Fritz Sell, 1915-1933

Aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin

35. C.H.Becker an Fritz Sell Berlin, Continental Hotel, 4.1.1915

Mein lieber Fritz!

Ich darf wohl diese familiäre Anrede gebrauchen, wenn ich Ihnen zum ersten Male zum Geburtstag schreibe. Selbst in der Fülle meines Reisedaseins mit den stündlich wechselnden bunten Eindrücken will ich mir ein par Minuten ersparen, um an den 6.ten zu denken und Ihnen im Geiste herzlich die Hand zu drücken. Das alte Jahr hat für Sie so schwer und traurig abgeschlossen, daß man von dem für Sie so wichtigen neuen Lebensjahr einen sonnigen Einschlag erhoffen möchte. Das Jahr wird Ihnen den Abschluß Ihrer Studien bringen. Damit hört eine der schönsten Lebensperioden auf. Aber Sie werden Ihre jugendliche Frische mit hinübernehmen. Möge Sie Ihnen so lange erhalten bleiben wie Ihrem Vater. Ich habe noch manch andere Wünsche für Sie auf dem Herzen, Sie kennen diese ja. Wir werden ja noch oft davon reden, nach dem der Bann einmal gebrochen ist und nachdem wir uns persönlich nahe getreten sind. Haben Sie nur immer Vertrauen zu mir. Ich setze es in Sie. Und möge unserer Freundschaft alles Konventionelle fern bleiben. Das Schönste ist dabei doch immer die innere Selbstverständlichkeit, die das Gehen lassen ebenso erleichtert wie die ausgesprochene Wahrheit. Und damit alles Gute und einen festen Händedruck!

Meine Reise hat sich bisher sehr gelohnt. Man hört hier doch recht viel, das nicht in den Zeitungen steht, freilich nicht nur Erfreuliches. Einiges werde ich Ihnen mündlich erzählen oder andeuten können. Auch wissenschaftlich war mein hiesiger Aufenthalt nicht ohne Ertrag. Denken Sie, daß ich einen Vertrag aus Nubien in die Hände bekam vom (Jahr) 1320, also gerade aus den Jahren seiner Eroberung durch die Araber und der Vertrag spiegelt deutlich die Verhältnisse wider, die ich Ihnen aus literarischen Quellen im Colleg dargelegt habe. Ein merkwürdiger Zufall. Es gibt sonst gar keine Urkunden aus dieser Zeit.

Morgen gehe ich nach Hamburg, wo es auch wieder viel Neues geben wird.

Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Mutter und grüßen Sie unseren Freund Rohde, den ich leider nicht mehr sah.

In herzlicher Zuneigung Ihr getreuer CHBecker

 

36. C.H.Becker an Fritz Sell. Frankfurt am Main, 10.9.1915

(Vorangestellt ist eine Collage aus einer Zeitung:

Möbl. Wohnung

4 Zimmer und Küche zu mieten gesucht.
F. Sell, Drachenfelsstr.12)1
Fritz, mein Fritz, wie soll ich deuten
Die Annonce von den Leuten?—
Hält Dich meine Frau zu knapp?
Hält sie Dich zu sehr in Trab?
Ist das Essen Dir zu minder?
Chikanieren Dich die Kinder,
Mädchennot und Hauspalaver?
Oder – sticht Dich bloß der Hafer?—
Oder ist es gar die Wohnung,
Die zu ihrer Nerven Schonung
Meiner Gattin dar sich bot
Von der Domestikennot?
Fritz, ich denke Spielmannslieder
Treibst in Bonn Du, schlicht und bieder.
Spielmannssitten, Styl Bohème
Wäre mir weniger bequem.
Muß ich Dir die Freundschaft künd’gen,
Gar gerichtlich Dich entmünd’gen?
Soll die Kur ich unterbrechen,
Meines Hauses Ehre rächen?—-
Oder gibt es einer alten
Tante oder Anverwandten?
Der mit Pietät und Rührung
Du geliehen kund’ge Führung,
Daß sie, wenn schon einmal da,
Eurem Haus nicht allzu nah?
Oder gibt’s, sie zu erreichen
Und ein wenig erbzuschleichen?—
Doch ich rege mich nicht auf,
Laß den Dingen ihren Lauf.
Werde lieber fett und fetter
Und genieß das schöne Wetter.
Und ich sag wie Wallenstein:
Max, laß diese Possen sein!
Sei’, wie auch sei, sei’s Ernst sei’s Witz:
Bleib bei mir, geh’ nicht von mir, Fritz!

CHB

 

37. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin, 9.8.1916

Lieber Fritz!

11 Uhr Abends. Zwei Kondolenzbriefe gerade beendigt, der prachtvolle junge meines Hamburger Freundes und Collegen Franke und der treffliche Diener meiner Mutter, der mit seiner Frau im Haus bei uns wohnte. Etwas Furchtbares ist doch dieser Krieg! Ich mag so nicht den Tag beschließen. So wende ich mich in Gedanken zu Dir, der Du mir ja in Person so oft wohlgetan hast, wenn, nun ja, wenn ich es eben gebraucht habe. Dein Brief hat mich gefreut. Ich hoffe fast, daß Du mich hie und da einmal vermißt hast. Gelitten wirst Du nicht darunter haben. (Randbemerkung Beckers: Logikschreck!) Um so mehr freut mich, daß es sich mit Curtius gut gemacht hat. Auch aus seinen Briefen sprach das. Er ist mir überhaupt in seinen schriftlichen Äußerungen sehr sympathisch gewesen. Ein erlebtes Interesse wirkt oft stärker als eine herbe Kritik. Smend ist dagegen vor meinen Blicken verschwunden. Ich bat ihn schriftlich um etwas, doch hat er sich vor Beantwortung offenbar auf seine Jagd zurück-gezogen.

Von unserem Wohnungsprozeß hast Du gehört. Es ist trostlos. Dabei habe ich einfach keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich habe enorm zu tun. Eigentlich alles ist interessant. Umschalten muß man allerdings lernen. Nimm nur mal einen Normaltag wie heute:

  • Vor ½ 10 Uhr im Amt, ein Stoß Briefe,
  • Diktieren von Antworten,
  • 5 Telefongespräche
  • auch eines privat, Ordinarius aus dem Feld,
  • Vorbereitung einiger Vorträge beim Minister usw.
  • Dann kombinierter Vortrag beim Minister mit Fritz Trendelenburg im Beisein des Unterstaatssekretärs und des Ministerialdirektors über Ethnologisches Institut,
  • Deutscher Kunstbesitz im feindlichen Ausland,
  • Auslandstudien – ich soll Denkschrift für den Landtag machen.
  • Um 1 Uhr fertig, Unterschriften.
  • Besuch eines juristischen Ordinarius. Der sich mit seiner Fakultät verkracht hat und beinahe in Thränen ausbricht.
  • Um 2 Uhr entschlüpfe ich mühsam zum Essen, treffe dort Ernst Trendelenburg, mit dem sehr interessante politische Unterhaltung.
  • Um ½ 4 Uhr empfange ich einen Abgesandten der bulgarischen Gesandtschaft, Sondierung wegen Semesteranrechnung; etwa eine Stunde französische Darlegung unserer Prüfungsverhältnisse;
  • Besuch eines durchreisenden Ordinarius der Chemie mit allerlei Anträgen und Wünschen.
  • Empfang eines Pressevertreters über die neuen Berufungen.
  • Zwei Aktenberge mit ca. 50 Unterschriften.
  • Langes Telefon über die neuen klimatolog(ischen) Stationen in der Türkei. (Morgen Abend bin ich mit dem Türkischen Landwirtschaftsminister im kleinsten Kreise eingeladen.)
  • Abendessen mit drei auswärtigen Orientalisten, Gang durch den Tiergarten,
  • Telefon mit Bonn und dann wie eingangs.

So geht es alle Tage. Gestern kam ich erst um 12 Uhr nachts nach Hause. Der August ist besonders schlimm. Im September wird es besser. Ich wachse mich in mein Amt ein und ich glaube, man ist ganz zufrieden mit mir. Im Amt, aber auch draußen. Ich habe schon zahlreiche Dankbriefe erhalten. In Bonn habe ich in das Chaos der jurist(ischen) Fakultät ziemlich ener-gisch eingegriffen. Ich hoffe, daß man allseits zufrieden war. Persönlich bleibt alles liegen. Jetzt drängt das Nachwort auf meinen Freund Mestsack (?recht unleserlich. BB). Aber ich habe einfach keine Sammlung dazu. Morgen gehen die Meinen nach Rothenfelde. Hoffentlich geht das Experiment nach Wunsch.—

Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß solche Briefe nur für Dich sind.

Die Raben der Trennung krächzen. Gute Nacht! Von Herzen Dein Carl.

P.S. Grüße Deine Mutter herzlich. Ich überlasse es Dir, was Du ihr von mir erzählen willst.

 

38. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, Schillerstr. 2, 4.1.1918

Mein lieber Fritz!

In Anbetracht Deines bevorstehenden Geburtstages habe ich Dir nicht mehr zum Jahreswechsel geschrieben. Nimm heute Dank für Dein treues Gedenken und zugleich unsere besten Wünsche zu dem Beginn Deines bürgerlichen und menschlichen Jahres. Wir denken Dein in herzlicher, brüderlicher Freundschaft. Du wirst uns auch als Studienreferendar nicht lieber als bisher, aber es wird Dir gewiß eine hohe Genugtuung bereiten, Dich demnächst mit diesem schönen Titel schmücken zu dürfen. So legt Dir das Kultusministerium eine prunkende Gabe in die Wiege Deiner Lehrtätigkeit. Es war mir neulich leid, daß ich nicht einmal ausführlich mit Dir über Eure Seminarverhältnisse sprechen konnte. Erst nach Deinem Besuch kam ich hinter die etwas bedenkliche Geschäftsführung, die Wünsche immer gleich für genehmigte Etatposten hält. So mußte ich Deinem Chef etwas gegen den Wagen fahren, ungern gewiß, aber aus einfachem Pflichtgefühl heraus. Natürlich blieb dann auch die Chose an mir hängen, obwohl sie leider nicht zu meinem Referat gehört. Es bleiben leider in letzter Zeit immer mehr Dinge bei mir hängen, die mich nichts angehen, aber mich packt manchmal die sogenannte Initiative, wenn die Dinge im Schlick des Verwaltungsapparates zu versinken drohen. Und dann bleiben meine eigenen großen Sachen liegen. Es ist zum Verzweifeln. Aber ich irre ab. Kehre zum Ausgangspunkt zurück: Möge Dein Leben nicht verschlicken, sondern sich nach Deinem und unseren Wünschen entwickeln. Vor allem wünsche ich Dir die Kraft zu einem schönen Doctor.

Wir hatten ein schönes, stilles Fest. Helli war bezaubern und süß, die Großen schon bewußt und gedämpft. Ich trauerte den akadem(ischen) Weihnachtsferien nach und mußte die liebsten Leute brieflos ausgehen lassen, auch Deine verehrte Mutter, der ich erst heute schreiben werde.

Politisch bin ich mit Kühlmann einverstanden. Es spucken ihm aber so viel Leute in den Brei, daß er sicher verdorben wird. Ludendorff verlangt jetzt die Narewlinie. Es ist schwer möglich, damit den Reichstag zu versöhnen und künftige russische Politik zu machen. Eine Beteiligung Englands an den Verhandlungen würde ich begrüßen. Wie groß Englands Prestige noch ist, sieht man an der Angst unserer Rechtsradikalen. England muß sich ja doch mit uns auseinandersetzen und diese Auseinandersetzung scheint mir nicht schwer. Jedenfalls ist die Annexionslosigkeitsformel politisch richtig. Man muß nur an Kiautschou, Südwest, Bagdad usw. denken, um zu begreifen, wie weit wir auf diesem Wege kommen können. Kühlmann will England mit englischen Waffen schlagen, aber unsere Machtthematiker verderben ihm das Konzept. Auch England hat nie annektiert ohne zu sagen, es sei nur vorübergehend oder im Interesse des anderen usw. usw. Bei Verhandlungen mit Slaven werden Verhandlungen doch immer 2-3 Mal abgebrochen. Siehe Bulgarien. Doch genug davon.

Einen guten Händedruck Dein alter Carl.

 

39. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6./7.1.1919

Lieber Fritz!

Du sollst zu Deinem Geburtstag einen guten Gruß haben; denn Du hast das wirklich verdient. Immer wieder hast Du geschrieben und nie eine Antwort erhalten, aber Du mußt uns mit Revolutionsmaßstab messen. Zum Neuen Jahr im doppelten Sinn ein brüderliches Glückauf!

Wer die jetzige Zeit in Berlin als Gebildeter und Outsider erlebt, kommt aus dem Lachen über diese Harlekinade nicht heraus. Als Deutscher kann man sich verzehren vor Scham und Schmerz. Im Ministerium ist die Episode Hoffmann erledigt; es sei denn, daß er bei einem Spartakussieg wiederkommt. Das Possenspiel war toll, gottlob hatte er nur Kirche und Volksschule, während Haenisch alles andere hat. Haenisch ist gut und gibt sich alle Mühe, verständig zu regieren. In den ersten Wochen gab es einen tägl(ichen) Ministerrat unter Zuziehung der pädagog(ischen) Parteigenossen und unter Ausschaltung des Ministeriums. Daher all der Mist. Langsam wurde Haenisch mutiger, er hat zwar von Anfang an nur mitgemacht um Schlimmeres zu verhüten, aber auch er strebte anfangs aus politi(ischen) Gründen nach weithin sichtbaren Taten. Dabei mußte immer alles sofort heraus, noch am Abend in die Presse. Ich selbst fand aber schnell eine gute Position zu Haenisch und darf mich wohl als seinen Vertrauensmann für Hochschulsachen, aber auch für allgem(eine) Ministerialfragen bezeichnen. Ich habe öfters den Vermittler und Berater gespielt. Ich bin ihm gegenüber völlig loyal, aber von rücksichtsloser Kritik und Offenheit. Das ist der einzig mögliche Standpunkt für mich und ihn. All die Herren, soweit sie gebildet sind, sehen jetzt ein, daß man mit Volksversammlungsreden nicht regieren kann und sie seufzen alle unter den ihnen jetzt präsentierten Wechseln. Nur ein köstliches Bespiel: H(aenisch) hatte einem Petenten geschrieben: Wenn ich Kultusminister wäre, sollten Sie gewiß zugelassen werden, aber …; 14 Tage danach war er Kultusminister und nun mußte der Wechsel sofort eingelöst werden.

Viel Arbeit hatte ich bei meinen Bemühungen, die Collegen zu einem Protest gegen Hoffm(ann) zu bekommen. Es waren die kläglichsten Eindrücke von Männerwürde, die ich je erhielt. Ich will das später alles einmal aufschreiben. Ein Satyriker hätte ein Musterstück schaffen können. Bürgerl(iche) oder auch nur kollegiale Solidarität ist eine Chimäre. Schließlich gingen einige mutige Männer mit mir zum Zentralamtsvorsitzenden als „Staatsbürger“, beileibe nicht als „Deputation“. Dort dachte man genauso wie wir.

Nun haben wir seit gestern die 2. Revolution. Sie ist schlimmer als die erste. Man hat die Inszenierung gelernt. Dabei kommen Rudimente längst vergangener primitiver Zeiten zum Durchbruch. Der halbreligiöse Kampf der Quartiere, noch heute in Afrika bekannt, auch in der deutschen Volkskunde abgeklappt nachweisbar, lebt wieder auf. Eine Gruppe schreit: „Liebknecht hoch, hoch, hoch“, die andere antwortet taktmäßig „nieder, nieder, nieder“. Alles ist in Bewegung und demonstriert, meist ohne recht zu wissen, warum. Dabei wird viel geschossen. Ich war heute nach Tisch in der D(eutschen) Gesellschaft eingeschlossen und sah vom Erker zu, wie vor uns Maschinengewehre tackten. Es war scheußlich. Gottlob ging alles in die Luft und die Massen zerstoben. Die Regierungstruppen sind von Offizieren in Civil geführt, was einen ganz guten Eindruck macht. Den ganzen Nachmittag krachte es ununter-brochen vor meinen Fenstern, doch taten wir unsere Arbeit wie immer, schlichen dann zu einer Hintertür hinaus und auf Umwegen zum Wannseebahnhof.—

Minister-Jubiläum 11.11.1919 Greve’s Hof<br /> o. v.l.n.r. Geh.Reg.Rat Gürich, Strafanstaltsdir. Hülsberg, Kommerzienrat Max Pasch<br /> u. v.l.n.r. Geh. OberRegRat Prof. Dr. Pallat, Unterstaatssekretär Prof. Dr. Becker, Minister Haenisch, Wirkl.Geh.OberRegRat Klotzsch
Minister-Jubiläum 11.11.1919 Greve’s Hof
o. v.l.n.r. Geh.Reg.Rat Gürich, Strafanstaltsdir. Hülsberg, Kommerzienrat Max Pasch
u. v.l.n.r. Geh. OberRegRat Prof. Dr. Pallat, Unterstaatssekretär Prof. Dr. Becker, Minister Haenisch, Wirkl.Geh.OberRegRat Klotzsch

Zu Hause geht es noch gut. Wir hatten ein stilles und doch freudiges Fest mit gr(oßem) Christbaum und viel Liedern und sogar mit gutem Essen. Von irgendwoher war uns etwa Mehl zugekommen und es gab weißen Napfkuchen, Du, richtige braune Kuchen nach Hamburger Muster. Vorgestern machten die Kinder sogar eine kl(eine) Aufführung und Laterna magica, kurz, hier draußen leben wir noch wie auf einer Insel. Gelegentlich schlägt dann eine Welle hinein, wie am Weihn(achts)abend unser Leutnant, der das Schloß mitgestürmt hatte, dann gefangen wurde und zerfetzt und degradiert in moralischer Auflösung hereinkam. Wir hatten lange 3 Mann, zwar lästig, aber ordentliche Leute.

Ich schreibe Artikel auf Artikel, Sonntags und Nachts. Kämpfe mit schwerer Erkältung und habe unsagbar viel zu tun, namentlich weil ich schnell mitreden soll. Man erlebt sehr, sehr viel Interessantes. Werdet übrigens in Bonn nicht irre an mir, wenn Ihr nächstens von einer Regierungshandlung lesen werdet, die auch Bonn betrifft. Ich glaube, das Schlimmste verhindert zu haben. Du bist ja diskret, so frag einmal Smend. Er darf Dir’s sagen. Mein Votum für das Staatsministerium hätte Zitelmann nicht besser machen können. Bonn wird allerdings gehörig aus seinem bequemen Schlummer geweckt werden. Gut so; da wird auch Smend zustimmen. Grüße Curtius, für dessen Brief ich herzlich danke. Er ist ebenso rührend wie Du im Schreiben. Er soll bald von mir hören. Ebenso Smend.

Wärmste Grüße Deiner Mutter und Dir von uns allen. Dein Carl.

 

40. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 19.10.1919

Mein lieber Fritz!

Vorgestern erreichte mich die große, uns alle lebhaft bewegende Nachricht. Ich habe bis zum Sonntag mit meinem Glückwunsch gewartet, weil ich Dir in Ruhe schreiben wollte und die letzten Tage mit Staatshaushaltsausschuß von Morgens bis Abends und gestern einer 40 Personen Soirée bei uns im Hause mehr als voll und verhetzt waren. Heute aber herrscht Windstille vor dem Morgen mit den Vorbesprechungen zur Reichsschulkonferenz neu einsetzenden Sturm, und diese Ruhe laß mich benutzen, Dir beim Schein meiner grünen Lampe einige Worte treuer Teilnahme und freundschaftlichen Miterlebens zu senden.

Überrascht waren wir alle ganz außerordentlich, nicht grade, daß Du Dich verlobst hast; denn Du warst reif dazu und innerlich darauf eingestellt. Du brauchtest die Gesellung auch zur letzten Überführung Deiner Persönlichkeit in das geistige Mannsein. Man spricht so viel von Menschwerdung und so selten von der Mannwerdung. Sie vollendet aber erst die Jugendentwicklung des männlichen Individuums, und sie wird neu erzeugt durch Weib und Kinder. Vielleicht stellen die letzteren noch eine weitere Phase dar, wie überhaupt – Gott sei’s gedankt – der entwicklungsfähige Typ Mensch als Mann noch eine Reihe weiterer Stufen, auch in den Vierzigern noch, aufweist, wie ich in diesen Jahren mit Freuden an mir selber erlebe. Dann beginnt jetzt diese neue Entwicklungsreihe, während Du zugleich die bisherige im Bann des Elternhauses, männlichen und viellieben Freundeskreises sich abspielende beschließest. Überrascht war ich also über die Tatsache nicht, um so mehr aber, daß es ein neuer Mensch ist, der in Dein Leben tritt. Vielleicht wäre Deine Braut auch mir kein in jeder Hinsicht neuer Mensch, wenn unser geistiger Austausch nicht durch die räumliche Trennung so sehr behindert wäre. So habe ich für meine eigene innere Stellungnahme nur Deinen Brief und die aus ihm sprechende fest und starke Liebe, die wie jede echte Liebe nicht blind sondern sehend macht., Deine klare Entschlossenheit, die alle „Aber’s“ durchgedacht hat, und die echt Fritz’sche Mischung von Sentiment und Nüchternheit, von langsamem Abwägen und gefühlsmäßiger Abruptheit, um mir ein Bild von den Vorgängen und der Sachlage zu machen. Aber das genügt vollauf, um Deine künftige Ehe im Zeichen eines günstigen Sternes zu sehen und Dir in alter Treue innigst die hand zu drücken.

Soll man zu einem solchen Bunde mit Glückwünschen kommen? Daß man dem Freunde und seiner Lebensgenossin das Beste wünscht, ist eigentlich zu selbstverständlich, um es zu formulieren. Jeder ist der Schmied seines Glückes, das gilt auch der Ehe. Die Grundlage muß auch hier die geistige Gemeinschaft sein. Die Selbstverständlichkeit der Zusammengehörigkeit. Schwierigkeiten bleiben ja wohl in keiner Ehe aus., und die Ehen sind vielleicht die bestfundierten, vor deren Eingang schon der Kampf stand, und bei denen deshalb nicht nur das Gefühl, sondern der Verstand von Anfang mitgewirkt hat. So sehe ich freudig Deiner Zukunft entgegen. Deine Braut soll uns als Deine Lebensgenossin von Herzen auch in unserem Kreise willkommen sein.

Da wir sie nicht kennen, wohl aber Dich, können wir ihr sachkundiger gratulieren als Dir. Wenn sie Dich richtig zu fassen versteht – und daran zweifle ich nicht -, wird sie in Dir einmal einen mustergültigen Gatten haben; denn Du bringst Deinerseits alle Eigenschaften mit, die eine glückliche und harmonische Familie garantieren. Möge sie umgekehrt Dir immer ein Sporn und ein Stachel sein, den brauchst Du; möge sie Dir stets – wie die Araber es nennen – eine „Tadlerin“ sein.

(Schluß fehlt)

 

41. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 4.1.1920

Mein lieber Fritz!

Du weißt, meine Zeit erlaubt mir keine langen Briefe, aber zum 6. Januar will ich Dir doch einen persönl(ichen) Gruß senden. Dies neue Lebensjahr wird ja für Dich so bedeutungsvoll, daß man nichts anderes zu wünschen braucht, als daß die Saat aufgehen möge, die hoffnungsfreudig in ihm gepflanzt wird. Ein lieber Besuch hat uns sehr erfreut, und wir danken Dir für Deinen Brief. Dein Jean Paul Buch habe ich gelesen, mit Spannung und Interesse. Mir geht die Konstruktion etwas zu weit, aber ich anerkenne gern den Versuch – den geglückten Versuch -, Dich über das Normalmaß einer Dissertation zu erheben. Meinen besten Glückwunsch und eine gute Presse!

Wir hatten stille Weihnachten, etwas behindert durch fortwährende Krankheit oben und unten außer am H(eiligen) Abend selbst, der sehr harmonisch verlief. Grippe, dann Hellmut Masern, schließlich Mittelohrentzündung, die einen Augenblick bös aussah, aber hoffentlich gut verläuft. Er liegt noch zu Bett. Dazu mancherlei häusliche Schwierigkeiten, so daß meine Frau das neue Jahr nicht gerade rosig begann.—

Mitte des Monats reise ich zur Hochschulkonferenz, dann Frankfurt/Main, Marburg und Gelnhausen, wo ich 8 Tage mit Wende bleibe. Danach sind wir dann hoffentl(ich) hier so weit, daß auch meine Frau mal ausspannen kann.

Alle besten Wünsche Deiner Mutter, Deiner Braut und Dir.

Von Herzen Dein Carl.

 

42. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 22.3.1920

Randbemerkung Sells(?): Kapp-Putsch

Mein lieber Fritz!

Man ist sich merkwürdig ferngerückt in dem neuen Deutschland mit seinen Putschen und Streiks, mit seinem Verbot von Glückwunschtelegrammen und seinen Verkehrshindernissen. Ebenso wenig wie über den Raum ist man über die Zeit mehr Herr, nachdem gerade Zeitsetzung zum Zeitvertreib für Optimisten geworden ist. Also muß ich schon heute zur Feder greifen, wenn ich überhaupt einigermaßen damit rechnen will, daß Dich an dem entscheidenden Tag Deiner vita nuova wenigstens ein Gruß von mir erreicht. Gern hätte ich, hätten wir, Deinen Hochzeitstag mitgefeiert. Zu normalen Zeiten wäre es ja auch wohl so gekommen, aber das schon an sich jetzt schwer Mögliche ist durch die jüngsten Ereignisse völlig ausge-schlossen worden. So laß Dir wenigstens im Geiste die Hand reichen. Ich denke Dein in herz-licher Liebe und mit sonnigen Wünschen. Wer Dich kennt, wird Dir und Deinem Schicksal vertrauen. Glückauf zu einer restlosen, bewußt genommenen Lebensgemeinschaft!

Die äußere Lösung Deines nächsten Daseins scheint mir erfreulich. Berlin ist jetzt wirklich kein Pflaster für Flitterwochen und –monde. Augenblicklich ist’s hier übler als je. Immerhin wird es sich schon wieder einpendeln, nur sind wir um ein Jahr zurückgeworfen. Links ist wieder Trumpf. Daß eine vernünftige Zeitung wie Kölnische tatsächlich an eine Beteiligung der Rechten an der Regierung – als Folge des Kapp-Putsches glaubt, zeigt, wie wenig klar selbst politisch geschulten Köpfen die ganze Situation ist. Gerade das Mitwirken der Rechtsparteien, die Parole der Fachminister und ähnliche Forderungen Kapps sind durch den Putsch heillos diskreditiert. Das Rechtsbewußtsein der Arbeiter ist enorm gestiegen und die langsam wieder Kraft gewinnende Rechtsidee erschüttert. Es ist zum Heulen. Ich war am kritischen Tage in Bamberg, Hedwig in Gelnhausen. Immerhin gelang es mir noch am Revolutionstag selbst Abends in Berlin zu sein., da ich 30 Minuten nach Empfang der ersten Nachricht schon im Zug saß. Hier habe ich dann alles aus nächster Nähe miterlebt. Die Unterstaatssekretäre haben ja diesmal eine recht erhebliche Rolle gespielt und Herrn Kapp zu Fall gebracht., eigentlich ehe der Generalstreik richtig einsetzte. Das Schlimmste war aber der trotz der glänzenden Stellung der hohen Beamtenschaft unvermeidliche Rückschlag nach links.2 Ich wurde übrigens von den Kappleuten in Schutzhaft genommen, aber nur 2 Stunden, wurde dann von Oberst Bauer in die Reichskanzler geführt, wo ich die Gelegenheit benutzte, sowohl Bauer, wie dem anwesenden Traub – er muß aber auch immer danebenhauen! – sehr gründlich die Meinung zu sagen. Im gleichen Augenblick wurde Ludendorff gemeldet, der also natürlich dahintersteckte. Grundsätzlich stand das Fehlschlagen des Unternehmens aber sehr bald fest, schwierig war nur aus der Situation herauszukommen, ohne entweder die Mehr-heitssozialdemokratie oder unseren letzten militär(ischen) Schutz oder beide einzigen Stützen gegen den Bolschewismus rettungslos zu zerschlagen. Gut ist nur das Eine, daß das Märchen vom „starken Mann“ ausgeträumt ist.—3

Eisenlohr ist zurück, aber noch in Heidelberg, er wird nach Ostern zunächst dauernd nach Berlin kommen.

Und nun nochmals alles Gute, mein lieber Fritz. Überlege Dir bitte mal, womit wir Dir eine Freude zur Hochzeit machen können. Überflüssiges darf man in diesen Zeiten seinen nächsten Freunden nicht schicken. Nach der Hochzeit könnt Ihr es auch besser übersehen. Vielleicht weiß auch Deine liebe Mutter einen Rat. Ihr gilt mein herzlich mitfühlender Gruß! Wir werden am 30.ten Deiner und Deiner Frau in geschwisterlicher Treue gedenke. Dein Carl

 

43. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 18.6.1920


Zum Tode von Frau Prof. Sell


Mein lieber Fritz!

In stillen Nachtstunden eilen meine Gedanken zu Dir – etwas mehr gesammelt, als es der Drang dieser Tage erlaubt hatte. Still und friedlich ist dies Lebenslicht verlöscht, das nicht nur geleuchtet, das auch erwärmt hat. Wir waren wirklich tief bewegt. Zunächst überwog der Schreck, die Überraschung. Ich bin so daran gewöhnt, daß Herzleidende, die sich schonen, oft sehr alt werden, daß ich nie an einen so plötzlichen Ausgang dachte. Auch hatten wir gerade korrespondiert, und es war eigentlich ein Zufall, daß meine Frau nicht bei ihr war; denn sie hatte sie gerade jetzt aufsuchen wollen. Deine Mutter war uns – ganz abgesehen von Dir und den alten Familienbeziehungen – als Mensch so teuer und lieb geworden, daß wir sie als zu uns gehörig betrachteten. Ich konnte mir für meine Frau keine bessere Vertraute, keine treuere Beraterin und kein vollkommenderes Vorbild wünschen. Aber auch ich selbst war ihr in schlichter, fast kindlicher Anhänglichkeit und Verehrung verbunden. Du weißt das ja alles, Du hast es ja miterlebt, aber was Du nicht wissen kannst, ist, daß diese Beziehungen nach der Trennung sich vertieft haben, daß wir oft und mit Liebe ihrer gedachten und hier keinen Ersatz für diese intensivste Bonner Beziehung gefunden haben.

So trauern wir wirklich von Herzen mit Dir und Deinem Bruder. Ihr habt unendlich viel verloren und seid mit jungen Jahren in die „andere Riege“ getreten. Auch für Deine Frau ist dieser Tod doch unendlich schmerzlich. Wie viel hätte ihr diese herrliche Frau noch sein können! Sie ist dahin gegangen, wie sie seit dem Tode ihres Mannes gelebt hatte, still und unauffällig, ohne irgend jemand zu behelligen und doch in harmonischer Form, wie ein Hauch, der aber noch fühlbar, erquickend und belebend – unmerklich versucht. Wir werden zeitlebens ihrer in Dankbarkeit und Treue verbunden sein und die persönlich geweihte Liebe auf Dich und Deine Frau übertragen. Das liegt sicher in ihrem Sinn, und schon der Gedanke würde sie freuen. So reiche ich Dir zu einem brüderlichen Händedruck die Hand.—

In alter Freundschaft Dein Carl.

 

44. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin W 8, Unter den Linden 4, 26.8.1924

Privatsekretariat (Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Ich nehme an, daß Du in diesen Tagen nach Godesberg zurückkehrst, und so brauche ich mir nicht zu große Vorwürfe darüber zu machen, daß ich die Beantwortung Deines freundlichen Briefes vom 1.8. solange hinausschob. Es war gut, daß ich es tat, denn ein Empfang war ich fest entschlossen abzulehnen. Ich kann mir eine größere auswärtige Vortragstätigkeit neben meiner sonstigen Inanspruchnahme nicht leisten. Nun habe ich mich aber bereit erklärt, am 16. November in Düsseldorf die dortige Vortragssaison im Theater mit einem Vortrag über „Staat und Kultur“ zu eröffnen. Vielleicht könnte ich Montag, den 17. oder Dienstag den 18. November (nicht später) diesen Vortrag bei Euch wiederholen. Einen zweiten großen Vortrag in dieser Zeit neu zu machen, trage ich Bedenken. Eine Plauderei über den heutigen Orient und seine politische Lage kannst Du natürlich jederzeit haben, namentlich, wenn ich jetzt das Schlußkapitel meines zweiten Bandes vollendet habe, wobei ich gerade bin. Also grundsätz-lich bin ich bereits. Vielleicht teilst Du mir mit, wie groß ungefähr das Auditorium sein wird., vor dem ich zu sprechen habe. In Bezug auf Honorar bitte ich mich genau so zu behandeln wie andere Redner. Die Reisespesen fallen ja sowieso weg, da ich vermutlich eine dienstliche Besichtigung mit der Fahrt verbinden werde. und, falls das die Verhältnisse verbieten, ja bis Düsseldorf die Reise von der dortigen Organisation bezahlt erhalte.

Hoffentlich habt Ihr erfreulichere Ferien gehabt wie wir. Sie fingen bei uns mit einer Angina unseres Pflegesohnes an, führten über eine Blinddarmentzündung von Hellmut zu einer Darmgrippe meiner Frau und schlossen mit einem verknaxten Fuß der letzteren, so daß der an sich so wundervolle Ostseeaufenthalt schließlich doch mit einem gewissen Minus geendet hat. Ich persönlich war nur drei Tage dort, wo gerade mal Wetter und Gesundheit sich von der besten Seite zeigten. Ich habe noch nicht ganz 14 Tage Ferien gehabt, bin aber doch drei Wochen weggewesen, da ich an eine genußreiche Woche in Gelnhausen mit meinem Freunde Gragger den Besuch der Akademischen Olympia in Marburg und dann den Besuch der Tagung der Europäischen Studentenhilfe in Elmau anschloß, der mich mal wieder tief in die internationalen Beziehungen hineinführte und in jeder Hinsicht erfreute. Ich hielt einen großen Vortrag über „Das Wesen der deutschen Universität“, der jetzt gedruckt wird.

Seit wenigen Tagen ist die ganze Familie, außer Walter, wieder zusammen, und zurzeit ist alles wohl. Hertha soll noch recht viel Opern und Theater gezeigt bekommen, ehe sie in ihre Salemer Einsamkeit zurückkehrt. Von Walter haben wir glänzende Nachrichten. Er hat ein Mordsglück mit seinem englischen Aufenthalt. Er ist nach beendetem term etwas in Mittel- und Nordengland herumgereist und ist jetzt tutor in einem Wald-Cottage in Dorset, unweit der Südküste. Zum Schluß soll er dann nach London, den Winter aber in Deutschland studieren.

Meine Pläne für die nächste Zeit sind die folgenden: Ich werde am 15. September die Veran-staltung „Jugend und Bühne“ in Frankfurt eröffnen, am 1.-4. Oktober den Orientalisten-Kongreß in München mitmachen und am 25. Oktober die goldene Hochzeit meiner Schwiegereltern in Augsburg feiern. Vielleicht führt uns unser Stern irgendwo wieder einmal zusammen.

Mit guten Grüßen und Wünschen von Haus zu Haus, in alter Freundschaft

Dein getreuer (gez.) CHBecker

 

45. Preußisches Ministerium für Wissenschaft etc. Berlin, 10.11.1924

MR Duwe an Dr. Fritz Sell, Godesberg (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Doktor.

Im Anschluß an mein heutiges Telegramm teile ich Ihnen im Auftrage des Herrn Staatssekretärs D Dr. Becker, der an einer Bronchitis erkrankt ist und einige Tage das Bett hüten muß, ergebenst mit, daß er zu seinem großen Bedauern sein Vorhaben, am 17. November nach Godesberg zu kommen, aufgeben muß. Es finden an diesem Tage mit dem Präsidenten der Gemischten Kommission in Oberschlesien Herrn Calonder Besprechungen in Schulan-gelegenheiten im Ministerium statt, an denen der Herr Staatssekretär als Vertreter des in diesen Tagen verreisten Herrn Ministers unter allen Umständen teilnehmen muß. Herr Staatssekretär Becker muß deshalb in der Nacht von Sonntag zu Montag von Düsseldorf direkt nach Berlin zurückkehren. Er bedauert diese Absage außerordentlich, da der Abstecher nach Godesberg ihm besondere Freude bereitet hätte. Er bittet, den zugesagten Vortrag hiermit aber nicht als ganz abgesagt zu betrachten; er wird ihn gern bei der nächsten geeigneten Gelegen-heit nachholen.

Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor von Herrn Staatssekretär Becker auftragsgemäß herzlichste Grüße übermittelnd, bin ich mit besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener (gez.) Duwe

 

46. C. H. Becker an Dr. Sell. Berlin-Steglitz, 3.12.1924

Mein lieber Fritz!

Du hättest schon lange ein persönliches Wort von mir erhalten, wenn ich nicht die letzten acht Tage mit einer verschleppten Bronchitis alias Grippe zu Bett gelegen hätte. Es tat mit aber sehr leid Dir absagen zu müssen, aber wir konnten ja nicht voraussehen, daß unser Plan gerade in die Wahlzeit fallen würde. DerMinister immer fort, ich mich mit besagter Grippe herumschlagend, der Besuch Calonders, dem ich am Tag meines Godesberger Vortrages einen großen Empfang im Ministerium geben mußte, tags zuvor der Vortrag in Düsseldorf, der sehr gut lief, aber schließlich nach acht Tagen lag ich fest und mußte die Sache aus-schwitzen. Morgen will ich wieder Dienst tun, vorher aber doch noch sagen, wie leid mir das alles tut.—

Wann soll denn nun mein Vortrag dort steigen? Wollen wir nicht aufs Frühjahr warten? Gleich nach Neujahr fahre ich vielleicht nach Holland, am 15. Januar spreche ich in Leipzig vor der Studentenschaft, im Februar will ich nach Zürich und Arosa, am 6. März spreche ich in Basel ebenfalls vor der Studentenschaft. Wie wär’s mit Ende März, Anfang April?

Wir sehen übrigens die Schulreform durchaus nicht als zusammengebrochen an. Warte nur mal auf die neuen Lehrpläne. Es kommt eben auch nach unserer Ansicht nicht so sehr darauf an als auf die neuen Lehrer. Ich kämpfe zur Zeit einen stillen Kampf um die Volkschullehrer-bildung. Die Oberlehrerbildng folgt nach. Doch darüber muß man einmal gemütlich reden. Brieflich können wir das beide nicht.

Die guten Nachrichten von Euch freuten uns herzlich. Meiner Frau geht es nicht ganz prima, sie hat noch mit Nachwehen ihrer Ostseegrippe zu tu, ohne dadurch in ihrer Arbeit direkt gehindert zu sein, aber sie hat leider mancherlei (namentlich nachts) an Schmerzen auszuhalten. Den Kindern geht es gut. Walter ist aus England zurück und studiert jetzt hier Jura. In Bälde erwarten wir Hertha, die immer noch sehr glücklich in Salem ist, von dort zu den Weihnachtsferien zurück.

Mit guten Grüßen von Haus zu Haus und herzlichen Wünschen für ein schönes Weihnachts-fest Dein getreuer Carl.

 

47. Der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Berlin, 29.6.1928

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Seit langem bedrückt es mich, daß ich Dir auf Deinen freundlichen Brief und auf Deine Frage in Sachen Italienreise noch nicht geantwortet habe. Aber ich wollte Dir immer gern einmal behaglich schreiben und kam und komme nicht dazu. Ich möchte aber doch Dich nicht länger in Ungewißheit lassen, wie ich über die berührte Frage denke. Es tut mir von Herzen leid, daß irgendeine Äußerung von mir mißverstanden und von Dir als Vorwurf gedeutet werden konnte. Bei der Bemessung von Reisestipendien liegen natürlich gewisse allgemeine Normen zugrunde, wenn man auch ein Stipendium einmal etwas reichlicher und das andere Mal etwas weniger reichlich bemißt, je nach der finanziellen Situation des Stipendiaten. Deshalb konnte das Stipendium nicht in der Höhe bewilligt werden, wie Du es erst aber beantragt hattest; daß Du aber nachher im Rahmen des einmal Bewilligten Deine Frau mitgenommen hast, das ist Deine ganz persönliche Privatangelegenheit, die zu kritisieren mir vollkommen fern gelegen hat. Manche Menschen lernen mehr, wenn sie mit Frau reisen, manche nur dann, wenn sie ohne Frau reisen. Nur bei der Berechnung des Stipendiums selbst muß wenigstens offiziell die Frau ausscheiden. Das Stipendium war bei Dir so berechnet, daß es für eine Person eine sehr anständige und behagliche Reise ermöglichte. Wenn Du Dich dann lieber einschränkst, außerdem noch etwas Privates zusteuerst und Deine Frau mitnimmst, ist das doch das Natürlichste von der Welt und niemand wird Euch Beiden ein solches Zusammensein herzlicher gönnen als ich. Ich wundere mich eigentlich, daß Du bei Deiner doch ziemlich genauen Kenntnis von mir irgendeine Mißbilligung meinerseits auch nur für möglich gehalten hast. Ich pflege meinen Freunden gegenüber doch ziemlich offen und klar meine Meinung zu sagen. Bei Äußerungen, die durch mehrere Münder gegangen sind, empfiehlt es sich mehr an das eigene Wissen als an die Formulierung einer solchen Nachricht zu halten.

Du weißt, daß ich mich seit langem bemühe, für Dich mal einen entsprechenden Platz zu finden, aber es ist, wie ich Dir gleich sagte, nicht leicht. Ich bitte Dich nur, mir immer gleich vertrauensvoll zu schreiben, wenn Du irgendeine Möglichkeit siehst, wo ein Fürspruch von mir Dir helfen kann. Für Deine ganze geistige Entwicklung glaube ich allerdings, daß auch Dir bald einmal irgend ein Wechsel not tut. Den Bericht von Deiner Reise habe ich übrigens mit Interesse gelesen und daraus entnommen, daß Du Sizilien mit ähnlichen Augen gesehen hast wie ich.

Als ich neulich in Koblenz war zur Görres-Feier habe ich Euch einen stillen Gruß hinübergesandt, auch in Köln habe ich Euer gedacht. Ich werde in den 20iger Tagen des August zum Orientalisten-Kongreß nach Bonn kommen, aber Euch dann wohl kaum antreffen. Ich selbst beabsichtige vom 12. Juli ab für vier Wochen nach Marienbad zu gehen. Meine Frau mit Hertha und Hellmut geht schon nächste Woche an den Bodensee, während Walter allein hier in Berlin seine Examensarbeit fertig macht.

Mit guten Grüßen von Haus zu Haus

In alter herzlicher Freundschaft Dein getreuer (gez.) Carl

 

48. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6.1.1929

Lieber Fritz!

Ich gedenke herzlichst Deines heutigen Geburtstages. Meine Frau hat Dir ja wohl das Familiäre geschrieben. Daß Du zum Studienrat ernannt bist, hast Du ja wohl inzwischen erfahren. Mit den Pädagogischen Akademien sind wir immer noch nicht im Reinen. Von den Driesch meint, es würde dieses Frühjahr mit Dir noch nichts werden, aber Du bleibst bestimmt in Aussicht. Etwas Fühlungnahme mit der Volksschule wäre vorher erwünscht. Wir werden wohl nach Begründung der diesjährigen Serie für die Anwärter des kommenden Jahres irgendeinen Vorbereitungsdienst einrichten, aber Näheres steht noch nicht fest. Die Arbeit ist für das Nächste schon übergroß. Jedenfalls denke ich an Dich, aber es schadet nie einmal nachzufragen.

Jedenfalls wollte ich Dir und Deiner Frau gerne persönlich alles Gute zum Neuen Jahr und insbesondere Dir noch zu Deinem Geburtstag wünschen.

Von Herzen Dein alter Carl.

 

49. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin W 8, 12.2.1929

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Du hast inzwischen durch von den Driesch Nachricht bekommen, daß wir Dich – wenn möglich noch im Frühjahr – auf einer Pädagogischen Akademie verwenden möchten. Die Sache hat allerdings zwei Nachteile für Dich, die ich Dir in aller Freundschaft darlegen möchte.

Erstens könntest Du jetzt nicht für Geschichte, sondern nur für Deutsch Verwendung finden, und zwar entweder in Hannover oder in Breslau, was wieder von dem Ausscheiden eines Ministerialrats im Ministerium abhängt, der den einen Posten übernehmen wird und natürlich die Wahl behalten muß.

Zweitens könntest Du jetzt nur als Studienrat und noch nicht in die Professorenklasse übernommen werden, weil das eine große Ungerechtigkeit für andere Leute Deines Jahrgangs bedeuten würde.

Unter diesen Umständen bin ich eigentlich der Meinung, daß Du lieber noch ein Jahr in Godesberg bleiben solltest, um dann bestimmt an irgendeiner westlichen Akademie, und zwar in Deinem eigentlichen Fach und dann auch in der Professorenklasse Verwendung zu finden. Wenn man ein Jahr Zeit hat, das vorzubereiten, wird es wohl möglich sein, ohne natürlich eine absolut sichere Bindung übernehmen zu können. Du hättest dann auch in Ruhe Zeit, Dich etwa näher mit den Volksschulfragen zu beschäftigen. Ich kann Dir das nur in aller Kürze schreiben, da ich heute nach Genf fahre, wo ich einen Vortrag halte. Ich bin erst am 19. Februar zurück. Bitte schreibe Du deshalb direkt an von den Driesch, der natürlich nun seine letzten Dispositionen treffen muß und dem ich gesagt habe, daß ich Dir in dem obigen Sinn schreiben würde.

In Eile mit innigen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (gez.) Carl.

 

50. C. H. Becker an Professor Dr. Fritz Sell, Kassel. Berlin-Steglitz, 27.5.1930

Staatsminister d. D. Prof. D Dr.

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz,

Ich danke Dir herzlich für Deinen Brief und den Artikel, den ich mit wirklichem Genuß ge-lesen habe. Ich habe es immer gewußt, daß Du einer von denjenigen bist, die meine Absich-ten am besten verstanden haben, und deshalb hätte ich Dich so gern auch weiterhin im Ministerium gesehen. Ich sprach gestern bei einem gemütlichen Mittagessen unter vier Augen im Ministerium ausführlich mit Grimme auch über Dich und erzählte ihm von diesem Deinen Artikel. Ich sagte ihm deutlich, daß ich Dein Ausscheiden bedauerte, und daß ich ihm nahe legte, Dich für eine spätere andersartige Verwendung im Auge zu behalten. Natürlich mußt Du jetzt erst einmal ein paar Jahre gründlich in Deine jetzige Aufgabe hineinsteigen. Er hat jedenfalls Dein Ausscheiden nicht veranlaßt. Die Urheber sind Wende und Kaestner gewesen, die Dich eben anders beurteilen, als ich es tue. Von den Driesch war nur schwach auch hierbei wie immer. Wende seufzt jetzt etwas unter dem neuen Personal, aber es geschieht ihm ganz recht. Kaestner ist leider sofort nach seiner Rückkehr wieder erneut krank geworden.

Daß man Raederscheidt zum Oberbürgermeister von Neuß gewählt hat, wird Dich auch überraschen. Wie ich höre, will er aber bleiben, wenn man ihn zum Honorarprofessor in Köln macht. Aber das bitte nur für Dich.

Es freut mich herzlich, daß Du Dich wohl fühlst. Es geht Dir darin wie mir, der ich die Freiheit vom Ministerium täglich mehr genieße. Ich habe mir übrigens einen Aufenthalt in Kassel auch immer als etwas sehr Erfreuliches gedacht. Mein Schwager Blumenstein stand dort einmal in Garnison, und da habe ich ein bißchen in die dortigen Verhältnisse hinein-geschaut. Jedesmal, wenn ich hinkomme, freue ich mich erneut über die Landschaft.

Ich habe nach wie vor schrecklich viel zu tun. Aber es ist nicht mehr so verantwortungsvoll, und das entspannt. Wir haben noch sehr viel offizielle Einladungen und machen auch viel von den Berliner Kunstwochen mit. Gestern Abend „Aida“ mit Lauri Volpi und hinterher noch ein großer Empfang bei Curtius, heute Abend Toscanini-Konzert und hinterher großer Empfang im Schloß bei Grimme. Sonnabend bin ich in Leipzig. Montag fahre ich nach Budapest. Nach Pfingsten bin ich auf dem Orientalistenkongreß in Wien. Kurz, ein geruhsames Leben kann man das gerade nicht nennen. Das Kollegmacht mir Spaß, aber zur eigentlichen schöpferischen Arbeit komme ich natürlich noch nicht. Damit wird es wohl auch nichts werden, bis ich aus Amerika zurück bin, was kaum vor Anfang Dezember der Fall sein wird.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus wie stets Dein getreuer (gez.) Carl

 

51. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6.1.1931

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz,

Nun komme ich nicht nur zum neuen Jahre sondern auch zu Deinem Geburtstag zu spät. Aber ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir an beiden Tagen Deiner in alter, herzlicher Freundschaft und mit innigen Wünschen gedacht haben. Jedenfalls danke ich Dir sehr für Deinen lieben Brief vom 28. Dezember. Du hast ganz recht: es liegt eine gewisse Parallelität in unser beider Schicksal. Da kann ich Dir eigentlich nur wünschen, daß Du mit der Wendung Deines Schicksals ebenso zufrieden bist wie ich mit der des meinen. Wenn ich vielleicht noch als halber Minister nach Amerika gefahren bin, so bin ich jedenfalls als ganzer Professor zurückgekommen. Die Erlebnisse dieser Reise waren ungeheuer, und ich bin bis in meine Grundfesten durchgeschüttelt worden. Ich habe jetzt das Gefühl, als ob ich eine schwere Karlsbader Kur durchgemacht hätte und fühle eine sehr segensreiche Wirkung dieser Auf-rüttelung. Außerdem nimmt mich das Leben hier ziemlich stark in Anspruch und zwar nicht nur der Lehrbetrieb, obwohl ich hier völlig von der Hand in den Mund leben muß, sondern auch die riesige Klientel, die sich aus der Fülle meiner persönlichen Beziehungen ja ohne weiteres ergibt. Gesellschaftlich halte ich mich sehr zurück, ebenso publizistisch, doch hast Du vielleicht meinen Weihnachts-Artikel im „Berliner Tageblatt“ gelesen, wo ich mich zum erstenmal auch etwas außenpolitisch geäußert habe.

Den Meinigen geht es gut. Wir hatten ein ganz stilles und behagliches Weihnachtsfest und haben das neue Jahr gut angetreten. Im weiteren Rahmen der Familie war es ein bedeutendes Ereignis, daß die alte Firma meines Schwiegervaters in Augsburg sich glücklicherweise rechtzeitig von der Bayerischen Hypothekenbank aufsaugen ließ. Der Übergang ist zum 1. Januar erfolgt. Mein Schwager ist Direktor der Hypothekenbank geworden.

