abteilungsvorsteher für organische Chemie vorhanden ist, also der Direktor selbst den Dienst des Abteilungsvorstehers versieht. Von der Gesamteinnahme an Praktikantengebühren: B I+B II + B III + B IV = 21.556,00 M gab der Institutsdirektor an die Abteilungsvorsteher I’ + II’ + III’ + IV’ = 6.505,34 M

ab. Es blieben ihm 15.050,66 M, die dem Honorarabzugsverfahren unterworfen werden, also

7.525,83 M ! Das sind die „riesigen Praktikantengelder“.

Meines Wissens gibt kein anderer Direktor eines chemischen Instituts einer preußischen Universität so viel – ein Drittel – seines Praktikantenhonorars an seine Abteilungsvorstände ab, eine Abgabe die in dieser Höhe meiner Ansicht allgemein eingeführt werden sollte.

Bei meiner Berufung hatte ich darüber in Gegenwart von Elster ein mir im Gedächtnis geblie-benes Gespräch mit Althoff:

Er: Wieviel wollen Sie von den Institutsgebühren Ihren Abteilungsvorständen abgeben?

Ich: Ein Drittel.

Er. Ein Sechstel wäre auch genug.

Ich: Mir war als Extraordinarius unter Kekulé das Drittel doch sehr angenehm und ich möchte meinen Nachfolger nicht schlechter gestellt sehen,

Er: Edel gedacht, aber nötig ist’ s nicht.

So blieb es bei dem Drittel.

Im Anschluß an diese Betrachtung möchte ich empfehlen, auch den Unterrichtsassistenten einen Anteil an den Institutsgebühren zu geben: von jedem Praktikanten, den sie auszubilden haben etwa 5 M für das Vollpraktikum und 3 M für das Halbpraktikum. Um diesen Gebührenanteil wären vorher die Praktikantenhonorare des Institutsdirektors bei der demnächst kommenden allgemeinen Erhöhung der Praktikantengebühren zu erhöhen. Das Tantièmen-System halte ich für durchaus zweckmäßig. In der Beteiligung am Honorar liegt ein Anreiz, sich für das Blühen des Instituts mit einzusetzen.

Ich wende mich zum Vorlesungshonorar, das im Rechnungsjahr 1913/1914 14.177,61 M betrug, eine Summe, in die ich das ohne Abzug gebliebene Honorar von 3750 M und das 1913 eingegangene gestundete Honorar einbegriffen habe. Goetz macht keinen Unterschied zwischen theoretischen und Experimental-Vorlesungen. Er sagt von der Vorlesungstätigkeit: die Arbeitsleistung ist die gleiche, ob der Lehrer vor 2 bis 4 oder vor 200 bis 400 Studenten doziert. Das ist richtig für die Vorbereitung, unrichtig für die Ausführung. Abgesehen vom Experimentieren ist eine in einem überfüllten Hörsaal vor 300 Studenten täglich gehaltene freie Vorlesung eine große körperliche und seelische Anstrengung, die Vorlesung vor 2 oder 4 Zuhörern eine bequeme Unterhaltung. Wird die Vorlesung reichlich mit Experimenten aus-gestattet, so kommt dazu, daß der Vortragende viele Experimente, die er ein Jahr lang nicht ausgeführt hat, vor der Vorlesung wieder einübt, besonders bei einem Wechsel des Vorle-sungsassistenten. Er muß stets die von dem Assistenten aufgebauten Apparate und hingestellten Reagentien vor der Vorlesung sorgfältig prüfen, wenn ihm nicht in der Vorlesung Experimente mißlingen sollen. Nicht wenige Versuche sind, wenn sie mißlingen, gefährlich in erster Linie für den Dozenten und den ihn unterstützenden Vorlesungsassistenten. Den unglücklichen Zufall wird man trotzdem nie ganz ausschalten können und keiner von uns ist ohne Verletzungen durch schlagendes Glas bei unvorhergesehenen Explosionen oder durch die Gesundheit oft schwer schädigendes Einatmen giftiger Dämpfe bei der Vorlesung von stürmisch entwickelnden Gasapparaten davongekommen. Aber auch die theoretische Vorbereitung der Vorlesungen über eine in so rascher Entwicklung begriffene Wissenschaft wie die Chemie ist ebenso zeitraubend wie die Vorbereitung für eine dem Gebiet der Geisteswissenschaften angehörige Vorlesung.