Es hat mich sehr interessiert, lieber Fritz, was Du über die Pädagogischen Akademien schreibst. Es scheint ja doch so, als ob die verschiedenen Pädagogischen Akademien ein ziemlich verschiedenes Gesicht bekommen sollten. Ich habe ja fast überall einen oder den anderen Freund sitzen und bin ganz gut im Bilde. Immerhin ist es doch eine entzückende Arbeit. Ich habe mit meinen Vorträgen über die neue Lehrerbildung in Amerika einen sehr großen Eindruck gemacht. Meine Vorträge werden in Buchform erscheinen. Dann sollst Du sie auch erhalten. Ich würde am liebsten einmal eine Rundreise bei allen Pädagogischen Akademien antreten und mich ins Bild setzen. Aber dann müßte man ungefähr mindestens acht Tage an jedem Orte bleiben. Leider kann ich eine soviel Zeit kostende Unternehmung nicht einmal anregen, da ich dann in einen heillosen Konflikt mit meinen orientalistischen Pflichten kommen würde. In Amerika litt ich etwas darunter, daß ich überall als Educator frisiert wurde und in erster Linie mit den Educational Departments in Verbindung trat. Als Berliner Professor muß ich diese opera supererogata völlig in den Hintergrund treten lassen. Jedenfalls freue ich mich sehr, daß Du an einer Pädagogischen Akademie wirkst, und ich glaube, daß es Dir auf die Dauer immer besser gefallen wird. Es begleiten Dich meine innig-sten Wünsche in das neue Kalender – wie Lebensjahr, und alle Meinigen grüßen herzlich mit mir Dich, Deine Frau und Töchter.

In alter Freundschaft Dein getreuer (gez.) Carl.

 

52. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 26.8.1931

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz,

Ich hatte gerade Deinen Namen auf die Liste der Empfänger meiner chinesischen Rundbriefe gesetzt, als Dein ausführlicher und gemütlicher Brief eintraf und mich wieder einmal so schön ins Bild setzte über Dich und Deine Arbeit. Ich danke Dir herzlich dafür wie auch für den schönen Artikel. Du hättest eigentlich verdient, daß ich in einer ausführlichen Antwort auf einen Brief einginge. Aber ich stehe unmittelbar vor meiner Abfahrt nach Ostasien, und da wirst Du verstehen, daß ich zu einem langen Brief nicht mehr kommen kann. Ich sehe aus dem Deinigen, daß Du von dieser meiner Ostasienfahrt noch gar nichts weißt. So will ich Dir schnell berichten, daß ich mit einer internationalen Kommission im Auftrage des Völkerbundes schon kommenden Sonnabend über Amerika und den Stillen Ozean nach China fahre, um ein Gutachten über den Stand des chinesischen Unterrichtswesens zu machen. Wir reisen mit der „Bremen“ von Bremerhaven am 30. ab, treffen am 5. September in New York ein, und dann geht es durch ganz Canada nach Vancouver und von dort ab 12. September mit der “Empress of Canada“ über Honolulu (17. September), Yokohama (27. September), Kobe (28. September) nach Shanghai (29. September). Von dort geht es weiter nach Nanking, dann etwa 14 Tage später nach Peking. Der weitere Plan ist unbestimmt. Eventuelle Briefe erreichen mich an beiliegender Adresse, die bis Ende November (Zusatz unleserlich) maßgebend ist. Wir bleiben 2 ½ Monate in China selbst, und dann gedenke ich den Rückweg über Vorderasien zu nehmen und vielleicht Niederländisch-Indien, mit großer Wahrscheinlichkeit aber den Irak und vielleicht Persien zu besuchen. Wenn Gesundheit, Geld und Politik es erlauben, werde ich erst Ende Februar oder Anfang März zurück sein. Ich mache mir natürlich kein X für ein U vor, daß man in dieser Zeit China reformieren könne; aber vielleicht können wir doch einen oder den anderen Rat geben, und jedenfalls ist die ganze Reise ein unerhörtes Erlebnis, das mir eigentlich zur Abrundung meines doch sonst nicht gerade erlebnisarmen Lebens noch gefehlt hat.

Meine Frau bleibt natürlich nicht allein in dem großen Haus, sondern wird aller Wahrscheinlichkeit nach ähnlich wie schon im Sommer in Salem helfen. Hertha ist im Krankenhaus tätig. Hellmut studiert in Freiburg und Walter nimmt sich hier in der Stadt irgendwo ein Zimmer, und wir schließen das Haus zu, was auch aus Ersparnisgründen sehr angenehm ist. Im Augenblick ist Hellmut in England, und Hertha rüstet sich darauf, ebenfalls hinzufahren. Ich selbst schließe noch Band II meiner „Islamstudien“ ab, nachdem ich in den letzten Tagen neben all meiner Vorbereitung noch einen großen Nachruf auf Nöldecke und eine literarische Analyse des 70jährigen Georg Jacob geschrieben habe. Ich bin auch froh, wenn ich erst an Bord bin. Amüsant ist, daß ich wieder durch ganz Canada fahre und durch die Rocky Mountains. Als ich voriges Jahr durchkam, sagte ich zu Walter: „Ich muß mir alles sehr genau ansehen, denn bei meinem Alter ist doch nicht zu erwarten, daß ich hier noch einmal herkomme.“

Auf der Reise nach China 1931/1932 mit der Völkerbundskommission
Auf der Reise nach China 1931/1932 mit der Völkerbundskommission

Und nun fahre ich das Jahr danach dieselbe Strecke. Man kann wirklich sagen: Der Mensch denkt, Gott lenkt, und aus einem vollen amor fati habe ich auch diese Reise unternommen, die doch natürlich auch manches Risiko einschließt. Ich habe mich gegen vier verschiedene Seuchen impfen lassen, was nicht nur angenehm war, und baue im übrigen darauf, daß das Leben ja doch auch Führung besteht. Es muß schon etwas Schicksalhaftes in dieser China-Aufgabe liegen, da ich kurz vor dem Ruf des Völkerbundes den gleichen Ruf von amerikanischer Seite bekommen hatte.

Nun muß ich aber unbedingt Schluß machen. Alles Nähere wirst Du aus meinen Reisebriefen erfahren, die Du in einem Durchschlag erhalten wirst.

In Eile grüßt Dich von Herzen Dein getreuer (gez.) CarlHB.

 

53. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 9.5.1932

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz!

Du hast mir so treu geschrieben, daß ich Dir trotz der Überfülle meiner ersten Wochen nach der Heimkehr einen herzlichen Gruß schicken möchte. Ich bin wirklich glücklich, daß es Dir gelungen ist, aus dem allgemeinen Zusammenbruch doch noch eine befriedigende Tätigkeit zu retten, aber ich kann Dir die Bitterkeit im allgemeinen und im speziellen vollkommen nachfühlen. Ich habe inzwischen Unterhaltungen mit Wende und Grimme gehabt und mich auch sonst vielseitig umgehört. In den nächsten Tagen kommt auch Weniger, mit dem ich nicht nur über den Nizzaer Kongreß sondern auch über das Schicksal der Akademien sprechen möchte. Es wird nie wieder gut zu machen sein, was an spontanem Idealismus zerbrochen ist. Auch mit Reichwein hatte ich eine Aussprache, der wirklich vieles geleistet hat. Gestern Abend traf ich im Theater – übrigens in der Bursleke von Wedekind „Der Liebestrank“ – meinen Vorgänger Boelitz, der natürlich auch sehr scharf urteilte, aber mehr über das höhere Schulwesen klagte, wo man auch die Reform zerstört hat. Grimme ist ein charmanter Mensch, aber er hat eben leider keine Kraft. Das mit den Akademien hätte so nicht passieren dürfen.

Aber auch die Zukunft sieht nicht rosig aus. Wenn die Nazis wirklich national sind, müssen sie jetzt in die Regierung mit dem Zentrum eintreten. Wenn sie das aus parteipolitischem Interesse ablehnen, sind sie meines Erachtens vor der Geschichte gerichtet und hoffentlich auch bei ihren Anhängern. Was man so an Äußerungen von Führern der Nazis hört und was man vor allem von ihrem Unverstand bereits erlebt hat, ist nicht gerade sehr ermutigend. Wie ich höre, ist aber Braun fest entschlossen, kein dauerndes Geschäftsministerium zu führen. Die Schwierigkeit liegt beim Reich, denn die Sozialdemokratie denkt nicht daran und kein Mensch kann es ihr zumuten, im Reich Brüning zu stützen, wenn in Preußen die Nazis regieren.4

Ich hatte noch schöne Tage in Paris und war auf der Hochzeit von Götsch in Northumberland. Jetzt warte ich auf den Beitrag meines Kollegen Langevin, im übrigen ist der Bericht fertig.

In der Hoffnung, daß es bei Euch allen recht gut geht und mit herzlichen Grüßen von den Meinen

Dein getreuer (gez.) Carl.

 

54. C.H.B. an Fritz Sell. Berlin, 9.9.1932

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz!

Was Du tun willst, tue bald. Soeben erhielt ich Deinen lieben Brief. Ich danke Dir herzlich für das ausführliche Stimmungsbild, das er mir vermittelt. Ich sprach kürzlich den Präsidenten Sonntag in Frankfurt und war sehr nett mit ihm, dankte ihm auch für sein Eintreten für Dich, da mir das auch für die Zukunft wichtig erscheint. Deine Klagen über den Apparat sind gewiß berechtigt, aber Du kennst ja auch einigermaßen die Schwierigkeiten und Hemmungen. Auch Wende ist jetzt sehr bedrückt, daß er die nachfolge von Richter bei U I annehmen soll, aber er wehrt sich bisher energisch, besonders da er die Verantwortung für die Akademien spürt. Der Bau der preußischen Verwaltung muß ungeheuer stark sein, wenn er erst die sozialistische Umgestaltung und jetzt das neue Revirement ohne Schaden überstehen soll. Immerhin habe ich noch die Hoffnung, daß doch wirklich etwas geschieht. Die jetzt begonnene Verwaltungsreform war doch von uns seit einem Jahrzehnt vorbereitet, konnte nur nie durchgeführt werden, weil die lokalen Interessen zu stark im Parlament waren. Gewiß gibt es jetzt Härten und Schönheitsfehler, aber daß eine Verwaltungseinteilung aus der Zeit der Postkutsche in einem Zeitalter des Verkehrs antiquiert ist, versteht sich doch von selbst, und auf die Dauer tritt unbedingt eine Ersparung ein, wenn auch natürlich nicht im Augenblick. Wie in England die grundsätzliche Umgestaltung der Außenpolitik, die auch den Konservativen unvermeidbar schien, mit deren Einverständnis durch den Büttel der Labour Party durchgeführt wurde, so sollten auch wir die derzeitige Diktatur die Neugestaltung unserer innerpolitischen Verhältnisse durchführen lassen, zu der eine Regierung, die auf dem sog. Volksvertrauen, d.h. auf der Abhängigkeit von lokalen Wünschen besteht, niemals fähig sein würde. Ich bin kein Freund des Herrn von Papen und finde vor allem das Säbelgerassel des Herrn von Schleicher höchst unzweckmäßig. Trotzdem mußte dies Experiment gemacht werden, um dem Parteiklüngel einmal zu zeigen, daß es schließlich auch ohne ihn geht. Ob Nazi, ob Sozi, ob Zentrum oder Deutschnational, überall stand das Parteiinteresse über dem Gemeinschaftsinteresse, und es mußte darüber stehen, sonst wären auch diese Parteien zerrieben worden, wie die anderen. Im Grunde ist unsere Verfassung ganz gut. Ich glaube nicht, daß wir auf dem Wege zur amerikanischen Präsidialherrschaft sind, aber daß einmal die Allmacht der Parteien etwas erschüttert wurde, begrüße ich unbedingt.

Was im Kultusministerium wird, wissen die Götter. Ich habe stark geraten, in irgendeiner Form die Dualität zwischen Reich und Preußen aus der Welt zu schaffen. Nun wird, wenn ein Ministerium bestehen bleibt, gewiß das Kultusministerium erhalten werden, da die Länder nur auf Grund ihrer historisch-kulturellen Eigenart eine Existenzberechtigung besitzen. Auf der anderen Seite ist eine entschiedene Kulturpolitik des Reiches nur möglich, wenn es irgendwo die Sachkunde der Einzelarbeit besitzt, und vor allem müßte die Wissenschaftsverwaltung mit dem Reichsinnenministerium und dem Auswärtigen Amt zu einer organischen Zusammenarbeit gebracht werden. Jedenfalls ist noch alles im Fluß, und auch die Neubesetzung von U I ist ungeheuer schwierig. Hülsen wird für den Ministerposten genannt, ist aber doch wenig wahrscheinlich.

Von mir selbst kann ich nur berichten, daß es mir, auch abgesehen von der höchst erfreulichen Verlobung, sehr gut geht. Als ich Irmgard Schroeder gleichzeitig mit Walter vor nunmehr zwei Jahren zum ersten Mal sah, wünschte ich sie mir vom ersten Tage an als Schwiegertochter. Sie wird den ganzen Winter bei uns bleiben und dann während Walters Assessorexamen noch einmal nach Amerika zurückkehren. Dann aber hoffen sie zu heiraten. Der Aufschub ist nicht so schlimm, da sie erst 19 Jahre alt ist. Sie hat sich sehr schnell auch das Herz meiner Frau und der übrigen Familie erobert. Der Vater ist Direktor beim Norddeutschen Lloyd in New York, deutscher Herkunft, die Mutter ist Engländerin, Irmgard spricht beide Sprachen nebeneinander und ist eine erfreuliche Mischung aus deutscher Innerlichkeit und amerikanischer Smartness.

Ich selbst habe seit meiner Rückkehr von China meinen Reisebericht fertiggestellt, den ich Ende Juli in Genf überreichen konnte. Dann war ich auf dem Kongreß der New Education Fellowship, über den ich vorgestern im Radio im Pädagogischen Rundfunk berichtet habe. Ich werde diesen Bericht jetzt drucken lassen. Nach Nizza, das ich als einen vollen Erfolg empfand, war ich 8 Tage am Bodensee und habe dann die Goethe-Tage in Frankfurt mitgemacht, wo mir nicht weniger als drei Goethe-Medaillen verliehen wurden, die von Hindenburg, von der Stadt Frankfurt und vom Hochstift. Jetzt sitze ich in Ruhe in Berlin und bereite mein Winter-Semester und einige Vorträge in London und Cardiff vor, die ich im Oktober zu halten beabsichtige. Ich habe mich jetzt nach den Erfahrungen der Reise ganz auf das Thema konzentriert: Berührung Asiens mit Europa und Amerika, das ich einmal systematisch untersuche, da ich hierzu glaube nicht nur durch meine zwei Berufe, sondern auch durch meinen äußeren Lebensgang gut qualifiziert zu sein, und außerdem handelt es sich dabei um eine der entscheidenden weltgeschichtlichen Gegenwartsprobleme.5

Es tut mir leid, lieber Fritz, daß Du noch in einem so unerfreulichen Übergangszustand bis, aber ich kann mir nicht helfen, ich sehe trotz allem den Gang der Dinge optimistisch an und bin überzeugt, daß auch Du noch eine Dich voll befriedigende Tätigkeit finden wirst. Jedenfalls gehen meine Wünsche in dieser Richtung. Es wäre nett, wenn wir uns bald einmal wiedersehen würden.

Da ich glaube, daß Du ein inneres Interesse daran nimmst, sende ich Dir mit gleicher Post meinen soeben erschienenen Chinabericht; vielleicht reizt er Dich, irgendwo etwas darüber zu schreiben, das würde mich natürlich freuen. Ganz von mir allein geschrieben ist das entscheidende Kapitel über National Education and Foreign Influences. Ferner wirst Du natürlich meine Klaue erkennen bei der Secondary Education und vor allem bei dem Teacher Training. Die Universitäten sind ganz von Tawney geschrieben, aber alles ist so stark gemeinsame Arbeit, daß es sich schwer sagen läßt, welcher Gedanke von welchem stammt. Nur die Idee über die Fremdeinflüsse sind ausschließlich von mir, aber das darf natürlich niemand wissen.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus und nochmaligem Dank für Eure freundlichen Glückwünsche Dein getreuer (gez.) CarlHB.

 

55. C.H.B. an Fritz Sell. Berlin, 5.1.1933

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Zu Deinem morgigen Geburtstag möchte ich Dir vom ganzen Hause die herzlichsten Glückwünsche schicken. Ich benutze diesen Anlaß, Dir für Deinen lieben ruß zu danken. Auch sende ich Dir einen kleinen Aufsatz aus der Voss(ischen Zeitung), der Dich vielleicht interessiert. Wir haben ein sehr schönes und stilles Weihnachtsfest mit der Schwiegertochter verbracht. Das Brautpaar war jetzt in Augsburg, und langsam rüsten sich Hertha und Hellmut wieder zur Abreise. Ich bin von der Flut der Briefe, die dieses Jahr zu Weihnachten vor der ganzen Welt her herbeigeströmt ist, einfach ertränkt worden. Ich muß deshalb sehr an die Nachsicht meiner Freunde appellieren, wenn ich nur kurz und selten schreibe, aber ich hoffe, daß das unsere Freundschaft nicht beeinträchtigt, denn im allgemeinen kann man meiner Gesinnung sicher sein.

Es hat mich auch in Deinem Interesse gefreut, daß Sondag in Kassel geblieben ist, und ich höre von den verschiedensten Seiten, daß man in der Wirtschaft dem beginnenden Wiederaufstieg sehr optimistisch entgegen sieht. Das dürfte ja dann auch auf den Staat sich auswirken, und damit auch auf unser Schulwesen und die Möglichkeiten erhöhen, auch Dir einen neuen definitiven Wirkungskreis zu verschaffen. Jedenfalls gehen meine besten Wünsche nach dieser Richtung, und Du weiß, daß ich jederzeit von Herzen gern helfe, wenn Du irgendwo glaubst, mich als Hilfskraft benutzen zu können. Vor allem aber alles Gute in Deinem engsten Familienkreis! All die Meinigen grüßen mit mir herzlich. Wir wünschen vor allem Dir im doppelten Sinn ein gutes neues Jahr.

Von Herzen Dein getreuer (gez.) Carl.

Ende des Dossiers Fritz Sell aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin.

1 Wohnsitz der Familie Becker seit 1913 …

2 Hervorhebung des Herausgebers.

3 Hervorhebung des Herausgebers.

4 Deutsche Innenpolitik 1930-32. Die letzte parlamentarische Regierung Müller trat 1930 zurück und wurde von Hindenburg durch die Präsidialkabinette Brüning-Papen-Schleicher ersetzt. RK Brüning *1885 +1970 regierte mit Hilfe des §48 WV gegen linke und rechte Radikale. Versuch, die Wirtschaftskrise seit 1929 durch deflationistische Politik, Senkung von Löhnen und Gehältern sowie der Arbeitslosenentschädigung, – aber auch der Preise. Die RT-Wahlen September 1930 stärken die Radikalen. 1931 Bildung der Harzburger Front zwischen NSDAP, DNVP und Stahlhelm; aber auch der Eisernen Front zwischen SPD, Gewerkschaften und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (einer Schutzformation gegen die gewalt der SA). 1932 erfolgte die Wiederwahl Hindenburgs (Gegenkandidat Thälmann, KPD). 30.5.32: Sturz der Regierung Brüning. Der Radikalisierung der NSDAP wird durch Verbot von SA und SS begegnet durch RK von Papen *1897 +1969. Doch nach Auf-lösung des RT am 4.5.32 wird deren Verbot zurückgenommen. Hitler toleriert die Regierung Papen. Die bürger-kriegsähnlichen Zustände liefern Reg.Papen den Vorwand für den Staatsstreich gegen Preußen im Juli 1932 und Absetzung der Regierung Braun! Bei den RT-Wahlen im Juli erhält die NSDAP die meisten Stimmen; Papenplan zum Aufschwung der Wirtschaft wird niedergestimmt … November 1932 erleidet die NSDAP große Stimmenverluste,Gewinne der KPD. 28.1. RK General von Schleicher versucht NSDAP zu spalten (Strasser); Verhandlungen mit SPD, Gewerkschaften und Mittelparteien zur Tolerierung seiner Politik scheitern. Nach dem Wahlsieg der nazis in Lippe tritt v. Schleicher zurück. Hitler hatte inzwischen Hindenburg durch Vermittlung Papens von sich überzeugt: am 30.1.1933 wird Hitler RK …

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

Prof. Dr. Cornicelius, Berlin. 1914/15

VI HA. Nachl. C.H.Becker. Rep.92 Becker C. Nr. 124

30. C.H.B. an Dr. Cornicelius, Berlin. (Bonn?), 3.12.1914

(Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Doktor!

Freundlichen Dank für Ihren Brief in Sachen der Internationalen Monatsschrift. Si können sich denken, daß ich jetzt ungefähr jeden Tag auf eine ähnliche Anfrage zu reagieren habe. Wenn ich Ihnen neulich die versprochene kurze Äußerung nicht sandte, so geschah das einfach aus Zeitmangel und weil eine intimere Erörterung z.B. des Heiligen Krieges und des berühmten Fetwas zur Zeit politisch nicht opportun ist, da man als Gelehrter doch darauf hinweisen müßte, wieviel Theater bei der Sache ist. Hingegen würde mich ein allgemeiner Islam-Artikel über die kulturelle und nicht über die religiöse Seite schon interessieren. Ich will ihn auch gern im Auge behalten, aber ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich mich nicht binden kann, da ich ein kleines Islam-Buch unter der Feder habe, das jetzt ein dringendes Bedürfnis darstellt und unbedingt vorgeht. Daneben sind meine dienstlichen Pflichten zur Zeit nicht gering. Aber immerhin wechselt man gern einmal, und ich hätte schon einige Gedanken, die ich gerade in Ihrer Zeitschrift gern zum Ausdruck brächte.

Mit verbindlicher Empfehlung Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

31. C.H.B. an Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin. (Bonn?), 25.1.1915

Hochgeehrter Herr Professor!

Ich habe Ihnen noch zu danken für Ihre erneute Anfrage über einen von mir zu liefernden Islamartikel für die Internationale Monatsschrift. Inzwischen ist ein heftiger Angriff des berühmten holländischen Islamforschers Snouk Hurgronje gegen die deutsche Islampolitik erfolgt und zwar in De Gids unter dem Titel ‚Heiliger Oorlog made in Germany’. Soeben habe ich eine ausführliche Entgegnung (ca. 1 Bogen)1 vollendet und würde diesen sehr gern möglichst bei ihnen abgedruckt sehen. Können Sie ihn noch in die Februar-Nummer aufnehmen?- Mit der Bitte um baldige Antwort bin ich mit hochachtungsvollem Gruß

Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

32. Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin an C.H.B. Berlin, 26.1.1915

Hochgeehrter Herr Professor,

Das nächste Heft soll pünktlich am 15. Febr(uar) erscheinen, also am 8., spätestens am 9. umbrochen werden. So ist es, wenn Sie das Manuskript freundlich umgehend schicken, noch rechtzeitig. Der Umfang ist ja etwas stark für den beschränkten Raum, doch wenn möglich, werde ich mir zu helfen suchen. Mit den besten Empfehlungen in Ergebenheit

Ihr :M.Cornicelius.

 

33. C.H.B. an Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin. Bonn, 30.1.1915

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr College!

Anbei übersende ich Ihnen das druckfertige Manuskript. Ich freue mich sehr, daß Sie es noch so bald haben placieren können. Es wird sich wohl ziemlich zusammendrucken. Ich bitte um 150 Separatabzüge, da ich es nach vielen Seiten zu verschicken beabsichtige.

Mit verbindlicher Empfehlung und nochmaligem besten Dank Ihr ergebenster (C.H.B.)

Einschreiben!


1 1 Bogen in der Druckersprache 32 Seiten. Der Herausgeber

Julie Becker – Autobiographie

Vom Leben einer großbürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert

Erinnerungen und Vermächtnis

Gelnhausen, 29.07.1907

Diese Erinnerungen widmet ihren lieben Kindern die durch sie so hoch beglückte Mutter Julie Becker-Schöffer

*28. Januar 1839 †29. Juli 1917

Die Anmerkungen in Klammern () und die Fußnoten wurden zum besseren Verständnis für die junge Generation von Bert Böhmer 2001 hinzugefügt.

 

Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop
Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop

Viele, die das 70. Lebensjahr erreicht haben, sagen: „Das Leben war kurz.“ Ich finde das nicht. Mir scheint der zurückgelegte Weg lang und ganz besonders dann, wenn ich mich in die ferne, ferne Kinder- und Jugendzeit versenke, wenn ich die Fülle der Erlebnisse bedenke und vor mir erstehen lasse, was an Freude und Leid mir zuteil wurde. Wer glaubt noch an Wunder? Es gibt keine! Ich sage: „Es gibt nur Wunder und eines der größten erscheint mir das menschliche Gehirn!“

In nebelgrauer, weiter Ferne liegen die Tage der Kindheit und viel Schönes und Reiches ist untergetaucht in Nirvana und dem Bewußtsein entschwunden, aber vieles hat sich mit ehernem Griffel eingeschrieben in jene wunderbare Rinde, die jahrtausendelang von Geschlecht zu Geschlecht Pergament und Papier vertreten hat, in das en erfreut es doch, ganz besonders dann, wenn der lange Weg noch länger geworden ist und das Ziel erreicht ist, wo die Berührung von Seele zu Seele aufhören wird und Erinnerung alles ersetzen muß, was Leben und Liebe war.

Jugend in Amsterdam

So gedenke ich zuerst meiner Eltern und darf von Einigem sprechen, das ich nur aus Erzählung weiß. Voll Mut und Zuversicht zogen sie im Jahre 1838 in das damals noch ferne Land, das nur langsam zu erreichen war, und selbständig gründete der 22 Jahre alte Mann ein eigenes Handelshaus in Amsterdam.

Die zwei Jahre jüngere Frau sah sich ganz fremden Verhältnissen, fremder Sprache gegenüber. Sie wohnten mehrere Tage in einem Hôtel garni und zogen in ein Haus auf dem Singel in Amsterdam. Am Tage der Geschäftsgründung wurde ein Baum vor dem Haus gepflanzt, der noch steht, wie auch die Firma, als deren Symbol er betrachtet wurde. Magd und Diener hatten sie mitgebracht. Der Diener Steinmetz war sehr tüchtig und stieg immer höher im Geschäft, seine Kinder sind angesehene, gebildete Leute geworden. Am 27. Januar 1839 waren feine Borsdorfer Äpfel von Gelnhausen gekommen, und die junge Frau genoß sie freudig. In der Nacht stellten sich Schmerzen ein. Sie glaubte, die Äpfel seien schuld; sie waren es aber nicht, sondern ein dunkeläugiges kleines Mädel, das erst vierzehn Tage später kommen sollte, und das Mädel war ich.- Die Gelnhäuser Großmutter kam ein paar Stunden nach mir und war zuerst ganz traurig, daß ich meinen Eintritt in die Welt ohne sie bewerkstelligt hatte, aber danach war dann doch die Freude groß. Nach passenden Zwischenräumen kamen zwei Brüder und nach vier Jahren ein Schwesterlein. Von da ab zerreißt der Nebel der Vergangenheit, und die ersten Erinnerungen tauchen mit großer Deutlichkeit auf. Eine schwere Zeit zog für mein Elternhaus heran. Der Mutter Leben, das der zwei ältesten Kinder waren lange in Gefahr. Eine junge Tante, Elisabeth Schöffer, die zur Pflege im Wochenbett gekommen war, mußte das ihre hingeben, nur 18 Jahre alt. Der Typhus war eingezogen und damals erlagen von 100 (Erkrankten) 66, heute noch nicht einer, sondern nur der Bruchteil eines Prozents. Die Mutter war lange Monate schwer ergriffen und brauchte nach dem langen Winter noch den ganzen Sommer zur Erholung. Sie hatte ganz vergessen, daß sie ein viertes Kind geboren, ihr schönes schwarzes Haar fiel plötzlich in einer Nacht vom Kopf, die Lippen waren fort, ersetzten sich wieder, aber der Mund blieb ganz klein, so daß sie Zeit Lebens mit Kinderbesteck essen mußte. Faulfieber wurde diese Nachkrankheit genannt.

Meine erste Erinnerung ist eine materielle. Ein Hühnerbeinchen, das ich essen durfte. Der Arzt sagte zu meinem traurig dreinblickenden Vater: „Sehen Sie, der schmeckt es nun schon wieder.“ Die dritte Erinnerung ist eine seelische: die Taufe der kleinen Schwester. Ich sehe noch meinen Platz am Fenster des Zykamer (Heerengracht 319), wie feierlich war mir zumut, ich faltete die Hände und fühlte mich sehr wichtig. Bald aber kam wieder eine garstige Regung: die Eifersucht. Meine Brüderchen kamen herein und bekamen eine Hand vom Pfarrer, ich aber bekam keine. Eine weitere Erinnerung ist eine echt holländische. Mein kranker Bruder und ich wurden, um der Mutter mehr Ruhe zu geben, zu Freunden (Fuchs) gebracht. Ich sehe uns noch im geschlossenen Schlitten sitzen, in Decken gewickelt, die weiß mit roten Rändern waren. Der Kutscher lief nebenher und schleuderte einen Lappen am Seil vor die Kufen, die darüber hinweg rutschten. Später, als wir auf Kindergesellschaften fuhren, waren wir betrübt, wenn statt des Schlittens ein Wagen auf Rädern (eine Vigilande) kam, denn damit waren wir gar schnell zu Haus und der Spaß war kurz! So ändern sich die Liebhabereien. Noch nicht sechs Jahre alt, kam ich zur Schule, zu einer Fräulein Hecke, einer alten Dame mit Ridikül und einem un-appetitlichen Taschentuch darin, denn sie schnupfte. Eine junge Lehrerin, die sie bei meiner Ankunft vertrat, imponierte mir nicht, und ich verweigerte glatt, ihr zu gehorchen, bis Fräulein Hacke mir den Standpunkt klarmachte. Drei Jahre blieb ich dort und litt unter dem herrschenden Deutschenhaß und fühlte mich als „Moff“ minderwertig, war selig, als es eines Tages hieß: „Morgen kommst du in eine andere Schule.“ Sie war uns vis-à-vis. Die Dame, eine geborene Französin, hatte einen holländischen Steinkohlenhändler geheiratet, und es ging ihr nicht gut Sie war lieb und sanft, aber ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Mit zehn Jahren saß ich in der ersten Klasse unter fünf bis sechs Jahre älteren Mädchen und spielte ganz entschieden eine Rolle, lernte ausgezeichnet holländische Geschichte und Mythologie, auch Französisch aber sonst rein garnichts. Was Literatur ist, war mir gänzlich unbekannt; daß es außer Holland auch noch andere interessante Länder mit Geschichte gibt, Geographie und andere Wissenschaften, das erfuhr ich erst, nachdem ich ein Jahr Privatunterricht genossen hatte, und mit 13 Jahren in die Pension Bickel und Deslondres in Frankfurt zog.

Pension in Frankfurt

Ich war empört, als ich in die dritte Klasse, meinem Alter gemäß, kam, und wie viel hatte ich nachzuholen, wie viele Lücken wurden viel später oder gar nicht geschlossen. Nun erwachte ich erst zum geistigen Leben! Zwar das erste Vierteljahr verging ich fast vor Heimweh, aber als zu Weihnachten die Eltern mich besuchten und mich ausstatteten mit vielem, was ich entbehrt hatte, als ich mich eingearbeitet hatte und sogar bald zu den Besten zählte, als ich Liebe unter den Mitschülerinnen fand und Ver-trauen bei den Lehrerinnen, da fühlte ich mich glücklich, und ich war dankbar für das so ganz andere reiche Leben, das ich mit Bewußtsein genoß. Verstand bei den Menschen hat mich stets angezogen und so wurde das gescheiteste Mädchen meine intimste Freundin, leider eine Jüdin, Toni Lenel. Leider! Denn ich verlor viel Zeit mit Bekehrungsversuchen, die mir teilweise auch gelangen. Abends rückte sie das Kopfende ihres Bettes an das meine, wenn die Gouvernante eingeschlafen war, und wir redeten tief über ernste Dinge. Natürlich war ich ganz befangen im orthodoxen Autoritätsglauben, denn ich schwärmte leidenschaftlich für meinen Pfarrer (Wehner), und was er sagte, war Evangelium. Allerdings nicht mehr, als die Konfirmation herannahte, und ich es sehr gewissenhaft nahm. Da machte ich dem guten, begabten Mann das Leben oft schwer. Aber Streben war unter uns Mädchen (die Regel), und wir arbeiteten ernsthaft an gegenseitiger Besserung, doch Duckmäuser waren wir nicht und machten manchen tollen Streich, erschreckten z.B. unsere Französin, als sie aus einer Gesellschaft kam. Alle Acht standen wir im Nachtgewand im Mondenschein starr und steif auf den Betten, oder wir ließen an einem Faden ein kleines Möbel unter ihrem Bett sich leise bewegen, und das war in der Zeit des Tischrückens unheimlicher wie heutzutage.

Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht fassen, wie damals im Jahre 1853 alles unter dem Bann dieser anscheinend neu entdeckten Naturgewalt stand.. Zwar wurden die Geister in unserer Pension nicht gerufen, aber wochenlang tanzten die Tische und ich selbst galt mit einem zweiten Mädchen als besonderes Medium und wurde in kleinen Versammlungen zur Vorsteherin beru-fen, um meine magnetische Kraft zu erweisen. Wahrscheinlich, weil alle Mithandelnden an mich glaubten, drückten sie unwillkürlich auf den Tisch, wenn ich auf Jemandes Schulter die Hand legte. Faktum ist, daß die Tische sich auch lustig drehten, es waren keine Ausziehtische, sondern ganz leichte, runde, etwa für sechs Personen berechnet. Ich kam mir sehr wichtig vor, aber die Vorsteherin hatte Verstand genug, bald damit aufzuhören, sie fürchtete, mir damit zu schaden.

Am 26.Mai 1854 wurde ich konfirmiert. Es war ein herrlicher sonniger Tag und meine Zweifel waren zur Ruhe gekommen. Friede und Freude erfüllten mich und heiße Liebe, die eine wunderbare Mischung war von der zum Heiland und von der zum Pfarrer. Ganz ohne (Ent)-täuschung ging auch dieser Tag nicht vorüber. Ich hatte auf eine Uhr gehofft, bekam aber eine Brosche. Meine Stellung in der Heimat war damals schwierig, dem Alter nach noch ganz ein Kind, war ich doch bereits so sehr entwickelt, daß ich mich ganz als Erwachsene fühlte. Viel Unterricht empfing ich nicht mehr, und so war es für meine weitere Bildung sehr gut, daß sich die Fäden dafür noch nach Frankfurt spannten. Nun nahte bald die Stunde des Abschieds von der so lieb gewordenen Pension, in der ich zwei Jahre verbrachte, und der ich viel verdankte, aber der ich auch das zuschrieb, was schließlich in der Entwicklung des Alters lag. Ich war erst 15 Jahre alt und trennte mich sehr schwer, lebte noch lang so intensiv im dortigen Leben fort, daß ich sogar Aufsätze einsandte und darüber Kritiken bekam, führte eine ausgedehnte Kor-respondenz mit Schülerinnen und Lehrerinnen.

Heirat mit Carl Wilhelm Ferdinand Becker

Carl Ferdinand Becker 1775-1849. Sprachwissenschaftler. Gemälde von 1840 von G. W. Bode. Kopie von Jenny Fleischhauer (im Besitz der Familie Becker in Bielefeld). Vater von Carl Wilhelm Ferdinand Becker
Carl Ferdinand Becker 1775-1849. Sprachwissenschaftler. Gemälde von 1840 von G. W. Bode. Kopie von Jenny Fleischhauer (im Besitz der Familie Becker in Bielefeld). Vater von Carl Wilhelm Ferdinand Becker

Im Herbst 1855, also bevor ich das 17.Jahr vollendete, trat dann das große Ereignis in mein Leben, das sich jedes Mädchen wünscht, das aber nicht jedem vom Schicksal gewährt wird: die Liebe zum Manne, und zwar zu meinem zukünftigen Manne. Unerreichbar erschien mir aber damals solch himmelstürmendes Glück, ich liebte kindlich, ohne Gedanken an Gegenliebe, aber schwärmerisch und leidenschaftlich. Der erste Funke fiel in meine Seele, als ich mit meinen Eltern bei Bekannten (Heppner) auf einen Landsitz nach Oberveen eingeladen war. Wir fuhren über Haarlem in einem Wagen dorthin, 2 ½ Stunden, und der vierte freie Platz wurde Herrn Becker angeboten, der seit Jahren Hausfreund bei meinen Eltern war. Als ich vier Jahre war, saß ich auf seinem Schoß, er war schon 21, ein schöner, sehr begabter Jüngling mit prachtvoller Stimme, der sich alle Herzen gewann. Er war bescheidener Kommis bei den Vertretern von Rothschild, schwang sich aber sehr bald zum Chef des Bureaus auf. Er fühlte sich im Leben zurückgesetzt, weil in seiner gelehrten Familie der Kaufmannsstand als minderwertig angesehen wurde, und er auch lieber einen wissenschaftlichen Beruf ergriffen hätte. Seine Mutter aber, die einer Kaufmannsfamilie entstammte, wünschte, daß auch einer ihrer Söhne diesen Beruf ergreife. Der älteste, sehr begabte Sohn Ferdinand, wurde selbstverständlich dem Vater nach, Student der Medizin, später gesuchter Arzt in Berlin, wo er kurz verheiratet, mit 29 Jahren dem Typhus erlag. Der zweite erklärte, er dürfe der Mutter Wunsch nicht erfüllen, er fühle einen unbezwingbaren Hang zu Geiz und Geldgier in sich und dadurch sich zu großen Gefahren ausgesetzt. Dies war Bernhard, der auch jung verstarb nach zweijähriger Ehe, als Lehrer in Oldenburg. Nun sollte sich Friedrich, der dritte Sohn entscheiden, aber der verwarf den Plan sofort, hauptsächlich aus einem gewissen Hochmut; auch waren andere der Meinung, seine glänzende Begabung käme in einem anderen Beruf zu höherer Geltung. Das Leben gab ihm nicht recht, seine Begabung war groß, aber zu vielseitig, so zersplitterte sie sich, er kämpfte sein Leben lang mit unerfüllten Hoffnungen, mit Sorgen und Not und hatte dem Bruder Kaufmann – dem von ihm verachteten Stand – in späteren Jahren viel zu danken. Dieser war ein guter Sohn und ihm der Wunsch der geliebten Mutter Maßstab und Richtschnur. Er brachte seine damaligen Wünsche zum Opfer, glaubte sich wohl auch weniger begabt wie die älteren Brüder, hat aber seinen Entschluß niemals bereut, sondern gesegnet. Er machte in Frankfurt im Hause Bernard Seidengeschäft die Lehre durch und spazierte sonntags durch die Apfelallee nach Offenbach, wo er im Elternhaus vielfach Anregung fand und mit bedeutenden Männern in Berührung kam. Uhland und Arndt waren z.B. intime Freunde des Hauses. Seinem Streben gelang es, sich eine recht umfassende Bildung zu er-werben, und er war in modernen Sprachen sehr gewandt. Er kam in Pension zu einer Familie Hestermann, der Gatte war ein trockenes, alltägliches Männchen, die Frau bedeutend und von imponierendem Äußeren, fand frische Töchter, denen er englischen Unterricht gab, aber seine Liebe gehörte der älteren Frau, die sich ihm gern vertraulich aussprach.- Dies Gefühl, das so oft sehr junge Männer zu älteren Frauen hinzieht, bewahrte ihn damals vor Verführungen anderer Art. Schon mit 18 Jahren kam er nach bestandener Lehre, mit schöner goldener Uhr beschenkt, die er später in Zeiten der Not verloste, – nach Paris, in das dortige Haus seines Chefs.- Er suchte damals das Hochzeitskleid für die Königin von Schweden aus und blieb drei Jahre. Sein sehr knappes Einkommen bewahrte ihn auch dort vor großen Ausschreitungen und vor schlechter Gesellschaft. Als er 21 Jahre geworden, gab es Schwierigkeiten im väterlichen Haus in Offenbach und es fehlte an Hilfe. Der Vater ließ ihn von Paris kommen, und er unterrichtete die Pensionäre des Hauses in Sprachen, fühlte sich aber nicht zum Lehrer veranlagt und ergriff freudig die angebotene Stelle in Amsterdam bei Gebrüder Sichel, den damaligen Vertretern Rothschilds. Zwölf Jahre war er dort, als er zum Chef mit Herrn Fuld gewählt wurde, hatte sich niemals bemüht, selbständig zu werden, sogar Anerbietungen abgelehnt, weil ihm ein Arzt in Paris gesagt hatte, er werde höchstens das dreißigste Jahr erreichen. Damals hatte er in einem einzigen Jahr dreimal Lungenentzündung, auch glaubte man noch im Jahre 1853, er sei schwindsüchtig, und noch wie ich mich verlobte, warnte man mich. Ich aber äußerte: „Lieber zehn Jahre nur mit ihm, als fünfzig Jahre mit einem anderen.“ Freilich zehn Jahre erschienen meinen siebzehn Jahren damals eine Ewigkeit! – Auch an Heiraten hatte er aus obigem Grunde nie gedacht und einmal eine reiche Erbin ausgeschlagen, die ihm wohl begehrenswert schien, auch noch aus einem anderen Grund, daß er nicht pekuniär von seiner Frau abhängig sein wollte. So sorgte ein freundlich Geschick, daß er wartete, bis ich herangewachsen war, – das dreißigste Jahr war glücklich vorbei und seine Verhältnisse glänzend geworden. Er kam rasch zu Vermögen, schon dadurch, daß nach damaliger Usance Rothschilds ihren Vertretern eine ganze Million ohne Zinsen zur Verfügung ließen unter der Bedingung, daß sie zu jeder Zeit darüber verfügen konnten. Selbstverständlich aber brauchte das Geld nicht im Kasten zu bleiben, um bei dem unbeschränkten Kredit der Firma stets disponible zu sein. Schöne Wochen folgten jenem ersten Ausflug, wir sahen uns sehr viel, in Gesellschaft, in Konzerten, im Theater, im Haus! Ein Leseabend wurde eingerichtet, und wir beide lasen stets das Liebespaar.

Carl Wilhelm Ferdinand Becker 1821-1898. Gemälde von Therese Schwartze, wohl Amsterdam 1865
Carl Wilhelm Ferdinand Becker 1821-1898. Gemälde von Therese Schwartze, wohl Amsterdam 1865

Als wir uns zum ersten Mal verheiraten sollten in „Romeo und Julia“, kam vorher die Verlobung. Nichtsahnend saß ich bei meiner Mutter und strickte beim Lesen, denn nur Lesen hielt man damals für faul. Da meldete das Mädchen einen Herrn, der das Fräulein sprechen wollte. „Ich glaube, es ist Herr Becker“, war die Antwort auf die entsprechende Frage. (N.B. Herr Becker kam fast täglich ins Haus.) Da erlaubte die Mutter, daß ich zu ihm herunterging und beim Schein eines damals noch gebräuchlichen Talglichtes, – andere Beleuchtung war bei den umständlichen Moderateur-Lampen nicht so schnell herzustellen, – hatte ich bald den ersten Kuß und war eine selige Braut, kaum 17 Jahre alt. Es war eine schöne Zeit, die folgte, denn obgleich Carl mir pflichtgemäß gesagt, er könne mir nur die Liebe eines 34jährigen Mannes bieten, so hatte ich mich durchaus nicht über Mangel an Wärme der Empfindung oder über mangelnde Leidenschaft zu beklagen. Sehr bald aber hatte ich schon Sorgen und Schmerzen mit ihm zu teilen, da sein Schwager Helmsdörffer plötzlich starb, und er das von diesem übernommene Elternhaus aufzulösen und Witwe und Waisen beizustehen hatte. Dieser Schwager Helmsdörffer war ein hochbegabter Mann. Er war es, der die Kunst und die Liebe dazu in die Familie einführte, und damit allen ihren Gliedern eine reiche Quelle irdischen Glücks erschloß. Seine Frau, die älteste Schwester meines Mannes, war eine ideale Natur, voller Demut und Aufopferung, groß an Liebe und an warmem Gefühl. Sie hatte die jüngeren Söhne wie eigene Kinder erzogen, und es war nur eine Dankesschuld, die mein Carl ihr später abzutragen suchte.- Ich sah noch im Frühjahr die Erziehungsanstalt und das liebe Heim auf dem Linsenberg,1 in dem auch Ferdinands Witwe, die Schwägerin Zilli lebte, und gewann, da die Zöglinge, meist Engländer, noch da waren, ein Bild von dem früheren Betrieb. Es war eine ideale Anstalt, und noch nach Jahren hörte man von manchem dankbaren Gemüt. Die körperliche und die geistige Pflege war ausgezeichnet, aber die finanzielle Seite stets vernachlässigt, und oft gab es Sorgenzeiten. Der Bruder Kaufmann griff nun überall ein, und der Segen des mütterlichen Gedankens wurde später in der Familie allgemein dankbar anerkannt. Bei einem Besuch in Gelnhausen kam auch mein Bräutigam in das Haus meiner Großmutter, dort ging es damals noch recht patriarchalisch zu. Oben am Tisch präsidierte die kleine freundliche Hausfrau, ihre Kinder reihten sich an, dann kamen die Enkel, und ganz unten fanden zwei alte Damen und ein alter Herr ihren Platz. Tante Katharina Lisbeth, die bei weitem ältere Schwester meiner Großmutter, besorgte die Küche, war berühmt ihres feinen Kochens wegen, Tante Lischen, Schwester des Großvaters, privatisierte mehr und starb auch bald, und Onkel Hannes, Bruder der Großmutter, ein ehrwürdig aussehender Greis, war geistig etwas minderwertig und besorgte häusliche Geschäfte. Er hatte es zu nichts gebracht, hatte seine Frau früh verloren und besaß zwei Töchter, die jung starben. Im Haus lebte noch ein pensionierter Kreissekretär, der eine größere Erbschaft gemacht hatte; ein furchtbar dicker Mensch mit großem Kopf, die stille Liebe meiner alten Tante. Catharin-Liesbeth und ihr Tyrann. Uns Kindern war die Antritts- und Abschiedsvisite stets schrecklich. Er war sehr gebildet sonst und sehr belesen und ging nur früh aus dem Haus, jeden Tag denselben Weg nach dem Dorf Altenhaßlau, wo er einen Grog trank. Carl verlebte seinen Geburtstag in Gelnhausen, er wurde aber gestört dadurch, daß er irrtümlich Weilbacher statt Selterswasser trank und auch durch die Todesnachricht meines kleinen Vetters Gustav Haase, dem zwei Tage später sein Brüderchen Wilhelm folgte, das noch mit auf dem Friedhof gewesen war. Die Kinder waren drei und fünf Jahre alt. An Gustavs Bett war ich noch mit meiner 13jährigen Schwester gewesen, man war damals naiv, denn es war Scharlach, das bei Wilhelm gar nicht herauskam.- Ich blieb darnach noch etwa vier Wochen in Gelnhausen und hatte viel Freude an der Korrespondenz mit meinem Bräutigam, aber auch viele ganz unstillbare Sehnsucht nach ihm.

*

Am 21. August war unser Hochzeitstag und ich die erste Braut in Amsterdam, die ohne Hut, in Myrthenkranz und Schleier zum Altar ging. Man fand es katholisch, machte es aber allgemein nach. Die Ziviltrauung war sehr feierlich im großen altertümlichen Rathaussaal. Der prunkvolle Türsteher war der erste, der mich mit „mevrouw“ anredete. Am Hochzeitsmahl saßen über 70 Gäste, auch die Großmutter aus Gelnhausen, der von ihr gestiftete Becher kreiste, er enthielt einen Madeira-Wein aus 1805, den ein alter Freund bei meiner Taufe versprochen hatte. Die Hochzeitsreise führte durch die Schweiz bis Mailand und Venedig, über Splügen hin und über Simplon zurück. Zum ersten Mal ging mir auf, was die Kunst im Leben des Menschen zu bedeuten hat und ganz besonders, was sie meinem Gatten damals war und immer geblieben ist.

Haus „Die weiße Lilie“ in der Heerengracht zu Amsterdam

Dann kam ich als junge Frau in das eigene Heim, es konnte nicht schwer für mich sein, den Haushalt zur Zufriedenheit meines Mannes zu führen, da er mir reichlich die Mittel dazu zur Verfügung stellen konnte. Unser Haus hieß „Die weiße Lilie“ und war auf der Heerengracht zwischen Wolwen- und Huidenstrast, ganz in der Nähre der Eltern. Der Verkehr war sehr lebhaft, die Brüder waren schon seit dem neunten und zehnten Jahr in Pension Hassel und später in der Lehre, die Schwester damals im Institut Bickel und Deslondres. Auch sonst hatten wir reges geselliges Leben, nach zwei Jahren auch schon einen eigenen Wagen. Gar bald stellte sich Sehnsucht nach einem Kinde ein, die aber erst nach acht langen Jahren befriedigt werden sollte. Fortgesetzte Enttäuschungen waren unser Teil. Erst nach vier Jahren und nach sieben verfrühten Wochenbetten war das Vertrauen zu dem alten Arzt der Familie genügend erschüttert, eine Autorität zu konsultieren, dann freilich die erste damals existierende, (Prof.) Soanzoni in Würzburg. Er stellte fest, daß ein von Anfang an dagewesenes Leiden die Ursache allen Kummers gewesen war. Immer nur hatte Ruhe und Entsagung helfen sollen, aber das Übel blieb und verschlimmerte sich, hätte schließlich zu Krebs und Tod geführt. Ich verbrachte damals vier Monate im Hôtel zum Kronprinz in der alten Universität und katholischen Umgebung Würzburgs. Meine Nichte Fernandine Helmsdörffer war mir liebe und treue Gefährtin, und nachdem die erste schwere Zeit vorüber war, lichtete sich das Leben nicht nur, sondern wurde sogar ein äußerst angeregtes und belebtes, gestaltete sich zu einem reichen und fördernden zugleich, nur die Trennung mußte ertragen werden, doch verbrachte mein Mann die Weihnachtszeit mit mir und beschenkte mich schon damals mit meinen schönen Perlen, die ich auch auf zwei Bällen dort trug. Durch Empfehlung hatte ich mir liebe Freunde in Professorenkreisen erworben, die sich nie genugtun konnten, mir Abwechslung und Freude zu bereiten. Besonders taten dies die Familien Kölliker und Müller, und es war mir, die ich nie aus Kaufmannskreisen herausgekommen war, hoch-interessant, das Universitätsleben so gründlich kennen zu lernen. Ich verkehrte auch mit der ganzen medizinischen Fakultät, von Kaufleuten nur mit den Familien Crevenna und Adelmann, im Hôtel selbst mit einer interessanten russischen Familie von Zassedtky, reiche Gutsbesitzer, die sich in die Aufhebung der Leibeigenschaft (1867) erst sehr fügen mußten. Der Mann war ein echter Mongole, die Frau eine große Schönheit. Sie hatten ein vierjähriges Töchterchen und eroberten sich durch lange Kuren und Geduld dort den ersehnten Erben, mit dem sie mich zwei Jahre später in Amsterdam besuchten.- Es war ein bitterkalter Winter, während 14 Tagen im Januar schwankte das Thermometer nur zwischen 14 und 23 Grad Kälte. Drei langweilige Wochen Hausarrest brachte mir damals einen hartnäckigen Katarrh, sonst aber vergingen die Tage in reicher Abwechslung, täglich von 12 bis 1 Uhr war vor dem Hotel Parade, es gab Spaziergänge, Gesellschaften, Oper, Theater! Emil Devrient2 gastierte und wohnte direkt neben mir, wir sahen ihn in allen Rollen, auch in der des schönen Mannes am Tag! – Anfang März durfte ich endlich nach Hause, mein Bruder Heinrich holte mich, denn damals war es undenkbar, daß eine so junge Frau allein reiste. Meinen Mann fand ich leider an schwerer Bronchitis erkrankt im Hause meiner Eltern, da unser neues noch nicht fertig gestellt war. Wir bezogen es erst im Mai.

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Anderthalb Jahre vergingen in Sehen und Hoffen und als endlich Erfüllung winkte, gab es die achte Enttäuschung. Das Leiden war durch die lange Dauer nochmals wiedergekehrt. Wir schienen uns in Unabänderliches finden zu müssen und schlossen uns umso inniger aneinander an, genossen unsere Liebe, unser schönes Haus, manche Reisen, viel Geselligkeit und hatten viele Freunde. Ein Whistkränzchen alle 14 Tage erhielt sich durch lange Jahre, sechs Herren und sechs Damen. Wir Frauen plauderten meist am Whisttisch, und beim Abendbrot herrschte stets frischer, fröhlicher Geist. Ich suchte Ersatz in Büchern, studierte gründlich Shakespeare mit dem Kommentar von Gervinus, er ist mein Lieblingsdichter geblieben, aber auch Goethe und Schiller und viel Naturgeschichte, insbesondere Himmelskunde las ich viel und gerne. Großen Einfluß gewann damals mein Schwager Theodor auf mich und wollte mich durchaus zur strengsten Orthodoxie bekehren, in der er bei viel Entsagung Trost und Kraft gefunden hatte, der aber auch er im späteren Leben nicht treu blieb. Darüber gab es einige der sehr wenigen Konflikte, die ich je mit meinem Manne gehabt habe. Dieser ging, so lang wir vereint im Leben waren, 41 Jahre lang, niemals von einem einmal genommenen Standpunkt ab, redete niemals über Religion, so sehr ich mich danach sehnte und ihn veranlassen wollte, und doch war er auf die Dauer treuer und frömmer als ich, er schlief nie ein, ohne sein Vaterunser gebetet zu haben und schwankte nie im Glauben an Gott. Ich quälte mich viele Jahre neben ihm, bis ich endlich zu befriedigendem Abschluß gelangte. Damals in den Jahren des vergeblichen Hoffens las ich sehr viel in der Bibel, auch hier und da ein orthodoxes Buch, z.B. Lutthardts Apologische Vorlesungen, oft glaubte ich nun ganz sicher der erstrebten Wahrheit zu sein, ging stets zur Kirche und fühlte mich dann unglücklich, anders zu denken wie der geliebte Mann. Ich war aber niemals wirklich sicher, immer wieder tauchten Zweifel auf, wie sie schon zuerst in der Konfirmationszeit vorübergehend mich befielen. Viel gab mir damals der alte Probst Nitzsch, dessen Hundert Predigten ich alle oft gelesen habe. Gern sprach ich mit Gesinnungsgenossen über Religion, und ich habe auch einige fördern helfen, aber der Stachel blieb und der fortgesetzte Drang, zur Klarheit zu kommen. Das Leben Jesu von Strauß interessierte mich lebhaft, nahm mir aber nichts, weil dann auch gar nichts übrig geblieben wäre. Auch Ernest Renan3 habe ich gelesen und nur den Stil bewundert. Dann wurde Hülsmann lange mein treuer Begleiter, und endlich nach Jahrzehnten kam ich ungefähr auf gleicher Stufe an, auf der mein Mann gestanden und die er niemals verlassen hat.

Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtiger Schöpfer (des) Himmels und der Erde, ich glaube an den Menschen Jesus Christus, der allein von allen Religionsstiftern Selbstlosigkeit und Liebe zum Nächsten gepredigt hat, dessen Lehre und Vorbild genügt, gute und glückliche Menschen auf Erden zu machen, und ich glaube an einen heiligen Geist, der vom Schöpfer ausgeht und in jedes Menschen Herz einen Funken erzeugt, der erlöschen, aber auch zur mächtigen Flamme werden kann, und in Jesus wurde dieser Funke zur Flamme nicht nur, sondern zum Feuer, das durch die Jahrhunderte brennt. – Ich glaube nicht an Erhörung des Gebets, als wenn es irgendwie den Willen Gottes beeinflussen könnte. Deshalb bete ich nicht mehr. Ich anbete nur oder versenke mich zuweilen in die Tiefen des „Vater unser, der Du bist im All“, denn sie erschöpfen alles, was das Menschenherz bewegt – und suche mich zu ergeben in das Leid, das mir widerfährt und bin dankbar für jedes Glück. Ich glaube nicht an die Auferstehung des Leibes und erwarte ruhig den Tod, den so viele, die ich liebte, vor mir litten, gleichviel, ob er zum ewigen Nirvana führt oder zum Aufbau eines neuen geistigen Daseins, ich fühle mich sicher in des Schöpfers Hand, mich und die Meinen. Nicht lange nach jener Enttäuschung, noch während einer angefangenen Kur, fühlte ich mich endlich Mutter und sah mit Freude der frohen Zeit erfüllter Wünsche entgegen. Grausam und hart traf es uns aber, als nach sechsjähriger Ehe ein wohlgebildeter Knabe uns im Arme lag, aber weiß wie Wachs, ein kleiner Engel mit dem tiefen Ernst des Todes im lieben Gesichtchen. Ein unbegreiflicher Leichtsinn des Arztes verschuldete dieses Geschick. Es mußte getragen werden! Nicht gleich kam uns Ersatz und Ableitung, und Erholung war uns nötig. Wir verbrachten im Jahr 1863 vier schöne Monate in Italien, besuchten Genua, die Riviera, Pisa, Florenz, Rom, Neapel und Sorrent und Capri. Wohl vorbereitet freuten wir uns der Kunst, noch mehr der Herrlichkeit der Natur, wozu es keiner Vorbereitung bedarf. Bis Rom begleitete uns Carls Bruder Theodor und genoß mit uns und war mir auch ein großer Trost, als Carl in Florenz ernstlich an Unterleibsentzündung erkrankte. Über Genf kehrten wir zurück (Mont Cénis) und erkrankten beide dort durch den raschen Übergang von den blühenden Rosen und milden Lüften zu dem kalten Zug des Nordens und lagen mehrere Tage fest, sehnlich zu Hause erwartet, wo Wichtiges sich zugetragen hatte.

Sechs Beckerkinder ca.1882 Emma, Ferdi, Dora, Alex, Carl, Frida
Sechs Beckerkinder ca.1882
Emma, Ferdi, Dora, Alex, Carl, Frida

Wir fanden den Bruder Heinrich verlobt, statt abgereist nach Indien, wie er vorgehabt. Ein Jahr später hielt ich endlich mein erstes lebendes Kind am Herzen, zart und klein, aber seliges Entzücken erregend, meine Dora. Sie entwickelte sich erfreulich, und die Freude, die sie uns nach so langer Entsagung bereitete, ist nicht auszudenken. Als sie erst Papa und Mama sagen konnte, mußte sie es immer wiederholen. Wir konnten das lang entbehrte Wort nicht oft genug hören. Da war es schon gut, daß das Brüderlein nicht allzu lang mehr auf sich warten ließ, sonst wäre wohl die Verwöhnung zu groß geworden. Und Dora war nicht eifersüchtig, sie liebte den kleinen, dunkeläugigen I-A, wie sie ihn gleich nannte, sehr, aber als die zwei Jahre später erschienene Schwester erst vernünftig wurde, spielte sie immer mit dieser, und Ferdinand ging seine eigenen Wege, spielte und baute für sich, wenn die Rehbocks-Buben nicht zur Hand waren. Er machte sich nichts aus Mädchen! Später ist das anders geworden.

Nun schien der Kindersegen erschöpft und wir ließen gefaßt und ruhig noch dreimalige Enttäuschung über uns ergehen, fühlten uns reich und hochbeglückt im Besitz der drei gesunden Kinder.


Der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland bis 1866. Putzger S. 96, 103. Auflage von 1993
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland bis 1866. Putzger S. 96, 103. Auflage von 1993

Die schwarzen und roten Linien zeigen, dass erst 1855 eine Verbindung von Stettin über Berlin nach Frankfurt am Main fertiggestellt war; die Verbindung durch das Rheintal bis nach Amsterdam stammt aus der Zeit von 1856 bis 1866, (grüne Linie) während die Rheinstrecke Richtung Basel und durch das Maintal bis Nürnberg aus dem Jahrzehnt davor stammt. Ein Fürst wie jener von Hessen –Nassau, von dem die Autorin spricht, war gegen den Eisenbahnbau. Preußen hingegen erkannte bereits früh die wirtschaftliche und die strategische Bedeutung der Eisenbahnen. Der blitzschnelle Aufmarsch der Armee unter Generalstabschefs Graf Moltke 1866 zeigte, wie wichtig ein gutes Eisenbahnnetz war.
Warum Carl Becker 1870 die Kutsche von Amsterdam aus nach Gelnhausen benutzte, wird nicht deutlich; wahrscheinlich brauchte die Armee das ganze rollende Material. Aber ob die Landstraßen in einem besonders guten Zustand waren in Hessen, ist eher zu bezweifeln.


Gelnhausen

Villa Schöffer & Becker in Gelnhausen von 1865
Villa Schöffer & Becker in Gelnhausen von 1865

Im Jahr 1865 war die Villa in Gelnhausen bezogen worden. Ihre imponierende Größe war wohl kaum so beabsichtigt gewesen, – auf dem Papier sehen die Pläne immer anders aus, – aber der Vater4 lebte noch in patriarchalischer Anschauung und meinte, dort alle seine Kinder und etwaigen Enkel immer gleichzeitig um sich versammeln zu können. Für alle 4 waren die Räume vorgesehen und für uns Beckers wurde beim Bauen nicht mehr an Kinderstuben gedacht und mußte gleich noch eine Tür durchbrochen werden, denn die kleine Dora war mit unter den ersten Gästen und der Gegenstand allgemeinen Interesses. Schwester Emma5 kam schon mit zwei Kindern, Heinrich6 mit seiner Frau und Sophie und Carl7 brachten zur Einweihung des Hauses seine Braut. Sie alle wohnten dem Einweihungsfest bei, zu dem der Vater auch noch alte Schulkameraden lud, die auf anderer sozialer Stufe standen. Er wußte aber alle zu vereinen, besaß ein großes Unterhaltungstalent und war unter seinen Mitbürgern nicht nur wegen dieser Eigenschaft außerordentlich beliebt.

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Gelnhausen

Wo die Kinzig ihr schmales Tal zwischen Vogelsberg und Spessart verläßt, um in einer weiten, grünen Ebene dem Main zuzufließen, liegt am Südhang des Vogelsbergs die alte Barbarossastadt Gelnhausen.

Schon früh befindet sich hier, an einem Kreuzungspunkt uralter Völkerwege und der einst schiffbaren Kinzig, der Sitz eines fränkischen Königshofes. Im 12.Jahrhundert errichtet Kaiser Friedrich von Hohenstaufen, genannt Barbarossa, an dieser Schlüsselstelle eine Pfalz als repräsentative Wohnstätte für den Herrscher des abendländischen Reiches. Zugleich gründet er im Jahre 1170 aus bereits vorhandenen Siedlungskernen die Freie Reichsstadt Gelnhausen.

Aus einem Prospekt der Stadt Gelnhausen

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Gelnhäuser Villa, Parterre vor dem Kleinen Esszimmer.
Gelnhäuser Villa, Parterre vor dem Kleinen Esszimmer.

Wir Jüngeren mußten uns erst eingewöhnen. Der Weg zum Wald war weit und keine Spur von Schatten im Garten. Ganz leicht wurde es darum Carl und auch mir nicht, auf des Vaters Vorschlag einzugehen und Miteigentümer der Villa zu werden. Aber die Umstände machten es notwendig. Der Besitz war zu groß und zu kostspielig für die Eltern allein geworden und mein Mann im Alter dem Schwiegervater zu nah, um stets nur als Gast bei ihm zu sein. Über zehn Jahre bis zu des Vaters Tod 1879 bestand dies Verhältnis und verbrachten wir stets den ganzen Sommer in Gelnhausen, das uns dann auch nach und nach zum Heim wurde und es geblieben ist.

Krieg von 1866

Kaum eingelebt im Jahr 1866,8 – als wir schon mit zwei Kindern, Rehbocks mit dreien kamen, – brach der Krieg aus, der uns Beckers in Wiesbaden überraschte. Wir sahen also die durchflutenden Kurhessen noch nicht, dann aber die hin – und herziehenden Württemberger und später die siegenden Preußen.

Preußen „ein industrielles Kriegslager“, Kladderadatsch 23.12.1866.1
Preußen „ein industrielles Kriegslager“,
Kladderadatsch 23.12.1866.9

Für uns Holländer, die noch niemals mit einem Offizier gesprochen hatten, war der Verkehr mit diesen Herren sehr interessant. Alle waren stets erfreut über das schöne Quartier und meist in guter Stimmung; der Ernst der Sache war noch an keinen herangetreten; so genossen sie gern, was der gute Tag gerade bot, und als nun gar Prinz Wilhelm von Württemberg mit seinen Begleitern bei uns einzog, schon damals der präsumtive Thronerbe und jetziger König, da gab es drei wunderschöne Tage für uns junge Frauen, die uns vorübergehend das Schwere der Lage vergessen ließ. Das Wetter war schön, wir spielten mit Kgl. Hoheit im Garten, besuchten die hinter Haitz liegenden Truppen, 20 000 Mann, wir im Wagen, die Herren zu Pferd, nach Tisch spielte die Regimentsmusik, abends saß man auf dem Balkon und übte sich in der Anrede mit der dritten Person in der Mehrzahl. Der Prinz war 18 Jahr, fröhlich und gut aufgelegt und die Herren der Begleitung, 8 Offiziere, alle äußerst liebenswürdig.

Als die letzten Württemberger abzogen, gab es ganz stille Tage, man hörte den Kanonendonner von Aschaffenburg her und die Angst vor dem Kommenden nahm wieder überhand. Da plötzlich mittags 12 Uhr Militärmusik, – die Preußen zogen als Sieger ein. Unser ganzer Hof lag plötzlich voll von erschöpften Soldaten, die in der Gluthitze mit den Tornistern unter dem Kopf schliefen, nachdem sie vorher den Brunnentrog leer getrunken und die Kühe ausgemolken hatten. – Mein kleiner Ferdinand hatte an diesem Tag keine Milch, denn auch ich hatte vor Schrecken die meine verloren. General Bayer führte sich und seinen Stab mit den Worten ein: „Wir kommen nicht als Feinde, wenn Sie uns nicht als solche betrachten.“

Bismarck als preußischer Herkules mit Pickelhaube reinigt den Augiasstall des Deutschen Bundes. Karikatur im Wiener Zeitgeist (?)
Bismarck als preußischer Herkules mit Pickelhaube reinigt den Augiasstall des Deutschen Bundes. Karikatur im Wiener Zeitgeist (?)

Wir hatten im Ganzen für 50 Menschen Quartier zu beschaffen, – die Soldaten lagen in Schulsaal und Kegelhalle auf Stroh. Wir mußten aber auch für Essen sorgen.- Niemand war verwöhnt und alle waren zufrieden. Für die Herren wurden vorrätige Hühner geschlachtet und es gab eine Lende, warm noch dem Ochsen entnommen. Die Soldaten bekamen einen westfälischen Schinken in Stücke geschnitten und dadurch schnell gar. In der Brühe gab´s Kartoffeln und Sellerie und zum Fleisch Salzbohnen vom Winter her. Die noch neue Haushälterin hatte noch kein Maß und so viele Bohnen eingemacht, daß nun so viel Mannschaften satt werden konnten. Im Haus des Kaffeekönigs fehlte es auch nicht an diesem braunen Getränk, und Wein war auch da, Bier längst ausgegangen. Zum Glück zogen alle den andern Morgen weiter nach Frankfurt, der damals so unglücklichen Stadt. Die Regimentsmusik hatte wieder aufgespielt und der General uns beruhigend versichert, nun seien wir hinter der Kriegslinie und aus jeder Gefahr eines Zusammenstoßes. Es käme in zwei Tagen noch ein zusammengestoppeltes Korps unter Oberst von Kortfleisch durch, auch noch für eine Nacht 10 000 Mann. So schliefen wir alle todmüde, aber endlich einmal ohne Sorgen ein. Auch die Dienerschaft war abstrapaziert, die Parkettböden sahen aus wie in einer Herberge der gewöhnlichste Fußboden, man hatte für ihre Pflege keine Zeit, denn irgendwelche Aushülfe war nicht zu erlangen, der kleinste Mann hatte seine Soldaten.

Am nächsten Morgen reisten unsere Herren ab, denn in Amsterdam bedurfte ihrer das Geschäft natürlich auf das dringendste. Und den nachfolgenden Tag kam denn auch der Oberst mit seinen Offizieren, alle in bester Laune über den errungenen Sieg. Plötzlich, als die Regimentsmusik vor dem Hause spielte, entstand Unruhe auf dem Balkon unter den Offizieren, es gab finstere Gesichter, Geflüster, Hin- und Herrennen von Ordonanzen, und bald erfuhren wir durch einen Reserveoffizier, man erwarte Überfall der Bundestruppen, die das zurückgebliebene Korps leicht abschneiden könnten. Der Tag und die Nacht vergingen in großer Sorge, alle Truppen schliefen in Marschrüstung und der Wagen stand angespannt, um eventuell Frauen und Kinder in die Berge, nach Gettenbach zu bringen, um sie vor Kugeln zu sichern.- Aber es regte sich nichts. Früh morgens zogen die Truppen dann ab mit klingendem Spiel, und wir waren hinter der Kriegslinie. Bald gab´s ja dann Frieden, aber die Einquartierung hörte den ganzen Sommer nicht auf. Die Eisenbahn war noch nicht gebaut, da Kurfürstliche Gnaden sie seinen Landeskindern nicht gönnte.11

Im Jahr 1867 besuchten wir die Pariser (Welt)Ausstellung und genossen sie 14 Tage lang gründlich, und im Jahr 1868 zogen wir mit drei Kindern in die Villa ein. Nach und nach gab es auch Schatten im Garten, und viel Besuch weilte bei uns.

Im Frühjahr 1870 brachten wir unsere Kinder nach Berlin, um sie und besonders Emma Ziliaris ihrer unglücklichen Patentante Zilli zu zeigen. Wie ich bereits erwähnte, war sie als 20jährige Frau nach neun Monate langer Ehe Witwe geworden. Da sie ohne jedes Vermögen war, nahmen sie die Schwiegereltern zu sich und sie lebte auf dem Linsenberg vom Jahre 1836 bis 1854, also 22 Jahre, auch nach des Vaters Tod bei Helmsdörffers. Sie machte sich nützlich, so viel sie konnte, war aber ihr Leben lang sehr kränklich und oft schwer leidend. Als ich sie kennen lernte, war sie eine zarte, kleine aber vornehme Erscheinung, die mit rührender Geduld ihr schweres Leben trug. Im Jahr 1856, bei der Auflösung des Hauses, zog sie zu einem verwitweten Bruder nach Frankfurt a. d. O., dem Major Rödlich und erzog dessen einziges Töchterchen; bei seiner Versetzung kam sie nach Berlin, wo ich sie nun das zweite Mal im Leben wiedersah. Vorher hatte ich sie mit Carl auch einmal in Frankfurt a.d.O. besucht. Im Jahre 1870 war sie bereits so taub, daß nur schriftliche Unterhaltung mit ihr möglich war oder Fingersprache, in die ich mich auf der Reise zu ihr einübte. Sie freute sich sehr über die Kinder, und Emma schlief einmal 2 Stunden auf ihrem Bett. So wenig wir uns sahen, so innig wurde unser schriftlicher Verkehr von Anfang an, und es war mir eine große Freude, ihr geistig viel sein zu können. Später zog sie bei einer zweiten Versetzung ihres Bruders nach Breslau, wo sie am 25. Januar 1873 starb, nachdem sie nicht nur taub, sondern auch lichtscheu und dann ganz blind geworden war. Am Hochzeitsmorgen im Oktober 1895 besuchte ich ihre letzte Ruhestätte.

Wir wohnten damals in Berlin Unter den Linden und hatten nachts wenig Ruhe, da das Fahren nicht eine Minute aufhörte. Dies wirkte ungünstig auf die Bonne, die wir mit hatten, und unheimliche Symptome beunruhigten uns in ihrem Benehmen. Nach Gelnhausen zurückgekehrt, mußten wir uns bald davon überzeugen, daß Irrsinn bei ihr ausgebrochen war. Es gab aufregende Tage. Sie wollte mit dem Kind auf dem Arm vom Balkon sich herunterstürzen, und so brachte sie mein Mann noch an dem selben Tage nach der Irrenanstalt Heppenheim. Dort starb sie nach 2 Jahren.

Krieg 1870/71 gegen Frankreich

Noch kaum hiervon erholt, brachen die Kriegsbefürchtungen aus, an die aber niemand ernstlich glaubte. Da, im Juli, als das Haus gerade recht besucht war, flog wie eine Bombe die Kriegserklärung Frankreichs in die Welt und auch in unsere Villa ein. Der Besuch reiste ab, und mein Mann, der in Amsterdam war, schickte drei Depeschen, weil er stets keine Antwort bekam. In Deutschland nahm das Militär alle Linien in Beschlag. Am dritten Tag kam dann Carl, mich und die Kinder zu holen, er wollte nicht, daß der Krieg sich zwischen uns abspiele, und damals erwartete jedermann sofort einen Einbruch der Franzosen über (Bad) Kreuznach. Auch wir dachten nicht anders als dem Feind schon zu begegnen – aber wir kamen nach schrecklicher Reise mit viel Verspätungen doch glücklich nach Amsterdam, wenn auch ohne Koffer, die erst 8 Tage später anlangten. Es war eine wilde Flucht aus allen Bädern und Sommerfrischen und ein Getriebe, ein Geschrei, eine Angst auf allen Bahnhöfen, die nicht zu beschreiben sind. Zu Hause fehlte zunächst für die Kinder die Wäsche, sie mußten einen guten Teil des Tages im Bettchen verbringen, bis wieder gewaschen war.

Die Kaiserproklamation von Versailles. Gemälde Anton von Werners aus der Ruhmeshalle des Berliner Zeughauses. 19021
Die Kaiserproklamation von Versailles. Gemälde Anton von Werners aus der Ruhmeshalle des Berliner Zeughauses. 190212

Der Sommer verging unter schwerem Druck. Zwar berauschten und beruhigten die sich schnell folgenden Siegesnachrichten, aber man fühlte viel schweres Elend mit, nicht nur das, was die Krieger ausstanden. Es gab auch in der Heimat maßloses Unglück und Verarmung in großer Zahl. Man wagte kaum die herrlichen Pfirsiche und Trauben zu genießen, – die ungewohnt billig verschleudert wurden, dachte man an den Durst der Verwundeten und Sterbenden, an den Mangel derer, denen der Krieg alles geraubt hatte! Und nach dem großen Siege von Sédan schlug die bisherige große Sympathie der Holländer in Angst um, und man fühlte überall Haß und unfreundliches Wesen. Selbst wenn man sich nie so deutsch gefühlt und man immer stolzer auf das Vaterland wurde, man sehnte sich, dort zu sein, mit einzustimmen in den Jubel und in alle Begeisterung.

Als nun endlich Paris gefallen und der letzte Sieg errungen, der ersehnte Waffenstillstand eingetreten war, am 28. Januar 1871, da traf die Familie noch ein herber Schlag. Ein lebensfrisches, junges Leben raffte die letzte Kugel dahin. Carl Becker, Friedrichs Sohn, fiel an diesem Tag in einem Vorpostengefecht bei Blois. Eine französische Kugel verwundete ihn, eine zweite tötete sofort! Er hatte bereits das Kreuz erster Klasse, obschon nur ein einfacher Leutnant in einem hessendarmstädtischen Regiment. Der Großherzog selbst machte dem Vater Mitteilung, und die Kameraden setzten ihm ein Denkmal, das auch mitging in die Heimat, als dorthin seine Reste überführt wurden.

Dem Verlangen folgend, nun auch etwas aus dieser großen Zeit zu erleben, reisten wir zum Einzug der Truppen nach Berlin, wohnten bei Trendelenburgs13 und saßen auf einer Tribüne der Universität und teilten die flammende Begeisterung beim Anblick all der großen Männer und all der braven Truppen!

Konsul Conrad Schöffer, Privatier und Landtagsabgeordneter in Berlin

Nun kam eine kurze Zeit großer Prosperität für den Handel, mein Vater benutzte sie zur Liquidierung seiner großen Kaffeevorräte, die teils schwere Krisen mit durchgemacht und zog sich als wohlhabender Mann von den Geschäften zurück, lebte im Winter in Berlin als Abgeordneter des Landtags, und kam mit der Mutter meist zu Weihnachten und Neujahr nach Amsterdam in unser Haus. Auch mein Mann glaubte, genügend für sich und seine Kinder gesorgt zu haben, und schied aus dem Geschäft. Seine bis dahin oft schwankende Gesundheit besserte sich, aber auf meinen Vorschlag, nun vielleicht nach Frankfurt ziehen zu können, meinte er: „Man schlägt in meinem Alter nicht mehr so leicht Wurzel. Hier kennt man mich und weiß, daß ich noch etwas leisten kann, am fremden Ort wäre ich ein Rentier wie viele auch und nichts anderes.“ So blieben wir noch zwölf Jahre in Amsterdam, und mein Mann fand volle Beschäftigung in vielen Ehrenämtern und verblieb auch in einem geschäftlichen Unternehmen, das er mit begründet hatte: die Nation als Hypothekenbank. Ein paar Jahre nach der Gründung verübte der Präsident des Aufsichtsrats Sarfati Selbstmord und brachte die Bank an den Rand des Verderbens. Mein Mann wurde zum Präsidenten nach ihm gewählt und brachte anscheinend Opfer, die sich freilich als das Gegenteil erwiesen. Mit anderen Mitarbeitern brachte er das Institut zu hoher Blüte. – Er war nun ein freier Mann und verlebte fortan den Sommer mit uns in Deutschland. Wir pflegten erst im späten Herbst zurückzukehren. Im Jahr 1875, als schon Pferde und Diener vorausgeschickt waren, erkrankte erst Dora, und dann Ferdinand und Emma an Scharlach, und wir waren gezwungen, bis zum 7. Januar in Gelnhausen zu bleiben. Meine Eltern freuten sich, daß wir noch bei ihnen waren als die Krankheit ausbrach, und diese verlief nach der ersten ängstlichen Zeit auch gnädig und ohne jede Nachkrankheit, sodaß wir uns gemütlich einrichten konnten. Nur Dora hatte eine Zeit lang ängstliche Phantasien, in denen sie sich besonders mit einem blauen Hund mit gelben Ohren beschäftigte. Ganz unvermittelt schwanden plötzlich die kranken Vorstellungen, sie war ganz normal und wußte absolut nichts davon. Bald aber setzten sie sich wieder fort, als hätte keine Unterbrechung stattgefunden. Wochenlang spielten sie Kinder vergnügt in ihren Betten, und Ferdinand schnitt Hunderte von Soldaten aus und spielte mit den selbstgebastelten Regimentern. Wir Alten hatten Zeit und konnten uns der kleinen Gesellschaft viel widmen, und nachdem ein kleiner Schrecken gut verlaufen war, feierten wir ein reizendes Weihnachts-fest. Der Schrecken ging von mir aus, als es schien, daß auch ich Scharlach bekommen sollte, es blieb bei einer schweren Halsentzündung, wäre aber sehr gefährlich gewesen, da der Storch, der uns so lange vernachlässigt hatte, einmal wieder angeklopft hatte und freundlich willkommen geheißen wurde, was lang nicht jeder begreifen konnte. Wir hatten 7° kalt, als wir nach Amsterdam zurückkehrten, doch alles verlief gut. Der Hauslehrer Uhle war gerade nach Gelnhausen gekommen, als die Krankheit ausbrach und fuhr wieder in seine Heimatzelle zurück. Auch Dora lernte Latein bei ihm, damit Ferdinand nicht allein sei. Vor diesem akademisch gebildeten Lehrer hatten die Kinder einen Seminaristen gehabt, der recht guten Unterricht gab, aber etwas derb verfuhr, auch wenig Manieren besaß. Herr Uhle dagegen war sehr fein – zu fein! Etwas sehr für seine Würde besorgt. Eine liebe angenehme Hausgenossin war eine Wandländerin, Fräulein Aline Challand. Sie kam 17jährig zu uns und unterrichtete die Kinder neben dem Lehrer, besonders im Französischen, das auch während ihres 7 jährigen Aufenthaltes bei allen Mahlzeiten gesprochen wurde, sie verließ uns 1882, erlebte also die Geburt unserer drei jüngeren Kinder. Mit großer Freude wurde zunächst der kleine Carl begrüßt. Strahlend umstanden ihn die Geschwister, voller Erstaunen, woher er nur so plötzlich gekommen! Aber auch uns Eltern erschien er nach so langer Zeit wie ein Wunder, ein ganz seliges Wunder, es war uns fast wieder wie ein erstes Kind und blieb lange der Mittelpunkt der ganzen Familie, bis sich Frida zu ihm gesellte. Ein Ausgang bei nassem Schneewetter veranlaßte ihr zu frühes Erscheinen in die Welt, und daß dies gerade an meinem Geburtstag geschah, machte die Sorgen um sie nicht kleiner, sie war zu zart, um Nahrung an der Mutterbrust zu nehmen und am sechsten Tag war sie in größter Lebensgefahr, fast wie tot. Nach zweistündigem Bemühen kam wieder Leben in sie, und sie lag dann 6 Wochen zwischen drei heißen Krügen in Watte gewickelt, und man hörte keinen Ton. Erst zur Zeit, als sie eigentlich hätte kommen sollen, fing sie wie andere Kinder an zu schreien und nahm auch Nahrung bei einer Amme. Mir ging es auch schlecht in diesem Wochenbett, neben anderen Leiden hatte ich täglich holländisches Fieber und nahm vier Monate lang alle Tage ein halbes Gramm Chinin, bis wir endlich im Mai nach Deutschland konnten, wo mich das Fieber sofort verließ, und ich mich für das Ertragen einer schweren Zeit noch rechtzeitig erholte.

Tod des Vaters Conrad Schöffer

Schon den ganzen Winter waren die Berichte über meinen Vater sehr beunruhigend gewesen, er mußte seine Tätigkeit als Abgeordneter in Berlin niederlegen, war eine Zeit lang in Gelnhausen, dann aber im Süden, in San Remo, natürlich in Begleitung meiner Mutter, aber auch in der seiner Schwester Sannchen und einer jungen Nichte. An eigentliche Gefahr dachte aber niemand, bis eines Tages eins der Kinder gerufen wurde. Mein Bruder Carl holte Vater und Mutter zurück, es war eine aufregende Reise, wegen großer Schwäche des Vaters und seines höchst quälenden Hustens. Damals verlangte ein Sodener Arzt, der auch Abgeordneter und dadurch zur Behandlung des Patienten gekommen war, dieser müßte, bevor er nach Gelnhausen zurückkehrte, einen Übergangsaufenthalt in Soden von vier Wochen nehmen, NB in des Arztes eigenem Haus! – Dies war für den Kranken, der sich mit allen Fasern seines Herzens nach der geliebten Heimat sehnte, recht qualvoll und ohne jeden Nutzen. Dort in Soden sah ich Vater nach acht Monate langer Trennung wieder und erschrak aufs tiefste über die mit ihm vorgegangene Veränderung, wußte mit einem Mal, daß er verloren sei, sah es an der hektischen Farbe seiner Wangen. Selig war er, als er sein geliebtes Gelnhausen wiedersehen und sich am Anblich der Enkel erfreuen durfte. Rührend war es, wie er immer schwächer werdend, zuletzt im Rollwagen sitzen mußte und dem ihm gegenüber in seinem Wägelchen liegenden Baby (Frida) freundlich zulächelte. Auch das Kind lachte. Anfang und Ende des Lebens berührten sich täglich. Vom 6.August an mußte er oben in seinem Zimmer bleiben; er hustete immer mehr, aber er blieb genesungsfreudig. Nur einen Tag lag er zu Bett, und als die Trennungsstunde kam, waren alle Kinder da und viele Enkel um ihn versammelt. Am 12.August nahm er rührenden Abschied von jedem Einzelnen, ließ die Abwesenden grüßen und sprach warme Dankesworte zu meinem Mann; sein letztes Wort war: „Wir sehen uns besser wieder!“ Dann versank er in Bewußtlosigkeit und Agonie, die 17 Stunden dauerte. Vier Stunden vor seinem Heimgang traf mich noch ein liebevoller, erkennender, dankbarer Blick. Es war am 13. August 1878 mittags 12 Uhr, als er die Augen schloß. Die Glocken konnten bei seiner Beerdigung nicht läuten, sie waren in Reparatur, denn man war gerade mit der Restaurierung der Pfarrkirche beschäftigt, um die er große Verdienste erworben hat. Er leitete die Sammlungen, verschaffte den Staatszuschuß, und war in jeder Weise tätig, Vorsitzender der Baukommission. Leider hat er die Vollendung nicht mehr geschaut. Sein Nachfolger als Vorsitzender in gleichem opferbereitem Tun war dann mein Gatte, der am 29.August die Einweihung leiten durfte, die in feierlichster Weise vor sich ging. Der Oberpräsident war nebst vielen Gästen dazugekommen und wohnte bei uns im Haus. Noch ehe dieser ereignisreiche Tag zu Ende ging, lag unser jüngstes und kräftigstes Kind (Alexander) in der Wiege. Auch dem leitenden Architekten Baumeister Schmidt war am selben Tag ein Sohn geboren. Zwei Jahre später feierten wir unsere silberne Hochzeit, es war ein froher, unvergeßlicher Tag, eine Überraschung folgte der anderen, man konnte sich nicht genug tun in Erweisungen der Liebe und Anerkennung. Wir waren tief dankbar und hocherfreut über alles Gebotene. Die Mitwirkung unserer Kinder überraschte uns ebenso wie die dichterischen Darbietungen der Geschwister. Das ganze Städtchen nahm teil, und die liebe Mutter mit weißen Spitzen und Schmuck freute sich mit uns trotz allen wehmütigen Gedenkens. – Drei Jahre nach diesem Fest November 1882 faßten wir den Entschluß, Amsterdam doch zu verlassen. Es kam rasch zur Entscheidung. Wir hatten unseren Ältesten, Ferdinand, schon mit zwölf Jahren aus dem Elternhaus ziehen lassen müssen, der von uns gewünschten deutschen Erziehung wegen. Er war nun schon vier Jahre in der Familie eines pensionierten Offiziers in Darmstadt, Oberstleutnant von Kessert, und machte während dieser Zeit verschiedene ernste Krankheiten durch, die uns stets Kummer und oft übertriebene Angst durch die Entfernung versetzten. Nun erkrankte er wieder und zwar traf es sich, daß wir gerade einen fröhlichen Ball zu Hause hatten, während er in Darmstadt durch ein abnorm hohes Fieber in Lebensgefahr geriet, und man uns am nächsten Morgen telegraphisch an sein Lager rief. Dies Zusammentreffen erschütterte uns sehr, und da uns mittlerweile noch zwei Knaben zur Erziehung anvertraut waren, wollten wir uns nicht wieder solchen Ereignissen aussetzen, und beschlossen, nach Frankfurt zu ziehen. Es war ein schwerer Abschied, denn die Befürchtung, die mein Mann schon vor zwölf Jahren ausgesprochen hatte, bestand weiter, und wir mußten sehr viel verlassen, – ein wunderschönes Haus, sehr lieben und großen Freundeskreis, zwei Geschwisterhäuser, mit denen wir eng verbunden waren, meinem Mann angenehme und ersprießliche Tätigkeit und eine sehr angenehme Stellung, – auch ich war im Vorstand einer Industrieschule, die mich sehr interessierte. Wir sahen oft und gern Leute bei uns, und da die Kunstsammlung Carls bereits einen gewissen Ruf erlangt hatte, besuchten uns auch angesehene Fremde. Von hervorragenden Gästen, die an unserem Tisch saßen, nenne ich den Prinzen Reuß Heinrich VII., der sich bald danach mit einer weimarschen Prinzessin vermählte, den Großherzog von Mecklenburg, Großvater des jetzt regierenden, ein liebenswürdiger feiner Herr, der mir ausführlich die Geschichte seiner drei Ehen erzählte. Der Herzog von Nassau, später Großherzog von Luxemburg, der seine Leiden im Jahre 1870 schilderte. Diese drei waren bei dem Erfinder der Massage Dr. Metzger in der Kur und nahmen gern bei den angesehenen Deutschen Einladungen an.

Frankfurt am Main

Wir fanden in Frankfurt ein sehr schönes Haus, das aber noch ganz dekoriert werden mußte, und in der Hoffnung, es im September beziehen zu können, verkauften wir das Amsterdamer und haben im August mit Marie Lachmund 14 Tage bei Rehbocks logiert, um die Verpackung zu leiten, aber erst am 20. November war das neue Heim so weit, es beziehen zu können. Wir waren voller Freude, endlich so weit zu sein, da kam wie eine zerstörende Bombe ein Telegramm aus Hamburg, worin mein Bruder Heinrich das sofortige Kommen meines Mannes verlangte! Er reiste in derselben Nacht ab und ließ uns in Frankfurt allein, fuhr dann von 6 Nächten fünfe nachts von einem Ort zum andern, stets in größter Sorge und Aufregung, von Hamburg nach Amsterdam und von da nach (Le) Havre, zurück nach Hamburg und Frankfurt. Mein Bruder hatte sich festgefahren und war nur mit großen Opfern wieder frei zu machen. Für uns ging ein Kindesteils dahin, wir dachten an unser erstes Söhnchen, und mein Mann glaubte, dies seinen Kindern entziehen zu dürfen. Auch hätten wir nicht leichten Herzens im Überfluß leben mögen, wenn der Name Schöffer in Unehre gekommen wäre, ein eigener Bruder nicht seine Verpflichtungen erfüllt hätte. Es waren schwere Tage für den unglücklichen Mann und für uns mit, der Gedanke, was werden sollte mit seinen 10 Kindern drückte schwer auf uns und wir halfen dazu, ihm wieder eine ausreichende Existenz zu gründen. Zunächst war es ein erschwertes Einleben in neue Verhältnisse, auf die wir uns doch auch gefreut hatten. Die erste Nacht im neuen Haus war schrecklich für mich. In Nacht und Nebel fuhr mein Mann hinaus, mit unbestimmten Ahnungen und großen Sorgen, der Wind heulte ums Haus und es war kalt darin und zog überall, da die Dienerschaft noch nicht verstand, die Zentralheizung zu behandeln und unnötige Klappen aufließ. Die nächsten Tage noch viel Handwerker, Kommen und Gehen, Bestimmungen und Einrichtungen machen ohne des Mannes Rat, die schwer drückenden Sorgen und endlich die niederdrückende, traurige Gewißheit!- Bald kam der Bruder zur Beratung. Es gab unendlich Schweres zu ertragen und der Gegensatz mit der Freude am neuen Heim, an der entschieden besseren Gesundheit und an dem Reiz des deutschen Lebens war oft aufreibend.

Mein Bruder fand dann neue Aufgaben und Arbeit in Liegnitz (Niederschlesien, im NW von Breslau), und ich brachte ihm im Frühjahr acht von seinen Kindern, die in Gelnhausen gewesen waren, dorthin, übernachtete mit ihnen in Dresden und freute mich an dem netten Liegnitz und dem dort gemieteten hübschen Haus und Garten.

In Frankfurt lebten wir uns immer mehr ein und verbrachten dort glückliche Jahre. Besonders genoß ich es, nicht mehr im Frühjahr und im Herbst die weite Reise machen zu müssen, denn es war keine Kleinigkeit, jedes Mal 12 – 14 Personen zu verpflanzen, und auch die Pferde gingen mit. Die Nähe der Mutter, die doch immer älter und schwächer wurde, war mir auch eine große Wohltat. Die Kinder gewöhnten sich auch sehr bald ein. Emma, der es am schwersten wurde, Amsterdam zu verlassen, schloß neue Freundschaft, und Dora bald den Herzensbund fürs ganze Leben. Mein Mann fand die kaum gehoffte neue Tätigkeit und konnte sich besonders der Kunst widmen, als Präsident des Kunstgewerbevereins und als Mitglied des Vorstands im Hoch’schen Konservatorium. Leider nahm er auch eine Aufforderung seines alten Freundes an, in den Aufsichtsrat der Kösterbank zu treten und hatte daran viel Leid und Aufregung.

Schon die letzten Jahre hatte uns Fräulein Marquardt nach Amsterdam begleitet, hatte dort das Scharlachfieber durchgemacht, aber durch gründliche Absperrung niemand angesteckt. Diese treue Freundin war 12 Jahre Erzieherin bei uns im Haus, und meine Kinder haben ihr unendlich viel zu danken, mir war sie eine große, unentbehrliche Stütze, und sie wurde und wird immer noch wie ein Familienglied gerechnet und von allen geliebt. Sie verheiratete sich, wurde aber schon nach 10 Wochen Witwe, blieb uns auch als Frau Bergmann, was sie uns als Frl. Marquardt gewesen war.

Hochzeit Doras mit General Hans Riedel14

Im Jahr 1885 feierten wir im August die Hochzeit der ältesten Tochter, der noch rüstige Vater widmete auch ihr sein hübsches Talent, womit er schon viele erfreut und auch einmal bei Gelegenheit der Schillerfeier in Amsterdam 1859 öffentlich Lorbeeren geerntet hatte, er dichtete eine sinnige Auf-führung, die sich teilweise im Garten abspielte. Wie immer zu allen Festen kamen auch meine Geschwister und deren Kinder, und wiederum nahm unser altes Städtchen Gelnhausen regen Anteil. Es war uns allmählich zur Heimat geworden. Im folgenden Jahr, wiederum im August wurde uns dort der erste Enkel geboren; für seinen Vater ein hartes Zusammentreffen, daß damals sein einziger Bruder aus dem Leben scheiden mußte. Der zweite Enkel folgte bald und zwei Monate nach seiner Geburt erkrankte Dora lebensgefährlich an Nierenbeckenentzündung und lag 5 Monate zu Bett, wonach sie mit einer Pflegerin zwei Monate in (Bad) Wildungen und den Rest des Sommers mit den Kindern in (Bad) Homburg verbrachte.- Es war ein stiller, trauriger Winter gewesen, denn die ungewisse Zukunft lastete schwer auf uns, lange Monate war Doras Leben in steter Gefahr, ihr Bewußtsein meistens getrübt, aber sie hatte auch lichte Stunden und sagte einmal: „Es mag schön im Himmel sein, aber ich bliebe doch so viel lieber noch hier.“ Lange, – lange fragte sie nicht nach ihren Kindern und hatte angstvolle Wahnvorstellungen, dann kam die endlose Zeit der langsamen Rekonvaleszenz, mit ihr viele Stunden, in denen der Geist sich gern beschäftigt hätte, und doch zu schwach dazu war. Ich war jeden Morgen von 9 – 1 Uhr bei ihr oder vielmehr bei den Kindern, während ihr Mann als Bezirksadjudant Dienst hatte, den Mittag hat man ihm ganz frei gegeben, dann nahmen mich Mann, Kinder und Haushalt in Anspruch, um so mehr als gerade diesen Winter Emma Marquardt das Bedürfnis gefühlt hatte, einige Zeit bei ihren Eltern zu verbringen, und ich mich mit einer französischen Bonne behelfen wollte. Ich hatte kein Glück, wechselte dreimal und erlebte die wunderbarsten Sachen, war hocherfreut, als endlich die getreue Emma wiederkam. Sie erteilte damals nur im Sommer Unterricht, die Kinder gingen zur Schule. Carl und Alex mußten vom 10. Jahr an in Pension, Frida ging mit nach Gelnhausen und lernte mit einer Freundin, Emma war erwachsen und wurde im folgenden Winter in die Gesellschaft eingeführt. Ferdinand wurde gerade zum Abiturientenexamen krank und mußte das Mündliche allein bestehen, verbrachte dann ein halbes Jahr in einer Pension … in Genf und diente dann bei den Husaren in Bockenheim (bei Frankfurt a.M.), studierte in Leipzig und Berlin, mußte aber zweimal unterbrechen und einige Monate im Süden zubringen, in den Jahren 1888-89, in Montreux und Mentone. Er hatte sich beim Tode des Kaisers Wilhelm durch langes Stehen in Eis und Schnee einen Schaden in der Lunge zugezogen, der aber wieder ganz ausheilte.

Der Sommer 1889 verlief sehr still, die Gäste mußten das Haus verlassen, da ich an Masern erkrankte, und zwar recht heftig. Ich war am Montag im Kindergarten gewesen, den meine Eltern und wir im Jahr 1873 gebaut und bis 1881 unterhalten hatten. Es waren weit über 100 Kinder anwesend, denen ich Pfeffernüsse austeilte. Am Sonntag wurde er geschlossen, da nur noch 16 übrig waren, die keine Masern hatten. So wurde ich mit 50 Jahren das Opfer dieses großen Ansteckungsherdes und brachte die Krankheit meinen Töchtern Emma und Frida. Auch Emma, die mich liebevoll gepflegt hatte, war sehr krank, Frida hatte es leichter, aber wir verloren damals doch alle drei die Haare und erholten uns langsam.

Im November erkrankte Carl am Scharlach, und wir sandten die ganze Familie nach Gelnhausen zur Großmutter, sie vor Ansteckung zu bewahren. Zu Weihnachten war ich allein mit Carl und seiner Pflegerin, ich selbst war auch sehr leidend und viel bettlägerig, hatte Carl nicht sehen dürfen und erst am Heiligen Abend feierten wir Wiedersehen, und da war es denn eine köstliche Überraschung und große Freude für mich, unter meinen Geschenken die Nachricht zu finden, daß Ferdinand das Referendar- und Doktorexamen bestanden hatte. Carl schien seiner Genesung entgegenzusehen. So war das stille Fest doch ein frohes und innerlich beseligtes. Einige Tage danach brach indessen eine schwere Nach-krankheit, Nierenentzündung, bei ihm aus und brachte lange schwere Sorgen. Ein ganzes Jahr kostete die Krankheit, zur Konfirmation wurde er privatim vorbereitet, durfte aber mit den andern feiern, obgleich er nachher noch ein halbes Jahr der Schule fern bleiben mußte. Es war ein eigenes Gefühl für mich, daß er als einziges meiner Kinder auch wie ich in der Paulskirche eingesegnet wurde. Der darauf folgende Winter war ein sehr belebter, da Ferdinand bei den Husaren in Bockenheim diente, und auch durch Emma, die eine beliebte Tänzerin geworden, Leben ins Haus kam, Dora aber sich wiedererlangter Gesundheit erfreute.

Hochzeit Emmas15 mit Ernst von Blumenstein16
und Tod der Mutter Dorothea Catharina Schöffer

Das Frühjahr 1892 brachte Emmas Verlobung und der Herbst ihre Hochzeit in Gelnhausen. Meine Mutter wurde damals schon sehr leidend und mein Mann verlor an Frische, er konnte nicht mehr wie sonst sich an dem Fest beteiligen, doch dichtete er zwei Rundgesänge, überwachte die Dekorationen und überließ mir, meine schwachen Kräfte für alles sonst einzusetzen. Trotzdem war es ein sehr schöner Tag, und die Stimmung war froh und heiter, wiederum zum Polterabend und zum Hochzeitstag etwa 70 Personen versammelt. Der Vater fühlte sich aber doch wohl genug, mich nach Kassel zu begleiten und mir behilflich zu sein bei der Einrichtung des jungen Paares in Kassel, wo wir es beide auch noch ein paar Mal besuchten.