Ich will damit begründen, das einmal das Honorar billigerweise mit der Zahl der Zuhörer wachsen soll und daß die Vorlesungen über Experimentalchemie unbedingt höher honoriert zu werden verdienen, als Vorlesungen, bei denen der Dozent ein wohl vorbereitetes Heft seinen Zuhörern in die Feder diktiert.

Dazu kommt, daß der Direktor eines großen chemischen Instituts mehr als irgend ein anderer Dozent von den Verwaltungsgeschäften aller Art in Anspruch genommen wird. Hat er noch das Glück, größere Erweiterungsbauten oder Neuanlagen bewilligt zu bekommen, so erfordern Vorbereitung und Überwachung der Einrichtungen, Einarbeitung auf die neuen Apparate einen großen, außergewöhnlichen Aufwand an Zeit und Arbeitskraft von dem durch die gewöhnlichen beruflichen und wissenschaftlichen Arbeiten dauernd beanspruchten Institutsdirektor.

Die Ordinarien der theologischen, juristischen und humanistischen Fächer der philosophischen Fakultät führen dagegen ein viel ungebundeneres freieres Leben; meist haben sie die Nachmittage für sich, so wie Samstag und Montag ganz frei. Dem gegenüber ist der Direktor eines großen Instituts täglich 6 bis 8 Stunden an sein Institut beruflich gebunden; es bleibt ihm im Semester tatsächlich nur der Samstag Nachmittag an den Wochentagen zur Erholung.

Drückt man die Stellen der Direktoren der chemischen Institute der Universitäten noch mehr herunter, als es durch das Honorarwahrungsverfahren geschehen ist, dann wird der jetzt schon starke Wettbewerb der chemischen Industrie mit dem Staate, dem letzteren oft genug die tüchtigsten Kräfte entziehen.

Mit den herzlichsten Grüßen von Haus zu Haus verbleibe ich

Ihr getreuer Kollege Richard Anschütz.

 

285. C.H.B. an Richard Anschütz. Berlin W8, 3.9.1919

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr Kollege!

Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Brief vom 26. August, den ich mit großem Interesse gelesen habe. Es ist mir äußerst wertvoll, derartigdetaillierte Unterlagen zu erhalten, und kann ich verstehen, daß Sie sich durch generalisierende Bemer-kungen beeinträchtigt fühlen mußten. Ich kann Ihnen aber versichern, daß auf diesem Gebiet nicht überall gesunde Verhältnisse bestehen und manches reformiert werden muß. Sie wissen aus meinem Büchlein, daß ich mit der wichtigen Schlußbemerkung Ihres Briefes völlig ein-verstanden bin. Wenn man erste Kräfte haben will, muß man sie erstklassig bezahlen, und das gilt namentlich für Gebiete, die für die Industrie Bedeutung haben. Gerade aus diesem Grund bin ich ja so für die Erhaltung der Kolleggelder, weil die staatlichen Gehälter ja differenzieren können, aber doch nie so hoch gehen können wie unter Umständen die Einnahmen aus Kolleggeldern. Ich bin jetzt dabei, mir die nötigen statistischen Unterlagen für das von mir geplante Garantiesystem zu beschaffen.. Dafür werden Ihre Darlegungen ein wertvolles Material sein.

Wie sehr ich bedauerte, an dem Jubiläum nicht teilnehmen zu können, hatte ich ja der Fakultät schon geschrieben. Aber gerade bei meiner Liebe für Bonn brachte ich es nicht übers Herz, dies von mir so ganz anders geplante Fest mitzufeiern.

Mit freundlichen Grüßen, auch an Ihre verehrte Gattin,

Ihr Ihnen verehrungsvoll ergebener (C.H.B), Unterstaatssekretär