Gegen Weihnachten wurde es bedenklich mit meiner Mutter, und ich war sehr viel bei ihr, immer in Sorge, etwas zu versäumen, wenn ich ein paar Tage in Frankfurt verweilte. Es gelang aber doch, dort den Heiligen Abend zu verbringen, den wir still mit den von der Hochzeitsreise zurückgekehrten Blumen-steins und allen anderen Kindern verlebten. Am ersten Feiertag abends zündete ich der leidenden Mutter ein Bäumchen an, und Frida und Alex sangen ihr dazu: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Ihr liebes Gesicht bekam einen strahlenden Ausdruck, und sie konnte dabei im Sessel sitzen. Es folgten schwere Leidenstage, alle Geschwister und mehrere Enkel kamen, um Abschied zu nehmen. Meine liebe, arme Schwester kam nach eben überstandener Operation in Bonn. Die Mutter stand nicht mehr auf. Noch erlebte sie das Neue Jahr, strahlend ging die Sonne im Osten auf, sie sah sie nicht mehr, litt furchtbar unter dem quälenden Husten und klagte wiederholt, daß ich das mit ansehen müßte, – sie litt noch für mich! – Am 3. Januar 1893 trat die Agonie ein und währte volle 17 Stunden, meist bewußtlos, aber doch mit immer erneutem Kampf. Sie sah nach dem Bild des Gatten, griff darnach, aber rief fortgesetzt nach Vater und Mutter und „Gott hilf. “ – Endlich mittags um 12 Uhr trat Ruhe ein, noch ein paar Seufzer, sie hatte überwunden! Ein herrliches Bild tiefsten Friedens lag sie da, verjüngt in der Majestät des Todes! – Es ist schwer, die Mutter zu verlieren, auch wenn man sie noch so lange besessen hat. Der Strom der Liebe, der von ihr ausgeht und der niemals verlischt, in den man sich immer mit Sicherheit flüchten kann, auch wenn sonst alle Quellen im Leben zu versiegen scheinen, den ersetzt keine andere, auch nicht die Liebe des Gatten, nicht die Kinder, denn keine ist so selbstlos, keine so immer vorhanden, so stets bewußt! Meine Mutter war eine lebhafte Natur gewesen, aber stille geworden durch den noch lebhafteren, dominierenden Gatten, aber sie war stets eine sehr glückliche Frau, denn die Liebe meiner Eltern und ihre Äußerungen überdauerte alle Stürme und auch alle Jahre, die sie vereint waren. Und Energie besaß die zarte, oft kränkelnde Frau und erzog ihre Kinder in vollstem Pflichtbewußtsein. Es ist wahr, in jüngeren Jahren fühlte ich mich mehr zum Vater hingezogen, denn er war zärtlicher und oft verliebt in seine Töchter, später aber erkannte ich, wieviel ich gerade der Mutter zu danken hatte und bewunderte ihre Energie, die ganz besonders erst nach dem Tod des Vaters hervortrat.- Vierzehn Jahre hat sie noch als Witwe den ganzen Sommer mit uns Beckers gelebt, und immer war sie leidend in dieser Zeit. Sie hatte sich beim Vater angesteckt, und im Frühjahr nach seinem Tod erkrankte sie in Amsterdam schwer an Tuberkulose und gleichzeitiger Lungenentzündung. Wir schickten die Kinder nach Gelnhausen und waren auf das Schlimmste vorbereitet. Sie sah aber selbst klar und sagte, sie möchte in Gelnhausen sterben. Ihr Arzt, unser Freund Prof. Hertz, gab ihr damals nur noch wochenlange Lebensdauer, und es war eine aufregende Reise, als wir sie mit Hilfe einer Pflegerin nach Gelnhausen brachten, natürlich unterwegs stets getragen. Da geschah ein anscheinendes Wunder, sie lebte wieder auf, ward von Tag zu Tag kräftiger und hustete weniger. Prof. Hertz besuchte uns und untersuchte sie wieder, nun stellte sich heraus, daß ein talergroßes Ephisem, das er für neu gehalten hatte, ein alter Herd war, – längst vernarbt, um den sich die neuen Tuberkeln gebildet hatten. Er erklärte damals, mit Vorsicht könne sie nun noch 20 Jahre leben. Und Vorsicht wurde stets aufs Äußerste angewandt und sie überwand viele Anfälle der bösen Krankheit und da auch alle hygienischen Vorschriften befolgt wurden, steckte sie niemand an, auch nicht ihre treue Pflegerin Marie Lachmund, die 14 Jahre sogar im selben Zimmer schlief und deren Gegenwart und töchterliche Liebe für uns ferne Kinder ein großer Trost all die lange Zeit gewesen ist.

Der Rest des Winters verlief in tiefer Trauer, still und gesammelt, umso mehr als das Befinden meines Mannes Anlaß zur ernsten Sorge gab. Im Frühjahr, das sich durch Todesfälle im Bekanntenkreis auszeichnete, kam es zur Krisis, es war wohl ein Vorläufer der späteren Todeskrankheit, aber an einem Abend war es so schlimm, daß ich zu Dora äußerte, sie solle den Vater noch einmal ansehen, man wisse nicht, ob er den nächsten Tag erlebe.- Aber er erholte sich noch einmal, und zwar zu einer Frische, wie sie vorher lange nicht gewesen war, die das Familienleben wie mit warmen Sonnenstrahlen übergoß. Zunächst aber gab es noch eine schwere Zeit zu überwinden. Als wir in Gelnhausen im Frühjahr 1893 einzogen, fanden wir dort Emma, ihrer Entbindung entgegensehend; sie brach in Tränen aus, als sie den Vater erblickte, der noch jammervoll elend aussah, in ihrem Zimmer schluchzte Emma Marquardt herzbrechend, sie hatte vier Wochen vorher plötzlich ihren geliebten Vater verloren. Im dritten Zimmer lag Frida leidend an diphtherieartiger Halsentzündung und sie war doch gekommen, der Schwester Gesellschaft zu leisten, hatte statt dessen gleich ins Bett gemußt. Mir selbst aber war es traurig zu Mute, öde und leer kam mir die Villa und das Leben darin zum ersten Mal ohne die Mutter, vor!

Auch hier linderte, wie immer die Zeit, und die Kranken erholten sich und neues Leben brach an, als freilich um zwei Monate zu früh die Zwillinge Zilli und Lilli17 geboren wurden. Zart und klein lagen sie in einer Wiege zusammen, so wenig zu unterscheiden, daß Zilli ein Bändchen um bekam, aber sie sahen lieblich und rosig aus und wurden nach langen, sorgenvollen Jahren und mühevoller Pflege gesunde Kinder. Der Großvater, der sein Leben lang sehr kinderlieb gewesen ist, hatte noch viel Freude an ihnen, nahm sie gern zusammen auf den Schoß und spielte sehr viel mit ihnen. Sie waren ihm sehr zugetan.

Im Februar 1894 feierten wir nach holländischer Sitte die silbervergoldete Hochzeit, zu der sich in Frankfurt alle Kinder versammelt hatten. Im November wurde bei uns in Frankfurt im Haus Carola von Blumenstein geboren und erkrankte gleichzeitig Frida recht bedenklich in Montreux, wohin ich sie im Herbst gebracht hatte. Ungleichmäßige Entwicklung ihrer Organe hatten ihr Nervensystem in Unordnung gebracht, und es blieb mir nichts anderes übrig, als sie vor Weihnachten wieder nach Hause zu holen.

Als der Baum brannte und wir alle gespannt waren auf den Ausdruck der Freude bei den Zwillingen, machten diese beide ganz erschrocken kehrt und wollten aus dem Saal heraus, was sich ganz drollig ausnahm.

Hochzeit Ferdinands mit Else Bieder

Ferdinand Becker um 1900, Foto Höhn in Hanau
Ferdinand Becker um 1900, Foto Höhn in Hanau
Else Becker geb. Bieder mit Harry ca.1896
Else 18Becker geb. Bieder mit Harry ca.1896

Den folgenden Sommer 1894 machte Ferdinand sein Assessorexamen und kam sehr bald an die Regierung in Stolp (in Pommern). Seine Referendarzeit hatte er zuerst in Homburg v. d. H. und Frankfurt am Main, 1893-94 in Gelnhausen, dann in Schlesien und besonders in Oppeln (Oberschlesien, im SO von Breslau) verbracht und dort auch Else Bieder kennen gelernt, mit der er sich im Sommer 1893 verlobt hatte und mit der er dann auch bald den Bund der Ehe eingehen konnte.

Einladung zur Hochzeit von Else Bieder und Dr. Ferdinand Becker am 9.10.1895 in Oppelnand Becker am 9.10.1895 in Oppeln
Einladung zur Hochzeit von Else Bieder
und Dr. Ferdinand19 Becker am 9.10.1895 in Oppeln

Die Hochzeit war glänzend und wurde im Oktober in Breslau (Provinzhauptstadt Schlesiens) gehalten. Leider war der Vater zu alt für die weite Reise geworden und Bruder Carl erkrankte gerade vorher und mußte auch verzichten, seine Rolle in selbstgedichteten Stücken übernahm liebenswürdigerweise Schwager Hans. Leider fehlte auch Emma, die die Zwillinge nicht verlassen konnte, die damals über alle Maßen elend waren und wie kleine Zitrönchen aussahen infolge eines lang dauernden Darmkatarrhs.

Im Jahr 1895 erlebte Vater noch die Freude, daß ihm ein Stammhalter20 geboren war. Beckers gibt es ja genug auf dieser

Welt; aber dieser Becker-Stamm ist doch von guter Art; und es war erfreulich, daß er wenigstens in den Nachkommen eines Sohnes von den sechsen, die der alte Carl Ferdinand besessen hatte, fortbestehen durfte.

Tod des Gatten Konsul Carl Becker

Der 21.August 1896, unser vierzigjähriger Hochzeitstag, wurde in Dank und Wehmut gefeiert, denn die Anzeichen mehrten sich, daß des Vaters Bleiben unter uns wohl nicht mehr sehr lange währen würde. Ich hatte einen Teil meines Schmuckes für die vier Töchter neu fassen lassen und erregte aufrichtigste Freude. Der Vater saß strahlend und mit liebevollen Blicken unter uns und empfahl mich in seiner beredten, sinnigen Art liebevoll den Kindern, wenn er einmal nicht mehr sein sollte und dankte mir so warm und herzlich für alle Liebe und Treue, daß ich es tief empfand, wie ich nun vor einem Abschluß der schönsten, ungetrübten Gemeinsamkeit stand. Von da an ging es mit der Gesundheit bald bergab und nach wenigen Wochen gab mir Friedrich Trendelenburg die Gewißheit, daß mein Mann am Krebs leide und in seinem Alter eine Operation nur vorgenommen werden könne, um seine Leiden zu verringern oder das Ende sanfter zu machen. Ich verschwieg den Kindern vorläufig noch diese grausame Tatsache, bis sie auch ihnen nicht mehr verborgen werden konnte. Der folgende Winter verging unter dem Druck dieser Wolke, Frida wurde eingeführt; ich war ein paar Mal mit ihr auf Bällen, und wir gaben sogar selbst noch einen kleinen von etwa 60 Personen, auch Blumensteins waren dabei und der Vater nahm herzlichen, freundlichen Anteil daran bis zuletzt, – dann ging Frida noch hier und da allein in junge Gesellschaft, aber ihr so schon mehr ernster Sinn fand unter dem Druck der Umstände niemals den vollen Frohsinn dafür. Im Herbst wurde Carls Zustand quälend. Friedrich kam zum Konsult und konnte wenig Tröstliches sagen und am 14. April mußte ganz plötzlich doch zur Operation geschritten werden, Friedrich nahm sie mit zwei Assistenzärzten vor, während unten alle Kinder außer Emma traurig um mich versammelt waren. Ferdinand war am 1. April auf sein Ersuchen nach Hanau versetzt worden und ist mir in den schweren Tagen eine treue Hilfe und unschätzbarer Berater gewesen.

Die Operation verlief über Erwarten (gut) und statt neuer Qualen trat eine große Erleichterung im Befinden und in der Pflege ein. Leider nur hatten sich scheinbar Partikelchen aus dem Darm in den Blutumlauf und in das Gehirn verirrt, so daß vielfach Wahnvorstellungen und fixe Ideen eintraten, womit er sich und mich oft unsagbar quälte. Er glaubte sich verfolgt und verarmt, suchte nach Dokumenten, verlangte sie von mir und machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich sie ihm, – mit falscher Liebe, – nicht geben wollte. Zwischendurch war er plötzlich ganz klar, sprach liebevoll mit mir, auch über sein bevorstehendes Ende, hatte auch eine Art Bewußtsein, daß er mir wohl Unrecht in seinem Wahn getan, und bat mich rührend um Entschuldigung, war innig dankbar. Es war für mich wie ein Wiedersehn nach langer Trennung, wenn sich so Seele zu Seele wiederfand.- Vom Bett stand er nur noch einmal auf, ließ sich in sein Arbeitszimmer fahren und suchte nach den unglücklichen Doku-menten, die nie existiert hatten. Sonst lag er ohne jede Schmerzen auf seinem Wasserbett, noch über drei lange Monate, oft und viel kamen die Kinder, und einmal war er ganz selig, als Emma von Heidelberg die kleine Karola mitbrachte. Das Kind durfte keinen Augenblick weg, mußte an seinem Bett essen, und er strahlte, wenn es ihn anlachte, was es auch immer wieder tat. Daraufhin entschloß sich Emma, den Juli über zu uns zu kommen. Der Großvater genoß die Kleinen noch sehr intensiv, aber immer nur kurze Zeit. Es machte ihn müde, gab aber eine freundliche Prägung für den ganzen Tag. Anfang Juni mußten die Kleinen der großen Hitze wegen nach Gelnhausen, ich blieb allein mit der Pflegerin und abwechselnd eins oder zwei der Kinder. Langsam schlichen die Tage dahin zwischen dem Wunsch, ihn noch behalten zu dürfen und ihn erlöst zu sehn. Körperliche Schmerzen hatte er nicht, schlief auch sehr viel infolge von Morphium, aber die Seele war infolge der Wahnvorstellungen doch sehr gequält. Endlich nahte die Scheidestunde, noch einmal kehrte das volle Bewußtsein wieder, er umarmte mich herzlich, dankte für alle Liebe und Geduld, dankte auch der Pflegerin, begrüßte die Kinder, die dabei waren, faltete die Hände, – man sah, daß er sein Vater unser betete – und sagte dann: „So, jetzt will ich sterben!“ Es dauerte aber dann noch zweimal 24 Stunden, bis er Ruhe fand. Es war qualvoll anzusehn, bis das kräftige Herz und die noch guten Lungen der großen Schwäche unterlagen, ich glaube aber nicht, daß ihm noch etwas zu Bewußtsein kam. Am 24. Juli 1897 abends um 7 Uhr war der Kampf zu Ende. Außer Dora waren alle Kinder um ihn versammelt. Es war ein großer, heiliger Augenblick und die Allgewalt der gegenseitigen innigen Liebe offenbarte sich mächtig, auch in den folgenden schweren Tagen. Den Geliebten erlöst zu wissen, das Bewußtsein der innigsten Zusammengehörigkeit gab ein inneres Glücksgefühl im tiefsten Leid. Frieden und Dank erfüllte unsere Herzen. Der Vater hat es noch voll erfaßt, was man ihm erst verbergen wollte, welches Glück es für Hans war, daß er nach Brandenburg als Divisionsadjudant versetzt war, und er hatte den vier kräftigen Enkeln zum Abschied noch ein Scherzwort zugerufen, wie er denn oft noch guten Humor inmitten aller Leiden durchblitzen ließ. Für Dora war es trotzdem hart, gerade jetzt den Vater verlassen zu müssen, sie sah ihn nun wieder, ernst und still, aber von Frieden übergossen. Auch die Geschwister kamen und viele liebe Verwandte, von fern und nah, und es war eine traurige Reise, als wir ihn endlich nach Gelnhausen brachten, wohin er sich so oft in seinen Phantasien versetzt hatte. In der Villa duftete und blühte alles, und zum ersten Mal begrüßte ich den ersten Becker-Enkel (Harry), während der treue Gefährte eines langen, glücklichen Lebens zu Grabe getragen wurde. Eine Fülle von Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken überflutete mich, aber siegreich schwebte über allem die Empfindung unendlichen Dankes für ein so langes, glückliches Leben, das nun in diesem Augenblick auch für mich zu Ende schien.

Noch nicht ausgeruht von der langen, schweren und anstrengenden Zeit, kaum vierzehn Tage nach dem Tode, bekam ich für drei Wochen eine zahlreiche Einquartierung, da damals die großen Manöver in unsere Gegend fielen. Wir hatten vier höhere Offiziere mit den Burschen im Haus, die zwar abends auswärts aßen, aber sonst alle Mahlzeiten einzeln auf ihre Zimmer bekamen. Gegen Ende der Zeit gab es noch eine besondere Belastung und hatten wir nicht weniger als drei Generäle unter unserem Dach. Für den Höchstkommandierenden mußte ich mein eigenes Wohnzimmer einrichten. Still und traurig verging des Rest des Sommers, aber die gegenseitige Liebe trat in dieser Zeit mächtig hervor, und es kam mir schon die Ahnung, daß doch nicht aller Sonnenschein aus meinem Leben erloschen bleiben werde. Es kamen dann, als die anderen Kinder heimgekehrt waren, schwere Tage für Frida und mich, die Rückkehr ins Frankfurter Haus und seine Enträumung. Die drei verheirateten Kinder bekamen je einen Möbelwagen voll, und den Rest nahm die Villa auf, die dadurch sehr an Behaglichkeit gewann. Ferdinand, der ja so nahe war, half sehr ergiebig an der Aufstellung. Erst im Frühjahr (1898) wurde das Frankfurter Haus unter ziemlich günstigen Bedingungen verkauft.

Wohnsitz Gelnhausen

Zu Weihnachten versammelten sich dann alle Kinder und Enkel um mich, nur die kleine Ully21, die im Oktober (1897) in der Villa zur Welt gekommen war, blieb in Hanau. Es war ein ernstes und doch schönes Fest. Hauptsächlich meiner Frida zulieb, in deren Lebensfrühling so trauriger Reif gefallen war, entschloß ich mich gegen das Frühjahr hin, eine Reise nach Italien zu unternehmen. In Schnee und Eis fuhren wir weg und waren bald im Frühlingssonnenschein, der uns drei Wochen lang unausgesetzt treu blieb, während wir in Bordighera weilten. Es war eine Zeit wahren seelischen Ausruhens, auch für mich, und die Natur linderte mit milder Hand das oft noch brennende Leid. In Florenz, wo wir auch noch drei Wochen blieben, gab es viel Regen, und ich machte die Erfahrung, daß die Kunst nicht in gleicher Weise auf mich wirkte wie die Natur. Niemals hatte ich sie anders als an der Seite meines Mannes genossen, und auch das schöne Florenz hatten wir früher zusammen gesehen. Für die Kunst war mein Schmerz noch zu neu, und er überwältigte mich stets bei ihrem Anblick. Besser war es, als die lieben Rehbocks und Carl mit seinem Freunde Bornemann sich mit uns vereinten. Zwar, mein Empfinden der Kunst gegenüber blieb wie zuvor, aber auf mein Gemüt war doch der Einfluß groß. Acht Tage verweilten wir noch zusammen in der reizenden Stadt und fuhren dann zusammen nach Rom. Hier erkrankte leider Alexander Rehbock an Influenza, die damals in allen italienischen Städten stark verbreitet war, und mußte acht Tage zu Bett liegen. So blieb ich bei meiner Schwester, während die jungen Leute Rom genossen. Ich frischte ja auch einige alte Erinnerungen auf, aber zu rechtem Genuß kam ich nicht. Auch nicht in dem wunderbaren Neapel, das uns freilich zuerst mit Regen und einer schlechten Nachricht empfing. Ully war in Hanau schwer erkrankt. Ich wäre am liebsten hingereist und ein entschiedenes Heimweh verließ mich von da an nicht mehr, so blieb ich auch in Florenz mit meiner Jungfer Anna, während alle anderen Capri besuchten. Von da an gingen die beiden Freunde südlicher, wir anderen fuhren nordwärts und verbrachten die Ostern (1898) in Lugano.

Sommer und Winter vergingen still, aber die Besuche der Hanauer Kinder und Carls, der in Heidelberg studierte, dabei der rege Verkehr mit meinem Onkel Wilhelm und seiner Familie brachten ausreichend Anregung. Hier und da kam ein kleiner Sturm aus Rathenau, wo Alexander sein Einjährigenjahr abdiente, sie wurden schließlich alle überwunden.

Alexander Becker als Einjähriger (Offiziersanwärter) 898 in Rathenau
Alexander23 Becker als Einjähriger 1898 in Rathenau

Das Jahr 1899 fand Ferdinand und seine Familie in Oppeln (Oberschlesien), Alex bezog die Universität in Freiburg, wo ich ihn auch einmal besuchte, Carl hatte mich zu Pfingsten mit seinem Doktor cum laude überrascht (in Orientalistik), weilte dann in Berlin, wo er früher auch schon einige Semester zugebracht hatte, und bereitete sich für seine Orientreise vor, die ihn Ende 1900 nach Ägypten und Arabien führte und die er im folgenden Jahre wiederholte. Damals machte er auch eine Reise in die Wüste und lernte Entbehrungen aller Art kennen und überwinden. Ehe er aber noch nach Afrika ging, trat ein anderes Ereignis ein, das die Welt und die Meinen und mich im besonderen bewegte: der Krieg mit China (Boxerkrieg)22. Ernst von Blumenstein hatte sich, so unglaublich es uns schien, dafür gemeldet und wurde genommen. Bald hatte ich dann zwei Söhne in verschiedenen Weltteilen, zwar hochinteressante Briefe, aber auch viel schwere Sorgen. Emma blieb sehr tapfer von Anfang bis zu Ende und war mit ihren drei Töchtern damals 8 Wochen bei mir. Es war ein großes Fest, eine nachhaltige Freude, als nach 14 Monaten ihr Gatte wohlbehalten und reich an Erinnerungen und Ehren nach tapfer bestandenen ernsten Gefahren glücklich wiederkehrte.

Hochzeit Fridas mit Pfarrer Otto Michaelis

Er fand Frida24 als Braut von Otto25 Michaelis, deren Hochzeit er dann auch im September mitfeierte und mit verschönern half. Unvergeßlich war das Auftreten der ganzen Familie in echten, chinesischen Kostümen. Auch dieses dritte Hochzeitsfest verlief froh und heiter, wie die früheren, wenn es auch überwunden werden mußte, daß der Vater dabei fehlte. – Ich richtete Frida in Groß-Moyeuvre die Wohnung ein, die sehr einfach war und nur durch zwei eingerissene Wände genügenden Raum zum Wohnen gewann. Ich verließ sie mit etwas schwerem Herzen und fand zu Hause die treue Marie Lachmund sterbend. So hatte ich das letzte Kind aus dem Hause und gleichzeitig die treue Freundin verloren, die täglich nach mir sah und alle Familienfreuden und -schmerzen mit mir teilte. Es war ein schwerer Anfang für mein einsamer gewordenes Leben, mußte es doch überwunden werden, daß zum zweiten Mal mein Bruder Heinrich in schwierige Lage gekommen war, die bereits den ganzen Sommer auf uns alle gedrückt hatte. Riedels waren sehr fern, damals in Glogau (Schlesien), Blumensteins kamen nach Mühlhausen im Elsaß, aber Emma Bergmann blieb mir treu und leistete mir in diesem und vielen folgenden Wintern liebevollste Gesellschaft.

Das Jahr 1902 brachte manche Freude. Im September wurde in Gelnhausen der kleine Otfried Michaelis geboren nach angstvollen Stunden, in denen Tod und Leben um die Herrschaft rangen und im Dezember sein kleiner Vetter Ernst von Blumenstein in Mühlhausen, den ich dort mit Ungeduld, des nahen Weihnachtsfestes wegen, erwartete. Wenige Tage zuvor bestand Alexander sein Referendarexamen in Bonn, dem ich besorgt entgegengesehen hatte. In diesem Semester studierte auch der Kronprinz dort, und es gab dadurch ein außergewöhnlich geselliges Leben, an dem sich Alexander, mehr wie gut war, beteiligte, so daß manche wetteten, er könne unmöglich bestehen. Aber die Gegenpartei behielt Recht und ich atmete auf. Für mich war es dann herrlich, daß er die nächste folgende Zeit in Gelnhausen im Dienst des Amtsgerichts verbringen konnte, wodurch der Winter belebt und sehr angenehm verging. Noch ein viertes frohes Ereignis aus demselben Jahr muß ich erwähnen:

Ully und Harry Becker 1901 in Osterholz, wo der Vater nun Landrat war bis 1933
Ully und Harry Becker 1901 in Osterholz, wo der Vater nun Landrat war bis 1933

Ferdinand wurde Landrat in Osterholz-Scharmbeck und erreichte damit das Ziel seiner Wünsche: eine angesehene Stellung, behagliches Haus, großer Garten und war in nächster Nähe der Großstadt Bremen. Und ich bin noch nicht zu Ende, denn in demselben Jahr durfte ich Carl als Privatdozent in Heidelberg begrüßen, richtete ihm die Wohnung ein und hörte seinen ersten öffentlichen Vortrag über „Die Frau im Islam“. Zur Feier des Tages gab ihm Prof. Bezold, sein verehrter Lehrer, ein Mittagsmahl, bei welcher Gelegenheit er ihn als jungen Kollegen begrüßte und ihm eine außerordentliche Wertschätzung aussprach.

Im folgenden Jahr begleitete ich ihn im Herbst nach Leipzig, wo er sich einer Blinddarmoperation zu unterwerfen hatte, die er tapfer und glücklich bestand.

Währenddessen zogen Michaelis´ nach Metz26, (der Bischofsstadt im 1871 annektierten Lothringen) wohin Otto berufen war, und es begann für sie damit ein ganz neues, reges geistiges Leben, wenn sie sich auch dort noch mit wenig schöner Wohnung behelfen mußten. Im Frühjahr 1904 weilte ich bei ihnen sieben Wochen und erlebte die wieder nicht ganz einfache Geburt der kleinen Tochter (Emma) mit ihnen und die Taufe, die der Vater selbst vollzog.

Riedels hatten indessen die Garnison (wieder) gewechselt und waren in Posen gelandet. Dort traf sie eine lange, bange Sorge in der Erkrankung von Karl, die mit einer großen Operation im Sommer 1904 in Leipzig endete, wobei ihm die eine Niere herausgenommen werden mußte. Darnach erholte er sich mehrere Monate in Gelnhausen, und seit dieser Zeit habe ich ein ganz besonderes Verhältnis mit diesem Enkel. Im August gab es dann eine große Freude! Carl verlobte sich mit Hedwig Schmid aus Augsburg und ein paar Tage nachher brachte sie uns der Vater schon nach Gelnhausen. Es war am 21. August, meinem Hochzeitstag. Unvergeßlich sind die warmen Worte, die gewechselt wurden und beiderseitig in den eben sich noch so fremden Familien das größte Vertrauen auslösten. Alex, den damals die Liebe auch schon berührt hatte, übertraf sich selbst in seiner Rede auf das junge Ehepaar, Vater Schmid und Carl fanden den schönsten Ausdruck für die glücklichen und hoffnungsreichen Gefühle, die sie erfüllten. Ein längerer Besuch der neuen Tochter im Herbst brachte sie meinem Herzen bald nah und mit Freuden lernte ich darnach ihr elterliches Heim im ehrwürdigen Augsburg kennen. Und dann fand auch Alex seine Sophie und sprach sich ihr aus am 14.2.1905, meinem eigenen Verlobungstag. Ich sah sie zuerst in seiner Wohnung in Gegenwart ihrer Mutter und am nächsten Sonntag besuchte uns die ganze Familie in Gelnhausen, auch Carl kam aus Heidelberg und meine Amsterdamer Geschwister Karl und Ottilie waren dabei.- So war nun der Kreis geschlossen, ich hatte es erlebt, alle meine sechs Kinder mit ihren Erwählten zu sehen und auch das jüngst hinzugekommene Kind fand noch warmen Platz im Mutterherzen.

Hochzeit Carls27 mit Hedwig Schmid28

Im März 1905 zog ich dann mit allen meinen Kindern zur Hochzeit nach Augsburg, und wir wurden überaus glänzend dort aufgenommen und bewirtet. Unvergeßlich ist mir besonders der Blumenflor, der einen ganzen südlichen Frühling in den Hochzeitssaal zauberte. Als das schöne Fest

Carl und Hedwig Becker 1908 in Gelnhausen
Carl und Hedwig Becker 1908 in Gelnhausen

in vollster Harmonie verklungen war, verbrachte ich mit den Kindern noch zwei schöne Tage in München und begrüßte die lieben Rehbocks, mit denen ich dann weiter nach Süden reiste, während die andern in allen Richtungen ihrer Heimat zueilten. Wir waren damals am Gardasee, in Riva, Gardone, Rovereno, vorher hatten wir Bozen und Meran besucht und verweilten nachher am Comer See in der Villa Serbelloni. Ich fuhr allein über den Gotthard zurück, um rechtzeitig zur kupfernen Hochzeit der Blumensteins in Mühlhausen zu sein. Von dort fuhr ich über Gelnhausen nach Weimar zum Besuch der alten Freunde Hertz und weiter nach Posen29, wo ich mich an Riedels schöner Wohnung und ihrer freien Lage mit Aussicht auf gepflegten Park freuen konnte, auch genoß ich ihr schönes Familienleben und interessierte mich für die dortigen polnischen Verhältnisse, wünschte ihnen aber doch schönere Umgebung und mir größere Nähe.

Über Liegnitz, wo ich eine Woche zum Besuch meines Bruders und seiner Familie blieb, und über Berlin, wo ich zwei Tage in einer netten Pension verbrachte, weil alle Hôtels bei Gelegenheit des Einzugs des Kronprinzen überfüllt waren, – reiste ich nach Osterholz, genoß dort beim schönsten Sommerwetter Eltern, Kinder, Haus und Garten und kehrte endlich in die Villa zurück, die unterdessen ein neues Kleid angezogen hatte und durch Restauration des Treppenhauses sehr an Schönheit gewonnen hatte und so würdig geworden war, die anspruchsvolle Frankfurter Gesellschaft zu Alex´ Polterabend zu empfangen.

Hochzeit von Alex mit Sophie

Dieser fand am 29.Juni 1905 statt. Leider fehlten dabei Riedels und Hedwig Blumenstein. Mit Extrazug kamen die Gäste um 4 Uhr an, es gab Aufführungen die Menge, Tee und Nachtessen im Freien mit großem Bogenlicht, Tanz, Gesangverein und bengalische Beleuchtung. Am 1. Juli war die Hochzeit im Frankfurter Hof, ein schönes Fest, nur leider etwas beeinträchtigt durch die abnorme Hitze. Ein erfreulicher Anblick war am nächsten Tag in Gelnhausen das neue Ehepärchen, das im Automobil nach Eisenach wollte und von der Familie Landrat abgefangen wurde. Die andern Kinder waren von Frankfurt aus heimgekehrt, auch Blumensteins, die zum Hochzeitstag gekommen waren.

Im Sommer darauf erfreute mich der Anblick von zwei neuen Beckersprossen, Walter und Joachim, und so war in allen meinen Kinderhäusern so rasch wie möglich Kindersegen eingekehrt, auf den ich so lange vergebens hatte warten müssen, und als am 21. August der Tag wiederkehrte, an dem ich vor 50 Jahren als glückselige Braut am Altar gestanden hatte, zählte ich 14 Enkel. Alle Kinder waren zu dem Tag, erschienen, Dora noch ganz überraschend aus weiter Ferne, leider mußten Hans und Else fehlen.

Julie Becker (Schöffer) ca. 1910 mit den Enkeln Carl, Hans, Theo und Paul Riedel; Cilly, Lilly und Carola von Blumenstein; Harry und Ully Becker vor der Villa
Julie Becker (Schöffer) ca. 1910 mit den Enkeln Carl, Hans, Theo und Paul Riedel; Cilly, Lilly und Carola von Blumenstein; Harry und Ully Becker vor der Villa

Früh zogen wir alle auf den Friedhof und gedachten in Wehmut des liebevollen Gatten und Vaters und brachten ihm die Kränze, die vorher sein Bild geschmückt, als Carl in innig warmen Worten den Gefühlen seiner Geschwister Ausdruck gab. Wie reich fühlte ich mich da wieder im Hinblick auf so viel früher genossene und so viel gegenwärtige Liebe. Als wir zurückkehrten, stand neben des Vaters Bild der prächtige Orchideenstrauß mit goldenen Ähren, mit denen die noch lebende Mutter erfreut wurde und wie glücklich fühlte sie sich, daß auch sie den Kindern allen eine unerwartete Überraschung bereiten konnte. Ich hatte den reichen Smaragdschmuck, den ich seit meiner kupfernen Hochzeit viel und oft getragen, zerlegen lassen, und jede Tochter erhielt einen Teil davon. Der ganze Tag verging in gehobener Stimmung und in froher Betrachtung, daß der Spruch, den ich vor 50 Jahren erhalten hatte, sich bewährt hatte in Leid und Freude, im Leben und im Tode, in Eltern und Kinder:
„Die Liebe höret nimmer auf!“

Nach diesem Silberblick für uns alle nahten trübe Zeiten. Zwar brachte der Herbst noch eine große Freude, Hans bekam das Regiment in Offenbach, und die Tochter, die mir so lange die fernste gewesen, kam so in meine nächste Nähe, und von da an konnte ich sie und die ganze liebe Familie viel um mich haben, und ich genieße dies sehr, besonders nachdem der schwere Anfang überwunden und sich Doras Nerven durch einen Aufenthalt in der Schweiz gestärkt hatten und sie sich in der neuen bevorzugten Stellung glücklich fühlte. Aber meine bis dahin recht gute Gesundheit kam ins Wanken, ein geheimnisvolles Leiden befiel mich und da es nicht erkannt wurde, behandelte man mich irrtümlich neun Monate auf Gicht. Der Jahresschluß war traurig, denn ich litt viele Schmerzen und die Entziehung der gewohnten kräftigen Nahrung ließ mich abmagern, die verkehrten Mittel verschlimmerten den Zustand. Im Februar 1907 trat Erleichterung ein durch die Öffnung eines Abszesses innen im Hals, aber sie war vorübergehend, und im April stellte sich durch Röntgenbestrahlung klar, daß der Abzeß im Hals ein sekundärer Prozeß gewesen, die Entleerung eines Halswirbels, der ganz vereitert gewesen war. Gleichzeitig wurde konstatiert, daß sich keine Spur von Gicht im Körper befand. Die Substanz des Wirbels mußte sich ersetzen, und dazu dieser durch das Tragen eines Apparates bei Tag und bei Nacht gestützt und geschützt werden. Wohl verschwanden die Schmerzen, aber große Unannehmlichkeiten mußten ertragen, unendliche Geduld geübt werden, Essen, Lesen, Schreiben wie neu erlernt werden und Abhängigkeit von andern war das Schwerste bei allem. Auch war ich ein Jahr lang an die Scholle gebunden und durfte nur im Herbst zwei Monate nach Frankfurt. Im Jahre 1908 wurde der Zustand leichter und allmählich konnte der Apparat am Tag ausgelassen werden, 1 – 4 Stunden und später bis zu 8 Stunden, im Frühjahr 1909 werde ich ihn vielleicht noch einmal ganz los. Noch war ich recht leidend im Sommer 1907, und alle Kinder wetteiferten, mir Liebes zu erweisen und mir die schwere Zeit zu erleichtern, da wollte es das Schicksal, daß sie mir noch ganz besonders erschwert werden sollte. Im Juli brach eine Epidemie in der Villa aus, an der nicht weniger als 27 Personen teils schwer erkrankten und mit Fieber ins Bett mußten. Es war eine Angina, die an Diphtherie streifte. Einmal lagen 8 Personen gleichzeitig zu Bett, das

Else Becker 1908 mit Ully und Harry
Else Becker 1908 mit Ully und Harry

Ehepaar Michaelis, die ganze Familie Ferdinand und drei Dienstboten. Nachdem 18 Kranke wieder hergestellt und alle Zimmer gründlich desinfiziert waren, reisten die meisten ab und die Familien Carl und Alex zogen mit Freuden ein, hatten sie doch 14 Tage darauf gewartet. Da fing die Sache von neuem an, und es erkrankten 9 Personen, darunter Carl und Alex recht heftig. Jetzt erfuhr ich durch das therapeutische Institut in Frankfurt, an das ich mich in Verzweiflung mit der Frage gewandt hatte, denn irgendwo müsse doch ein verborgener Herd für solche hartnäckige Krankheit sein, – daß alle äußere Desinfektion überflüssig sei. Die Bakterien säßen in dem Speichel der Kranken und Rekonvaleszenten noch wochenlang, diese müßten desinfiziert werden. Hierauf schluckten 20 Personen, die im Hause waren, Formamint, und die Sache hatte ein Ende. Über sechs Wochen hatte sie mir die schwersten Sorgen gebracht, und die ganze Villa war mir verleidet. Ich durfte meines geschwächten Zustandes wegen nicht pflegen, mußte mich fern halten und saß traurig sehr viel allein, und war oft einer Depression nahe, wie sie damals gerade meine Emma befallen hatte, weil eine geistige Überarbeitung und allerhand Sorgen – ich nenne außer meiner Erkrankung nur noch die für ihren Mann notwendig gewordene Operation in Freiburg – ihre Nerven heruntergebracht hatten. Sie war damals in Konstanz und alle Kinder bei mir und – krank! Dazu regnete es sehr viel und war kalt, wie im Spätherbst. Als dieser kam, entschädigte er für manches, Emma kehrte gesund und frisch wieder, und beständiger Sonnenschein beglückte uns. Als uns da Weihnachtsfest vereinte, ging es mir sehr viel besser. Ich konnte vergnügt mit meinen Kindern feiern und hatte außer Carls und Michaelisens alle um mich, Ernst war vollständig genesen, und wir freuten uns des wiedergeschenkten Glückes. Im Frühjahr verlebte ich einige Wochen in Frankfurt im neu gebauten Hospiz und durfte dann Frida in Metz besuchen. Sie hatte auch Schweres durchgemacht. Am selben Abend, als sie in das ersehnte neue Haus einzog, erkrankte ihr Otfried sehr schwer an Lungenentzündung und schwebte acht Tage lang in großer Lebensgefahr. Die Eltern sahen, daß ihn der Arzt schon verloren gab und rangen nach Ergebung, wagten kaum zu glauben, daß die schwere Prüfung glücklich vorüberzog. Dann aber war die Freude groß und alle kleinen Leiden, die noch folgten, wurden für gar nichts geachtet. Nur zehn Tage konnte ich verweilen, genoß aber mit das neugewonnene Glück und das schöne neue Heim.

Auch dieser Sommer schien unerfreulich werden zu wollen. Ein Scharlachfall im Gärtnerhaus hielt Alexens und die Töchter Blumenstein, die die Pfingstferien mit mir verbringen sollten, fern, aber Familie Riedel und die beiden Ernsten kehrten ein. Emma sollte folgen, jedoch ein leichter Rückfall der vor- jährigen Krankheit machte einen Aufenthalt in (Kassel-) Wilhelmshöhe nötig. Als bald bessere Berichte kamen und dieser Druck von mir genommen war, genoß ich einen schönen reichen Sommer, wie so viele nun schon in der Villa vorübergezogen sind mit glücklichen Kindern und Enkeln, von denen wochenlang 10 auf einmal im Hause waren. Zwar war auch diesmal der August sehr regnerisch, aber wir merkten es kaum, denn wir waren gesund und ohne Sorgen. Als alle geschieden waren, auch mein Neffe Heinrich Schöffer, der meinem Herzen besonders nahe steht, von langer Krankheit sich erholt hatte, durfte ich die Reise nach Osterholz wagen und verlebte dort vier wunderschöne Wochen. Wie wohl war es mir in dem gesegneten Kinderhaus, im trauten Verkehr mit den frohen, glücklichen und fleißigen Menschen. Und das alles fand ich dann wieder, als ich in Hamburg einkehrte, wohin Carl im Oktober als Professor an das neu gegründete Kolonialinstitut unter den angenehmsten Bedingungen berufen worden war. Ich fand ihn schon in voller Tätigkeit und freute mich an der schönen Stellung, die er errungen hat, an der vollen Befriedigung, die ihm sein Wirken gibt, an dem neuen reizenden Haus und seiner ange- nehmen, stillen Lage fern vom Getöse der Großstadt, an der sorgsamen Hausfrau und den süßen Kindern.

Else Becker 1910 in Osterholz
Else Becker 1910 in Osterholz

Hier erreichte mich die Nachricht, daß Blumensteins nach Thorn30 versetzt sind und somit in weite Ferne ziehen. Wir haben indessen die Nähe der letzten 7 Jahre recht gründlich ausgenutzt, es gefällt ihnen in Thorn und sie sind noch jung genug, das Reisen nicht zu scheuen.

Ein alter griechischer Philosoph hat gesagt: man solle keinen Menschen glücklich preisen vor seinem Tode, und wenn ich bedenke, wie viel ich noch besitze und wieviel mir noch genommen werden kann, dann könnte es mich wohl verzagt machen: Zwölf liebe Kinder, 16 blühende Enkel, liebe Verwandte und Freunde, wiedergeschenkte Gesundheit, leidliche körperliche und geistige Kräfte, Erinnerungen, die mich freuen und ohne Schmerzen zu verzichten auf das, was nicht erreichbar ist, und wie man im Herbst dankbarer ist als im Frühling und im Sommer jeden sonnigen Tag genießt, so freue ich mich des Reichtums der Gegenwart und lasse ihn mir nur vorübergehend trüben, denn auch im Alter webt sich das Menschenleben aus Freuden und Schmerzen und nur zu oft überwiegen die letzteren. Aber von der hohen Warte meiner 70 Jahre darf ich mich doch glücklich preisen, auch wenn das tiefste Leid mich nicht verschont hat, denn was Vergangenheit geworden ist, kann uns niemand mehr rauben, es sei denn, daß Erinnerung erlischt! So lange aber diese mir bleibt, werde ich nie ganz unglücklich sein können.

Ully, Lilly, Harry; dahinter Theo und Zilly in Gelnhausen, 1910
Ully, Lilly, Harry; dahinter Theo und Zilly in Gelnhausen, 1910

Oft vertiefe ich mich in den Werdegang der einzelnen Kinder. Ich weiß, sie haben geirrt und gefehlt, denn ich genoß stets ihr Vertrauen, aber alle sind sie doch tüchtige Menschen geworden, füllen ihren Platz aus in der Welt, können ihren Kindern weitergeben, was Gutes in unserer Erziehung gewesen und besser machen, was mangelhaft darin war.- Ein ander Mal gedenke ich an sie alle gemeinsam, an das schöne Familienzusammensein in ihrer Kindheit und Jugend und erlebe die einzelnen Phasen ihrer Entwicklung nun wieder im Zusammenleben mit den Enkeln zum zweiten Mal. Ich lasse die Merktage und frohen Feste an mir vorüberziehen, die das Leben mir gebracht, ganz besonders die meist so schön verlebten Weihnachtsferien. Aus der Kindheit ragt als erste die aus dem Schreckensjahr 1848 hervor. Die schweren Sorgen meiner Eltern waren vorüber, aber lang hatten sie geglaubt, vielleicht den Kindern in Armut bescheren zu müssen, das veranlaßte sie auch, die Kinder zu prüfen. Als es klingelte, stand nur ein einzig Bäumchen da mit bescheidenem Schmuck und wenigen kleinen Geschenken, aber die Kinder merkten es gar nicht und waren zufrieden. Ein goldenes Briefchen am Baum belehrte sie, daß sie besseres suchen durften. In alle Zimmer wurde eingeguckt und in einem ganz entlegenen eine wahre Märchenbescherung gefunden. Ich sehe noch meine Puppe mit wirklichem Haar im grünen Kleid und daneben noch ein rosa und ein blaues, ein sehr grobes Plackbilderbuch, auf der Mitte der letzten Seite ein einziges ganz kleines Männchen! Ich sehe auch noch die schöne gotische Kirche, von innen beleuchtet, die der Hausfreund Carl Becker künstlich geschnitten hatte. Später folgen dann die Weihnachten, wo aller Reichtum und alle Schönheit von Geschenken lagen und tiefer Schmerz und heiße Sehnsucht nach Kinderfreuden mich erfüllten. Und endlich! Da sehen zwei liebe kleine Augen träumerisch in die Lichter des Baumes, im nächsten Jahr jubelte schon das Kind über sein Püppchen und lief hinter dem Schäfchen her, dann waren zwei Kinder, dann drei, vier, fünf und zuletzt sechse!- Und wie war der Vater dann immer mit den Kindern, wie dachte er immer neues aus und arbeitete selbst daran. Man denke nur an das Häuschen, das er gebaut, die Seligkeit aller Generationen, die Bühne für so manche Kindervorstellung. Man denke auch an das heitere Bild, als der erste große Ziegenbock für Ferdinand in den Weihnachtssaal auf den Hinterbeinen, prächtig aufgezäumt, hereinspazierte, die alte Naatje hinterdrein mit Schippchen und Besen! Nur einmal war ich von meinem Mann getrennt am Heiligen Abend, als seine Schwester Sophie, die Hüterin seiner Kindheit, starb. Und als wir zum letzten Mal feierten, da war es unter der schweren Wolke der ewigen Trennung. Aber er lebt weiter in uns, und seit die Feier in Gelnhausen ist, wird seiner stets in tiefer Dankbarkeit gedacht.- Noch anderes bringt Erinnerung zurück, das reiche Leben mit so vielen Freunden, die Liebe und das Vertrauen, das ich so vielfach genossen, manches dahin-geschwundene, reiche Glück lebt wieder auf, auch großes, tiefes Leiden, tragisches Schicksal, das wir, mein Mann und ich mit getragen und manchmal auch haben lindern können. Zuweilen gedenke ich auch der Reisen, die ich gemacht. Erst ein halbes Jahr alt, fuhr ich den Rhein herauf und wenn es zu Land ging, prangte die Wiege oben auf dem Wagen, die Großeltern in Frankfurt und Gelnhausen freuten sich über mich, und die 91 Jahre alte Urgroßmutter Schöffer trug mich freudestrahlend umher und segnete mich. In jedem Jahr fast reisten wir nach Deutschland, hielten uns auch am Rhein einige Tage auf, waren in der Pfalz und in der Schweiz mit den Eltern. Nach der Hochzeitsreise folgte in jedem Sommer eine oder gar zwei Reisen und einmal brachten Carl und ich zwanzig Millionen Gulden nach Paris; damals schenkte mir Baron James Rothschild ein schönes Armband und lud uns zu Tisch, und durch seine Vermittlung sahen wir in nächster Nähe den Kaiser der Franzosen, seine bildschöne Gemahlin am Arm und hinter ihm auf dem Arm der Wärterin den kleinen Prinzen Lulu freundlich mit den Händen uns zuwinkend. Oft und viel besuchten wir die Verwandten und waren besonders häufig in Darmstadt, so auch im Jahr 1862 mehrere Wochen und die ganze Weihnachtszeit nach dem toten Söhnchen. Innige Freundschaft verband mich besonders mit dem Vater meiner Schwägerin, dem alten Geheimrat Maurer, einem bedeutendem und liebenswürdigem Mann. Es war ein Verhältnis wie zwischen Goethe und Bettina, und waren wir auch keine so großen Geister, ebenso beglückt hat es uns doch und über 300 Briefe haben wir gewechselt.

Als die Kinder kamen, wurde das Reisen weniger, nur führte es uns jedes Jahr in die Villa nach Gelnhausen, dann reisten wir auch mit den Kindern, bis zuletzt ich noch einmal mit meinem alten Mann einen vergnügten Ausflug nach Heilbronn, Schwäbisch-Hall und ins schöne Cromburg machte. Es war die letzte gemeinsame Reise.

Und während so mein Leben in Freude und Leid dahinfloß, was alles hat sich in der großen Welt, in der man doch auch lebt, zugetragen? Was alles sah ich kommen und gehen! In Preußen mit Bewußtsein sah ich vier Könige, in Deutschland drei Kaiser. In Frankreich sank Louis Philippe vom Thron, die (II.) Republik folgte, das Kaiserreich und wieder die (III.) Republik. In Amsterdam sah ich den Einzug Wilhelms II. (von Oranien) mit seiner ersten Gemahlin und vor ihnen zwei blühende Knaben, der eine starb jung, der Kronprinz als Mann, ein dritter Erbe blieb Idiot, bis auch er dahinsiechte. Ich sah den Einzug des Königs mit seiner zweiten Gemahlin, ein freundliches zierliches, blühendes Wesen, dem man die spätere gewaltige Fülle nicht ansah, und ich war auch dabei, als die jetzige junge Königin einzog. In Rußland sah ich noch Nikolaus auf dem Thron, erlebte die Ermordung Alexanders III. und machte alle Nöte des jetzigen Kaisers mit. Und alles was in anderen Ländern geschah, interessierte mich.

Die Fülle der Geschichte ist zu groß, sie alle auch nur zu berühren. Ich brauche nur die vielen Kriege zu erwähnen, die in diesen 70 Jahren den Erdkreis erschütterten. Aber gedenke ich der Erfindungen, die in dieser Zeit gemacht wurden, dann wird mir warm ums Herz, und ich fühle es: ich lebte doch in einer großen Zeit, einer Zeit, die nicht nur in der Technik Unglaubliches geleistet, sondern auch die Menschen zu höherer Würde erhoben hat.

Und wenn es für mich Abend geworden ist und vielleicht die Nacht bald kommen wird, so hoffe ich bis zuletzt das Gefühl zu behalten, das meine Mutter erfüllte und das sie aussprach und das auch eins der letzten Worte meines Mannes war:

„Das Leben ist doch schön gewesen!“

Letztes Wort an meine Kinder

nach meinem Tode zu lesen.
Gelnhausen, 29.7.1907

Liebe Kinder!

Wenn Ihr diese Zeilen lesen werdet, bin ich nicht mehr! Welch ernstes, inhaltsschweres Wort! Ihr werdet traurig sein, wenn ich geschieden bin bei verhältnismäßig noch frischer Geisteskraft, vielleicht auch erleichtert, wenn schwere Leiden, vielleicht gar Seelenstörungen vorangegangen sind. Auf alle Fälle aber sollt Ihr noch dieses Wort des Dankes finden, für die viele Liebe, die Ihr mir immer wieder aufs Neue bewiesen habt und die meinem Leben Inhalt und reiches Glück gegeben hat.

Ich bin eine glückselige Frau und Mutter gewesen und viel Köstliches habe ich erfahren und was schwer war und oft nicht zu ertragen, es wurde alles wieder überwunden durch die Kraft eines warmen Herzens, das mir die Natur mit- gegeben hat. Es ist etwas Wunderbares um das menschliche Herz. Immer findet wieder ein neues liebendes Wesen darin Platz, so vielen es auch schon Raum gab und so umfaßte es Euch alle, Euch Kinder und Schwiegerkinder und Enkel; ein jedes ist mir teuer und ein beglückender Besitz. Trauert um mich, Ihr Kinder, ein Mutterherz zu verlieren ist ein großer Schmerz, aber trauert nicht lange. Wendet Euch bald wieder frisch und froh dem Leben und Euren Pflichten

zu. Wir, die vor Euch waren, wir mußten durch das alles auch durch und auch uns war es oft, als sei die Sonne für immer erloschen, aber sie kam wieder und strahlte im alten Glanz. Haltet Eure Nerven hoch, Ihr Töchter, und gebt dem Schmerz nicht zu lange Raum. Wohl sind wir alle den ehernen Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen. Wir sollen es bedenken, aber in Treue und Ausdauer uns dem hingeben, was dazwischen liegt, damit unser Wirken und Streben nicht erlahmt und wir weiterbauen am Glück unserer Kinder und unserer Nächsten. Und glaubt mir, wenn auch Ihr älter oder alt geworden, es gibt kein größeres Glück als das, andere Glücklich zu sehen. Wer das erreicht, sieht ohne Schmerzen die Jugend und die Jahre schwinden, er hat ein neues Fundament für sein Dasein gefunden, – entbehrt nicht mehr und verzichtet gern auf die Freuden jüngerer Jahre. Ihr sechs Geschwister, schließt Euch nun umso inniger an einander an, auch wenn das Leben sich noch so sehr verzweigt, werdet nicht kalt, helfet Einer dem Andern, wo es möglich ist! Verzichtet nicht darauf, Euch wiederzusehn, Euch immer wieder zu finden in aller teuren Erinnerung an Vergangenes, Euch neu Erlebtes mitzuteilen.

Lebt wohl, Ihr Lieben alle, Ältere, Junge und ganz Kleine! Wie mein Segen Euch bisher begleitet hat, so gehe er mit Euch Euer Leben lang und sei Euch allen dereinst ein friedevoller, sanfter Heimgang beschieden!

Eure Mutter und Großmutter

Julie Becker-Schöffer.


Bert Böhmer, September 2001

Nachwort eines Bewunderers

Die Lektüre dieses Lebensberichts meiner Urgroßmutter hat mich immer wieder beim Lesen fasziniert. Was für eine Entwicklung hat diese 17jährige junge Frau an der Seite meines Urgroßvaters vollzogen! Aus einem gut erzogenen, aber doch nur sehr sporadisch gebildetem Mädchen wurde eine durch das Schicksal gebeutelte, reife, schöne Frau. Aufgewachsen im Hause ihres Vaters, eines Kaffeekönigs, wie sie einmal sagt, in der Amsterdamer Heerengracht, dann als junge Ehefrau des Rothschildbankiers Carl Becker von 1855-1882, dann doch der Umzug nach Frankfurt, weil die väterliche Villa und Sommerresidenz in Gelnhausen schön nah war. Sie hat nie Not leiden müssen im materiellen Sinne, hatte Dienstboten und Erzieher für ihre sechs gesunden Kinder nach vorherigen acht (!) Fehlgeburten. Die freund-schaftliche Bindung an den Amsterdamer Hausarzt muß schon durch die Eltern sehr groß gewesen sein, daß sie dieses Ungemach auf sich genommen hat. Als dann der achte Versuch wiederum scheiterte, begab sie sich in die Obhut der Würzburger Medizinischen Fakultät, reiste mit ihrem Mann nach Italien; und ein Jahr später, nach 9 Jahren Ehe kam endlich das langerwartete erste Töchterchen, bald gefolgt von meinem Großvater Ferdinand und einer weiteren Tochter Emma. Man kann sich so richtig den Stoßseufzer vorstellen, den die glücklichen Eltern ausstießen. Die zweite Serie folgte dann (nach weiteren drei Fehlgeburten!) 1876 mit Carl, 1878 mit Frida und 1879 mit Alexander.

Die Entwicklung der Technik schritt in diesem 19.Jahrhundert rasant voran: so bekam allmählich die Eisenbahn und die Fotografie sowie das Telefon eine zunehmende Bedeu-tung. Die Medizin machte gewaltige Fortschritte gegen Ende des Jahrhunderts; ihren Kindern blieb es erspart, so lange auf die Kinder warten zu müssen, so zu leiden. Ich verweise nur auf die Krankheits berichte.

Aber auch der Krieg spielte eine nicht unwesentliche Rolle im Leben der jungen Frau: sowohl 1866 als auch 1870 war das Haus voller Einquartierung – und die junge Frau genoß es und litt im gleichen Atemzuge darunter. Die Söhne studierten alle Jura bis auf den Jüngsten, der Orientalist und Professor, später auch Kultusminister in Preußen wurde. Leider hat Julie Becker ihren Lebensbericht 1907 enden lassen, obwohl sie erst 1917 starb: gewiß hat es ihr angesichts des Grauens des Ersten Weltkrieges die Sprache verschlagen. Zwei ihrer Schwieger-söhne waren Berufsoffiziere, wobei die Älteste, Dora, 1885 den späteren General Riedel ehelichte, Emma 1892 den späteren Oberst von Blumenstein. Er war es auch, der Unruhe ins Haus brachte durch seinen freiwilligen Einsatz in China 1899/1900. Die Familie war entsetzt über diese Entscheidung, denn die junge Frau blieb mit drei Kindern zurück, wohlbehütet von der Großmutter.

Ferdinand Becker mit Else, Ully – und Horst 1920 in Gelnhausen
Ferdinand Becker mit Else, Ully – und Horst 1920 in Gelnhausen

Interessant verlief auch die Karriere ihres Mannes Carl. Früh zum Kaufmann bestimmt von der Familie, weil die Brüder sich dazu zu fein dünkten und studierten wie der Vater, mußte er, der Jüngste, sich dem Wunsche der Mutter fügen. Er lernte in einem Tuchgeschäft in Frankfurt, ging nach seiner Lehre nach Paris, mußte dem Vater zu Hilfe eilen und Hilfslehrer spielen, obwohl er das gar nicht mochte, und nahm das Angebot von der Firma Rothschild in Amsterdam an, wo er als kleiner Commis begann und nach 10 Jahren im Jahre 1852 Bankier-Chef wurde gemeinsam mit einem Partner. Dazu erhielt er eine Million Spielgeld. Mit diesem Pfunde konnte er zu eigenen Gunsten „wuchern“, so daß er sich nach zwanzig Jahren in den Ruhestand zurückziehen konnte. Natürlich war dieser Ruhestand keiner, aber es blieb doch wesentlich mehr Zeit für die Familie, die sich ja dann auch in den 70er Jahren verdoppelte.

Im Jahre 1897, als meine Mutter Ully geboren wurde, starb Carl an Krebs und mußte in seinen letzten Tagen furchtbar leiden, litt an Halluzinationen, Verfolgungswahn. Es muß für die Ehefrau schrecklich gewesen sein, dieses Mißtrauen des Partners zu überstehen.
Mit viel Tapferkeit und der Unterstützung der Kinder überwand sie den Tod des Gatten. Aber die Italienreise 1898 an jene Stätten, wo sie mit Carl gewesen war, konnte nicht mehr jenen Charme der ersten von 1863 haben …

Kirche von Osterholz
Kirche von Osterholz

So bleibt das Bild einer Frau, die fasziniert war vom Leben ihrer Zeit, die mit ihr gewachsen ist zu fruchtbarer Reife. Sie erlebte hautnah die Kriege um die deutsche Einheit, und gewiß wurde sie auch schon zu einer Deutschen in Holland, wo sie zu den „Moffen“ zählte und darunter litt – nicht zuletzt auch durch den dadurch nötigen Ein-tritt in die Frankfurter Pension 1852, jenem Jahr, in dem Carl procura erhielt in Amsterdam. Sie war keine Preußin, doch wurde Hessen-Nassau 1866 ja von Preußen annektiert, und der Freien Reichsstadt Frankfurt erging es nicht besser. Deutschland ging in Preußen auf bis auf wenige Ausnahmen südlich des Mains.

1870 spielte auch der Telegraf eine gewisse Rolle, denn Carl wollte seine Frau und die Kinder ins neutrale Holland holen, telegra-fierte jedoch vergebens, da das Militär die Leitungen beschlagnahmte. So mußte er sie persönlich holen, wobei es mit der Eisenbahn noch nicht soweit her war und die Kutsche helfen mußte. Immerhin hatte die Villa schon 1868 eine zentrale Heizung, was für diese Zeit außer-gewöhnlich war; doch hatte das Personal gewisse Anlaufschwierigkeiten, sie zu bedienen. Schließlich machte der Jüngste, Alexander, 1905 seine Hochzeitsreise bereits mit dem Automobil. Man sieht, die Kinder gingen mit der Zeit – und das freute dann auch wieder die Mutter, man merkt das an ihren Schilderungen.31


1 Auf dem Linsenberg war das Elternhaus Carl Wilhelm Ferdinands

2 Die Devrients sind eine berühmte Schauspielerfamilie des 19. Jahrhundert. Hier handelt es sich wohl um den Sohn Emil Devrients (+1832). Die Nachkommen sind heute durch Emma geb. Michaelis mit dem Herausgeber verwandt; sie heiratete Walter D., einen Diplomingenieur, dessen drei Kinder wiederum alle sehr künstlerisch begabt sind. Ursel studierte Musik, Hanna Kunstgeschichte (mit beiden ging der Hg. in eine Klasse zwischen 1948-51) und Joachim ebenfalls Musik.

3 Ernest Renan,1823-1892, Orientalist und Schriftsteller. Sein Hauptwerk ist die Histoire des origines au Christianisme in 8(!) Bänden

4 Conrad Heinrich Schöffer, 1815-1878, Kaufmann und Konsul in Amsterdam, verheiratet mit Dorothea Catharina Hofmann, 1818-1893

5 Emma Schöffer verh. Rehbock 1842-1902?

6 Heinrich Schöffer *1840, Kaufmann in Hamburg und Liegnitz

7 Carl Schöffer 1841 –xxxx, Kaufmann in Amsterdam

8 Im Kladderadatsch heißt kurz vor dem Krieg in einer kleinen Szene aus der Wirklichkeit:

Exzellenz: Nun, mein Sohn, freust du dich auf einen tüchtigen Krieg?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Ich hoffe, Jungens, ihr werdet euch alle gut schlagen!
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Hast du ein Herz für dein deutsches Vaterland?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Du bist wohl ein Pommer?
Füsilier: Ich sein Litauer, sprech wenik Deutsch!

9 Eine Formulierung des konservativen Abgeordneten Hermann Wagener bei der Debatte über den Haushalt des Kriegsministeriums im preußischen Abgeordnetenhaus am 10.12.1866

10 Bismarck erstrebte die Führung Preußens im Deutschen Bund mit oder gegen Österreich. Nach dem Erfolg im Deutsch-Dänischen Krieg kommt es zur Besetzung Schleswigs (P) und Holsteins (Ö) durch Preußen und Österreich – und auch bald zum Streit Napoleon III. hofft zu profitieren und begünstigt Preußens Bündnis mit Italien.
1866 kapituliert das bundestreue Hannover nach der Schlacht von Langensalza, während Moltke bei Königgrätz siegt. Österreich verliert Venetien; Deutscher Bund wird aufgelöst; Preußen annektiert alle gegnerischen Staaten nördlich der Mainlinie außer Sachsen und Hessen-Darmstadt (Verwandtschaft zum Zaren) und Oldenburg.

11 Hessen-Nassau, in dem Gelnhausen lag, ebenso wie Frankfurt wurden preußisch; erstaunlich, dass die Verfasserin keinerlei Bedauern zeigt. Im Gegenteil!

12 Über die Reichsgründung und ihre Folgen für die deutsche Politik bis 1945 brauche ich mich nicht weiter auszulassen: die Einheit, so wurde deutlich, hatte über die Freiheit gesiegt – ganz anders als die Revolutionäre von 1848 es erstrebten. Viele gingen damals in die USA (Carl Schurz), in die Schweiz, andere passten sich an wie Richard Wagner, der zum Hofkomponisten Ludwigs II. von Bayern mutierte.

13 Friedrich Adolf Trendelenburg, Philosoph, 1802-1872. Vertreter der neuaristotelischen Philosophie an der Berliner Universität

14 Hans Riedel *1856

15 Emma Schöffer 1868-1922

16 Ernst von Blumenstein brachte es bis zum Oberst

17 Zilli und Lilli von Blumenstein

18 Else Bieder 1876-1940

19 Ferdinand Becker 1866-1947

20 Harry Becker 1895-1917

21 „Ully“ Julie Becker verh. Böhmer 1897-1993

22 1900 fand der „Boxeraufstand“ in China statt. Internationale Truppen unter dem Befehl des deutschen Grafen Waldersee eroberten Peking Kanzler Bülow forcierte seinerzeit die deutsche „Weltpolitik“, während Wilhelm II. bei der Verabschiedung der Truppen in Bremerhaven seine berüchtigte „Hunnenrede“ hielt.

23 Der jüngste Becker-Sohn 1879-1939, Kaufmann in Frankfurt/Main

24 Frida Michaelis geb. Becker 1878-1933 ist die Mutter von Emma Michaelis verh. Devrient in Weimar

25 Otto Michaelis war Pfarrer, bis 1918 in Metz, dann in Weimar Am Jakobskirchhof! Nach 1945 Oberkirchenrat in Franken

26 Bischofsstadt in Lothringen, 1871 annektiert und mit dem Elsaß als Reichslande verwaltet bis 1911, dann Selbstverwaltung

27 Carl Becker 1876-1933. Orientalist, Professor in Hamburg,Bonn und Berlin. Kultusminister in Preußen 1925-1930

28 Hedwig Schmid aus Augsburg. Vater Schmid war dort Bankdirektor

29 Posen kam durch die 3. Polnische Teilung 1795 an Preußen und wurde Südpreußen genannt. Heute hat Posen über 500 000 Einwohner, ist Sitz eines Erzbischofs und einer Universität

30 Thorn liegt in Pommern-Kujawien an der Weichsel, heute über 200 000 Einwohner, Bischof, Universität und Offiziershochschule

31 Der Großvater verwaltete die Villa noch bis den 2.Weltkrieg hinein, dann verkaufte er sie an die Diakonischen Werke, die dort heute das Burkhardt-Haus führen. Der Familie Schöffer-Becker gehört nur noch der Alte Friedhof am Stadtpark.

Hellmut Becker

VI.HA Nachl. C. H. Becker. Nr.6292 (Briefe an Sohn Hellmut 1921-32)

171. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut. Berlin, 14.4.1921

(Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn Hellmut,

Über Deinen Geburtstagsbrief habe ich mich sehr gefreut, und ich danke Dir herzlich dafür. Es war der erste Brief, den ich bekam und war deshalb doppelt willkommen. Besonders freute mich, daß Ihr eine so gute Reise gehabt habt und daß es Dir in Salem so gut gefällt. Danke auch Fräulein Köppen vielmals für ihren ausführlichen Brief und ihre freundlichen Glück-wünsche. Er war mir sehr wertvoll, denn nun haben wir doch, wenn wir alle Eure Nachrichten zusammenfassen, ein ziemlich deutliches Bild von Eurem Leben. Am liebsten käme ich selber hingereist und sähe mir die Sache einmal an; aber ich fürchte, gar so bald wird das nicht möglich sein, und es wird wohl Sommer darüber werden. Dann bist Du schon ein alter Salemer und kennst Dich so gut aus, daß Du Deinem Vater alles zeigen kannst. Ich möchte nur gern wissen, was Du morgens früh nach dem Frühstück machst, bis der Unterricht anfängt. Das mußt Du uns einmal erzählen, wenn Du wieder schreibst.

Mein Geburtstag verlief sehr schön. Die Tulpe von Deinem Beet prangte in einer Vase zwischen Torte, Schlafanzug, Bilderrahmen von Walter, Waschlappen von Hertha und einem schönen Gemälde von Herrn Siegel, der sich im übrigen jedesmal nach Dir erkundigt und Dich schönstens grüßen läßt. Ich kam erst zum Abendessen nach Hause, und dann war Herr Richter bei uns eingeladen. Es gab sehr gut zu essen, beinahe so gut wie in Salem, nur Du hast uns gefehlt; aber wir haben Deiner mit Liebe gedacht. Mittags hatten mich Herr und Frau Wende mit der Inge besucht, die mir sogar ein Kränzchen Vergiß-mein-nicht mitbrachte, während mir ihre Mutter einen Kuchen gebacken hatte. Dann tranken wir alle zusammen in meinem Dienstzimmer Schokolade, und die Inge hat mir gesagt, ich solle Dich besonders von ihr grüßen.

Im Garten ist alles sehr schön grün geworden, sonst aber ist alles unverändert. Man berät im-mer noch, ob wir einen neuen Minister bekommen sollen. Wahrscheinlich aber bleibt auch hier alles beim Alten.

(CHB)

 

172. C.H.B. an Sohn Hellmut, z.Z. Hoyern bei Lindau am Bodensee, Verbandskrankenhaus. Berlin, 10.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn!

Da Dir meine mit der Hand geschriebenen Briefe Schwierigkeiten machen, will ich meine herzlichen Grüße an Dein Krankenlager in Maschinenschrift abfassen, damit Du ihn bestimmt ohne fremde Hilfe lesen kannst. Wir sind sehr glücklich, daß alles so gut abgelaufen ist und sind Deinem guten Pflegevater aufrichtig dankbar für die liebevolle Art, mit der er Dich be-treut hat. Ich bin sicher, daß es Dir unendlich wertvoll gewesen ist, daß er und die gütigen Damen Dich geleitet haben und Dich jetzt so nett besuchen. Wir freuen uns besonders, daß die Nieren ruhig geblieben sind. Vielleicht wirst Du nun in Zukunft auch diese Sache los werden. Jedenfalls ist es sehr erfreulich, daß Du Dich nicht mehr um Deinen Blinddarm zu sorgen brauchst. Möchtest Du recht bald wieder frisch und gesund herumspringen können. Ich freue mich schon sehr darauf, wenn Du nach Berlin kommst und wieder einmal die ganze Familie beisammen sein wird.

Bei uns regiert zur Zeit Hertha in der Küche und macht die wundervollsten Gerichte für ihren Vater unter der hohen Assistenz der Mutter. Manchmal muß ich das Menü bestimmen, weil den Damen immer nichts richtiges einfällt; dann gibt es natürlich immer meine Leibgerichte, und die Mutter ist sehr erfreut, wenn sie nicht selbst darüber nachzudenken braucht. Schade, daß Du all die kulinarischen Genüsse nicht miterlebst. Aber Du wirst Dich dann bei Deiner Ankunft davon überzeugen, daß Deine Schwester bereits eine perfekte Köchin geworden ist.

Von Walter haben wir lauter gute Nachrichten. Er schwimmt sozusagen im Völkerbundswas-ser und hat alle möglichen interessanten Leute kennengelernt. Zum Schluß will er noch zu Baums nach Lausanne und dann – denke Dir – noch 1 bis 2 Wochen nach Paris. Jedenfalls wird das seinem Französisch gut bekommen und habe ich es ihm gern erlaubt.

Hier habe ich neulich die Funkausstellung miteröffnet. Wir saßen in der prallen Sonne im Zylinder unter dem großen neuen Sendeturm1 und schwitzten fürchterlich. Gottseidank habe ich keine Rede halten müssen. Dann war ich drei Tage in Dresden bei der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, habe auch Deines Befehls gedacht und die Sixtina besucht. Ich war mit Herr Leist zusammen und mit Dr.Baum, dem Dresdener Kaplan, dessen Du Dich wohl noch entsinnst. Unsere Karte wirst Du erhalten haben. Wir haben auch eine große Auto-fahrt gemacht und sind stellenweise 120 km die Stunde gefahren. Ich war aber schließlich doch ganz froh, als wir wieder in Dresden waren. Wir hatten ein Kinderheim in der Provinz in der Nähe von Mittweida besucht, das die große Wohltäterin der deutschen Kriegsgefangenen, die bekannte Schwedin Elsa Brandström, unterhält.

In den nächsten Tagen werden wir mancherlei Gesellschaften haben. Für morgen abend ist das ganze Ministerium zu einer großen Abendveranstaltung zu Ehren des ausscheidenden Herrn Klotzsch eingeladen.. Du weißt doch, daß Herr Wende der Nachfolger des Herrn Klotzsch geworden ist. Am Dienstag kommt Rabindranath Tagore zu einem Frühstück von 15 Personen, an dem auch die Mutter und vielleicht Hertha teilnehmen werden.

Am 18. gehe ich dann auf Dienstreisen zum Naturforschertag nach Düsseldorf, zum Historikertag nach Breslau und zum Orientalistentag nach Hamburg. Da werde ich Dir wohl manche Karte schicken. Heute abend gehen Mutter, Hertha, Morsbach und ich zusammen in Kleists Amphitryon.

Grüße bitte allerherzlichst die Ottenberger Autoritäten und danke ihnen recht sehr für alles , was sie für Dich tun.

Ich umarme Dich in herzlicher Liebe Dein getreuer

(Vater)

 

173. C.H.B. an Hellmut Becker, z.Z. Haus Ottenberg, Hemigkofen am Bodensee, Württemberg. Berlin,17.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

ich danke Dir sehr für deinen schönen und inhaltsreichen und, wie ich sagen muß, fabelhaft gebildeten Brief. Natürlich hat Hebbel keinen Amphitryon geschrieben, sondern es ist Kleist, und ich habe mich im Diktieren geirrt, ohne es zu ahnen, daß Du mir so auf die Finger passen würdest. Hoffentlich kennst Du die übrige Literaturgeschichte eben so gut; dann wirst Du ein vorzügliches Abitur machen. Oder sollte eine der Damen geholfen haben?

Ich freue mich herzlich, daß es Dir wieder gut geht, und daß ich diesen Brief schon nach Ottenberg richten kann. Wir freuen uns alle schrecklich, wenn Du in absehbarer Zeit wieder zu uns nach Berlin kommst. Hoffentlich hat es Dir nicht zu sehr gefehlt, daß Mutter nicht gleich hingefahren ist, aber wir wußten Dich ja in guten Händen, und Mutter war hier augenblicklich so nötig, daß es besser war, sie blieb hier.. Wir leben weiter still und gemütlich, und es nicht allzuviel Amtliches los. Nur neulich ein Frühstück bei uns im Ministerium zu Ehren des indischen Dichters Rabindranath Tagore, der in langem grauen Gewand erschien, während seine Schwiegertochter in malerischer indischer Tracht ihn begleitete. Wir hatten die Herren Marcks, Meinecke, Einstein, Deissmann und einige andere Celebritäten geladen. Abends war dann großer Empfang durch in Berlin wohnende Inder, wo ich eine Rede auf Tagore halten mußte.

Die ganze Berliner Presse regt sich in diesen Tagen gewaltig auf über die Ernennung Tietjens zum Generalintendanten der staatlichen Opernhäuser. Du gehörst ja zu den wenigen Einge-weihten, die strenges Stillschweigen bewahrten, und es ist wirklich merkwürdig, daß mehrere Monate lang meine Pläne geheim blieben. Jetzt ist alle Welt überrascht, und im Grunde genommen, erfreut, aber man gibt es nur nicht so gern zu, weil man lieber selbst vorher mitgequatscht hätte. Immerhin ist die Aufnahme in der Presse sehr erfreulich, und ich glaube, daß wir nun endlich geordneten Verhältnissen im Berliner Opernwesen entgegen gehen. Heute abend gehen die Mutter , Hertha und ich in die Kroll-Loge in Cavalleria rusticana und Bajazzi. Außer Herrn Schlusnus wird der berühmte neue Tenor Pattiera singen. Wir sind natürlich sehr gespannt. Vorher trinke ich aber noch schnell einen Tee, zu dem ich Oskar Kochertaler erwarte, der mit frischen Nachrichten aus Genf kommt, wo er und Walter sehr vergnügte Tage zusammen verlebt haben.

Herr Benecke hat sich etwas am Fuß verletzt und muß mit hochaufgerichtetem Bein drei Tage still liegen. Er hält mir deshalb den Pressevortrag durchs Telefon.

Morgen abend beginne ich eine Periode der Reisen, und zwar gehe ich zunächst nach Düssel-dorf, wo ich Carola Lexis Blumenstein, vielleicht auch Ernst und Jochen sehen werde. Ich besichtige die Gesolei (?) und eröffne den Naturforscher- und Ärztetag. Dann fahre ich über Nacht via Berlin nach Breslau, wo der Denkmalspflegetag stattfindet, bin aber schon Don-nerstag abend wieder in Berlin, da mich der Herr Reichsverkehrsminister Krohne zu einem Diner zu Ehren von Sven Hedin eingeladen hat. Die folgende Woche gehe ich dann nach Hamburg und dann wieder nach Breslau; aber das ist noch Zeit bis dahin, und dann wirst Du ja auch schon beinahe wieder hier sein.

Nun muß ich schleunigst zum Tee. Leb wohl, mein lieber Jung, werde bald wieder ganz gesund. Ich grüße Dich von ganzem Herzen und bitte um freundliche Empfehlung an die Ottenburger Autoritäten.

Dein Vater

 

174. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut in Mer/Dep. Loir&Cher, chez M. Sémézies (Berlin?), 23.6.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Du hast den Wunsch geäußert, daß ich Dir einmal einen politischen Brief schreiben möchte. Ich bin aber nicht so sehr politisch, daß ich Dir wie früher immer das Neueste liefern könnte. Deshalb wirst Du Dich auch mit einigen anderen Nachrichten begnügen müssen. Wir haben Deinen Brief mit Freude zur Kenntnis genommen, zumal die Mutter ihn uns vorlas, die zur Interpretation schwieriger Handschriften offenbar eine natürliche Veranlagung besitzt. Sie ist übrigens soeben ins Krankenhaus abgefahren, nachdem sie glücklich den heißesten Tag abge-wartet hatte, den wir diesen Sommer erlebt haben. Ich sitze auf der Veranda, während ich dies diktiere, aber schon das bloße Diktieren bringt einen beinahe ins Schwitzen. Ich bin froh, daß Mutter jetzt in richtige Behandlung kommt, denn sie hatte doch immer wieder bis zur letzten Stunde gesundheitliche Schwierigkeiten.

Ehe ich es vergesse, zunächst die geschäftliche Mitteilung, daß ich soeben die Deutsche Bank angewiesen habe, Herrn Sémézies nochmals 600 Frans zu schicken. Den Überschuß nach Abzug seiner Spesen möge er Dir dann aushändigen. Ich bedauere sehr, daß Du es dort auch so heiß hast. Wir müssen bei den Bildern immer an Liebenwalde denken, nur etwas ins Südliche und Heißere übersetzt. Hoffentlich hast Du es dann an der See um so schöner. Wir sind der Meinung, daß Du Dich dort ja auch ganz gut einmal acht Tage aufhalten kannst.. An Bekanntschaften wird es Dir ja gewiß nicht fehlen.

Seit meiner Rückkehr von meinen fabelhaften Ehrungen in Ungarn habe ich eine ziemlich arbeitsreiche Zeit gehabt, da ich Kolleg nachholen mußte und es sich auch gerade so traf, daß ich für die betreffenden Stunden noch viel der Vorbereitung bedurfte. Diese Woche wird es besser, und nächste Woche ist es schon ganz gut, denn dann hören die Attaché-Kurse auf. Dafür beginnt dann die Vorbereitung auf Amerika. Einstweilen haben wir noch keine Kabinen, da alle Schiffe besetzt sind. Wir werden uns mit der Abreise ziemlich danach richten müssen, wo es noch Platz gibt. Vielleicht reisen wir schon am 13. August. Aber ich vermute, daß Dir das Walter geschrieben hat. Ich bin Samstag und Sonntag in Frankfurt(?Oder, unleserlich), wo es nicht nur ein Mozartmusikfest gab mit ausgezeichneten Vortrag von Frl. Trautmann, sondern wo dann auch in der Pause zu Ehren des Sonnenwendfestes ein Lampionumzug – man kann sagen Lampionreigen – der Studenten der Pädagogischen Akademie stattfand. Er gipfelte in einer allgemeinen Huldigung und Senkung der Lampions vor mir, wie ich überhaupt innerhalb 24 Stunden drei Reden halten mußte, obwohl ich doch eigentlich nur als Privatmann da war. Beim Abendessen hielt plötzlich der Sprecher des gerade stattfindenden Lehrer-Fortbildungskurses eine Ansprache auf mich, die ich beantworten mußte. Nach dem Konzert wurde um 12 Uhr eine köstliche Figur, darstellend den alten Typus des schlechten Lehrers auf einem großen Holzstoß verbrannt. Dem Scherz folgte dann aber der Ernst, und es war ein künstliches Johannisfeuer mit Gesängen und einem großen Ring von Hunderten von Menschen. Plötzlich mußte ich sprechen. Ich variierte dann das Thema „Wer die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant.“ Angestiftet hatte das natürlich Adolfus Reichwein, der mit einer Panne in Berlin doch noch zu diesem Fest eingetroffen war. Gestern, am Sonntag früh, machte der Kursus eine Morgenfeier, bei der sie mich am Abend gebeten hatten, einen Vortrag zu halten. So habe ich denn ¾ Stunden ohne Vorbereitung ihnen etwas über die Kulturkrise erzählt, und dann folgte ein wundervolles vormozartliches Cembalo-Konzert mit Orchesterbegleitung. Trotzdem war ich zum Mittagessen wohlbehalten zuhause, schwer ausge-lacht von der ganzen Familie, weil ich hatte sparen wollen und eine Sonntags-Fahrkarte genommen hatte, nun aber mit dem FD-Zug zurückgefahren war, weil die Fahrkarte keine Geltung mehr hatte.

Von der Innenpolitik kann ich Dir nicht viel erzählen, außer daß Hoepker-Aschoff offenbar definitiv abgelehnt hat. Er wird seinen guten Posten erst aufgeben, wenn er wirklich die Möglichkeit sieht, auch mit der Reichsreform vorwärts zu kommen. Danach sieht es aber im Augenblick noch nicht aus. Ich will sehen, daß ich ihn in den nächsten Tagen wieder einmal spreche.

Außenpolitisch habe ich Ungarn manches Interessante gehört. Von Königsmacherei ist die nüchterne derzeitige Regierung weit entfernt. Das falsche Bild in der Öffentlichkeit entsteht durch die Agitation der kleinen legitimistischen Gruppe im Zusammenhang mit gewissen kirchlichen Kreisen und mit greller Hintermalung durch die Todesangst der demokratischen Presse. Immerhin will Klebelsberg Bethlen veranlassen, einmal in einer öffentlichen Rede von den Königsmachern abzurücken. Man weiß in Ungarn viel zu genau, daß die Rückkehr Ottos 2den sofortigen Einmarsch der kleinen Entente zur Folge haben würde. Mein Besuch hat insofern günstig gewirkt, als er ein Gegengewicht geboten hat zu der wachsenden Mißstimmung gegen Deutschland3, das politisch und wirtschaftspolitisch Ungarn vollkommen in Stich läßt, während Italien4 – dazu ja auch besser in der Lage als wir – den Ungarn etwa 1/5 ihrer ganzen Ernte abkauft (allerdings zu Weltmarktpreisen; die Differenz muß durch Steuern bezahlt werden). Der Revanche-Gedanke ist in Ungarn ungeheuer stark. Kinder in den kleinsten Dörfern rufen einem als Gruß zu: „Hofft auf eine bessere Zukunft!“ Die ganze Jugend ist militärisch ausgebildet. Mit Stolz wurden mir die Holzgewehre gezeigt, die genau das Gewicht und die Größe richtiger Karabiner haben. Trotzdem weiß man genau, daß auch lokaler Krieg nur zu Ungunsten Ungarns ausschlagen könnte. Man rechnet aber mit der weiteren Isolierung Frankreichs, das dann nicht mehr in der Lage sein wird, die kleine Entente zu stützen. Dadurch werde eines schönen Tages eine politische Situation entstehen, die es den ungarfreund- lichen Mächten möglich machen würde, ohne Krieg durch einen politischen Druck eine Revision des Trianon-Vertrages herbeizuführen. In diesem diplomatischen Spiel rechnet man natürlich auch mit Deutschland, obwohl man genau weiß, daß Deutschland gar nicht in der Lage ist, einen Krieg zu führen. Immerhin kann man verstehen, daß unsere deutschen Politiker sich allen diesen Plänen gegenüber außerordentlich reserviert verhalten (im Original: verhält) und lieber eine Verständigung mit Frankreich erstrebt. Frankreich wird ja in den nächsten Jahren zeigen müssen, ob es wirklich eine europäische Politik zu machen bereit ist, die diesen Namen verdient. Bisher sieht es nicht danach aus. Jedenfalls wäre es mir sehr interessant, einmal meine italienischen Eindrücke mit den ungarischen zu vergleichen. Man bekommt dadurch etwas mehr Abstand von der einheimischen Politik.

Nun aber Schluß für heute, mein lieber Jung’! Ich grüße Dich von Herzen. (CHB)

 

175. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut, z. Z. Les Sables d’Olonne, Vendée. (Berlin?), 10.7.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Ich muß Dir doch einmal davon erzählen, daß ich mich mit Deinem Freunde Billie so vorzüg-lich verstanden habe. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte ich ihm gesagt, der dürfte mich auch einmal besuchen, und so kam er denn einmal zum Tee, von dem wir Dir eine Karte schickten. Wir waren aber beide sehr verhetzt, und da er mir ausgezeichnet gefiel, lud ich ihn für ein paar Tage später zum Abendessen ein. So kam er dann. Wir aßen auf der Veranda zu Nacht.. Walter zog sich nachher zurück, und dann haben wir beide bis gegen ½ 12 Uhr eine wirklich wundervolle Unterhaltung miteinander gehabt. Ich kann Dir nur von Herzen zu diesem Freun-de gratulieren. Er ist nicht nur äußerlich, er ist auch innerlich älter als Du und von einer er-staunlichen Reife und Besonnenheit des Urteils. Seine Frühreife ist natürlich auf seine jüdi-sche Herkunft zurückzuführen. Aber er hat gerade diesen Grad jüdischer Intellektualität und Wachheit, der noch angenehm ist, ja einen besonderen Reiz verleiht. Seine Intellektualität wird gebändigt durch sein starkes künstlerisches Gefühl. Aber er lebt nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Sphären des emotionalen Lebens, im Religiösen und im Menschli-chen. Die Art, wie das alles bei ihm harmonisch neben einander steht, wie Selbstbewußtsein und Reife sich neben Bescheidenheit und Jugendlichkeit paaren, ist wirklich erstaunlich. Er ist ein höchst erfreuliches Geschöpf, und ich habe meine helle Freude an ihm gehabt. Er war fabelhaft aufgeschlossen, charakterisierte Salem und besonders Hahn mit Worten, die fast ich hätte gebraucht haben können.. Weißt Du, er hat etwas so Wissendes bei aller Diskretion und etwas Herzliches bei aller Zurückhaltung. Ich merkte sehr bald, daß irgend ein älterer Freund auf ihn eingewirkt haben müsse, und dann erzählte er mir von Herrn Frommel. Beim Ab-schied meinte er, ob ich nicht mal Herrn Frommel empfangen wolle. Ich hielt mich etwas zurück, weil ich mich nicht in diese Beziehung einmischen wollte. Hernn Frommel ging es ebenso; doch habe ich schließlich Billies Wunsch erfüllt und Herrn F. gestern in der Deutschen Gesellschaft empfangen. Das war nun eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Herr F war auf mich geladen wie noch selten einer von der Jugend. Er hatte ungefähr alles von mir gelesen, und es hatte ihn entscheidend beeinflußt. Wir haben uns gleich ganz fabelhaft ver-standen, so gut, daß ich beschloß, ihm einen meiner jetzt sehr kostbaren Abende zu opfern und ihn für heute Abend zum Abendessen eingeladen habe. Er reist dann allerdings ebenso wie Billie in den nächsten Tagen fort, und wenn wir uns noch sprechen wollten vor Amerika, so mußte es in diesen Tagen sein. Du kennst ihn ja auch und hast ihm offenbar sehr gut gefal-len. Ich finde ihn einen hochbegabten, ungewöhnlich sympathischen Menschen, der nur mit seinen 28 Jahren endlich ein Examen machen sollte. Ich habe ihm das gleich sehr gründlich gesagt, und ich glaube, daß dieser Appell etwas nutzen wird. Ich nehme an, daß Dich das alles interessiert. Deshalb erzähle ich es Dir so ausführlich.

Mutter geht es Gottlob etwas besser. Sie ist gestern sogar im Plesch’schen Garten spazieren gegangen und hat auch heute Morgen sehr vergnügt telefoniert. Sie scheint jetzt über den Berg. Sehr schwierig ist es nur, eine genügende Ferienreise für sie mit den verschiedenen Terminen unserer Heimkehr rep. Abreise in Übereinstimmung zu bringen. So meinte sie, unter allen Umständen hier sein zu müssen, wenn Du zurückkämst. Ich hielt das für total überflüssig, da ich der Meinung bin, daß Du auch noch 8 Tage später alles genau so gut erzählen kannst. Dann müßte sie gleich nach dem Verlassen des Krankenhauses abreisen.

Ich habe viel zu tun und komme nur schwer an meine amerikanischen Vorträge. Viermal die Woche spiele ich Tennis mit Werner früh von 8 bis 9 Uhr. Er steht mir ungefähr gleich, wenn ich ihn auch bisher geschlagen habe. Aber er macht eigentlich immer nur lange Bälle, und er hat einen höchst anständigen Schlag und ist schnell und gewandt. Er ist ein lieber Kerl, und ich mag ihn wirklich gern. Aber es ist manchmal schwer, Funken aus ihm zu schlagen. Er hat so eine merkwürdige Mischung von Unsicherheit und knabenhaftem Hochmut. Er ist skep-tisch und es fehlt ihm die richtige Gläubigkeit, ohne die aber nun einmal im Leben nichts Großes zu leisten ist. Ich gebe mir sehr viel Mühe mit ihm, trinke jeden Montag nach meiner Vorlesung mit ihm Tee, kurz wir sind ganz befreundet, nur sorge ich mich manchmal, ob ein starker Mensch aus ihm wird. Vorgestern Abend hatte ich die ganzen Attachés zu einer Bowle eingeladen. Hertha und Walter unterstützten mich. Es war sehr nett und dauerte bis nach 12 Uhr. Der bei uns zwei Nächte wohnende Albrecht Dieterich, der ältere Bruder von Hermann Dieterich, Salem, der Sohn unseres alten Heidelberger Nachbarn und Kollegen, nahm auch daran teil.

In Sachen K.W.G5. wird furchtbar viel hinter den Kulissen geredet und intrigiert. Ich halte mich von allem fern und stehe der Sache außerordentlich kühl gegenüber. Wenn es das Schicksal will, werde ich schon Präsident werden, und wenn nicht, ist es gewiß besser für mich, ich werde es nicht. Da ist die Gläubigkeit, von der ich vorhin sprach und die nichts mit Indolenz und Apathie zu tun hat. Glum und Schmidt-Ott haben seit Jahr und Tag die rheinische Industrie so gegen mich aufgehetzt, daß dieser Samen natürlich jetzt aufgeht und diese Kreise unbedingt gegen mich sind. In einer halben Stunde der Unterhaltung ließe sich so etwas natürlich beseitigen., aber ich kann eben nicht herumreisen und die Leute aufsuchen. Braun, Grimme und Richter haben sich sehr anständig benommen. Auch Landé gibt sich rie-sige Mühe. Höpker läuft herum; kurz und gut, es geschieht schon einiges. Trotzdem ist wahr-scheinlich, daß zunächst Herr Planck gewählt wird, der als Nobelpreisträger und Sekretär der Akademie und als Naturwissenschaftler ja eigentlich der Gegebene wäre. Aber er ist 72, und sein Präsidium bedeutet natürlich die Allmacht Glums. Leider ist Harnack zu früh gestorben, und das Ressentiment gegen mich als Vertrauensmann der Sozialdemokratie noch zu stark. Auf der anderen Seite kann ich es auch der Regierung wieder nicht übelnehmen, daß sie mich wohl vorschlägt, aber nicht so auf mir besteht, daß sie politische Schwierigkeiten davon hat. Schließlich weiß ich selber nicht, ob ich es mir wünschen soll. Die Freiheit vom Verwaltungs-betrieb, die ich augenblicklich genieße, ist so herrlich, daß ich sie gern noch einige Jahre genießen möchte. Auf der anderen Seite kann ich eine auf mich fallende Wahl auch nicht gut ablehnen. Wie die Sache also auch ausgeht, ich stehe ihr ohne Enttäuschung, aber auch ohne Begeisterng gegenüber. Wenn ich sie übernehme, dann entscheidet sich allerdings für mich der Weg, den ich weiterhin zu gehen habe. Dann möchte ich von diesem Punkt aus allmählich ein Reichskulturamt, möglichst als nichtpolitische Behörde schaffen, um ein späteres Reichs-Kultur-Ministerium6 vorzubereiten. Aber diesen Plan Deines Vaters bitte ich, in der Stille Deines Busens zu bewahren.

Es ist sehr nett, daß Walter jetzt wieder da ist. Dadurch bin ich nicht so allein, wenn wir uns auch nicht allzu häufig sehen. Er steht unheimlich früh auf, frühstückt schon um 7 Uhr, jeden-falls ist er immer schon fertig, wenn ich zum Tennis weggehe. Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder, und dann sage noch jemand etwas gegen den sittlich hebenden Einfluß des Landes.

Nun aber will ich diese endlose Epistel beschließen. Aber ich mußte Dir unbedingt die Ge-schichte mit Billie erzählen. Ich bin sehr neugierig, was er Dir darüber geschrieben hat. Er ist zwar, wie Herr Frommel sagt, weniger mitteilsam, aber ich fand das eigentlich persönlich nicht bestätigt. Jedenfalls freue ich mich herzlich, daß Du einen so netten Freund hast. (CHB)

 

176. C.H.B an Sohn Hellmut, Freiburg /Br.,  Johannisberg 25. (Berlin?), 25.4.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Zunächst begrüße ich Dich herzlich auf Deiner ersten Universität und wünsche Dir ein in jeder Hinsicht reiches und beglückendes Semester. Dann danke ich Dir für Deinen nachträg-lichen Geburtstagsbrief. Wir haben uns nicht weiter gewundert, daß Du den 12.April im Drange der Geschäfte vergessen hast. Bei der notorischen Unsentimentalität Deiner Eltern kommt es ja auf Termine und Daten nicht allzu genau an, wenigstens nicht bei Geburtstagen, wohl aber bei Verabredungen, wie ich sie jetzt mit Dir treffen möchte. Ich bin neugierig, ob Du ein ebenso guter Reisemarschall für Deinen alten Herrn sein wirst wie es Walter in Ame-rika war. Nur ist Deine Aufgabe erheblich einfacher. Meine Pläne stehen jetzt in sofern fest, als ich Freitag, den 8. Mai vormittags 10.21 Uhr mit dem Nachtzug von Berlin in Freiburg eintreffen werde. Sonnabend den 9. um die Mittagszeit möchte ich mit Dir nach Zürich fahren. Wir sind dort bei Frau Dr. Carola Escher-Prince, Rütistr.55, eingeladen. Ich nehme an, daß wir so etwa zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags dort sein werden. Am Sonntag dem 10. vormittags um 11 Uhr ist mein Vortrag und an ihn anschließend werden wir im Auto zu einem Lunch in die Umgegend auf eine andere Privatbesitzung fahren. Abends fahre ich dann mit dem Nachtzug nach München und Du nach Freiburg zurück. Da es Dich nur den Sonn-abend und Sonntag kostet, trage ich keine Bedenken, Dich für diese Zeit Deinem Freiburger Milieu, Freunden und Freundinnen zu entreißen.

Die schwierigste Aufgabe bei dieser Reise fällt Dir zu, nämlich meine Zeit in Freiburg so zu disponieren, daß ich nicht nur von Dir etwas habe, sondern auch mit Wolf Kühn, Dr. Baumgarten und Prof. Schacht zusammenkommen kann. Vielleicht gehst zu zunächst zu Dr. Baum-garten, der Dich bereits erwartet und der Dir sicher gut gefallen wird. Vielleicht könnte ich Prof. Schacht am Sonnabend Vormittag besuchen und den Freitag Nachmittag oder Abend bei Dr. Baumgarten sein. Dann würdest Du mich am Zug abholen, Wolf vielleicht zum Mittag-essen zu uns stoßen und dann das Programm so weiterlaufen, wie ich es eben entwickelte. Wie die besten Züge nach Basel-Zürich fahren, wirst Du dort auch leicht feststellen können. Prof. Schacht ist vielleicht jetzt noch nicht da, da er in Marokko war. Aber am 8. oder 9. ist er sicher in Freiburg. Die Adressen der beteiligten Herren sind:

  • Wolfgang Kühn, Zähringerstr. 3,
  • Dr. Baumgarten, Freiburg-Zähringen, Rötebuckweg 37,
  • Prof. Schacht, Stadtstraße 7

Wir haben mit großem Interesse und viel Mitleid von Deinem Dulderweg bis zum Finden einer konvenablen Wohnung Kenntnis genommen, und ich brenne darauf, Dein erstes selb-ständig gewähltes Heim genau zu besichtigen. Wir sehnen uns alle nach der Ankunft der Schreibmaschine, denn es war wirklich nicht leicht, Deine Briefe zu entziffern, wenn ich auch anerkennen muß, daß Du treu und redlich geschrieben hast.

Ich habe ja seit Deinem Abschied hier auch allerlei erlebt. In Davos war es ganz entzückend, und der Besuch bei Ulrich Noack in Zuoz, hoch über dem Ort, hatte einen unleugbaren Charme. Dann begann ich mein Kolleg mit über 40 Leuten im Kalifen-Kolleg und einem Dutzend Arabisten in den Übungen. Das letzte Wochenende war ich in Holland, wo ich in Rotterdam, im Haag und in Amsterdam Vorträge hielt, überall auf das reizendste von den deutschen Vertretern und den holländischen Wirten willkommen geheißen. In Amsterdam wohnte ich bei Rehbocks. Aber auch die Schöffer’schen Kusinen waren in meinen Vorträgen. Ich besuchte das Grab der Tante Emma und mein Geburtshaus. Auf der Rückfahrt machte ich ein paar Stunden in Dortmund Station, um den Schulrat Ernst Müller zu besuchen.

Hier haben wir seit gestern endlich etwas besseres Wetter, und langsam und scheu zeigt sich das erste Grün. Heute erwarten wir Hertha zu Tisch, die ich noch gar nicht gesehen habe, und Dienstag wird uns dann Mutter für einige Zeit verlassen. Ich finde diesen Ausflug sehr vernünftig, da ich gerade während des Monats Mai ja nicht nur in die Schweiz, sondern über Pfingsten auch noch nach England fahre, so daß die Mutter hier doch ziemlich einsam sitzen würde.

Ich fürchte, dieser Brief wird nicht mehr richtig zum Sonntag kommen. Aber er kann ja auch am Montag noch einen sonntäglichen Gruß übermitteln. (CHB)

 

177. C.H.B. an Sohn Hellmut in Freiburg. (Berlin?), 10.6.1931

(Maschinenkopie) (Eilbrief!)

Lieber Hellmut,

Auf der Fahrt nach Genf komme ich Freitag mit dem gleichen Zug durch Freiburg, mit dem wir damals nach Basel gefahren sind. Richte Dich so ein, daß Du mit einem Billet II. Klasse zu mir in den Zug steigst und mich nach Basel begleitest, wo wir ja zusammen zu Mittag essen könnten. Nach meiner Abreise könntest Du dann zurückfahren. Auf diese Weise hätten wir vielleicht 2 ½ Stunden zusammen, was doch sehr nett wäre. Ich könnte Dir dann alles erzählen und auch vor allem Deine englischen Pläne mit Dir besprechen. Ich habe nämlich heute Morgen einen Brief von Rolf bekommen, aus dem ich Dir den entsprechenden Passus abschriftlich beilege. Ich habe ihn auch an Mutter geschickt und bin der Meinung, daß wir es so machen sollten, wie Rolf vorschlägt. Was Dir evtl. auf Rolfs Farm in Gore bevorsteht,

darüber werde ich Dir Näheres mitteilen. Jedenfalls wäre es ganz anders als Dein bisheriges Dasein. Aber Englisch würdest Du fabelhaft lernen, und Ralph ist ein ganz entzückender Kerl. Über all das mündlich. – Hier alles wohl.

Mit herzlichem Gruß (CHB)

Anlage: C.H.B. an seine Frau Hedwig. (Berlin?), 3.6.1931

(Maschinenkopie)

Liebe Hedwig,

eben telefoniert mich der Vertreter des Temps, ein M. Lauret, an im Namen von Mme Keller-son (Foyer de la Nouvelle Europe, nicht zu verwechseln mit der Europe Nouvelle). Diese Dame, wohnhaft 2 Rue de Chézy in Paris–Neuilly, hat zwei Söhne von 16 und 18 Jahren. Sie behauptet, im vorigen Jahre mit uns in Verbindung gestanden zu haben zwecks Aufnahme von Hellmut. Ich kann mich der Sache nicht erinnern. In diesem Jahre hätte sie eine kleine Villa gemietet in der französischen Schweiz, 1400 m hoch, und möchte dort gern Hellmut für 6 Wochen haben unter der Voraussetzung, daß dann einer der Jungen einmal 6 Wochen mit Hellmut in Berlin sein könnte. Ich habe sofort gefragt, ob nicht vielleicht auch ein junges Mädchen in Frage käme und habe dabei an Maria Michaelis7 gedacht. Da ich die Vorge-schichte nicht kenne und auch nicht weiß, wie weit es mit Hellmuts englischen Plänen steht, schicke ich Dir in aller Eile diese Notiz mit der Bitte, jedenfalls der Dame ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Ich würde ja Frida gern den Gefallen tun, etwas für Maria zu erreichen. (CHB)

 

178. Karte von Hellmut Becker an seinen Vater. Heidelberg, 6.7.1931

Lieber Vater!

Heute Morgen langes Ausschlafen, vormittags solo Schloßbesichtigung, mittags mit Georg Kruse, einem Salemer, anschließend herrliches feines Baden im Neckar. Nachmittags Kolleg von Jaspers, spätnachmittags Spaziergang mit Bergsträsser. Heute abend wahrscheinlich Philosophenweg. Morgen will ich, wenn’s schön ist, nach Neckarsteinach mit der Bahn, zurück mit Motorboot. Morgens noch Kolleg von Radbruch8, abends eines mit Gundolf. Dann nach Hause.

Herzlichst Hellmut

 

179. C.H.B. an Sohn Hellmut. Berlin, 15.7.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

herzlichen Dank für Deine verschiedenen Karten aus Heidelberg. Ich freue mich sehr, daß Du es dort so schön gehabt hast.

Ich fahre Freitag Morgen wieder durch Freiburg und zwar um 10.07 Uhr. Es wäre nett, wenn Du mich wieder bis Basel begleiten könntest, da es wohl das letzte Mal vor China ist, daß wir uns sehen können. Einstweilen habe ich wenigstens noch die Hoffnung, daß die gegenwärtige Verwirrung nicht zu einer Zurückstellung Deiner wie meiner Auslandspläne führen wird.

Falls Du aus irgend einem Grunde nicht mitfahren kannst, komm jedenfalls an die Bahn, damit wir uns noch einmal sehen.

Hier alles wohl. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

180. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 25.7.1931

(Maschinenkopie) (Einschreiben!)

Lieber Hellmut,

Du wirst Dich gewundert haben, daß Du noch kein Geld erhieltest. Aber erst wollte es Mutter besorgen, und dann hat sie mich doch wieder darum gebeten. Ich schicke Dir deshalb einlie-gend 150 RM. Wenn das nicht genügt, schreibe mir sofort, damit ich Dir noch etwas schicke. Es ist nur im Augenblick nicht anhängig, Geld über den Bedarf hinaus abzuheben. Walter war ganz außerstande, sich stundenlang für Dich an die Sparkasse anzustellen, um schließlich 20 RM herauszubekommen. Es wird eben noch einige Zeit dauern, bis hier wieder alles in Ord-nung kommt. Da man aber auf der Bank über sein Gehalt disponieren kann, ist vorläufig alles gut, solange man wenigstens sein Gehalt bekommt.

Gestern waren wir alle sehr glücklich über Walters schönes Examen. Er hat mit sehr gut, also magna cum laude abgeschnitten, was bei einem Juristen schon eine ungewöhnliche Note ist. Seine Mitkandidaten kamen auch durch, und das Examen selbst war sehr angenehm. Der un-angenehmste Prüfer ist erkrankt und durch einen ihm genehmeren ersetzt gewesen. „Meine Generäle müssen Fortune haben!“

Hier ist göttliches Wetter. Ich diktiere das morgens auf der Veranda. Eben hat Hertha aus Werder9 telefoniert. Heute nachmittag wird sie hier sein. Morgen geht sie zu Sarres. Ich war gestern ganz allein, da der angesagte Frommel seine Ankunft auf heute verschob. Zum Rind-fleisch in der Suppe kommen heute außer Frommel noch Farkas, der auch Strohwitwer ist, und mein Schüler Hellige, der jetzt endlich die Bibliothek in Angriff nimmt und während meiner Abwesenheit Ordnung schaffen soll. Zum Abendessen erwarte ich Harro zum Ab-schied und Billie für Frommel. Alle Leute hängen jetzt fest mit ihren Auslandsreisen. Es ist zum Verzweifeln, und ich hoffe, daß die Notverordnung bald aufgehoben wird. Walter ist von Halle direkt nach Dresden zu Oskar gefahren, will aber Sonntag Abend wieder hier sein.

Am Morgen nach unserer Trennung habe ich hier einen englischen Vortrag gehalten, den nächsten Tag ein Doktorexamen gehabt, 6 Stunden Kolleg gelesen und eine sehr gut Rede von Grimme10 zur Verfassungsfeier des Studentenverbandes im Reichswirtschaftsrat gehört. Er hat es doch recht gut gelernt, und man hört ihm gern zu.

Mutter rief gestern an. Ich bin neugierig, ob Ihr nun zusammen zurückreist, oder ob sie doch noch einige Tage in Augsburg bleibt. Ich nehme jedenfalls an, daß Du Dich rechtzeitig ansagst. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

181. Hellmut Becker an seinen Vater. Hemmenhofen, 11.8.(1931?)

Lieber Vater!

Vielen Dank für Deine beiden freundlichen Karten. Es freute mich sehr durch sie zu hören und auch durch Mutter, daß es Dir wieder besser geht. Hoffentlich wird es Dir bald wieder ganz gut gehen. Vielleicht wirst Du ja auch noch mal zu uns runterkommen. Du scheinst es ja in Dresden sehr schön zu haben; denn wenn Du auch keine großen Ausflüge wirst machen dürfen, so gibt es in Dresden doch viel anzuschauen. Hast Du schon die Sixtinische Madonna gesehen? Deine Autofahrt in die Sächsische (Schweiz) muß wundervoll gewesen sein.

Gestern war ich in Friedrichshafen; deshalb mußte ich Deinen Brief unterbrechen. Es hat gestern in Strömen gegossen, aber es war trotzdem sehr nett. Großmutter ist seit vorgestern in Friedrichshafen; es gefällt ihr dort sehr gut.

Du wirst jetzt also noch eine Woche in Dresden bleiben. Das ist ja sehr schade.—

Als ich neulich mal in Friedrichshafen war, war ich im Zeppelin-Museum. Es war sehr schön und sehr interessant.

Meiner Gesundheit geht es ausgezeichnet. Ich hoffe sehr, daß Du auch bald wieder ganz gesund sein wirst.

Dein treuer Sohn Hellmut.

 

182. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 21.8.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

die zwei gewünschten Adressen sind.

  • Dr.jur. Ernst Deissmann, The Anglo-German Academic Bureau, 58 Gordon Square, London W.C.1.

  • George Trevelyan, 14 Ct. College Street, Westminster, London SW 1.

Uns geht es weiter gut. Allerlei wichtige Beschlüsse für den Winter sind gefaßt; doch will ich ihre Publikation der zuständigen Stelle überlassen. Jedenfalls löst sich alles sehr erfreulich bis incl. Quick. Ich lasse Dich mit Absicht etwas zappeln, weil Du uns auch so schrecklich hast zappeln lassen, und auch auf Deiner erst heute eingetroffenen Karte nur von Deiner heroischen Haltung der Größe des Meeres gegenüber Kenntnis gegeben hast.

Zar und Zimmermann war eine mäßige Aufführung, fand aber ein begeistertes Publikum. Es spielte auf Capri statt in Zandam.

Sonnabend Morgen kommt Walter von seiner offenbar trotz schlechten Wetters sehr geglück-ten Reise zurück. Am Abend trifft dann Irmgard11 ein.

Herzliche Grüße (DeinVater)

 

183. Hellmut Becker an seinen Vater. (Hemmenhofen, Bodensee?), 27.12.1931

Lieber Vater!

Mit der letzten Flugpost habe ich leider nicht schreiben können, da ich viel zu spät in Inns-bruck ankam und keine Zeit mehr dazu fand. Hoffentlich erhältst Du vor Deiner Abreise nach China noch meinen ausführlichen Bericht, denn der Weihnachtsgruß nach (unleserlich) ist ja ziemlich kurz ausgefallen.

Für Dein fabelhaft großzügiges Weihnachtsgeschenk vielen Dank. Du kannst Dir denken, daß ich Geld stets glänzend brauchen kann. Wir haben uns, da wir ja zu Weihnachten stark (?) auseinander sind, das Geld geholt. Ich werde meinen Teil wahrscheinlich in erster Linie für Bücher verwenden, eventuell mit einem Teil als höchst erfreulichen Beitrag zu den Freiburger wochenendlichen Skiunternehmungen. Ich danke Dir auf jeden Fall vielmals und fand es fabelhaft, daß Du aus weiter Ferne12 uns zu Weihnachten so rührend bedacht hast.

Ich las mit größtem Interesse die weiteren Berichte, vor allem auch den letzten über den Inhalt eines Berichtes; es war sehr nötig und interessant, daß Du mal etwas darüber schriebst.- So interessant Deine Briefe aber auch sind, so bin ich doch schon jetzt sehr gespannt, was Du mündlich alles erzählen wirst und was eben schriftlich einfach nicht wiederzugeben ist. Fragen schriftlich zu stellen, würde wenig Zweck haben, da Du, bis Du den Brief erhältst, schon wieder weiter in Deinem Studium des so fernen China sein wirst, daß Deine Konzentrationskraft davon voll in Anspruch genommen wird. Also das alles (wollen) wir bis zur mündlichen Unterhaltung aufschieben.

In Freiburg hatte ich auch für eine sehr nette Gesellschaft Zeit. Du hast ja über meinen Frei-burger Kreis in meinem letzten Brief nach China schon einiges gehört. Gesellschaftlich hinzuzufügen wäre vielleicht zumal (?) einige nette Abende bei Lanzmanns, einem Verleger, der eines der schönsten Häuser auf dem Lorettoberg besitzt und in dessen Verlag u.a. Bücher von Kayserling und Klages erschienen sind, sowie einige Abende bei Pringsheims. Unter meinen jungen Bekanntschaften ist die netteste wohl Gerry Picht (?), mit dem ich ziemlich viel zusammen war; ich war auch ziemlich oft bei Pichts draußen. Herr Dr. Baumgarten läßt Dich vielmals grüßen; ich schreibe nächstens mehr über ihn.

Hier ist es ganz entzückend. Mutter und ich verlebten einen reizenden Weihnachtsabend, der gar nicht geschmacklos, sondern stilvoll veranstaltet war. Beide erholen wir uns hier glänzend, Mutter schläft sehr viel, ich laufe ziemlich viel Ski.- Die Ilmau (?) als ganzes gefällt mir glänzend. Weder Burgen noch Vorträge erschüttern mich sonderlich; das Haus, die Menschen, die Form zu leben und vor allem die Umgegend finde ich restlos befriedigend. Mutter tut die Sache sehr gut und sie erholt sich sichtlich. Sie hat aber die Kunst des Ausspannens jetzt auch ganz nötig. Das Nette hier eben ist, daß alles so viel Stil hat und im Grunde so positiv und einheitlich in sich ist.

Mutter fährt am 2.1.(1932) nach Augsburg, am 9.1. nach Freiburg.

Dir alles Gute! Hoffentlich erhalten wir jetzt noch weitere Adressen.

Herzlichst Dein Hellmut.

P.S. Walter und ich schenkten Mutter den neuen Albert Schweizer zu Weihnachten. Ich kann meinen glücklicherweise noch umtauschen.- Entschuldige meine Schrift, sie ist noch furcht-barer als sonst, da ich auf Mutters Briefpapier schreiben muß, da mein eigenes zu schwer ist und der Brief sonst 1 Mark mehr kosten würde.

 

184. C.H.B an Hellmut in Freiburg-Ebnet bei Dr. Baumgarten. (Berlin?), 21.11.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Mutter meint, daß Dich die beiden Anlagen interessieren werden, weshalb ich sie mit der Bitte um Rücksendung zuschicke. Was die neueste politische Entwicklung betrifft, so glaube ich nicht, daß die Hitler-Herrschaft zu Stande kommt13. Es sieht mir so aus, als ob man ihm die letzte Chance nehmen, nicht als ob man sie ihm geben wollte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er als Reichskanzler die nötige Majorität aufbrächte, und ein Präsidial-Kabinett braucht einen parteipolitisch unabhängigeren Mann.

Sonst im Augenblick nicht viel zu berichten. Gestern war Herr Picht bei uns zum Mittag-essen, dem ich nachher den Aufsatz für die New York Times vorlas, dem er Wort für Wort zustimmte. Die englische Übersetzung habe ich mit Rolf vorbereitet, wir sind aber leider nicht fertig geworden. Daß bei Devrient-Michaelis Zwillinge14 angekommen sind, wirst Du wohl gehört haben.

Ich diktiere diesen Brief in aller Eile. Die Mutter wartet schon mit dem Auto, wir kombinieren Zahnarzt und Kolleg; deshalb unterschreibe ich dieses auch nicht persönlich. Den Amerika-Aufsatz könntest Du auch einmal Baumgarten lesen lassen; ich bin sehr neugierig, was er dagegen sagen wird. Ich freue mich sehr, daß Du Dich dort im Hause wohl fühlst. Während ich dies schreibe, schaue ich zu meinem Fenster hinaus und freue mich meiner Aussicht und denke daran, wieviel schöner Du es noch hast. Möge es immer so sein!

In Liebe von Herzen Dein Vater

 

185. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 8.12.1932

(Maschinenkopie)

Mein lieber Hellmut!

Dein improvisierter und doch wohl durchdachter Brief hat mich sehr gefreut und beschäftigt. Es fehlt ihm ja nicht das nötige Selbstbewußtsein – auch in diesem Punkte hast Du mehr von Deinem Onkel Alex als von Deinem Vater geerbt – aber schließlich gibt es ja ein nicht ganz unrichtiges Wort „nur die Lumpen sind bescheiden“. Immerhin würde ich mich sehr freuen, wenn Deine Begabung etwas mehr in den Dienst der Allgemeinheit gestellt würde, als das bei Onkel Alex der Fall war., dem aber dieser Wille zum Politischen abging. Meine eigene Stel-lung zur Politik hast Du ganz richtig charakterisiert, mir kommt es mehr auf persönliche Lebensgestaltung und auf Dienst am Menschen an, als gerade auf breite politische Wirkung, obwohl ich zu dieser auch fähig bin und, so lange ich im Amt war, auch mit letztem Einsatz mich gewidmet habe. Zur Zeit aber befriedigt mich vollkommen die Wirkung im engeren Rahmen, und man ersetzt durch Intensität, was einem an Expansion versagt ist. Ich bin zwar nicht mehr der stille Gelehrte, als den ich mich in Deinem Alter als Zukunftsbild gesehen habe, aber ich glaube, jetzt das Arbeitsfeld gefunden zu haben, auf dem ich die Synthese zwischen meinen zwei Lebensberufen und Ausbildungen vollziehen kann.15

Doch nun zu Deinen Plänen. Sie sind gut durchdacht, nur rechnen sie mit zwei Unbekannten. Die erste Unbekannte ist das Assessorexamen. Ich habe selbst einmal als Minister verfügt, daß die juristischen Fakultäten grundsätzlich niemanden ohne Assessor-Examen zulassen sollten, da sonst bei Nicht-Erfolg der arme Kandidat nur noch Gerichtsschreiber werden könnte. Ausnahmefälle gibt es allerdings beim Staatsrecht, aber auch hier wird es ungern gesehen, wie ich neulich bei Bruns feststellte, der allerdings meinte, eine freie Arbeit auf seinem Institut wäre nach dem Referendar für einen künftigen Gelehrten eine mindestens ebenso gute Aus-bildung wie eine Assessorzeit. Immerhin wird alles davon abhängen, ob die Fakultät, bei der Du Dich habilitieren willst, sich auf das Risiko eines assessorlosen Privatdozenten einläßt.

Die zweite noch größere Unbekannte ist eine Berufung in jungen Jahren. Im Augenblick war die Chance nicht schlecht, aber wenn jetzt alles mit jungen Leuten besetzt wird, ist es natür-lich schwierig, in den Jahren, während deren Du auf eine Berufung rechnest. Gegen den gan-zen Plan bleibt eines zu sagen, das ist die ausschließlich theoretische Ausbildung für den künftigen Politiker. Die Reibung oder, um mich technisch auszudrücken, die Funktion des politischen Lebens kann man niemals aus Büchern lernen, und es geht mit der Erfahrung der Praxis wie mit der Erfahrung des Liebeslebens: man kann alles wissen und hat es doch nicht erlebt.16 Darin habe ich immer den großen Vorteil der Referendarausbildung gesehen, daß man in den Jahren bis zum Assessor doch mit den verschiedenartigsten praktischen Lebens-verhältnissen in unmittelbare Berührung gelangt. Ich habe ja selbst einen rein theoretischen Ausbildungsgang durchlaufen, habe allerdings durch meine großen Reisen frühzeitig eine gewisse Weltläufigkeit bekommen, die durch internationale Erfahrungen ersetzte, was mir an heimischer Schulung fehlte. Immerhin war es doch auch für mich eine neue und fremde Welt, als ich in Hamburg zum ersten Mal mit dem politischen Leben in Fühlung kam und als Senatskommissar vor dem Parlament auftrat. Was die Reibungen des praktischen Lebens aber wirklich bedeuten, habe ich eigentlich erst in meiner ministeriellen Praxis gelernt.

Diese Ausführungen sollen nicht gegen Deinen Plan sprechen, aber sie sollen Dich klären helfen. Jedenfalls freue ich mich über den bewußten Einsatz Deiner Energie auf das akade-mische Studium, der sich in diesen Plänen dokumentiert, denn ich zweifle nicht, daß Du Dir darüber klar bist, daß selbst bei einem gescheiten Menschen die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben; namentlich im akademischen Leben, wo selbst ein so gescheiter und feingeistiger Mensch wie Sment Ruf und Ansehen weniger seiner Geistreichheit und seiner Integration als seinem dicken Buch über den Reichsdeputationshaupt(be)schluß verdankt. Immerhin kommt es auf juristischem Gebiet, und das mag Dich trösten, vielleicht stärker als auf irgendeinem anderen Gebiet der Geisteswissenschaften auf Qualitätsleistung im rein Gedanklichen an. Man kann also mit einer gewissen Dosis von Faulheit bei der nötigen Aufwendung von Grips nicht nur etwas leisten, sondern auch anerkannt werden. Unter allen Umständen aber werden diese Zukunftspläne bei Dir zu einem Einsatz von Arbeitskraft füh-ren, der einem für alle Fälle wichtigen günstigen Ausgang der ersten Examina nur förderlich sein kann.

Am meisten hat mich aber an dem Brief gefreut, daß Du ein engeres Verhältnis zu einer Arbeit im Rahmen Deiner Zukunftswünsche gefunden hast. Für den Mann ist ein solcher Halt in sich selber die beste Garantie für ein sinnerfülltes Leben. Man hat sein Fatum in sich, aber seine Fortuna kann man machen.17

Sag doch Herrn Baumgarten, wie herzlich ich mich über seinen guten Erfolg in Göttingen gefreut habe. Neulich telefonierte mich Windelband an, um mir aus einem Brief von Prof. Hecht die volle Anerkennung für Person und Leistung Baumgartens vorzulesen. Die Fakultät würde sich demnächst äußern. Hoffentlich geschieht das bald. Auch Hertha schrieb sehr begeistert, besonders über die Formvollendetheit des Vortrags. Im übrigen bin ich sehr neugierig, was B(aumgarten) zu meinem Amerika-Aufsatz gesagt hat, den ich mir übrigens gelegentlich ebenso zurück erbitte, wie den Durchschlag meines Briefes an Onkel Ernst. Die Redaktion der New York Times war von dem Artikel sehr begeistert; die Frankfurter Zeitung bemüht sich zur Zeit um ein gleichzeitiges Erscheinen des deutschen Originals.

Du wirst gehört haben, daß das Brautpaar nicht nach Amerika fährt und Frau Schroeder erst nach Weihnachten allein kommt. So werden wir alle hier gemeinsam Weihnachten feiern. Daß der teure Max geflogen ist, hat Mutter Dir ja wohl auch berichtet. Da wir alle, incl. Helene, auf diesen fixen und außerordentlich charmanten Kerl hineingefallen waren, wagten wir nicht zu gestehen, daß uns der sich meldende Ersatz auch wieder sehr gut gefiel. Er erin-nert physisch an Deinen Tutor Beck, ist weniger charmant, aber dafür solider als sein Vor-gänger, stammt aus Pommern, hat keine Dienerschule, aber ist in erster Linie Diener, und zwar meist in Saisonstellen an der See. Wir haben ihn einen ganzen Tag allein mitarbeiten und fahren lassen, ehe wir ihn engagierten. Morgen soll er antreten. Quod deus bene vertat.

Von mir selbst kann ich nur Gutes berichten. Zur Zeit sind Frommel und Bertaux hier, die ich neulich als zwei Kampfhähne aufeinander losgelassen habe, was höchst amüsant war. Bertaux war entsetzt über Frommels irrationalen Nationalismus und Frommel über Bertaux’ kühlen Nationalismus. In einer dramatischen Aussprache bei Lutter&Wegener zwischen drei Franzo-sen und drei Deutschen haben wir uns schließlich auf die Formel geeinigt, daß der französi-sche Nationalismus eine der Irrationalismen der französischen Mentalität sei. Ich selbst habe vorgestern in der Deutschen Gesellschaft über Bali gesprochen. Der Vortrag war gut besucht und ein echter Balinese anwesend. Gestern Abend war ich mit Mutter bei Dietrichs, wo jeder zweite Mann ein Minister war: außer dem Gastgeber und mir Brüning, Stegerwald, (unleserli-cher Zusatz), Koch-Weser, Graf Schwerin usw. Mutter saß zwischen Rumbold und einem schönen jungen Philosophen, ich zwischen Frau Koch-Weser und Breitscheid. Mutter fuhr glänzend durch Verkehr, Wind, Wetter und Finsternis.

Auf frohes Wiedersehen Weihnachten! Grüße Baumgarten. (CHB)


Tod Carl Heinrich Beckers am 10. Februar 1933


(Beileidsschreiben ab 12.2.)

 

186. Beileidskarte von Trude Becker an Hellmut Becker. O.O. 13.2.1933

Lieber Hellmut!

Ich liege hier mit einer Grippe im Bett und möchte Dir so gern etwas Liebes sagen, bringe es aber nicht fertig. Der Verlust Deines Vaters hat uns so plötzlich und unerwartet getroffen, daß man sich immer noch keine rechte Vorstellung davon machen kann. Ich denke viel an Dich, Deine liebe Mutter und Geschwister.

Viele Grüße Deine Trude

 

187. Beileidsbrief des Volkskonservativen Asuen(?) an Hellmut Becker. O.O., 12.2.1933

(Auszug)

Lieber Hellmut!

(…)

Beim Tode Deines Vaters mischt sich das Mittrauern mit Euch Angehörigen mit der eigenen Trauer um den Verlust, den das öffentliche Leben – um nicht pathetischer zu sagen -, den Deutschland erlitten hat.

(…) Mein Wunschtraum, ihn einmal an der Spitze eines Reichskultusministeriums, als Führer des Kulturlebens der ganzen Nation zu sehen, ist nun unerfüllt geblieben.


1 Der Berliner Funkturm hat den 2. Weltkrieg überdauert und ist heute noch ein Wahrzeichen der Stadt.

2 Otto von Habsburg

3 Hervorhebungen vom Herausgeber. In Ungarn herrschte Nikolaus von Horthy als Reichsverweser 1920-1944

4 In Italien herrschte der „Duce“ Benito Mussolini 1922 bis zu seinem Tode 1945, beides sog. Monarchien mit autokratisch-faschistischen Regimen.

5 Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, heute Max-Planck-Gesellschaft für Forschung und Wissenschaft

6 Hervorhebung vom Herausgeber.

7 Es handelt sich um Mia Michaelis, Tochter von Frida und Otto Michaelis, die später Theologie studierte, den Göttinger Theologieprofessor Trillhaas heiratete und 5 Kinder mit ihm hatte. Mein Bruder Uwe studierte während der Berliner Blockade 1 Semester dort 1948 und wohnte in einer noch freien Besenkammer – Wohnraum war eben knapp.

8 Das war sozusagen die Crême de la crême von Heidelberg für einen jungen Juristen: Karl Jaspers (Philosoph), Bergsträsser (Jurist und Politologe, den ich noch nach dem Kriege in Freiburg erlebte), und Gustav Radbruch, vor allem als Vater der Weimarer Verfassung bekannt.

9 Werder ist der Obstgarten von Berlin und sehr schön im Westen Berlins gelegen (für die Nicht-Berliner)

10Adolf Grimme, Pädagoge und SPD-Politiker, war als Minister Nachfolger Beckers im Preußischen Kultusministerium 1930-33

11 Irmgard war die Frau von Walther Becker und Mutter von Zwillingsmädchen

12 Chinareise Beckers. Evtl. war Becker aber schon (Dezember 1931) auf dem Weg nach Java

13 Hervorhebung vom Herausgeber.

14 Es handelt sich um Emma und Walther Devrient, mit den Zwillingen Ursula und Hanna *17.11.32; später kam noch ein Sohn Joachim; Emma ist die Tochter von Frida und Otto Michaelis, Schwester von Otfried und Mia…

15 Hervorhebung des Herausgebers.

16 Hervorhebung des Herausgebers.

17 Hervorhebung vom Herausgeber.

Harro Siegel, II.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1922

146. Harro Siegel an C.H.B. (Berlin?) 18.5.1922

Lieber Carl!

Das scheint nun freilich eine recht unruhige Zeit für Dich gewesen zu sein (schönen Dank für Deine Karte); als Schauobjekt denke ich mir das ungeheuer anziehend; ich möchte Dir aber wünschen, daß Du rein äußerlich immer die nötige Distanz hattest. Innerlich – das brauche ich Dir ja nicht zu wünschen. Du wirst schon die rechte Klappe zugemacht haben. Hoffentlich lerne ich das auch noch mal. Pompöse Festlichkeiten pflegen mich zu langweilen oder zu dégoûtieren. Freilich, – in Italien wird alles anders sein. Sicherlich verstehen die Leute dort so was besser.

Vielleicht ist es Dir nun nicht ganz unwillkommen, nach diesem Wirbel in Deiner stilleren Zeit in Venedig nochmals einen Brief von mir zu bekommen. Welch angenehmer Zeitvertreib für mich, während meiner stupiden Tagesarbeit mir diese Deine Reise einzuinhalieren.

Du hast sicherlich am letzten Sonntag mal darüber nachgedacht, was W(endé?). und was ich zur selben Stunde wohl unternehmen möchten. Ob Du aber auf das geraten hast, was Dir unsere Karte verriet? – Dieser Spaziergang war wirklich wundervoll. Weißt Du, -in der Erfüllung von Realitäten haben W. und ich uns dank gleicher schwerflüssiger Anlage wenig zu sagen gewußt. Aber dies unter allem mitschwingende Gefühl unbedingten gegenseitigen Verstehens und Vertrauens ist mir so wohltuend. Ich bezweifle übrigens nicht, daß es ihm ebenso geht. Ich weiß nicht, ob Schicksalsgemeinschaft nun immer (weggelocht: so?) mehr pflichtmäßige Bindung mit sich bringen muß, – aber ich glaube hier von beiden nur zu spüren. Auch um dieses Menschen willen tut es mir weh, jetzt hier fortzugehn. Trotzdem glaube ich, daß auch unserem stillschweigenden Verhältnis Jahre der Trennung im Grunde nichts anhaben können.

Ich vergleiche Dein Urteil über Frau W. mit der Realität, verstehe es, mache es aber nicht mit, sondern finde, daß Du ein wenig ungerecht bist.

Mit den Kindern bin ich sehr gut Freund, besonders mit dem Bübchen. Der immer von neuem aufflammende hitzige Strauß um die Plätze an meiner Seite hat mich fröhlich ergötzt. Diese meinen Kindern zugewandte Komponente scheint mir wichtig.

Oberleutnant Hasse (?), der mich frühmorgens vom Lager (weggelocht: juchzte?) ist wirklich ein durch und durch anständiger Kerl, aber ich weiß nicht, ob noch viel mehr. Er scheint mir nicht problemlos, aber auf alle Fälle unproblematisch. (Aber er stand ja auch glänzend mit seinem Vater.)

Das Wetter ist wundervoll, infolgedessen die Stubenhockerei kam noch zu ertragen.

Nun, Schluß! Es ist spät. Viel Geist habe ich nicht mehr zu verschwitzen. Nimm aber zur Kenntnis, daß ich eben meiner Mutter (die ich doch wirklich von Herzen liebe) zum Geburtstag nur drei weitgeschriebene Seiten schrieb, – und nun dieses!

Ich bin Dein Harro.

 

147. C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18./19.5.1922

Ganz persönlich

Mein liebster Harro!

Das war ein guter Brief, den Du mir da geschrieben hast. Aus der ganzen Schwere Deines Herzens heraus konzipiert trug er den Stempel eines ernsten Ringens, Unaussprechliches in verständliche Worte zu kleiden. Ich glaube Dich verstanden zu haben. Auch den ersten stammelnden Versuch, Dich auszudrücken, hatte ich richtig erfaßt. Ebenso eine zweite Äußerung einmal in meinem Vorzimmer und jetzt dieser Brief. Ich weiß, daß ich Dich nicht ganz habe, aber nicht, weil Du Dich nicht hast, sondern wohl aus anderen Gründen. Ich kann so etwas nicht schreiben. Letzte Dinge kann man nicht durch Niederschreiben objektivieren. Man kann sie wohl aussprechen. Aber dadurch geht ein letzter Hauch verloren, aber es bleibt dafür eine starke Gewißheit. Die Gewißheit der Niederschrift ist so brutal, weil sie übertragbar wird. Der Brief kann in andere Hände fallen und so etwas darf und soll nur zwischen Dir und mir sein. Ich bin nur frei im Gefühl und im Erleben. Schon das Wort wird zur Hemmung, die Schrift zur Schranke. Denke an den schönen arab(ischen) Vers, den Ritter Dir schrieb und den ich Dir übersetzte. Wir müssen noch einmal eine stille Stunde miteinander haben, wo wir beide bereit und offen sind über uns zu reden. Hier wäre ich’s . Wie oft sehe ich Dich hier an meiner Seite stehen. Was ich in diesen letzten Tagen an schönen und eigenartigen Eindrücken aufgenommen habe, ist einfach unerhört.

In Padua1

Erst das Erlebnis der Piazza. Der Student beherrscht die Stadt, die Straße. Dabei ein Frohsinn, eine Leichtigkeit und bei aller Tollheit eine Disziplin und letzte Liebenswürdigkeit, die mit allem versöhnt. Dabei spielt der Alkohol keine Rolle.

Dann die gewaltige internationale Demonstration im Salon2e. Man erlebt eine Nation und

eine res publica gentium. Die Masse tost und die Masse schweigt, in Stille und Ehrfurcht. König, Kardinal, Militär, 100te und Aberhunderte von Akademikern in schillernder Farbenpracht. Eviva il Ré.

Ein alter köstlicher Palast größten Styls. Der noch heute reiche Graf gibt ein Abendfest. In den prächtigen alten Räumen eine riesige Gesellschaft, alle Paduaner in Tracht des (Sette) Cento. Köstlicher Garten mit herrlichen alten Zedern und Platanen. Diskrete grüne Beleuchtung und kunstvolle Ornamentik mit roten Öllampen entsprechend der Architektur der Galerien und Balkone und Pavillons. Ich liebe die italien(ischen) Nächte im allgem(einen) nicht. Aber das war ein Traum, den man nicht vergißt.

Herrlicher alter Park, Styl Schwetzingen oder Belvedere. Alte Kastanien, entzückende Durchblicke. 430 Personen werden an langen Tischen gespeist und dann wandelt man in diesen Alleen. Mittags zwischen 1 und 3 (Uhr) sonnig und doch kühl. Köstliche Weine. Lauschige Gänge und Lauben, blühende Rosen und Glyzinien. Fresken von Tiepolo.3

In Venedig

Canal della Linderra(?), das Boot kommt in die Lagune. Man biegt um die Ecke. Rechts die graziöse Santa Marie Maggiore, links der Marcusplatz und der Palazzo Ducale4 weiß und glänzend, fast rosarot in der Sonne, das Wasser und der Himmel blau – alles ganz unwahrscheinlich und doch wahr.

Marcusplatz, Abends, Dunkelheit, eine angenehme Menschenmenge wogt hin und her, eine Musikkapelle spielt, wie nun Italiener spielen, eine Kette von Studenten mit bunten bengalischen Fackeln stürzt in die Menge, sie umkreisend, das Licht reflektiert auf dem von einem kurzen Gewitterregen feuchten Boden, erhellt die umstehenden Gebäude, aus rosaroten

Wolkennebeln dämmert der Marcusdom hervor.

Im Restaurant, man sucht seine alten Lieblingsspeisen heraus, eine Zuppa, von der man satt wird, oder Risotto oder Spaghetti, Artischocken, gebratene Fische oder gebackenes Allerlei, Käse, getrocknete Südfrüchte, dazu Rotwein und nochmals Rotwein, Cafè nero. Am selben Tisch sitzen Italiener. Ob man will oder nicht, in fünf Minuten ist man mitten in der Politik. Alle Italiener versichern, daß sie ja eigentlich nur mit Österr(eich)5 Krieg geführt hätten und daß sie uns nach wie vor lieben. Das ist keine Phrase. Ehe man sich’s versieht hat man eine Zigarette geschenkt bekommen und man bedauert nur, daß man das Italienisch so barbarisiert.

Draußen am Lido liege ich in den Dünen. Das Meer bricht sich in langen weißen Wellen. Blau wie der Himmel. Ziemlich Einsam. Majestätisch zieht am Horizont die italien(ische) Flotte.

Überall, mein lieber, lieber Harro, habe ich Deiner gedacht und Dich an meine Seite gewünscht. Ich hoffe und weiß, daß auch Du mit mir lebst. Nimm heute mit diesen kurzen Andeutungen vorlieb. Sie sind der Nacht abgerungen. Ich bleibe wohl bis Montag hier und bin wahrscheinlich schon Dienstag Abend in Augsburg, Maximilianstraße 26, bei Geheimrat von Schmid. Vielleicht gehe ich dann noch zu Wende in den Taunus. Eure gemeinsame Karte freute mich sehr.

Ich erhole mich sehr und kann sogar allein sein. Schöner wär’s mit einem Menschen, den man lieb hat, aber sehr lieb. Je lieber man ihn hat, desto schöner wär’s.

Von Herzen Dein Carl.

 

148. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 20.5.1922

Lieber Harro!

Es ist noch immer so schön hier und wir genießen (das) freundliche Wetter herrlich. Heute Murano, die Glasbläserinsel und Mittags San Lazzaro, das armen(ische) Mechitaristen (?) Kloster besucht. Aus Versehen stiegen wir auf einer falschen Insel, dem Irrenhaus, aus und mußten dort 1 Stunde sitzen. Herzl(ichen) Gruß Dein Carl.

PS. Von anderer Hand:

Herr Professor sagte mir eben, daß Sie Verständnis hätten für unser eigentümliches Zusammensein. Am Ende würden Sie gar eifersüchtig sein, wie lieb der Herr Professor mit mir ist.

Recht herzliche Grüße Hans Gladinas (unleserlich).

 

149. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 21.5.1922

Mein lieber Harro!

Hans Gladinas (?) (mitgesendete?) Bemerkung auf der gestrigen Karte habe ich passieren lassen in der Überzeugung, daß Du keinen Mißbrauch damit treibst. Es war ein netter schlichter Jung, der sich mir in rührender Weise anschloß. Obwohl Student in Padua, war er noch nie hier gewesen. So lud ich ihn ein, mit mir zu gehen. Wir waren drei Tage zusammen. Er war gerade das was ich brauchte. Still und behaglich, alles genießend, gesprächig wenn mir’s um Unterhaltung zu tun war – stets eine angenehme Gesellschaft. Jesuitenschüler und auch in

Padua noch in einer Art freiem Pensionat. Es war zu nett zu sehen, wie es ihm immer mehr gefiel und als er eben abfuhr, war ihm ordentlich schwer ums Herz. Du weißt wie ungern ich so etwas unerhört Schönes wie Venedig allein genieße. So hatte ich doppelte Freude davon. Er war gerade in seiner Harmlosigkeit so unendlich ausruhend. Ja, mein Lieber, wenn Du es gewesen wärst! Ich mußte oft daran denken. Das wäre eben ein Märchen gewesen.. Ja, mein Armer. So was im Intimen (wegelocht 2Mal). Bitte dies nicht so liegen lassen.

Dienstag beginnt Rückreise über Gardasee. Von Herzen Dein Carl.

 

150. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 23.5.1922

Lieber Carl!

Ich möchte Dir nur ganz rasch von Herzen für Deinen Brief aus Venedig danken, denn ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme. Er hat mich ungemein erfreut, aber in der Freude verstärkte er auch wieder die Unbefriedigung über Dein Fernsein, und die Begierde, Dich bald selbst wieder zu sehn. Da dies bald der Fall sein wird,, gehe ich nicht weiter darauf ein. Du hast ja Fabelhaftes erlebt und ich bewundere die Kraft Deiner Schilderung.

Wende ist gestern abgereist; besuch ihn doch ja im Taunus und grüß ihn sehr von Herzen von mir. Ich war Sonntag noch mal draußen; es war sehr nett. Für Ende der Woche plane ich zur Zeit noch eine Spritztour nach Hamburg, weiß aber noch nicht, ob ich kann. Im übrigen ist es hier seit Tagen übermäßig heiß, so daß der von der Tagesarbeit schon immer höchst mitgenommene Geist aufs Äußerste reduziert scheint. Deshalb Schluß.

Ich gehöre Dir, soweit ich kann! Dein Harro

P.S. Den Aufsatz von Troeltsch 6(Auf der .<unleserlich> der Wissenschaft) finde ich famos.

 

151. C.H.B. an Harro Siegel, Goslar(?). (Berlin)Steglitz, 1.6.1922

Mein lieber Harro!

Eben kam Deine Karte aus Michendorf (?). Ich freute mich gestern und heute des guten Willens im Gedenken an Dich. Auch in mir klang unser letztes Beisammensein noch lange nach, wenn ich auch ziemlich jäh durch einen Professor herausgerissen wurde, der sein Gehalt erhöht haben wollte und mir eine halbe Stunde etwas vorjammerte. Abends hatte ich dann eine

Aussprache mit Landé, der Dein Buch bis heute noch nicht ausgewickelt hat und es am liebsten so zurückschicken möchte, ohne zu wissen, was es ist. Seit gestern trägt er auch Deinen Brief uneröffnet in seiner Tasche. Er will sich die Illusion nicht nehmen lassen, daß etwas Nettes drinstünde. Hätte er ihn gelesen, dann wäre es mit der Illusion zu Ende. Dabei habe ich ihm bei der Aussprache, als er wieder so den Gekränkten spielte, der von Dir mißhandelt sei, zart aber deutlich angedeutet, worum es sich handelt. Ich fragte ihn zunächst, ob er nicht auch Dich vielleicht „mißhandelt“ habe. Der Gedanke war ihm neu: Noch schöner! Dann aber fand er die Umdrehung köstlich. Erst wurde er mißhandelt und dann solle er noch der Schuldige sein. Natürlich sei er der Schuldige usw. usw. Dann sprach ich ganz allgemein von der Toleranzgrenze, die in solchen menschlichen Beziehungen jeder dem anderen gegenüber habe und fragte ihn, ob er sie Dir gegenüber nie überschritten zu haben glaube. Langsam wurde er hellhörig und dann sehr schmerzhaft. Die naheliegendste Verkettung war diesem Kind und Anfänger in menschlichen Beziehungen nie in den Sinn gekommen. Dann kam der Schmerz in ihm hoch. Das sei ja noch viel schlimmer, nun sei alles kaputt, ich hätte ihm das Letzte zerstört, nun könne er nie wieder einem Menschen näher treten. Er war nüchtern genug zu sagen, ich täte ihm vielleicht damit einen großen Dienst, aber im Augenblick verfluche er ihn. Er kämpfte schwer mit den Thränen und war sehr erschüttert. Er werde den Brief nie aufmachen. Du brauchst das ja nicht zu wissen usw. Gestern und heute war ich dann sehr nett mit ihm. Er ist wieder ruhiger, war heute sogar glückstrahlend über einige Freundlichkeiten des Ministers, und erzählte mir unaufgefordert, daß der Brief eingetroffen. Ich riet ihm, ihn bald zu lesen, er sei sicher zwar hart aber gut und wohltuend. Ich möchte, daß er mit der Sache fertig wird und sich nicht wochenlang mit dem uneröffneten Brief beschäftigt. Ich glaube durch meine übrigens sehr zarte Vorbereitung auch Dir einen Dienst getan zu haben.

Heute las ich mein letztes Colleg. Frau Benecke war allein da und hatte zu arbeiten, zu Tisch hatte ich Gragger, es war sehr nett, friedlich und unaufregend. Zum Schluß kam Richter, der in guter Form ist. Um 5 (Uhr) war dann ein Thee beim Minister mit Damen. Die Kinder spielten gleichzeitig noch einmal die Kindersymphonie für die Studentenhilfe und dann fuhren wir alle fidel im Auto heim.

Wende kommt nun doch heute oder Morgen heim und dann werde ich aller Theorie zum Trotz mit ihm zusammentreffen.

Gestern hätte ich Dich gern da gehabt. Walter war von dem Vater seines Freundes Kuchenthaler (?) eingeladen worden, allein mit s(einem) Freund eine große Reise in die bayer(ischen) Alpen und nach München zu machen. Nach langem Kampf habe ich Nein gesagt. Ich habe Walter ganz offen an meinen Gedankengängen teilnehmen lassen, die Sache kommt mir zu früh, er solle Ruhe haben, solange er auf der Schule ist, bei uns bleiben, Intensivierung statt immer neuer Eindrücke, der Freund will dünn werden, er soll Fett ansetzen, er soll nicht nur von gebratenen Tauben leben usw. Es war Walter natürlich schmerzlich, was ich ihm nicht verdenke, aber er hat es sehr nett getragen. Ich glaube sogar, daß er mir innerlich recht geben mußte. Ich mag diesen reichen Judenmuckel7 nicht, obwohl der Freund selbst ganz famos ist. Mich ärgerte es, daß ich meinen Jungen gegenüber als der versagende Vater erscheinen mußte, nur weil Herrn Kuchenthaler eine Geschäftsreise machen muß, seine Frau nicht allein mit den Kindern sein will und diese deshalb untergebracht werden müssen. Geld spielt keine Rolle, also wird ohne Rücksicht in die Dispositionen anderer Leute eingegriffen. Nun erlaube ich den beiden im Herbst eine bescheidene Fußtour. Dies Herumkutschieren in der Welt mit 16 Jahren mit vollem Portemonnaie, ohne Aufsicht und ohne Zwang zum Sparen, das paßte mir nicht. Ich habe mich dabei wirklich über Walter gefreut und ich will ihm nun auch ein besonderes Bene antun.

Morgen sehe ich auch Wolf Kühn, Montag wickle ich im Ministerium ab, gehe Abends noch mit den Kindern in die „Lustigen Weiber“ in der Hochschule und fahre Dienstag nach Marburg. Nachm(ittags) 3 Uhr werde ich auf der Durchreise in Cassel Deine Geige abgeben. Ich habe Deinem Vater geschrieben, daß er sie abholt oder abholen läßt. So kommt sie noch vor Dir hin.

Alles Gute für Lola8 und Dich. Wie stets von Herzen Dein getreuer Carl.

 

152. C.H.B. an Harro Siegel Im Zug Gießen-Fulda, 6.6.1922

Mein lieber Harro!

Ich will mit dem Ausdruck meiner Anteilnahme bis Gelnh(ausen) warten, zumal ich nun weiß, daß mein ausführlicher Brief nach Goslar auch erst verspätet in Deine Hände kommt. Das Mißgeschick tat mir aufrichtig leid. Es paßte so gar nicht zu Dir und weniger in den harmonischen Abschluß der Berliner Zeit. Ich bin brennend neugierig zu erfahren, was nun eigentlich passiert ist. Dein Vater schien etwas ängstlich. Es war sehr nett, daß die Strecken-panne gerade nach Cassel fiel, so daß wir über eine halbe Stunde sehr nett plaudern konnten. Auch über Deinen kleinen Bruder habe ich mich recht gefreut. Wie wird’s denn wohl zu Hause gehen? Ich denke viel, sehr viel an Dich. Doch das weißt Du ja, auch ohne daß ich es sage.

Der Abschied von Wende war sehr, sehr wohltuend. Wir hatten noch das letzte Mittagessen am Montag zusammen. Es war viel zu berichten – gegenseitig. Und es war alles klar. Abends in der „Lustigen Witwe“ wurde ich noch von Benecke herausgeholt, um mit dem Vorsitzer der Studentenschaft eine wichtige, aber auch menschlich wertvolle Besprechung zu halten.. Die Abreise dann ruhig nach dem Programm.

Vom Aufenthalt in Cassel wirst Du alle Details gehört haben. Ich fuhr mit einem netten jungen Schauspieler aus Berlin allein im Coupé. Er gab sich alle erdenkliche Mühe herauszubekommen, was sein in Theatersachen so fabelhaft versiertes Gegenüber eigentlich wäre. Ich hab’s ihm aber nicht gesagt.

In Marburg wurde ich beim Kurator von Hülsen, einem ganz famosen Menschen, der früher im Ministerium war, reizend aufgenommen. Und überhaupt Marburg! Ist das entzückend! Ich wohnte prachtvoll, das weite Tal unter mir. Gleich nach der Ankunft den Rest des Abends Mannhards Brenson (?), ein ganz neuer Typ von Studenteninternat mit ganz einheitlichem Charakter – eine ganz (unleserlich) Sache. Den nächsten Tag von früh bis Abends Besichtigungen. Diner beim Kurator, Bierabend beim Rektor – Reden usw. wie üblich.

Auch hin und wieder ein starkes persönliches Erlebnis. Habe ich Dir von dem kleinen Wilatzky erzählt? Er erreicht mich, um seinem vollen Herzen Luft zu machen. Eine ganz abenteuerliche Ehegeschichte, nämlich zu Dritt, mit allen nur denkbaren seelischen Feinheiten, in fabelhafter Höhenlage, aber erschütternd. Heute früh fuhr er noch bis Gießen mit, um mich noch etwas auszunutzen. In 2 Stunden bin ich in Bieberstein; Freitag Abend oder Sonnabend früh in Gelnhausen. Eben kommen wir in Fulda an. Leb wohl, mein Lieber! Du wirst wohl auch manchmal an mich denken. Wie stets von Herzen Dein Carl.

 

153. Postkarte von Erich Wende an Harro Siegel. Langeoog, 22.6.1922

Lieber Herr Siegel!

Das Kinderreich, zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, dankt Ihnen durch seinen Vater sehr für Ihre Grüße, Ihre Kunst, Ihre fabelhafte Mäusegeschichte. Sehr interessant! Nur beide Eltern mit den Drei sehen Sie mit herzlichem Bedauern auch von uns gehen, ohne daß wir Sie noch einmal sehen konnten. Denn nun hänge ich natürlich hier an dieser Herrlichkeit fest. Es ist fast so schön wie damals an der Havel. Wie an jenem Tag denken wir an Sie immer in aufrichtiger Anteilnahme. Für Sie das Gleiche. Vielmals Ihr getreuer Wende.

 

154. Postkarte von Harro Siegel an C.H.B. Michendorf/Mark, 30.6.1922

L(ieber) C(arl)!

Es wurde doch mittags 1 Uhr bis wir endlich auf die Wendendorffest (?) kamen. Programmgemäß sind wir bis hierher gelangt und warten nun auf unser Nachtlager. Der Marsch aus Berlin heraus über den Hohenzollerndamm in den Grunewald (?) war sehr merkwürdig. L. läßt grüßen; Ich denke an gestern mittag. Herzlichst Dein Harro.

 

155. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 2.7.1922

Lieber Carl!

Zwar hoffe ich Dich doch morgen noch zu sehen, – aber ich finde gerade mal einen Moment Zeit inmitten dieses turbulenten Daseins, das ganz im Zeichen des (unleserlich)-starken Überfalls aus Holland steht. Wir genießen hier Familien in allen Formen, aber von mir aus könnte nun bald Schluß sein. Ich schreie wieder mal nach Alleinsein.

Gesundheitlich bin ich völlig wieder in Form. Ohne daß es aller ärztlichen Kunst gelungen wäre, dem Übel einen Namen zu geben; lediglich von der Kokkentheorie ist man wieder abgekommen.

Die 14 Tage Sommerfrische in unserem kleinen Waldhäuschen waren wundervoll. Sie bilden ein Kapitel für sich, über das weniger zu reden und noch weniger zu schreiben ist. Wald, Wiese und Sonne und ein großes gegenseitiges Sichverstehen, was braucht es mehr?

Weißt Du, es steht ganz fest bei mir, daß wir beide irgend was dergleichen in nicht zu ferner Zeit auch mal tun müssen. Wieviel näher rücken sich die Seelen, wenn man alles gemeinsam tun muß.

L(andé?). ist jetzt in Elberfeld und wird Dir über Schwöber (?unleserlich, da weggelocht) schreiben. Meine Arbeit beginnt am 7. (Juli?). Der neue Meister – ein Vierziger etwa – macht einen sehr offenen, sympathischen Eindruck; freilich scheinen Grenzschranken etwas überdeutlich die Christentum und nationale Gesinnung zu stehen. Aber was tut das? Ich weiß nichtssagend zu schweigen. Die Werkstatt liegt in der Casseler Altstadt an einem von Fachwerkbauten umgebenen Platz, ist sehr eng und niedrig und starrt – für meine durch Sinnesnerven geschützten und verwöhnten Begriffe – vor Dreck. Auch ist die Arbeit natürlich eine ganz andere, aber sicher von sehr erheblichem praktischen Nutzen.

Etwas, worüber ich immer wieder nachdenken muß, ist die Geschichte mit Landé. Offen

bekannt, – das Schuldgefühl auf meiner Seite steigert (teilweise unleserlich, da weggelocht) sich. Aber es ist ihm mit ratio nicht beizukommen. Daß er dies Erlebnis ausradieren möchte, – es wäre meine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Es hätte sich doch ermöglichen lassen müssen. Die Loslösung so zu gestalten, daß ich ihm nicht dadurch die ganze Erinnerung an unser gemeinsames Wegstück vergiftet wurde. Aber ich war mir – wie meistens – zu schade zu persönlichen Opfern und bin mir nun böse, daß ich ihn zum Beispiel 4 Wochen stillschweigend ohne Gewissensbisse meiden konnte. Schreibe mir bitte immer, wie es ihm geht, und ob er wieder vergnügter wird. Ihm selbst natürlich kein Wort von all diesem.

Ein gezeichneter Briefkopf für Wendes liegt schon seit Tagen hier herum, aber ich komme nicht dazu, ihm ein Wort dazu zu schreiben. Bitte grüße ihn doch sehr von mir.

Auf Spengler bin ich ja wirklich sehr gespannt. Ich hoffe auf eine gute Zeit für H.R (?)bei Dir. Grüße auch ihn. Kommt er denn hierher?

Herzlichst Dein Harro.

 

156. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 9.7.1922

Lieber Carl!

Vorgestern Dein Brief aus Fulda, gestern der Goslarer! Ich danke Dir sehr von Herzen.-

Wenigstens stehe ich jetzt wieder auf, aber in Ordnung ist die Sache noch nicht. Man scheint etwas ratlos und vermutet – wie ich wohl schon schrieb – Streptokokken, die von meinen Stirn- und Kiefergeschichten abgewandert sind. Ich hoffe eigentlich, es kommt an irgend einer erreichbaren Stelle (meinem Kiefer) zu einem akuten Ausbruch, auf daß dann kräftig geschnitten werden kann. Ich glaube schon so etwas zu spüren. Jedenfalls ist an eine Reise mit L9. vorläufig nicht zu denken. Auch muß ich ja sehen, wann der neue Meister meinen Eintritt wünscht. Ich hoffe aber sehr, Dich diesen Sommer noch hier zu sehen, wenn Du R. (?) besuchst.

Außer der Tatsache, daß Ihr Euch ¾ Stunden lang unterhalten hättet, hat mir mein Vater nichts über Euer Zusammentreffen erzählt. Das ist ja seine Gewohnheit so. Dagegen verriet mir Rolf, Ihr hättet Euch „über meine Zukunft beraten!“

Was Du über L(andé) schreibst, geht mir nahe genug. Ich enthalte mich eines Urteils darüber; ob es richtig war, ihn so deutlich gewisse Dinge verstehen zu lassen; er sieht das ja alles anders als wir. Aber es ist ja nun geschehen, und mir ist es deshalb lieb, weil er jetzt vielleicht etwas von seinen Anklagen gegen mich zurücknimmt.

Bei der Briefgeschichte ist mir etwas unklar. Ich hatte nämlich doch noch einen neuen geschrieben, der die ganze Sache nur leichthin streifte. Den hat er sicher bekommen. Aber ich habe jenen ersten vierseitigen nicht vernichtet und finde ihn jetzt unter meinen Sachen nicht mehr. Du erwähnst einmal, in Eurer Aussprache sei von einem uneröffneten Brief von mir die Rede gewesen, – nachher schreibst Du, L(andé) sei ruhiger geworden und „heute erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen.“ Ich könnte daraus entnehmen, er hätte sie beide bekommen. Das wäre mir sehr unangenehm. Kannst Du diese Befürchtung zerstreuen?

Die Kunstausstellung beschäftigt hier die Gemüter enorm. Dieses Entsetzen über die „moderne Kunst“ hat etwas Groteskes, nachdem die eigentliche Woge schon vor 5 Jahren vorübergebraust ist. Was „moderne Kunst“ ist, werden wir in 40-50 Jahren wissen. Ich war nur in der Akademie; Herrgott, ich bin wirklich froh, da heraus zu sein. Diese Sterilität, Krankhaftigkeit, Selbstbeweihräucherung ist widerwärtig. Aber sie meinen, die Augen der Welt ruhten auf ihnen.—10

Professor Witte freute sich über Dein Kommen. Aber geht mit viel zu viel Elan in diese erneute Freundschaft hinein. Ich kenne das schon: Um so schneller kommt der Zwickpunkt, wo ich nicht mehr mit kann.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder. In treuer Anhänglichkeit Dein Harro.

 

157. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 11.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief hat mich etwas mit Sorge erfüllt. Bitte nimm die Kokkensache nicht auf die leichte Schulter. Gewiß kann die Hüftsache rein toxisch, also eine Vergiftungserscheinung sein, ich habe aber bei Bekannten auch ein Überspringen der Streptokokken gerade auf das Becken erlebt und das war eine endlose Geschichte, die zwar schließlich gut ausging, aber eine jahrelange Quälerei mit sich brachte. Also nur nichts vernachlässigen und nur nicht mit einem Feld-Wald-Wiesendoktor sich begnügen, sondern eine wirkliche Autorität rechtzeitig fragen! Demgegenüber tritt die Enttäuschung ganz zurück, Dich jetzt nicht hier zu sehen. Es wäre zu nett gewesen. Vielleicht wird aber mal ein Besuch von Dir (mit der Eisenbahn11) möglich, ehe Du Deine Arbeit aufnimmst. Dann natürlich ohne Lola als reiner Privatbesuch auf meine Kosten. Überleg Dir’s mal.

Rolf hat Dir sachlich richtig, formal nicht ganz korrekt berichtet. Es war keine „Beratung“ über Deine Zukunft“, wohl aber ein Erwähnen Deiner Zukunftsmöglichkeiten, bei dem wir einig waren, daß die Entscheidung ausschließlich bei Dir liegen könne. Alles käme auf Deine Schöpferkraft im Künstlerischen an.

Es tut mir leid, daß Du meine Aussprache mit Landé nur teilweise billigst. Ich glaubte, ihm und Dir einen Dienst zu tun. Du hattest mich ja auch ausdrücklich ermächtigt, daß ich sehr zart und andeutungsweise vorging, versteht sich von selbst.

Was den Brief betrifft, so weiß ich nur von einem, der nach Deiner Abreise eintraf. Ich wußte ja selbst von dem zweiten nichts. Ich hatte mit ihm davon gesprochen, daß er einen Brief erhalten würde, ehe er ihn hatte.; da sagte er, er würde ihn doch nicht öffnen; tags darauf erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen, aber noch uneröffnet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern habe ich ihm herzlich geschrieben. Vielleicht daß er darauf mal reagiert. Wende habe ich gebeten sich ein bißchen um ihn zu kümmern.

Ob ich mir die Kunstausstellung in Cassel besehe? Sie schließt am 1.8.. Vorher komme ich sicher nicht hin. Auch bleibe ich lieber möglichst lang hier. Auf den 3.8. habe ich mir Ritter für 8 Tage nach Steglitz eingeladen, wo ich dann allein mit ihm hausen werde, 2 Tage noch dienstfrei. Das könnte sehr, sehr nett werden.

Hier lebe ich sehr ruhig von Mahlzeit zu Mahlzeit. Morgen reist meine Frau für 8-10 Tage nach Neuwied. Ich lese mancherlei; Brandi über Geschichtswissenschaft, Ritters Picatrix, eine schöne perspektivenreiche Arbeit, und vor allem Spengler II. Das Buch fesselt mich doch sehr, aber es ist eine richtige Arbeit. Einstweilen war noch viel Unruhe, ein Kommen und Gehen, holländischer und englischer Besuch, man verliert noch viel Zeit mit Gesprächen, da sich die Geschwister meist ein Jahr nicht gesehen haben! Gestern machte ich einen schönen Waldgang allein mit meinen zwei Buben; das war ganz besonders nett. Die Landschaft ist doch immer wieder entzückend. Hellmut schwelgt im Spiel mit den Babies, Walter hat Altersgenossen, jeder lebt nach seiner Facon, nur die Mahlzeiten zwingen alle zur Konsumptionsgemeinschaft.

Aus Berlin hatte ich bisher nur eine Karte von Wende. Doch habe ich ihm von unterwegs schon dreimal, und zwar einmal besonders intensiv geschrieben.

Mir geht’s zur Zeit harmonisch; ich lasse schmoren, was schmoren will und soll und freue mich dessen, was ich besitze. Oft und immer wieder wenden sich da meine Gedanken auch zu Dir. Zur Zeit sorge ich mich um Dich. Sieh’, daß ich’s bald nicht mehr brauche.. Grüße Deine Eltern und Rolf, die Meinigen grüßen Dich. Von Herzen Dein Carl.

 

158. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.7.1922

Mein lieber Carl!

Zu Besorgnissen um mich liegt kein Grund mehr vor. Es kann als erwiesen gelten, daß es sich um irgendwelche Kokken gar nicht handelt. Auch geht es mir für gewöhnlich ausgezeichnet, von merkwürdigen plötzlichen Rückfällen abgesehen, deren Unberechenbarkeit mich allerdings leider in meiner Bewegungsfreiheit behindert. Ich hatte beschlossen, mich als Ersatz für die Tour mit L(ola?) noch ein wenig in unser Gartenhäuschen in Wilhelmshöhe zurückzuzie-

hen. Wir wollten dort auf Feldbetten schlafen, selbst das Essen machen, Sonnenbäder nehmen: L. wollte Landschaften malen und ich den Garten bewirtschaften. Aber ausgerechnet auf dem Rückweg von der Inspektion des Grundstücks bekam ich wieder solche Schmerze, daß wir die Idee vorläufig Idee bleiben ließen. Fast bin ich geneigt, an Hysterie zu denken, denn seit diesem tage habe ich wieder nichts mehr gespürt. Auf die nächste Diagnose bin ich gespannt.

Meine Eltern und Geschwister sind sämtlich verreist; ich bin Herr des Schlachtfeldes. Es gelingt mir ohne Mühe, 9-10 Stunden durchzuschlafen; das ist aber auch das Wertvollste, was ich zur Zeit leiste. Zum Lesen fehlt mir die Sammlung; ich gehe spazieren und mache wohlerzogene Antrittsbesuche.

Brief Harro Siegel
Brief Harro Siegel

Für Deine Einladung danke ich Dir sehr, aber ich möchte eine Reise vorläufig nicht wagen. Nächste Woche habe ich noch frei; vielleicht sage ich mich dann noch plötzlich an – die Ausstellung hier bleibt bis zum 28.8. geöffnet; mir scheint sie freilich des Besuchs des Staatssekretärs kaum wert. Um zu einigen wundervollen Thomas und Steinhausens zu gelangen, muß man sich durch mehrere Misthaufen von Manifestationen der Modernisten (unleserlich) durchfressen. Das ist gute, ehrliche Arbeit – wirklich schon sehr selten. Aber, ich habe nichts gesagt,- ich bin nicht Maler – Dein Wort von meiner Schöpferkraft im Künstlerischen tut mir eigentlich weh. Eine Art Künstlertum will ich mir nicht einmal absprechen, – aber Schöpferkraft? Keine Spur.

Wenn ich mir jetzt so meine alten Mappen besehe, so belächle ich einerseits mit leiser Rührung die Unbefangenheit, mit der ich diese Dinge einst bitterernst machte, und andererseits fühle ich mich mehrfach befreit, weil ich das jetzt nicht mehr nötig habe. Herr Witte freilich erzählt den Leuten, dies sei bloß die neuste Koketterie des Grafen. –

Also, ich mißbillige Deine Aussprache mit L(andé) nicht – hinter meinen diesbezüglichen Äußerungen stecken andere Affekte, die sich ungern zeigen wollten; ich weiß nicht, ob ich mit der Konstatierung von Mitleid bei der letzten Staffel angelangt bin. Im Gegenteil danke ich Dir aufrichtig für alles, was Du unternimmst, ihm Klarheit und damit hoffentlich Beruhigung zu geben.

Ich bemerke, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Dir zu schreiben. Ich könnte Dir noch von allem Möglichen erzählen; doch sei’s zum nächsten Mal verschoben.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder, insbesondere den Muckel. Herzlichst Dein Harro.

PS. Ist nun das Hochgefühlsäußerung hier?

 

159. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 18.7.1922

Lieber Carl!

Leider ist dieser Akt nicht von mir, sondern von Michelangelo. Hab vielen Dank für Deine Einladung; leider kann ich ihr vorläufig noch nicht folgen. Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber es ist noch große Vorsicht geboten.

Da aber die Aussicht, Dich hier zu sehen, durch Eure Wanderpläne so nahe rückt, bin ich ganz getröstet.

Wenigstens aber haben wir jetzt unsere alte Absicht wahr gemacht und bewohnen unser Waldhäuschen. Es ist weniger ein Tusculum, als viel mehr ein „our rustic“, aber es gefällt uns ausnehmend. Nächstens bekommst Du eine Schilderung unseres Tuns und Treibens hier.

L(andé?). (er läßt sehr grüßen) sitzt und verschlingt Spengler II. Ich lauere nur darauf, daß er damit zu Ende kommt, um mich insgleichen darauf zu stürzen.

Herzlichst Dein Harro

 

160. Postkarte von C.H.B an Harro Siegel. Gelnhausen, 19.7.1922

Lieber Harro!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Freue mich sehr, daß Du bald wieder so weit bist, eine Wanderung anzutreten. Schone Dich nur gar! Hier bist Du natürlich sehr willkommen, wenn wir Dich im Augenblick auch nicht logieren können, da wir allein am Herrschaftstisch 17 Personen sind. Aber es wird sich trotz bestehenden Schützenfestes schon ein Quartier finden lassen. Bitte nur rechtzeitig um Nachricht. Lola braucht sich gar nicht in die Büsche zu schlagen. Toilette macht hier niemand. – Die Meinen sind seit gestern auch hier. In Bieberstein war’s ganz famos. Näheres mündlich. Herzlichst Carl

 

161. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Sonntag Abend, (Juli 1922)

Mein lieber Harro!

Nur rasch mit bestem Dank für Deinen lieben Brief die Mitteilung, daß ein Besuch hier diese Woche gut paßt, auch zum Logieren, nur nicht am Samstag (Geburtstag meiner Frau, die Freitag aus Neuwied zurückkommt) und Sonntag. Da ich auch sonst noch mal fort will und wir bei gutem Wetter Ausflüge machen, schreib gleich, ob und wann Du kommst. Mittwoch bis Freitag wäre z. B. sehr schön. Aber ich dränge nicht – Du weißt ja.

Meines Bruders Else will gern mit mir und den Buben einen Ausflug nach Cassel machen. Vielleicht wird was draus.

Walter schrieb an meine Frau: „Vati liest Tag und Nacht Spengler.“ Das ist richtig. Der 2.te Band ist einfach fabelhaft. Lies ihn, wenn Du kannst, sonst will ich ihn Dir später mal schicken. Ein unerhört anregendes Buch.

In Eile, aber von Herzen Dein Carl.

 

162. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 27.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief an mich war mir eine Enttäuschung, Dein Gruß an meine Frau eine sympathische Überraschung. Ich hatte so fest auf Dein Kommen gerechnet, daß ich sogar den Walter an die Bahn geschickt hatte – für alle Fälle. Nunmehr werden wir uns also so bald nicht sehen; denn aus der Ausflugsfahrt nach Cassel wird nichts; obendrein geht mein Urlaub zu Ende. Ich reise am 3.ten , am 4.ten kommt Ritter zu mir, am 7.ten beginnt mein Dienst. Ich finde den Plan sehr nett. Auch Ritter scheint sich drauf zu freuen. Wir zwei sind dann ganz allein in der Schillerstraße 2, was bei Ritters seelischem Zustand gewiß seine Vorzüge hat. Er schrieb mir dieser Tage wieder mal einen trübsinnigen Brief. Wie immer war gerade einer von mir unterwegs.

Die gleiche Kreuzung erlebte ich dieser Tage mit einem Brief von Landé. Ich hatte ihm bald nach meiner Ankunft hier sehr herzlich geschrieben. Als ich 14 Tage ohne Antwort blieb, schrieb ich ihm nochmals herzlich, ohne ihn aufzuziehen, sagte ihm sein Schweigen verriete mehr Styl als ein abgequälter Brief. Er solle mir lieber nicht schreiben, ich wollte nur, daß er sich nicht auch noch mit dem Gedanken des Nichtschreibenkönnens herumquälen. Sein Brief war ruhig, herzlich, glatt und sympathisch. Dein Name kam nicht drin vor, so daß ich nicht weiß, ob er Deinen Brief inzwischen eröffnet hat. Nur an einer Stelle schwingt Vergangenes an, wo er einen starken persönlichen Dank mir gegenüber mit den Worten abschließt: „Ich möchte das um so mehr in dieser Zeit, wo ich – auch das andere Sie wie alles in mir verstehen – leicht geneigt bin, vieles aus meinem Leben fortzuwünschen, auszuradieren, wenn es ginge.“

Der Brief ist sehr beherrscht und so einwandfrei und sympathisch, daß ich ihn meine Frau lesen ließ, der Landé nicht sympathisch ist, um ihn ihr etwas näher zu bringen, was auch gelang. Ich glaube, daß er die Krise überwunden hat. Von Dir werde ich nicht mehr mit ihm empfangen.

Ich habe inzwischen Spengler zu Ende gelesen. Einige meiner Lieblingstheorien sind darin stark bekämpft respektive mit großer Geste als unmöglich abgelehnt. Andere Theorien von mir sind verstärkt und vertieft gesehen. Deshalb habe ich ein besonderes Verhältnis zu diesem Buch. Als Ganzes ist die Konzeption bewundernswert, mit der Schärfe eines Dogmatikers hat er seine Summa theologiae Spenglerianae aufgebaut. Je schwächer seine Argumente, desto größer die Selbstverständlichkeit und die Geste. Der Kernpunkt, eine gewisse Parallelität

historischer Entwicklung, Frühkultur, Zivilisationsepochen ist zweifellos richtig, aber nicht ganz neu. Die dionysische, magische, faustische Seelenlage ist glänzend herausgearbeitet. Der bis in die Einzelheiten gehende Parallelismus ist sicher falsch. Wenn man a oder b bei einem Schluß durch ein beliebiges X ersetzen kann, entstehen Parallelitäten, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Überhaupt redet er immer von Wirklichkeit, er ist aber ganz ein Mensch der Wahrheit d.h. er vergewaltigt die Wirklichkeit. Immerhin ist’s ein kühner, großer Wurf. Ich will ihn nicht bemänteln – trotz einiger Entgleisungen in die Tagespolitik im deutschnationalen Sinn. Solche Leute müssen Aristokraten sein oder werden, wenn es ihnen glückt eine solche Moles (??) einheitlich zu bedecken und zu gestalten. Als Wurf bleibt es ein Kunstwerk und es bleibt erstaunlich, daß trotzdem auch der Historiker soviel davon lernt.. ich habe Ritter gebeten, es auch in Berlin zu lesen, damit wir’s einmal durchdiskutieren können.

Im Übrigen schreibe ich Briefe, gehe jeden Sonnenaugenblick in den Wald, spiele sogar nach 9jähriger Pause mit einigem Erfolg wieder Tennis, habe aber noch nichts Gescheites gearbeitet. Ich denke wie immer oft an Dich und bin sehr neugierig, bald Erfreuliches von Deiner

Gesundheit und Deiner Arbeit zu hören.

Lohe’s Brief über Schröter hat inzwischen Wätzold bearbeitet und Gutachten von Witte und Bantzer eingezogen. Witte versagt dem Künstler die Hochachtung nicht, diskreditiert aber den Menschen. Bantzer äußert sich sehr freundlich. Wätzold will gern etwas tun. Die paar 1000 Mark, die wir aus unserem Fonds geben können, helfen nicht weiter, eine Stelle ist nicht frei und würde sich auch nicht empfehlen. Bleibt nur der Ausweg, den Kunsthandel oder wieder Private zu interessieren. Dafür brauchen wir wenigstens einige photographische Nachbildungen seiner Arbeiten. Können die beschafft werden oder welchen Weg der Unterstützung hat sich Lohe sonst gedacht? Bantzer hat geschrieben, Lohe kenne Schr(öter?) am besten, man solle lieber ihn fragen. Das hatten wir natürlich nicht mehr nötig.

Grüße Lohe und laß bald Gutes von Dir hören.

Ich denke dankbar Deiner. Von Herzen Dein Carl.

 

163. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 30.7.1922

Mein liebster Carl!

Was magst Du von mir denken? Längst hätte ich Dir geschrieben, auch schon vor der Ankunft Deines letzten Briefes, für den ich Dir sehr von Herzen danke. Wir sind aber in letzter Zeit bedeutend mit Besuch gesegnet (allein 8 Menschen aus Holland), so daß ich wirklich keine Zeit zum Schreiben finde. Ein langer Brief in den nächsten Tagen ist Dir gewiß (ich habe Dir sehr viel zu berichten). Jetzt nur diesen kurzen Wisch, damit Du doch was hast. Morgen ziehe ich wieder in die Stadt. L. reist nach Hause, in wenigen Tagen beginnt die Arbeit.

Es geht mir jetzt ausgezeichnet, ich habe sehr zugenommen, und was ich treibe, ist eigentlich die rechte ars semper gaudendi. Ich Esel hätte seinerzeit telegraphieren sollen; Dein Brief kam stark verspätet hier oben an, natürlich erreichte Dich da der meine nicht rechtzeitig. Könnte ich Dich nicht am 3. (August) in Bebra treffen und bis Eichenberg mitfahren? Dann gib mir bitte Nachricht, – und wann.

Deinen Brief habe ich nicht hier, – beantworte ich das nächste Mal. Über Schw. wird Dir L(andé?) schreiben.

Nun lebe wohl. Und sei mir nicht böse ob dieses Wischs, der so wenig Deinem lieben ausführlichen Brief entspricht.

Immer der Deine! Harro

Bitte grüße Deine gesamte Familie.

 

164. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 2.8.1922

L(ieber) H(arro)!

Deinen freundlicher Brief fand ich gestern Abend an, als ich mit Muckel von unser wohl gelungenen Fußtour heimkam. Nachricht würde Dich kaum mehr erreichen, und ich bin auch dafür, ein Wiedersehen zu verschieben. Nach den schönen Stunden in Berlin würden wir von einer kurzen Eisenbahnstunde doch wenig haben. Ich komme übrigens im September und im Oktober wieder nach Hannover-Hessen, einmal zu einer Hochzeit, das andere Mal zu einem Vortrag. Vielleicht fügt es sich es sich dann einmal. Inzwischen hoffe ich mal auf einen richtigen Brief.

Zwischen Packen und Räumen grüßt Dich Dein alter C.

 

165. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 4.8.1922

Mein lieber Harro!

Veranda – herrlicher (unleserlich). Sonntag Nachm(ittag) 6 Uhr, nach dem Café, seit Tisch sitze respektive liege ich mit Ritter hier herum. Zwei Tage sind wir jetzt beisammen. Wir haben entsetzlich viel miteinander geredet, gestern ununterbrochen 14 Stunden hintereinander – von Gott und der Welt, Alfred und Ghazali, Politik und Studentenschaft und immer wieder von dem alten unerschöpflichen Thema, auf das unwillkürlich die meisten Gespräche wieder hinauslaufen. Es ist friedlich und behaglich. Ritter ist der Alte. Er hat immer seine schweren, seine schweigsamen und seine lustigen (?) Stunden gehabt. Auch ich fand ihn genau so wie Du ihn geschildert.

Morgen fängt nun für mich der Ernst des Lebens wieder an. In Gelnh(ausen) sah ich ihm mit Freuden entgegen, hier mit Entschlossenheit. Ich will die Passivität des letzten Jahres überwinden. Ich will es tun und doch gleichzeitig mehr Zeit für Haus und Familie gewinnen. Die Harrostunden sind ja jetzt frei – und ihrer waren nicht wenige. Die Phantasie darf auch nicht mehr so viel Freistunden haben. Auch andere Gäste meiner Freistunden werden knapper gehalten werden. Ich bin neugierig, ob ich dies schöne Programm verwirklichen werde.

Hab Dank für Deinen Brief. Du wirst verstanden haben, daß ich Dich jetzt auf einer kurzen ungemütlichen Eisenbahnstrecke nicht sehen mochte. Du kannst das als Aktivum, nicht als Passivum buchen.

Ich freue mich, daß Du wieder gesund bist. Hoffentlich hält es an. Dein Zus(ammen)leben und Dich Zus(ammen)finden mit Lola hat mich für Dich gefreut. Den Altersgenossen ersetzt einem kein älterer Freund. Daß auch ich gern einmal so ganz mit Dir zus(ammen)leben möchte, weißt Du, doch es ist wenig Aussicht. Vielleicht ist es gut so; denn es wäre vielleicht eine Enttäuschung. Der feste Glaube ist immer mehr als eine enttäuschende Realität.

Fall Landé – ich schreibe Dir darüber, sobald ich klar sehe, was nicht ganz schnell der Fall sein wird, da ich ihn nach nichts fragen werde. Er gibt sich heiter, diensteifrig, beginnt (morgen? Weggelocht) seinen sogenannten Urlaub, den er auf seinem Dienstzimmer verbringt. Ich sprach ihn bisher nur durchs Telefon. Daß Du Reue empfindest, ist nur berechtigt. Der Jugend Alfreds kann man verzeihen, was man der Erfahrenheit eines Hans nicht ganz so leicht vergibt, so klar mir psychologisch der Fall liegt. Du wirst mehr über Landé von mir hören.

Wendes waren sehr beglückt über Deine Zeichnung. Erich war das (unleserlich) und aufrichtig bewundernd.

Ritter tobt über Spengler, der marktschreierisch Wahrheiten verkünde, die andere gefunden hätten. Der Rest sei Phantasie und Unsinn. Als ich ihm diese Formulierung vorlas, erhob er Protest. Tatsächlich ist’s aber so. Dabei ist sein psychoanalytisches Weltbild etwas morphologisch!– Leb wohl! Ich denke Deiner in Treue. Carl.

PS. Brief von H. Ritter an Harro Siegel.

Warum hast Du mir nie von Lohe erzählt? Wie ist das. Ich komme nach Cassel nur dann, wenn ich dort Menschen finde, die ich brauche. Zus(ammen)sitzen und trauern, kann ich nicht. (Verschmierte Passage) Also ist es wohl besser ich komme nicht. Ich will auch zu Schaade. Vielleicht sind dort Menschen, die einen ablenken und eine Freude machen. Schreib mir mal. Dein HR.

 

166. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 15.8.1922

Mein lieber Carl!

Was verstehst Du nun eigentlich unter Passivität? Das möchte ich in der Tat wissen, nachdem Du Dein letztes Jahr als unter diesem Zeichen stehend siehst. Ich für meine Person habe Dich immer so aktiv gefunden – auch in der Contemplation -, daß ich mich von meiner Passivität oft geradezu umschnürt gefühlt habe. Aus dem Willen es Dir (formal wenigstens) irgendwie gleichzutun, ist schließlich der Entschluß zur Werktätigkeit mit erwachsen.

So wünsche ich Dir das beste Gelingen Deiner Pläne; aber nicht wahr, Du gehst nicht ans Kapital!—

Für Deinen Brief danke ich Dir sehr. Wie war es nur mit Ritter? Dauert seine taten- und träumelose Lethargie immer noch fort? Freilich, – er schrieb neulich recht viel froher, er habe dort in B. einen alten Freund wieder aufgetan. Das ist ja sehr schön; glaubst Du nun, daß er aufpaßt und nicht aus lauter Liebe auch diese Freundschaft erstickt?— Seine Mutter lechzt nach einem Lebenszeichen, es kommt aber keins. Was muß es für einen Eindruck auf diese (pracht-volle) Frau machen, wenn ich sie in seinem Auftrag besuche, um ihr Grüße und alles mögliche sonst von ihm zu bestellen? Ich werde das nicht wieder tun.

Was mir bei Landé leid tut, ist dieser starke Wille, alles ungeschehen zu machen. So kann ihm doch unmöglich Erlösung werden. Man kann wohl Arme und Beine amputieren, aber nicht das Wissen, daß man sie mal hatte. Wie traurig, daß er nun seinen Urlaub so verbringt. Chronischer Selbstmord.

Seit anderthalb Wochen bin ich nun wieder an der Arbeit. Die Werkstätte liegt unten in der Altstadt an einem malerisch-mittelalterlichen Platz (aber ich sehe ihn nicht, denn unsere Scheiben sind geätzt) und bildet die Ergänzung zu einem Papierladen, in dem es auch Schul- und Gesangbücher und christliche Wandsprüche zu kaufen gibt. Betrieben wird es von zwei Meistern, die im Schwiegervater-Sohn-Verhältnis stehn. Sehr christliche, ehrbare, monarchistische Menschen, mild und verträglich von Charakter, der Alte etwas mürrisch, aber gut geartet, der jüngere etwa 45, sehr blauäugig-blond mit einer Hensige(?)-Ecke, ist gebildet, besucht die Münchener Ausstellung und schwärmt für Garmisch. Zwei Casselaner (unleserlich) sind meine Kollegen. Die Arbeit ist nach Art und Gegenstand völlig anders als in B(erlin?). Schlechtes Material, die Maschinen in einem skandalösen Zustand, Umstände werden nicht die geringsten gemacht, Herr Linnemeyer (Berlin?) würde verzweifeln. Ich sehe jetzt, wie mich der mit guter Zucht verwöhnt hat, muß mich an vieles sehr gewöhnen und bin vorläufig noch etwas deprimiert, weil ich schlechter arbeiten muß, als ich könnte. Es heißt immer: „Gottsgemicke, disse Umstände, (unleserlich) würen wir aus derg nit uffheben!“12

Aber man scheint zufrieden; auch werde ich ein kleines Gehalt bekommen. Sehr viel Neues übrigens, wozu ich sonst niemals gekommen wäre, lerne ich auch dazu. – Denkbar unpraktisch ist die Arbeitszeit gelegt, nämlich von 8-12 und von 2 bis ½ 7 (Uhr). Da kommt man zu wenigen Dingen sonst.

Ich lebe erstaunlich regelmäßig; fast hasse ich mich ob meines Hasses gegen das Extraordinäre. Ich bekomme aber Verstimmungszustände, wenn ich das Weltkind Lohe sehe, der mit Zeit und Kraft so gar nicht zu zeigen braucht, Gottweißwas anstellt und dabei doch fleißig kleinen Bilder in Lumpen (?) und eine moderne zimtfarbige Dogge lebensgroß in Öl malt. Wobei übrigens die immer und nur allzugern assistierende Besitzerin dieses Tieres sehr überlegt und fein behandelt sein will, was dem guten L(ohe) nicht stets gelingt. Der schliddert immer in die heiklen Situationen hinein und weiß selbst nicht wie und wie wieder heraus.

Kunstausstellung und Akademie erhitzen hier die Gemüter sehr. Cassel verteidigt sich heftig gegen den Überfall der Modernen, (die lange von vorgestern sind). Vielleicht haben sie recht; man soll uns ruhig unsere lieblich-romantische „Gassenkunst“ lassen (und welche Blüten sie treibt!); was an Neuerem sich hier versucht, ist längst wieder ganz (?) akademisch geworden und kann nicht erwärmen (Dülberg nicht ausgenommen, der mir übrigens persönlich absolut nicht liegt; ich würde ihm nie trauen).

Nun, endlich genug des Lokalen.. Ich lese sehr gefesselt den mir noch unbekannten Hyperion und noch manches andere. Sonntags gehe ich mit Rolf und unserem kleinen Pensionär in die Berge; ich höre ihnen auch die Arbeiten ab und schneide ihnen die Haare.. Sie haben mich sehr gerne.

Mit meinem Vater geht’s gut, sehr gut sogar, bis jetzt. Grüß Deine Angehörigen und besonders Wende. Herzlichst Dein getreuer Harro.

 

167. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 18.8.1922

Mein lieber Harro!

Auf Deinen lieben Brief sollst Du einen kurzen Gruß haben, in später Abendstunde, vor dem Schlafengehen. Zu langen Briefen reicht es nicht mehr. Du bist überhaupt der Einzige, dem ich noch mit der Hand schreibe.

Die Tage mit Ritter waren nett. An einem Tage habe wir uns ohne Unterbrechung 14 Stunden lang unterhalten. Das war der Record. Er war erst sehr nervös (?), fahrig, zerstreut, schweigend, nur gelegentlich sich im Reden äußernd (?).Alfred, immer wieder Alfred. Ich brauchte viel Liebe und Geduld. Dann tauchte plötzlich ein „Freund“ auf, erst etwas verschwommen, offenbar war er ihm eingefallen und er wußte nicht wie alles laufen würde. Er besuchte ihn Nachm(ittags), während ich im Ministerium war. R(itter) telefonierte an, ob er ihn zum Abendessen behalten dürfe. Als ich kam, saß er am Flügel, wozu er bisher ganz unlustig gewesen war. Weiter brauchte er mir nichts zu erzählen. Es ist ein netter junger Theologe, 4. Semester, heißt Reichmut, Pfarrerssohn aus Potsdam, Kriegsbekanntschaft aus der Türkei, er damals noch ein Knabe, schloß sich an, nie ganz vergessen, briefliche Initiative zur Wiederanknüpfung von dem Jungen ausgehend. Selbstverständlich, natürlich sehr selbstverständlich, was Ritter natürlich beglückte. Als ich kam, war die gemeinsame Bootsfahrt im Herbst bereits verabredet. Sie waren damals täglich zus(ammen), einen ganzen Tag auch ganz hier im Hause, ich war leider dienstlich verhindert (Verfassungstag).

Von Stund an war Ritter ein anderer Mensch, frisch, interessiert für alles, heiter, arbeitslustig. Nun brauche er nicht mehr im Lande herum Zerstreuung zu suchen. Nun wolle er nach Hamburg zurück, jetzt könne er arbeiten. Also geschah’s.

Wir haben über vieles geredet. Auch lange über den Punkt, den Du nicht mir gegenüber formulieren konntest. Er tat’s, bezog sich auch auf Dich. Es war ganz lehrreich für mich und ich werde die Konsequenzen daraus ziehen.

Seit 8 Tagen sind auch die Meinigen zurück. Ich bin sehr froh darüber. Allabendlich bin ich jetzt um 7 (Uhr) zum Essen daheim, obwohl das Auto immer noch in Reparatur, und Morgens stehe ich Punkt 7 (Uhr) auf und bin bereits 8 ½ (Uhr) in Dienst. Ziemlich ruhige Zeit, wenn auch abends immer noch Akten. Mit Landé spreche ich oft, Dein Name ist noch nie gefallen. Er hat sich heute unter einem Vorwand vom Referat Hessen-Nassau entbinden lassen. Überhaupt gab’s wieder mal viel Ressentiment. Auch das Disziplinarreferat legte er nieder wegen der Haltung des Ministers in einem bestimmten Fall. In beiden Fällen erwartete er meinen Widerspruch, der aber nicht erfolgte. Ich wende die Sache anders, so ist jetzt aus lauter Ressentiment eine geradezu glänzende neue Referateinteilung geworden. Er wir frei für große Sache, wird wirklich Generalreferent und hört auf Mädchen für alles zu sein. Dieser unerwartete

Ausgang einer Unterhaltung, die er mit Herzklopfen begonnen, bewegte ihn sehr und er schied wirklich befriedigt und entspannt.

Wende macht mir Sorgen. Sein Zustand ist unerfreulich. Er ist überlastet, stumpf und reaktionslos. Unser Mittagstisch ist noch in der Schwebe. In der DMG13 –meist mit anderen – ist kein Ort zur ruhigen Fühlungnahme.—

Von Deinem Brief habe ich ein gewisses Bild Deines Lebens bekommen. Ich freue mich, daß es auch erträglich ist und besonders , daß es zu Hause gut geht.

Jetzt muß ich schlafen gehen. Leb wohl! Die Meinigen grüßen. Herzlichst Dein Carl.

 

168. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 29.8.1922

Mein lieber Carl!

Hab vielen Dank für Deinen Brief; weißt Du, er wäre längst beantwortet, aber ich hatte tiefen Barometerstand in letzter Zeit, mußte sehr bedauern, nicht in Berlin zu sein um mir mit Deiner Unterstützung einige Steine vom Herzen zu wälzen; – brachte es aber nicht fertig, darüber zu schreiben. Ich finde mein Dasei im höchsten Maße ungeeignet, mir zu genügen, was nicht viel zu bedeuten hätte, wenn ich in ihm ein asperum und dahinter irgendwelche astra sehen könnte. Dieses ist aber nicht der Fall. Ich überlege mir dann Zeichenlehrer hin und her, und komme immer mehr davon ab. Von immanenten Gründen abgesehen geht es unter den gerade letzthin eingetretenen Verhältnissen nicht an; noch 2-3 Jahre ans Studium zu hängen, nachdem – realpolitisch genommen – schon so viel Zeit verloren ist. Man wird energisch Geld verdienen müssen wie alle anderen. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht überhand nimmt, wird ein Buchbindergehülfe ja auch Platz finden; in Holland steht mir übrigens eine solche Stelle in schwacher Aussicht.

Hiervon abgesehen habe ich aufgehört Pädagogik und –philie (??) in einen Topf zu werfen und muß für mich Fähigkeiten auf dem Gebiet der ersteren in Abrede stellen. Ich sehe das deutlich an meiner Art, mit Jungens und Jüngeren zu verkehren. Ein gewisses Interesse für einzelne ist da, aber es fehlt die Fähigkeit, dies zur „Liebe zur Jugend“ zu sublimieren; man findet es beiderseits nett, zusammen zu sein, aber von der Übermittlung irgendwelcher Güter, ethischer oder Bildungs-, ist keine Rede. Eine solche Aufgabe würde an meiner Selbstkritik

scheitern, glaube ich.

Was künstlerische Betätigung anlangt, so weißt Du ja, wie’s da steht. Was bei mir nicht so aussah, war doch wohl Selbstbetrug (wiewohl ein nicht uninteressanter und meiner durchaus würdiger), aber ich bringe es nicht mehr dazu.

Was andere Leute dazu bringt, Bilder zu malen, diese und sich selbst ernst zu nehmen, begreife ich nicht mehr; ich sehe es interessiert, verwundert in den guten Fällen, und zornig oder höhnisch in den überwiegenden üblen. Für mich kommt so was nur noch als nettes Spiel für Feierstunden in Betracht. Moderne Kunstausstellungen langweilen ich unendlich und erkälten mich. Warringer hat doch nicht so unrecht, wenn er in „Künstlerische Zeitfragen“ die These aufstellt, der Kunstgeist habe sich seit dem XIX. Jahrhundert mehr und mehr ins Denken, in die Wissenschaft geflüchtet; die Husserl’sche Schule, die Georgejünger, Gundolf, Kayserlink und Spengler belegten das. Jeder Ehrliche muß doch auch zugeben, daß ihm aus diesen Büchern mehr Geist natürlich, aber auch mehr Sinnlichkeit anströmt, als aus aller modernen Malerei und Graphik. Revertor ad meas res: Ich bleibe also beim Leisten und nun verüble mir nicht, wenn mich das malerpolitisch (?) erregt. Meine Tätigkeit wird mir ungelogen oft zur Fron, von morgens ½ 8 bis abends ½ 7 (Uhr, es bleibt mir so gar keine Zeit für mich. Gewiß, Du zum Beispiel hast davon noch weniger, aber darfst Du doch im Dienst Du selbst sein, und Du weißt, was und wofür Du arbeitest. Diese neue Depression wird doch nur hie und da erhellt, durch eine Arbeit, die Talent und Initiative erfordert, durch ein gelungenes Stück. Immerhin, ich arbeite jetzt sehr viel selbständiger und verdiene wöchentlich 50 Mark. Mir will übrigens scheinen, als seien die Zeichen einer Aufwärtsentwicklung des Handwerks nicht eben günstig. Sich heute neu etablieren kann nur ein Großkapitalist; und die bestehenden Geschäfte geraten durch das billigere Angebot der Fabriken sehr in die Enge. An Selbständigkeit ist für mich kaum zu denken.

Na, überhaupt, – aber ich verliere den Kopf mitsamt der Objektivität; sehe den bisherigen Studiengang als nutzlose Zeitvergeudung und blicke düsteren, tränenlosen Auges in die Zukunft. Warum, warum? Auch meine Familie findet mich nachgrade etwas reichlich mit mir selbst beschäftigt; mit Recht, – Gott besser’s!

Lohe reist morgen fort; mir tut es sehr leid; ihm auch. Für ihn ist’s aber gut; meine Zweifelsucht war keine Kost für ihn. Und noch aus anderen Gründen; ich muß jetzt ein bißchen allein sein, Ruhe haben. Gut, daß Ritter den jungen R. mit herbringt; so braucht er mich nicht; ich hätte nichts zu bieten.

Der arme Wende! Man soll nichts sagen, es gibt immer noch Leute, die es viel schwerer haben, als man selbst. Ihm sehe ich’s an der Nasenspitze an, daß dies der Fall ist, – zugleich mit einer gewissen Unentrinnbarkeit; ob ihm zu helfen ist, ob er sich selbst helfe kann? Grüße ihn bitte sehr.

Von Benecke erhielt ich kürzlich einen netten, wiewohl nicht eben inhaltsreichen Brief. Er schreibt übrigens, L(andé?) habe sich die letzte Zeit sehr zu seinem Vorteil gewandelt, sei ruhiger und zielbewußter geworden. Bestätigst Du das? Das wäre schön.

Was macht Deine Familie? Bitte grüße doch alle und empfehle (unleserlich, weggelocht) mich Deiner Frau. Und was ist mit Dir? Bekommt Dir die Mehrarbeit gut?

Herrgott, was ist dies nun wieder für ein Brief! Ich möchte solche nicht bekommen; wann wird es mir gelingen, den mir zuteil gewordenen sportiven Geist vom Ich zu lösen und für mich und andere erbaulich an objektives Gut zu wenden.

Letzten Freitag habe ich mir an der Beschneidemaschine den linken Zeigefinger bis zur Knochenmitte durchgesäbelt und muß nun in unfreiwilliger Muße warten bis er wieder festwächst, was noch eine Woche dauern wird. Das sind solche Freuden.

Für Dich bleibt meine Gesinnung unwandelbar – Dein Harro.

 

169. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 1.9.1922

Mein lieber Harro!

Das war ein trüber Brief. Und Du hast ihn selbst gleich wieder Lügen gestraft. Wer so eine Zeichnung wie die des Bärleins hinhauen kann der ist wirklich nicht zum Buchbinder geboren. Und doch liegt eine gewisse melancholische Symbolik in dem Bilde. Deine (unleserlich) Margiana (?) ist wirklich noch nicht gestorben. Du hast alles Recht an sie zu glauben. Mensch, Mensch! Wie gern hätte ich Dir den Kopf gewaschen. Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben. Hoffentlich hast Du Dich wenigstens durch den Brief an mich befreit. Gefreut hat’s mich natürlich doch, daß Du ein so unverfälschtest Stimmungsbild gabst; denn der Brief war echt in jeder Zeile. Ich mußte mich davon befreien; denn er bedrückt mich; und so habe ich ihn in sicherer Voraussetzung Deiner inneren Zustimmung dem Wende vorgelesen. Schreib mir, wenn’s Unrecht war; dann tu ich’s nie wieder. Aber an der Wirkung sah ich daß es richtig war. Namentlich der Passus über ihn (weggelocht) berührte ihn stark und tat ihm wohl. Auch er freute sich riesig über die künstlerische Einlage und meinte, ein Künstler wie Du würde sich schon durchringen – durch alle Skepsis. Du siehst, an Vertrauen bei Deinen Freunden fehlt es nicht. Du bist einer, der schwer und spät zur Produktion heranreift, aber Du wirst produzieren.

Ich gehe deshalb auch gar nicht weiter auf Deinen Brief ein. Schweren Herzens nahm ich ihn auf, und es war als säßen wir unter der roten Lampe. Laß Dir dies Echo genügen. Diskutieren kann man solche Briefe nicht. Hoffentlich fühltest Du etwas von dem, was mich bewegt.

Jedenfalls mußte ich Dir heute gleich schreiben, so kurz wie’s auch heute nur sein kann.

Zur Zeit ist Schauder (?) hier. Wir hatten gestern einen feinen stillen Abend. Er ist ruhiger, dicker und besser aussehend als je. Seine Habilitation ist in ihrem kritischen Teil erledigt. Vor dem Schluß muß erst seine Arbeit gedruckt sein

Von Landé kann ich auch nur Gutes melden. Er hat 14 Tage seines Urlaubs zu einer großen dienstl(ichen) Arbeit benutzt (Fragenkomplex des numerus clausus), die er heute früh in der Abteilung vortrug, wo ihn niemand recht verstand und würdigte, und die er Nachm(ittags) in einem langen Vortrag mir auseinandersetzte. Natürlich verstand ich ihn besser als die Abteilung. Es ist ein unerhört schwieriges Problem scharf und sauber durchdacht und taktisch klug verhüllend aufgebaut. Ich glaube, es tat ihm sehr wohl, daß ich ihn nicht nur anerkannte, sondern auch sachlich die Tragweite übersah, während Jahnke nur am Styl genörgelt hatte. Er ist ruhig und markiert heitere Resignation. Er wird immer misogyner. Mit Fräulein Zotze macht er gelegentlich Spaziergänge. Er ist weich und wie Wachs mir gegenüber. Deinen Namen habe ich noch nicht wieder ausgesprochen. Er kommt nur, wenn ich ihn rufe, ist dann aber immer freundlich und sympathisch.

Mir geht es gut; körperlich wechselnd. Ich habe noch nicht einen Morgen um 8.10 (Uhr) nicht am Potsdamer Bahnhof gestanden, obwohl das Auto immer noch nicht aus der Fabrik ist. Ich bin jeden Tag spätestens um 7 (Uhr) daheim und gehe um 11 (Uhr) schlafen. Eben kommt Walter tief ergriffen aus dem Hannele heim, Muckel ist zum ersten Mal im Heidehaus (trotz schlechten Wetters) und Hertha ist lieb und häuslich wie immer; ein sonniges Kind, wie sie’s einst in der Wiege war. Mein Frau hat mit einem Mädchen und ohne Köchin viel Arbeit, dazu Zahnarzt fast alle Tage und diese gräßliche Teuerung – eine Qual für alle Hausfrauen. Aber sonst ist alles gut. Seit Anfang dieser Woche bereitet uns Frau Höndel (?)wieder das Mittagessen in vereinfachter Form (wie unser Abendessen), worüber Walter und ich sehr glücklich sind.

Gelegentlich gibt’s eine stille Stunde mit Gragger.

Ich merke erst, wie viel Zeit ich habe, seitdem Du nicht mehr da bist. Dafür kann ich schon manchmal schreiben. Es tritt hier ja doch niemand an Deine Stelle. Die bleibt offen – oder besser gesagt, sie bleibt besetzt.

Halte den Kopf hoch, Du Lieber! Laß Dich etwas stützen durch meinen Glauben an Dich. Leb wohl! Dein Carl.

P.S. Es schlägt 11 (Uhr). Die Meinen und Wende grüßen besonders.

 

170. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 10.9.1022

Mein lieber Carl!

Im Grunde schreibt man ja Briefe wie einen letzten nur, um solche dafür wieder zu bekommen, wie der Deine es war. Man behält das schlechte Gewissen, läßt es toben, wie es möchte, nach allen Regeln der Kunst, und das Gute überantwortet man seinem Freunde, auf daß es von dort her um so tönender und wirksamer – weil doch unverdächtiger – erschalle. Das ist gar nicht dumm und man fährt wohl dabei.

Ich danke Dir für Deine Rückenstärkung von Herzen; gewiß, es ist wahr, daß es mir wohltut, ein paar der schlimmsten meiner schwarzen Nachtvögel zu Dir gejagt zu haben, und ich war erfreut, sie so weiß gewaschen wieder zu erblicken. Doch ist dies nicht das Entscheidende. Nicht eine Widerlegung meiner Thesen galt es, sondern – um in Maik Ritters rauh-treffenden Worten zu reden – eine Art von „Liebeserpressung“, die unsereiner ja immer nötig hat. So ist man nur!

Wenn Du dem Wende meine Briefe vorliest, so ist mir das recht, ja, eigentlich nicht unlieb. Freilich, es kann auch mal ein Brief kommen, der nur Dich angeht, was Du dann zur gegebenen Zeit wohl wittern wirst.

Sonst aber – ich weiß soviel von ihm (wiewohl es wenig ist) durch ihn, durch Dich, mehr noch mich selbst, – daß schon mein Gerechtigkeitsgefühl solcherlei Einblicke für ihn fordert.

Einiges von dem, was im letzten Briefe stand, muß ich aber doch als tatsächlich gelten und stehen lassen. Und es war – halbausgesprochen – eine von mir dem Lohe anvertraute Mission, Dir hierüber noch etwas mehr Klarheit zu geben. Er schrieb gestern von einem Colloquium mit Dir; – hat es im obigen Sinne etwas geleistet? – Es berührt mich merkwürdig, nun aus seinem Munde gewisse Beobachtungen über Dich (und sich selbst vor Dir) zu hören, die ich früher schon angestellt hatte.

Es ist doch eigentlich fast Deine Sendung, einer gewissen Menschenart (zu der Wende, Ritter, er, ich und wer weiß wer noch gehören) zur Erkennungsmöglichkeit ihres Zustandes, zur (unleserlich) Scheidung und Kristallisation zu verhelfen. Das ist unersetzbar. L(ohe?) meint er habe zuviel gesagt, Dinge, die nicht gesagt werden sollten.

Dachte ich auch erst, aber ich finde nun, daß eben diese heiklen Chosen für Dich aufbewahrt werden müssen, und daß es Deine Bestimmung ist, sie zu haben.

Immer findet er, man stünde leicht in allzu gutem Lichte vor Dir und hätte Mühe, das zu korrigieren. Das stimmt nun ganz unbedingt; und eben dieser dauernde Zwang zur Korrektur ist es, dem ich über mich so sehr viele Aufschlüsse verdanke.

Soll ich etwas sagen: Vielleicht ist es bei all dem gar nicht vonnöten, daß Du einen völlig verstehst, und es ist viel mehr Dein Beruf, einen zum Verständnis seiner selbst zu bringen. Denn wir sonderbaren Kreaturen, bei allem Spintisieren, – wir verstehen uns doch selbst nicht immer allzu gut, Deine Meinung aber von uns – treffe sie’s, treffe sie’s nicht – sie beleuchtet bisweilen die Szene, wie es nie zuvor der Fall sein konnte.

Das ist es, was uns an Dich fesselt, und dafür (mit-)liebe ich Dich so.

Erstens liegt es in meiner Natur, das Jetzt zu fliehen und immer ein anderer und wo anders sein zu wollen. Mit dieser (unleserlich: Zielsuche?) – nicht mit der des Jetzt! – beginne ich mich allmählich auszusöhnen. So bin ich, hieraus müßte etwas gemacht werden. Es kann sein, daß mir das gelingt. Hoffen tue ich es bisweilen.

An Deinem Satze: Du wirst spät zur Produktion kommen, ist ganz unbedingt viel Wahres.

Ich muß das Ziel viel weiter hinausstrecken. Auf einer gewissen Art von „Knabenschicksal“ kann ich immerhin zurückblicken, aber es war keine Erfüllung. Ein „Jünglingsschicksal“, das ist mir wohl sicherlich versagt, wie Du zugeben mußt. Wie ich das Bücherwurm! Hier sitzt ein dickes Wurzelende meiner Melancholie.

Bliebe also die Erfüllung eines „Männerschicksals“. Männerschicksal! Vorerst bekomme ich ein wahres Grauen vor diesem Wort; das wird man mir verzeihen. Aber es kann darauf hinauskommen; und besser wie Nichtigkeit ist’s ja; (Dir kann’s aber auch kommen; den stärksten Männern ist das schon passiert!) – Mithin, warten wir’s ab. Erst mal gibt’s noch viel zu beißen, z.B. morgen, wo der Dienst neu beginnt. Der Finger ist geheilt zum Glück; aber diese geschenkten Ferien waren doch recht hübsch. Ich habe viel gelesen, freilich wenig bis zu Ende: Spengler II, Maupassant, Manzoni, Th(omas) Mann, Justi, Carl Spitteler. Von all dem wird noch zu reden sein.

Ich bin recht im Schreibeschwung, aber man ruft schon zum Abendessen, darum Schluß.

Ich verspüre viel Lust, Italienisch zu lernen. Welchen Weg rätst Du mir dazu und besitzt Du irgendwelche Hilfsmittel? Kommst Du etwa zur Pädagogischen Woche? Wenn doch sogar der Minister kommt, zur Knabengeleitsleute-Tagung!

Leb recht wohl! Grüße W(ende?) und die Familie, auch Gragger(?); Lohe schrieb ich selbst schon heute. Immer Dein Harro.

Zeichnung von Harro Siegel an C.H.B. Kassel, Juli 1922

Barbier von Bagdad. Dir zu Füßen liegen/Lippe an Lippe schmiegen

Orer Marzianaaa!! (schlecht leserlich)

Verzeihung; dies war ein früher begonnener Brief an Dich, dessen Inhalt mir heute aber zu ungewiß erscheint, als daß ich Dich Obiges (9 Zeilen unleserlich gemacht) lesen lassen möchte. – Jedoch, ich wollte Dir das Bild nicht vorenthalten.

H.S.22


1 Padua, Hauptstadt (211 000 Einwohner) der Provinz Padova. Universität von 1222! Kunstakademie, wissenschaftliche Institute, Observatorium; ältester botanischer Garten Europas von 1545. (Brockhaus medial 2004)

2 Salone, die Piazza della Erbe vor dem Palazzo della Regione, früher Justizpalast, unten mit Marktbuden versehen , oben ein einziger durchgehender Saal, der heute für Ausstellungen genutzt wird und daher fast immer zugänglich ist

3 Giovanni Battista Tiepolo *1696 Venedig + 1770 Madrid. Bedeutender Vertreter der venezianischen Malerschule. Ich füge hinzu: Würzburger Residenz! BB

4 Dogenplast, Venedigs prachtvollster Profanbau, 71 m lang, mit der Sala del Maggior Consiglio (54×24 m; 15,5 m hoch, mit Bildern aller Dogen von 804-1559 und dem größten Ölgemälde der Welt , Tintorettos Paradies. Paradies (griechisch, aus dem altpersischen) bedeutet Vorhof früher christlicher Basiliken, mit Reinigungsbrunnen, gleichbedeutend mit Atrium. (Dumont, Oberitalien S.280)

5 Venedig gehörte von 1815 bis 1866 zu Österreich…Aufstand 1848 niedergeschlagen.

6 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1923 Berlin. Evangelischer Theologe, Philosoph und Historiker, Professor in Bonn, Heidelberg (Max Weber!), seit 1914 Berlin

7 Muckel ist bei Becker ein familiäres Kosewort, das er und andere auch für den jüngsten Sohn, Hellmut, verwandten. Hier jedoch auf den Freund bezogen.

8 Freundin Harros in Kassel.

9 Hier wohl seine Freundin Lola.

10 Hervorhebung des Herausgebers.

11 Randbemerkung Beckers mit den Abfahrtszeiten der Züge.

12 Hessischer Dialekt…

13 Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft? Kein Hinweis auf den Ort, und daß da ein Restaurant sei.

Harro Siegel, I.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1921/1922

120. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 18.1.1921

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Siegel,

Damit Sie sich wundern, von Herrn Professor Waetzoldt nicht geladen zu werden, teile ich Ihnen mit, daß Herr Waetzoldt, wie ich erst nachträglich feststellen konnte, diese ganze Woche von Berlin abwesend ist. Ich werde aber sofort nach seiner Rückkehr mit ihm über Sie Rücksprache nehmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (gez.) Becker

 

121. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 21.2.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Lieber Herr Siegel.

Es freut mich sehr, Ihnen anbei 1000 M(ark) zur Beschaffung Ihres Handwerkzeuges überreichen zu können. Der Stifter ist der bekannte Privatgelehrte Dr. Heinrich Braun, Berlin-Zehlendorf-M(itte), Am Erlenweg, der Herausgeber der Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Das Geld stammt aus dem Erlös der Lebenserinnerungen und Briefe seines im Felde gefallenen Sohnes Otto Braun, der ein ungewöhnlich vielseitig begabter und vor allem unendlich frühgereifter junger Mann gewesen ist. Mit ihm hat die Nation einen ihrer Besten verloren. Obwohl selbst nicht gerade reich, verwendet Herr Dr. Braun den Reingewinn, den er aus diesem Werk erzielt hat, zur Unterstützung talentvoller junger Gelehrter und Künstler. Ich würde es für richtig halten, daß Sie ihm einmal einen Besuch machen und sich bedanken, vielleicht bei der Gelegenheit ihm auch etwas von Ihren Arbeiten zeigen. Im Augenblick verreist er allerdings, um das Grab seines Sohnes in Frankreich zu besuchen. Er wird also Ihren Besuch erst nach seiner Rückkehr erwarten; vielleicht fragen Sie in 8-10 Tagen einmal telephonisch bei ihm an: Zehlendorf 25. Jedenfalls bitte ich Sie, ihm gleich jetzt ein paar Worte des Dankes zu schreiben.

Wie lange denken Sie noch in Berlin zu bleiben? Ich möchte gern noch einmal mich etwas in Ruhe mit Ihnen unterhalten, bin aber während dieser Woche so maßlos in Anspruch genommen, daß ich keine Stunde in Aussicht zu nehmen wage. Vielleicht rufen Sie mich Anfang nächster Woche einmal telephonisch an (Zentrum 11340), im Laufe des Tages außer zwischen 2 und 4 Uhr.- Einstweilen verbleibe ich mit verbindlichen Grüßen und guten Wünschen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (gez.) Becker.

 

122. Harro Siegel an C.H.B. Berlin SW4, Yorckstraße 13a, 22.2.1921

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Vorläufig bin ich noch etwas fassungslos diesem heute morgen unerwartet über mich hereingebrochenem Ereignis gegenüber. Das ist mehr, als ich verdient habe. Ganz begrifflich zu erfassen vermag ich es nicht, aber ich glaube, es ist der Name des Spenders und der Gedanke an seinen unersetzlichen Sohn, was mich dabei so „antut“.

Nun, jedenfalls ist mir jetzt für lange Zeit hinaus geholfen; mit Wonne lasse ich die längst verfaßten Aquarellfarben liegen und gehe zum Öl über.

Herrn Dr. Braun schrieb ich gleich; ich freue mich unendlich darauf, ihn später selbst aufzusuchen, ebenso wie über die Möglichkeit eines baldigen etwas ausgiebigeren Zusammenseins mit Ihnen. Wäre mir Ihre Arbeitsüberlastung nicht bekannt gewesen, so hätte ich vielleicht selbst schon gewagt darum zu bitten. Ich werde also nächste Woche anrufen.

Es grüßt Sie mit großer Hochachtung Ihr dankbarer Harro Siegel.

 

123. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W8, 18.3.1921

Lieber Herr Siegel!

Da ich nicht weiß, ob ich anwesend bin, wenn Sie die Karte abholen, will ich Ihnen nur mitteilen, daß Sie heute Abend in der Ministerloge meinen Freund Geheimrat Wende nebst Frau und drei Gästen antreffen werden. Wende ist mein nächster Freund und weiß über Sie Bescheid. Machen Sie sich mit ihm bekannt. Es ist ein nicht großer sehr jung aussehender Mann, bartlos, Cutaway, dunkelblond mit braunen Augen. Sie haben ihn schon einmal flüchtig in meinem Zimmer getroffen, als Sie mir Ihre Bilder zeigten.

Viel Vergnügen! Bitte geben Sie Wende die Karte zurück.

Herzlichst der Ihrige. Becker

 


Plädoyer für eine handwerkliche Grundausbildung eines Künstlers


 

124. C.H.B. an StR Siegel (Vater Harros). Berlin, 5.4.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Studienrat!

Ihr Sohn Harro, den ich durch Vermittlung meines Freundes, Professor Ritter, kennen gelernt habe, erzählte mir gestern Abend, daß sein Entschluß, seiner künstlerischen Ausbildung eine handwerkliche Grundlage zu geben, bei Ihnen Sorgen und Bedenken ausgelöst hätte. Da ich Ihren Sohn im Einverständnis mit ersten Fachleuten beraten hatte, fühle ich das Bedürfnis, den geplanten Schritt Ihnen noch etwas näher zu begründen. So habe ich ihm spontan angeboten, an Sie zu schreiben. Ich tue das um so lieber, als ich ihn nicht nur für einen werdenden Künstler, von dem noch etwas zu erwarten ist, halte, sondern mich auch seiner wertvollen menschlichen Eigenschaften freue, die ihm hier schon eine recht nette Position geschaffen haben. Ich habe ihn persönlich sehr lieb gewonnen und möchte alles tun, was in meinen Kräften steht, ihm den dornenvollen Weg des künstlerischen Sichdurchsetzens zu erleichtern.

War der Bildungsgang des jungen Künstlers schon vor dem Zusammenbruch ein schwieriger, so haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren so vollständig verschoben, daß man mit ganz neuen Ausbildungsmethoden rechnen muß. Die führenden Sachverständigen sind jetzt ganz einhellig der Meinung, daß jede künstlerische Betätigung auch auf dem Gebiete der sogenannten höheren Kunst handwerksmäßig verankert sein muß, und daß es zugleich darauf ankommt, nicht nur ein einzelnes spezielles künstlerisches Gebiet zu beherrschen, sondern daß eine möglichst breite künstlerische Allgemeinbildung Voraussetzung für eine künstlerische Lebensexistenz ist. Nun liegt das Talent Ihres Harro unbedingt auf graphischem Gebiet. Das zentrale Handwerk, von dem aus man an diese künstlerische Betätigung herankommt, ist die moderne Kunstbinderei. Es gibt hier in Berlin einige wenige ausgezeichnete Firmen, die hierfür besonders in Betracht kommen, und die eine gewisse Schule bedeuten. Wir haben vom Ministerium aus Harro dorthin empfohlen, und es scheint ja auch, als ob er die Möglichkeit bekommt, dort anzukommen. Ich würde das für ein großes Glück halten, denn, worauf es ankommt, ist nicht nur die Fingerfertigkeit, sondern der ganze Geist des Handwerks, das sich ja immer mehr zur Kunst veredelt. Wenn ich auch der Überzeugung bin, daß Harro nach dieser Schulung zu rein künstlerischer Arbeit zurückkehrt, so wird es für ihn doch immer von sehr großer Bedeutung sein, auf einem seine Existenz sichernden Gebiete Fachmann zu sein. Hätte ich einen künstlerisch talentierten Sohn wie Harro, würde ich ihn unbedingt diesen Weg gehen lassen, da ich in Freundeskreisen den großen Vorteil der handwerklichen Schulung von Gebildeten kennen gelernt habe. Verschiedene meiner früheren Universitätskollegen lassen jetzt ihren Sohn nach einigen Semestern Studium ein Handwerk erlernen, sogar ohne künstlerischen Einschlag, rein wegen der wirtschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten. Bei Harro steht mir der pädagogische Gesichtspunkt höher wie der der wirtschaftliche Sicherung, wenn ich ihn auch nicht übersehe.

Die beiden anderen Wege, die möglich wären, das Zeichenlehrerexamen oder ein kunstgeschichtlicher Doktor, sind beide m.E. sowohl in pädagogischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht weniger zu empfehlen. Der Zeichenlehrerberuf ist derartig überfüllt, daß dies Examen keinesfalls eine Sicherstellung bedeuten würde. Übrigens ist er durchgebildet genug, um dieses Examen im Notfall auch später jederzeit zu machen. Pädagogisch würde ich es aber für verkehrt halten, weil die Tätigkeit als Zeichenlehrer, die nun einmal an bestimmte Vorschriften und Formen gebunden ist, keine Entwicklung, sondern eine Hemmung seiner künstlerischen Fähigkeiten bedeuten würde. Als kunstgeschichtlicher Doktor wäre er auf den Zufall eines Unterkommens in der musealen Laufbahn angewiesen und würde durch eine notwendige Hypertrophie geschichtlicher Arbeit und intellektueller Einstellung in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt werden. Nur das Handwerk bietet ihm große pädagogische Wirkung der Zucht und der Arbeit, die er für seine künstlerische Gesamtpersönlichkeit braucht, ohne daß er dadurch in der individuellen Entfaltung seiner Anlagen gehemmt wird. Die materielle Sicherstellung ist dabei ein erfreuliches Nebenprodukt.

So sehe ich, sehr geehrter Herr Studienrat, die Dinge an, und ich weiß mich dabei einig mit den ersten Fachleuten, die Deutschland auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.. Ich fühle durchaus, daß ich eine Verantwortung übernahm, als ich Harro diesen Rat gab, aber er muß in irgend einer Weise jetzt sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat die Jahre seit seinem Abitur weiß Gott nicht verloren und sich eine Summe von Können und Kenntnissen angeeignet, die mich immer wieder erfreut, und die den Durchschnitt seines Alters weit übertrifft. Wenn er jetzt aus innerer Nötigung heraus – von einem suggestiven Zwang meinerseits ist natürlich nicht die Rede – diesen neuartigen, aber zukunftsreichen Weg beschreiten will, so würde es mich für ihn besonders erfreuen, wenn er dabei von dem Bewußtsein getragen würde, das volle Verständnis seines Vaters zu finden. Ich habe selbst erlebt, wie sehr mich dies Bewußtsein gefördert hat, und das ist der letzte Grund meines Schreibens an Sie, daß ich es ihm erleichtern möchte, diese voll und freudige Zustimmung des Elternhauses zu finden. Ich verstehe vollauf, daß es Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vielleicht lieber wäre, Ihren Jungen den Rest seiner Ausbildung in Cassel absolvieren zu sehen; aber ich glaube doch, Ihnen raten zu müssen, ihn diesen so günstigen besonderen Umständen in Berlin nicht zu entziehen. Er hat hier neben der handwerklichen Spezialausbildung eine solche Fülle von Möglichkeiten für künstlerische Allgemeinausbildung wie nirgends sonst. Vor den sogenannten Berliner Gefahren sichert ihn seine solide, so ganz unbohémienhafte Eigenart. Alles, was ich bisher von ihm gesehen habe, gibt mir die Berechtigung zu dem Vertrauen, daß er seinen Lebensweg aus inner Nötigung heraus gehen wird, und daß man ihm möglichste Freiheit der Entwicklung lassen sollte.

Schließen Sie, bitte, aus der Ausführlichkeit dieses Briefes auf das warme Interesse, das ich an Harro als Künstler und als Mensch nehme. Ich glaube wirklich, man kann Sie zu diesem Jungen beglückwünschen.

In hoher Verehrung Ihr sehr ergebener (gez.) Becker, Staatssekretär.

 

125. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin, Unter den Linden 4, 14.4.1921

Mein lieber Siegel!

Nachdem ich 2 Tage lang 5-6 Mal versucht habe, Sie telephonisch zu erreichen, möchte ich nicht länger zögern Ihnen meinen innigen Dank für Ihre große Geburtstagsüberraschung schriftlich auszusprechen. Lieber Freund, Sie haben mir wirklich eine Freude bereitet. Erstens, daß Sie überhaupt den Tag festgestellt hatten und dann, daß Sie aus Eigenstem spendeten. Ihre Gabe hat mich schrecklich beschämt, aber ich nehme sie doch dankbar an, weil ich weiß, daß sie ein Symbol ist – auch in einem andern Sinn expressionistisch. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Gesinnung, daß ich mir sehr gern etwas von Ihnen schenken lasse, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß sich zwischen uns ein so selbstverständliches Verhältnis ent-wickelt hat, wie ich es mir schöner und wohltuender gar nicht vorstellen könnte. Ich habe nur den Eindruck, als ob wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen hätten. Wir müssen telefo-n(isch) recht bald ein Zus(ammen)sein verabreden. Dann sprechen wir auch über Ihr Bild, über das sich meine Familie lebhaft zankt. Es macht allgemein einen starken Eindruck, nur weichen die Deutungen ab. Mir ist es ein Ausdruck Ihres Suchens und Sehnens und ich verstehe es ohne das Verlangen nach intellektueller Deutung.—

Ich denke in diesen Tagen sehr viel an Sie und war so ärgerlich, Sie nicht zu erreichen, da ich ja so gespannt bin zu hören, wie Ihnen Ihre vita nuova gefällt. Von Ihrem Vater habe ich bisher nichts gehört.

Also auf bald und auf immer Ihr Becker

 

126. StR Siegel an C.H.B. Kassel, 16.4.1921

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

Für Ihr freundliches Schreiben und die darin bekundete Teilnahme für meinen Sohn danke ich Ihnen verbindlichst.. Ich erhielt Ihren Brief bei der Rückkehr von meiner Reise, nachdem ich inzwischen bereits Harro unsere Einwilligung zu seinem Vorgehen gegeben hatte. Dennoch war es mir wertvoll, von so berufener Seite über unseren Sohn und seinen Entschluß ein Urteil zu hören, das uns mit Befriedigung über unsere Entscheidung erfüllen konnte.

Nur zur Aufklärung eines scheinbaren Mißverständnisses möchte ich erwähnen, daß ich weit davon entfernt bin, die von Harro bereits zurückgelegten drei Lernjahre für ganz oder halb verloren zu halten. Ich bin nicht so engherzig, in dem ausschließlichen, eng umschriebenen Studium irgend eines Faches oder gar der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung das Heil zu erblicken (? Unleserlich, weggelocht). Im Gegenteil, ich empfinde Freude und Genugtuung darüber, daß mein Sohn gerade auch in seiner Allgemeinbildung sicherlich Anerkennenswertes erreicht hat. Mein Hinweis sollte Harro lediglich darauf aufmerksam machen, daß es an der Zeit sei, ein bestimmtes Ziel in Auge zu fassen, und mein Hauptbedenken war, (?weggelocht: daß) er das, was er jetzt als richtig erkannt hatte, auch durchführen werde.

Darüber haben mich nun ein weiterer Brief meines Sohnes und besonders auch Ihre Ausführungen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, beruhigt. Seien Sie nochmals unseres herzlichen Dankes versichert.

Mit größter Hochachtung. (gez.) Siegel, Studienrat

 

127. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 5.5.1921

Lieber Dr. Becker!

Mir ist etwas eingefallen: Vielleicht finden Sie mal einen kleinen Moment Zeit, daran zu denken, ob Sie mir nicht das nächste Mal irgend eine Aufgabe stellen können – ein Bild oder eine Folge von Bildern, am Ende mit bestimmten Ablieferungstermin. Wir sprachen ja mal über den stimulierenden Wert solcher Verpflichtungen.

Vielleicht bringt mich das aus dieser toten Zeit heraus. Denn, dem beziehungsheischenden Banne Ihrer Augen entzogen, kann ich es leichter sagen, wie sehr mich das Fehlen jeglicher Produktion seit 2 Monaten bedrückt; es muß mal etwas geschehen.

Dem Wiedersehen mit Muck1 sehe ich ruhig entgegen; ich glaube, ich gestehe mir noch nicht einmal ein, wie ruhig.

Immer Ihr Harro Siegel

 

128. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 17.10.1921

Mein lieber Harro!

Ich bin sehr besetzt diese Woche und muß mir’s deshalb in diesen Tagen – sehr zu meinem Leidwesen – versagen, Sie zu sehen. Donnerstag halte ich einen großen polit(ischen) Vortrag im demokrat(ischen) Klub, der mir den Mittwoch Abend kostet wegen der notwendigen Vorbereitung. Den Freitag Abend halte ich für Sie frei (Anmerkung Beckers: Peer Gynt). Ich habe zwar Staatsministerium, komme aber danach ins Schauspielhaus, wo Sie mich erwarten wollen. Billet holen Sie bitte vorher wie immer beim Portier ab. Wir werden allein sein.

Einlage gilt für ca. 10 Tage. Vielleicht interessiert es Sie am Sonntag mal hin zu gehen.

Ich freue mich sehr Sie wiederzusehen.

Wie stets herzlichst Ihr C.H.B.

 

129. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 22.7.1921

Viellieber Dr. Becker!

Wenn Sie nun schon seit nahezu einer Woche fort sind, so ist das für mich eine kleine halbe Ewigkeit. Ich fühle mich sehr zur Erfüllung meines Schreibeversprechens gedrängt (?). Es zeigt sich jetzt, daß Ihr Hiersein eigentlich die einzige wirkliche Rechtfertigung meines Berliner Aufenthaltes ist, daß ich nur um Ihretwillen mich hier, ohne andere Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen, so fest gebunden habe. Dies als Liebeserklärung vorweg. Ich entbehre sehr unser Zusammensein. Die Aussicht darauf war immer Ziel und Mitte während der Wochenarbeit. Von dort bezog ich meine Widerstandskraft gegen das Hineingeducktwerden in die Banalität. Ich will nun versuchen, Ihnen zu sagen, was mich diese ganze Zeit über bedrückt und des öfteren sehr erschreckt hat. Es ist das Gefühl, mit meiner Jugend höchst unhaushälterisch (ist nicht das rechte Wort) umzugehen. Statt der Erweiterung und Vertiefung meines Geistes

zu leben, lebe ich der Erlernung einer stumpfen Handarbeit, deren Vergeistigung mir nicht innerer Zwang, sondern nur theoretisch anerkannte Aufgabe ist.

Und nun etwas sehr abenteuerliches (? Schlecht lesbar), das ich nur Ihnen und nur sehr verstohlen sage: Auch der homo academicus ist doch nur oder vorläufig nur ein Lack, eine Fassade. Zuinnerst sitzt, glaube ich, ganz einfach noch ein Junge, der sich in Wiesen und Wäldern, unter Sonnen und blauem Himmel austoben müßte.

Wie im vorigen Jahre noch nackt impudent2 in der Sonne zu liegen, hat für mich noch immer einen Zustand höchster Euphorie bedeutet, den ich jetzt schmerzlich entbehre. Nicht wahr, Sie wittern da keine Romantik; das Bewußtsein vollendeter Einheit mit der Umwelt, das ich in solchen Momenten habe, entbehrt dann jeder Gefühlsduselei. Wirklich; Sie werden es auch begreifen, daß ich dann mich als Kaldakayersatz (?unleserlich) fühle; ein Gedanke, über den ich in jeder anderen Lage nur lachen kann.

Diesen kleinen Ausbruch mußte ich mir mal gestatten; ich finde, er ist noch recht zahm ausgefallen.

Es ist doch wunderbar, daß ich ihnen das sagen kann, wenngleich ich gestehe, daß ich das eben Gesagte doch lieber schriftlich, als Auge in Auge vorbringe.

Und nun etwas anderes, was ich auch leichter so sage.

In unseren letzten Gesprächen über Ritter hat sich gezeigt, daß wir an einer Stelle nicht denselben Weg wandeln. Ja, ich will es nicht länger geheimhalten: Wenn Sie mir seine Briefe vorlasen, so schrie es oft in mir: „Ja, ja, so ist es; es kann nicht anders sein.“ Und sein Ringen um Ihr Verständnis habe ich bis zum Schmerzlichen miterlebt. Er redete ja doch auch in meiner Sache.

Selbstverständlich halte ich seine Ausbrüche gegen Sie für unberechtigt und aus Überreizung geboren. Fragten Sie mich aber um meine Meinung, so kam ich oft in einen Konflikt zwischen dem, was ich glaubte sagen zu müssen, und dem, was ich unterdrückt habe aus Furcht, von Ihnen nicht verstanden zu werden.

Relativistisch könnte man es ja bei der Anerkennung beider Standpunkte lassen; ich glaube aber an eine Einigungsmöglichkeit, besser sogar Einheit. Nur will ich es hier noch einmal für mich so aussprechen. Würde ich forensisch befragt, so würde ich mich mit Haut und Haaren der Ritter’schen Theorie verschreiben, mag gleich die Gesellschaft sich auf den Kopf stellen.

Entschuldigen Sie, dies wirkt jungenhaft. Überhaupt ist mein Brief nicht, wie ich ihn wünschte. Ich möchte mehr sagen, und ich möchte es besser sagen. Nun, wenn Sie ihn in Gnaden annehmen, so hoffe ich das nächste Mal noch einen besseren Ton zu treffen.

Geht es Ihnen gut?- Es grüßt Sie sehr

Ihr Ihrer viel und gern gedenkender Harro Siegel.

 

130. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Villa Becker, 24.7.1921

Mein lieber Harro!

Ihr Brief hat mich erschreckt und erfreut. Erfreut durch den warmen und offenen Ton, der allzeit zwischen uns bestehen soll, erschreckt durch die Erkenntnis, wie viel unbewußte Verantwortlichkeit ich an Ihrem derzeitigen Dasein trage. Ich habe mich immer bemüht, keine Suggestion auf Sie auszuüben; denn Sie sollen ein freier, autonomer Mensch werden. Jeder Widerspruch war mir willkommen, namentlich in der Wahl Ihrer Arbeit nur Ihrem inneren Bedürfnis entgegengekommen zu sein. Nun meinen Sie Ihr Leben nicht richtig zu erfüllen. Wären die quälenden Stunden künstlerischer Produktionsunfähigkeit eine Ihnen genehme Erfüllung gewesen? Sind Sie nicht erst 21? Und liegt somit der fruchtbarere Teil Ihrer Jugend nicht noch vor Ihnen? Fassen Sie jedenfalls keine übereilten Beschlüsse!

Daß Sie sich noch als großen Jungen fühlen, der am liebsten nackt im durchsonnten Grase läge und mit der Natur wunschlos in Eins verwüchse – das war mir keine Offenbarung. So habe ich Sie immer angesehen. Das ist aber nur eine Ihrer Seiten, wenn auch vielleicht Ihre wertvollste. Das ist nämlich kein Infantilismus sondern echtester Humanismus, von dem auch ich gottlob noch ein gut Stück besitze. Erhalten Sie sich dies seelisch-körperliche Bedürfnis. Ich habe es mir erst nach langen Irrfahrten wiedererworben. Es ist das beste Gegengift gegen den Zweifel am Ich, gegen das Mitleid mit sich und gegen die Kleinbürgerlichkeit – lauter Eigenschaften oder sagen wir seelische Unarten, mit denen Sie auch zu kämpfen haben. Ihr Künstlertum liegt in Ihrer Jungenhaftigkeit in diesem Sinn. Bisher haftet Ihren Werken auch zu viel Schmerzgebrochenes an. Ich sehe darin noch Ihre Hemmungen, über die Sie nur der Humanismus, wie ich ihn eben umschrieb, hinwegbringen wird.

Daß Sie sich menschlich-persönlich bei mir etwas in Behandlung gegeben hatten, ist mir auch nicht verborgen geblieben. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut. Daß Sie auch mir viel, sogar sehr viel gewesen sind, haben Sie bemerkt. Auch ich habe mich von einem Zus(am-men)sein auf das nächste gefreut. Für mich waren das seelische Ruhepunkte in einem tiefbewegten, inhaltsübervollen Leben. Ich rechne bestimmt damit, daß unsere Beziehungen ein Lebenswert für uns beide bleiben werden, aber schließlich muß der werdende Mann den Weg zum Ich finden. Hoffentlich haben Sie empfunden, daß ich Ihnen dazu helfen wollte. In Ihnen steckt viel Harmonie, viel was nur Harro Siegel ist, aber es ist doch noch von manchen Eierschalen überdeckt, die manchmal Licht und Luft nehmen. Nichts ist umsonst unternommen was direkt oder durch Protest gegen mich oder Ihre Arbeit Sie sich selbst entdecken läßt. Ich predige weder Stolz noch Wehmut, sondern nur schlichte Selbsterkenntnis. Und nur nichts verdrängen, sondern bewußt sublimieren auf Grund der Erkenntnis in das Wesen des eigenen Selbst. Sie werden als Künstler und Mensch nicht durch Sturm, sondern auch bei Ihnen naht sich der Herr wie bei Elias in leisen Säuseln. Verstehen Sie mich ganz?

Über den Fall Ritter kann ich nicht ganz so sprechen wie ich möchte, weil es zu weit führen würde. Auch habe ich deshalb noch immer nicht an Ritter geschrieben. Mir ist nichts Menschliches fremd – das kann ich offen und ehrlich aussprechen. Mir ist auch Ritters Denkweise nicht fremd, aber ich verstehe auch die des alten Heiß (?). Ritter ist genauso einseitig eingestellt wie E’s Vater (??). Als Dritter kann man nur dann richtig urteilen, wenn man nach beiden Seiten hin menschlich mitfühlt. Schalten wir den Vater aus, so liegt der Fall schon anders. Dann halte ich es mit Plato, aber nicht mit dem was Plato ebenso menschlich verzeiht, sondern ich fordere mit Plato das Höchste was Plato selbst fordert. Ritter und Sie übersehen immer, daß über aller Duldung bei Plato eine sittliche Forderung steht. Das mag sehr unbequem sein, aber dieser Forderung liegt eben eine Vernunfterkenntnis zu Grunde, die auch mir unabweisbar erscheint, und ein Menschenverständnis, das allen Seiten gerecht wird. Und noch ein Drittes und Höchstes: Ein Erlebnis und eine Segnung durch dies Erlebnis. Mit 21 hat auch Plato vielleicht gedacht wie Sie, mit 45 schrieb er was er schrieb. Und Ritter ist keine 21 mehr. Gerade dieser Umstand, den er immerbetont, sollte ihn zwingen wie Plato zu handeln.—

Mir geht es gut. Ich erlebte im großen Geschwisterkreis mit meiner Frau (meist noch ohne Kinder) sehr stille Tage, mit einsamen Wanderungen auch mit meiner Frau, langem Liegen unter durchleuchteten Buchen, nachts auf weiter Terrasse mit unbegrenztem Blick in die weite, schlafende Ebene mit einem großen Himmel darüber. Manchmal denke ich auch an Sie, Ihre Sorgen und Nöte, Ihr Können und Ihr Sein. Dann trage ich auch Ihr Schicksal auf liebendem Herzen. Ihr Becker

 

131. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 26.7.1921

Lieber Dr. Becker!

Über Ihren Brief habe ich mich nur gefreut und danke Ihnen von Herzen dafür. Ich sehe, daß ich schwärzer gemalt habe, als richtig war. Zu erschrecken brauchten Sie nicht. Ich glaube, – hören Sie: ich glaube auch an die Fruchtbarkeit meines jetzigen Daseins, mit allen Licht- und Schattenseiten. Mir lag daran Ihnen auszudrücken, daß Sie auf der allerhellsten Lichtseite

stehn. Und dann hatte ich etwas Großstadtüberdruß, der sich ja in Staub und Hitze dieser Tage unbedingt einstellen mußte.

Ich bekämpfe ihn dadurch, daß ich jeden Abend schwimmen gehe, und mit bestem Erfolge. Ausgesaugt und ermüdet komme ich nach Haus und schlafe traumlos.

Verzeihen Sie es mir, wenn ich noch einmal „zum Thema“ spreche. Sie schreiben, daß bei Plato über aller Duldung eine sittliche Forderung stehe. Gut. Dabei fällt mir als Gegenbeispiel Tolstoj ein. Genau dasselbe läßt sich von ihm sagen in Bezug auf das mann-weibliche Verhältnis. Nur wird hier merkwürdigerweise jeder zugeben, daß das zu weit gegangen sei, und man führt rationalisierend das Gattungsinteresse ins Gefecht. Einen Fortpflanzungstrieb gibt es aber bestimmt nicht.

Weiter. Nehmen wir Goethe. Es würde eine Lücke in der Sphäre Goethe entstehen, wollte man seine Liebeserlebnisse als ungeschehen annehmen. Wer fragt hier danach, ob es dabei bis zum Letzten kam? Mit Selbstverständlichkeit wird das zur Nebensache. Hier sieht man die Versittlichung und Vergeistigung…

(Schluß fehlt)

 

132. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Fulda/Frankfurt/Main, 1.10.1921

Lieber Freund!

Hatte sehr schöne Tage in Leipzig. Alles verlief glänzend. Und Ritter erschien unerwartet. Ich hatte langes Gespräch mit ihm: seitdem ganz beruhigt. Er ist jetzt wirklich auf dem richtigen Wege. Ich schreibe dies im Zug zwischen Bebra und Frankfurt. Viel Vergnügen mit den „Meistersingern“ und gute Enrfolg bei den Beratungen mit Gericke und Sell.

Herzlichst Ihr B.

 

133. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin?), 18.11.1921

Lieber Harro!

Ich habe mich im Tage geirrt. Die Pfitzner-Première ist erst Morgen (Sonnabend). Also dann auf Wiedersehen. Herzlichst. Ihr Becker

 

134. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 26.12.1921

Mein lieber Becker

Zeichnung Harro Siegel
Zeichnung Harro Siegel

Bei dieser Anrede überläuft mich ein schöner Schauder, wie bei einem eigentlich unerhörten Wagnis.– Und den genieße ich (-wie schon immer!).—Ich stelle es aber gleich voran: Du mußt Dich mit der Immanenz dieses Briefes begnügen, denn über Dich und mich kann ich trotz vieler Fülle eigentlich nur schweigen.; und sonst habe ich wenig zu leiden, also wenig zu sagen.

Etwas psychoanalytisch geredet: Von meinen beiden Carmiliumimagines lebe ich fast ausschließlich in der guten, was jedoch durch eine leise Regression in die böse einen gewissen spannenden Nebenzweig bekommt.

Ich sehe es ein, daß mit heftigem Ringen um Loslösung von der Familie schließlich doch eine ebenso heftige Bindung an sie parallel laufen muß. Man bleibt zu einem Teil ein ewiger Junge, der verwöhnt und gehätschelt wird und manchmal etwas „hochgenommen“ werden muß. Aber ich will es ja gar nicht anders.

Laß mich Dir ein etwas abwegiges Geständnis machen: Vorläufig in noch sehr tiefen und dunklen Gründen meiner Psyche regt sich ein leise nagendes Gefühl, – ein sehr häßliches und auch undankbares, dem ich vorläufig noch scheue, die Laterne gerade ins Gesicht zu halten. Ich kennzeichne es vielleicht halbwegs treffend als Ressentiment gegen mein Berliner Wohlergehen. Dies „im Sturm erobern“ doch nur zumeist unterschiedlicher Leute ist mir irgendwie unheimlich. Ich habe Angst um den Bestand meines „An-sich“ erwartet. Hinein gehst auch Du mit den anderen in eins: Du siehst mich, wie Du mich wünschst (und ich bin Dir gegenüber unbeabsichtigt so). Aber wie nahe liegt hier die Verführung zur Vita contemplativa, zum Pflanzen daheim: „Ist es nicht genug, wertvollen Menschen ein Lebenswert zu sein?“- Aber hier darf ich nicht stehen bleiben, – denn ich habe doch Schaffensdrang.

Nun, im Grunde ist meine letztjährige (im Zeichen Deiner Mentorschaft stehende) Entwicklung so unendlich weit, daß man wohl einige anrufbare Früchte daraus erwarten kann.

Ein etwas konfuser Weihnachtsbrief, wie? Es geht mir aber sehr gut!! Und das hoffe ich auch von Dir.

Geheimrat(?) R. sehe ich öfters. Davon mündlich Jedenfalls ist mein Verhältnis zu ihm nun auch so stabil, daß ich keinen Sturm mehr fürchte. Übrigens klagt er, daß Du überhaupt nicht mehr schriebest.

Nun wünsche ich Dir und den Deinen alles erreichbare Gute zum Neuen Jahre und bin

Dein Harro

 

135. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 28.12.1921

Mein lieber Harro!

Ich dachte mir gleich, daß Du etwas zögern würdest, ehe Du die Anrede an mich schriebst. Um so selbstverständlicher fließt mir das Harro und das Du, das ich ja innerlich schon lange zu Dir sagte. Daß man über Vieles, oft das Beste und Letzte, lieber schweigt, ist auch ganz nach meinem Sinn, und ich glaube auch, daß wir uns über das Ich und das Du nichts mehr zu sagen brauchen. Das so schrecklich objektive und prosaische Papier kann nur schaden, wo Lebendiges wirkt, so subjektiv es sein mag. Und neugierige Dritte geht es schon gar nichts an. Trotz allem hast Du in Deinem Brief schließlich mehr gesagt, als Du eingangs zu wollen schienst. Auch das habe ich verstanden und schon gewußt, ehe Du abreistest. Du erinnerst Dich vielleicht meiner mehrfach gestellten Frage an unserem letzten Abend. Damals schlummerte die Formel vielleicht noch in Deinem Unterbewußtsein, jedenfalls verstand ich die Unklaglichkeit ihrer bevorstehenden oder schon erfolgten, aber noch verschleierten Geburt mit einer Stärke, die mir fast physisch weh tat. Ich empfinde es nicht als Undankbarkeit, ich freue mich dieser Deiner Reaktion gegen das seelische Sybaritentum der letzten Monate. Sieh, seit langem hoffe ich auf dies Ressentiment bei Dir und wenn Du mich auch – sicher mit Unrecht – mit den anderen in einen Topf wirfst, so will ich Dir doch sagen, daß Du mich schon zu meiner Reaktion auf den Chinaplan hättest erkennen können. Ich sehe Dich nicht nur, wie ich mir Dir wünsche. Ich sehe Dich mit doppeltem Gesicht. Das eine ist sehr nüchtern und sehr kritisch. Aber ich weiß, daß Kritik oder pädagogisch angewandte Kritik bei Menschen Deines Schlages doch nicht verfängt. Umstände und Erfahrungen müssen den Antrieb bringen. Man kann sie massieren helfen und auf die Wirkung warten. Das ist die einzige Pädagogik, die ich bei Dir angewandt habe. Ich habe Liebe auf Liebe gehäuft in der stillen aber sicheren Hoffnung, daß daraus die Tat geboren werden müsse, die künstlerische Tat, auf die ich von Anfang an bei Dir hoffte. Ich ging mit Dir einen doppelten Weg: durch die Härte und Öde der Werkstatt und durch die Weichheit und den Reichtum persönlicher Wertung, die wenn etwas in Dir steckte, die verschlackte Flamme zum leuchtenden Durchbruch bringen mußte. Ich merke jetzt, daß eine erste, noch scheue Flamme durchschlägt. Laß ein starkes Feuer daraus werden! Ich will kräftig blasen helfen, daß die Schlacken Deiner Passivität, Deiner Besinnlichkeit, Deiner Skepsis und Deiner Bequemlichkeit vom heiligen Eros zu Deiner Kunst und vom Glauben an Dich selber verzehrt werden. Das ist mein inniger Wunsch zum Neuen Jahr.

Und das andre Gesicht, mit dem ich Dich sehe? Das ist allerdings unbedingt, das geht nicht auf Experimente aus und will nicht erziehen. Das geht von Mensch zu Mensch, das sieht den „ewigen Jungen“ wie den werdenden Mann, die doch im Grunde eins sind. Das sieht die Zusammengehörigkeit, ohne den Zwang übersteigerte Bindung, ohne „Vergottung“, ohne Schwüle – kurz, ohne allen Un-Sinn, weil eben Sinn und Sein alles ist. Und wo dieser letzte Sinn herrscht, da braucht er keinen Namen, wie auch der Vater im Hause nur der Vater und der König im Lande nur der König heißt. Und so läuft das Wissen um den Sinn eben auf Schweigen hinaus.

Du siehst, ich habe Deinen Neujahrsbrief nicht so konfus gefunden wie Du selber ihn fragendst bezeichnest. Mögest Du Dir bewußt werden, daß ich Dich auch diesmal besser verstanden habe, als Du glaubtest. Und Du bist ja gewohnt, schon einiges vorauszusetzen.—

Wir hatten ein sehr schönes Fest – selten harmonisch und warm. Die Kinder waren köstlich und innerlich. Es wurde viel Liebe geschenkt und empfangen. Am 2.ten Feiertag waren Wendes mir ihren drei Kleinen bei uns. Er schien sich über die Bildersammlung sehr zu freuen.. Er schenkte mir Sa’di und ein lang gehegter Wunsch! – sein Bild. Dann begann wieder der Alltag, aber durch einige Sonntagsunterhaltungen mit Landé und anderen verschönt. Morgen nacht fahre ich auf einen Tag nach Cöln zum Kardinal, wenn nicht der Streik uns daran verhindert.

Dein schönes Bild hängt jetzt als Pendant zu Deinem ersten und interessiert und gefällt sehr. Auf Deine innere Vorbereitung für China schließe ich aus Deiner hübschen Skizze. Hab Dank dafür. Grüße die Deinen und Ritter, aber behalte bitte diesen Brief für Dich. Er ist ein persönliches Neujahrsgeschenk.

Dein CHB.

 

136. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.1.1922

Lieber Carl!

Wende hat doch wirklich recht: Menschen untereinander dürfen nicht restlos offen sein. Es ist nicht ethisch.- Ich mußte neulich restlos offen sein; jetzt ist mir das sehr übel bekommen.- Ich schrieb von einem Brief, den m(ein?) V(ater?) das Unglück hatte zu lesen. Diese Indiskretion hat für uns beide die grauenhaftesten Folgen gehabt..-

Er drang vorgestern Abend auf Erklärung und volle Wahrheit. Da ich eine hart im Raum stehende Äußerung (ich hatte ihn als Fremdkörper in der Familie bezeichnet) zu rechtfertigen hatte, so sah ich keinen Ausweg, als dem zu folgen. Es war über jedes Maß hinaus entsetzlich, trotzdem ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis ausstellen darf, mich durchaus anständig benommen zu haben.- Aber was für mich seit langem unverbrüchliche Tatsache war, – das traf ihn in dieser Absolutheit offenbar als ein völlig Neues (?) mit erheblicher Wucht: unser völliges inneres Fremdsein nämlich; da dies auch für meinen Bruder gilt, so hatte der arme Mann wohl recht mit den Worten, „ich zerstöre sein Leben“. –

Ich kam mir vor wie ein Henkersknecht, alle Zorn- und Rachegefühle schwanden im Lauf der Auseinandersetzung, trotzdem er vorläufig noch nicht das Maß seiner und des Schicksals Schuld einsehen will und mich zum Sündenbock machen zu wollen scheint.

Aber es tut mir weh, ihn zu sehen; ich finde wieder, daß ich ihn doch lieb habe. Woher die Kraft nehmen und wie den Weg finden, ihm das zu zeigen?. Jetzt wird er mir’s schon gar nicht mehr glauben. Vielleicht tust Du’s mal für mich.

Wir leben äußerlich so weiter wie bisher, und die Atmosphäre ist wenigstens nicht mehr so geladen wie bis dato.

Auf alle Fälle ist es gut, daß ich jetzt fortkomme. Obwohl – der Zwiespalt ist grausam – mich eine ebenso starke Kraft hier hält: das ist meine Liebe, wie Du denken kannst. Sie hat allerlei Stöße auszuhalten, aber sie wird stetig tiefer.

Ich klage nicht mehr über Mangel an Urerlebnissen; wenn ich noch hinzufüge, daß ich außer zum Buchbinden (gestern freilich mußten wir 55 Zentner Braunkohlen ins Kellergewölbe schaffen) zu nichts komme, als zu sehr oberflächlicher Lektüre freilich sehr rechtschaffner Bücher und zu sehr wenig Schlaf (erstens komme ich zu wenig an die Luft und zweitens bin ich zu verliebt),- so hast Du alles, was Du brauchst, Dir ein Bild meiner Tage zu machen. Aber ich halte aufrecht, was ich das letztemal schrieb: Es geht bergauf: – Ich habe mein Gesuch an die Handwerkskammer losgelassen. Findest Du es richtig, wenn Gericht gleich von sich aus ein befürwortendes Schreiben dazutut? Dann würde ich ihn sofort darum bitten.

In Berlin – bei meinem ausgezeichneten Meister – hätte ich es vielleicht zu einer 1 in der Prüfung bringen können; hier muß ich froh sein, so durchzukommen.—

Grüß bitte Hedwig (?) und alle anderen. Herzlichst Dein Harro.

 

137. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 20.1.1922

Mein lieber Harro!

Es geht mir etwas gegen den Strich, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag schreiben soll. Ich hätte ihn gern mit Dir verlebt und Dir etwas Ersatz geboten für fehlendes Vaterhaus; denn mag sich auch noch so vornehm über Zeiten und Termine erheben, gerade „große Jungen“ lassen sich an solchen Tagen doch gern auch einmal streicheln und das Gefühl gefeiert zu werden macht warm, tut wohl und gibt Kraft. Außerdem ist das Leben so kurz und man macht sich’s

meist durch lauter Bedenklichkeiten so schwer, daß man die Feste feiern soll, wie sie fallen; dann darf man sich sagen, daß man sich lieb hat, ohne daß es gleich sentimental wirkt, dann darf man sich versöhnen, ohne daß man sich selbst den Krampf der mangelnden Pädagogik machen müßte – und schließlich gibt’s doch nichts Schöneres, als wenn man einmal selbst im Rahmen des Herkommens wahr sein darf, wenn die Form zum Sinn wird und die Festtagsfeiern doch nur den Ausdruck der Alltagsstimmung zwischen Mensch und Mensch wiedergibt. So wenigstens empfinde ich an Deinem Geburtstag und so hätte ich ihn gern gefeiert.

Feiern, mein lieber Harro, will ich ihn aber auch so. Den Plutarch habe ich Dir schicken lassen, wenn möglich gebunden. Ich war die letzten Tage vor der Abreise wenig wohl und habe mich nur sehr schwer zur Abfahrt am Dienstag entschlossen – noch Abends vorher mußte ich den Arzt kommen lassen -, sodaß ich nichts mehr selbst besorgen konnte. Wenn die Bücher deshalb wenig geburtstäglich ankommen, so schieb’s auf die leidigen Umstände. Einige materielle Dinge, die Dir sonst noch zugedacht waren, gebe ich Dir erst nach der Heimkehr; dann unterteilt sich’s besser, da doch sicher zum 24.ten auch in Cassel einiges eingeht.

Unser letzter Abend, so schön er war, bleibt für mich etwas unbefriedigend. Es ist etwas nicht zu Ende beredet worden. Das für mich ganz überraschende Problem L. (??3) mit seinen Auswirkungen hat die Besprechung der Dinge verhindert, von denen ich eigentlich erwartet hatte, daß sie zum Sprechen kommen würden. Ich denke an Deine eigene nicht menschliche, sondern berufliche Zukunft. Die aufrüttelnde China-Episode hat doch auch Dich veranlaßt, Deine berufliche Ausbildung nochmals zu durchdenken. Du wirst natürlich Deine jetzige Ausbildung zu einem gewissen Abschluß bringen – also allzu eilend ist die Sache nicht, aber wenn Du mir von dem Haufen schriebst, den Du abzuladen hättest, so dacht ich immer zuerst an die Entwicklung Deiner Berufsstellung. Seitdem ich Deine Zeichnungen gesehen habe, habe ich doch auch eine andere Anschauung von Deinem Können erhalten und möchte Dir sogern helfen, das wirklich künstlerisch Wertvolle in Dir zur Entfaltung zu bringen. Darüber müssen wir reden.

Inzwischen beschäftigt mich die Angelegenheit L. natürlich auch sehr. Ich werde ihn nächste Woche hier oder in Cassel treffen und das wird zu mancher Aussprache Anlaß geben. Ich werde ihm natürlich völlig die Initiative überlassen. Er muß mit Göttingen wieder anknüpfen. In solchen Fällen darf man nicht entweder –oder sagen. Ob Du schon Gelegenheit hattest mit ihm zu sprechen?

Wenn alles nach Wunsch läuft, bin ich am 26.ten Abends bis 29.ten Abends 8 (Uhr) in

Richerts Hotel, Cassel. Ich werde wohl mal nach Zwehren (?) hinausfahren, sicher aber nach Humboldtstraße 30. Was meinst Du, wenn ich mich Sonntag Nachmittag zwischen 4 und 5 (Uhr) bei Euch ansagte? Oder gibt es irgend welche h(eiligen) Gesetze über den Sonntag Nachm(ittag) wie Club, Familiencafé oder Spaziergang übers Land? Eigentlich ginge ich lieber ohne Landé hin; wenn er aber da ist, werde ich ihn kaum nicht mitnehmen können. Die Nacht von Sonntag auf Montag fahre ich zurück und erwarte dann daß Du Montag Nachmittag mal nach mir schaust. Bis zum 26.ten Nachmittags bin ich hier.

Und nun, leb wohl, mein lieber Harro! Was man als Vater, Bruder und Freund für einen geliebten Menschen auf dem Herzen haben kannst, das setze ich bei mir für Dich voraus. Laß es auch in Deinem neuen Lebensjahr – übrigens das erste, das ich bewußt mit Dir antrete – zwischen uns so bleiben, wie’s geworden ist. Und m(u)st (weggelocht!) Du wachsen vor den Menschen, vor mir und – vor Dir.

Dein C.H.B.

138. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 24.1.1922

Mein lieber Becker!

Es traf sich merkwürdig gut, daß ich gerade heute morgen Deinen Islam in die Hände bekam und den ganzen Tag daran zu tun hatte. Dieser Mittelsgegenstand ließ mein Tagträumen sich immer wieder um Deine Person verdichten. Und so war ich die ganze Arbeitszeit über in stiller und angenehmer Feierstimmung (trotz allerübelster Gegenströmungen meisterlicherseits)! Ich fand es dann auch nicht mehr nötig, zu noch größerem Schwung auszuholen; habe meine Pakete ausgepackt und gedenke mich nach Absendung dieses Briefs in mein Bett zu verkriechen. (Denn es ist allem Feuern zum Trotz erbärmlich kalt.)

Für Deinen Brief, den ich schon Sonntag erhielt, danke ich Dir von ganzem Herzen. Ich bin ja so dankbar, daß ich Dich habe. (Dankbar nicht irgendwem, – aber man umschreibt mit diesem Wort doch gut den Gefühlsinhalt, über den ich mich hier wohl nicht weiter zu äußern brauche.)

Der Plutarch kam gestern in einem vorläufigen (weil beschädigten) Exemplar; man hofft bald ein besseres zu besorgen. Ich freue mich wirklich sehr über diesen Besitz.

L(andé) habe ich inzwischen noch gesprochen. Ich glaube zu sehen, daß sein Verhalten zu mir jetzt von selbst eine Richtung nimmt, der ich Gegengewicht geben kann. Auch nach seinem heutigen Geburtstagsbrief scheint es mir so.- Wenn sich das in Zukunft bestätigte,- ich wäre ungeheuer befreit! Es sei wie es sei – er wird mich nie völlig verstehen können. Wieso, weiß ich natürlich auch nur zum Teil. Es ist eben nicht anders.

Übrigens gedenkt er nächsten Sonntag nach Göttingen zu fahren. (Zeige es ihm nur nicht zu sehr, daß Du Dich darüber freust.)- Doch müssen wir über all dieses noch mehr als ein Wort sprechen, auch über das Entweder-Oder– Du hättest dann auch die Möglichkeit, Sonntag nachmittag ohne ihn zu meinen Eltern zu gehen (was mir natürlich auch lieber ist). Von meiner Mutter bekam ich einen Brief, der mir sehr nahe ging.- Ich konnte Weihnachten zu keiner wahrhaften Aussprache mit ihr kommen; sie leidet offenbar auch sehr unter dem Gefühl, ich sei unzufrieden, zwiespältig. (Sie hat auch recht; es ist doch noch oft so.)- Nun kam hinzu, daß G.R in Kassel war, der mich auch in der Zeit dort, wo ich nicht mit ihm zusammen war, sehr in Anspruch nahm; ganz naturgemäß fühlte ich mich in die letzten qualvollen Jahre, die ich zu Haus verlebte, zurückversetzt; kurz, mich quält jetzt der Gedanke, sehr viel Liebe, die man mir entgegenbrachte, nicht beachtet zu haben, allzu sehr verkapselt in mich selbst.- Ich sehe doch selbst noch so sehr wenig klar: was hilft es auch, wenn ich die (unleserlich: Aura?) meiner Zwiespaltenheit bald so, bald so benenne? Ich habe noch soviel dumpf-chaotisches in mir, daß ich zwar hoffe, daß daraus noch mal irgendwas (unleserlich: Brauchbares?) hervorgehen kann, daß aber Angst und Melancholie mich jetzt meistens an solchem Darüberstehen hindern.- Die gelassene Ruhe, in der Du mich für gewöhnlich kennst kommt eben nur in Deiner Gegenwart über mich;- umso wohltuender ist sie, – aber sie ist noch völlig die Ausnahme.- Sollte es sich ergeben, daß Du mit meiner Mutter allein sprechen kannst (was ich kaum glaube), so sage ihr bitte, daß ich alles, was an guten und zukunftsvollen Kräften etwa in mir ist, als von ihr allein kommend betrachte, und daß es vielleicht der Kampf um die Durchsetzung dieser Kräfte ist, der mich so unerträglich an mich selbst fesselt. (Es ist vielleicht gut, wenn Du gleich nach Deiner Ankunft anrufst, dann richtet man sich auf alle Fälle auf Dich ein.)- Wenn Du irgend Zeit hast, besuch doch die L(andés?) in Galwin (?). Sie ist wundervoll.-

Du hast schon durchaus recht; daß L(andé?)-Problem mußte seiner Zeit heraus, weil die Zeit dazu drängte. An innerer Wichtigkeit kann es sich mit der Berufsfrage (die aber das Gegenteil

von äußerlich maßgebend ist) nicht messen.

Hier stehe ich erst an der Wurzel meiner derzeitigen Nöte. Und noch völlig im Dunkeln.- Ich wünschte wirklich, Du besuchtest meinen Freund Hermann Cohn. Durch einen plötzlich einsetzenden zweimaligen Briefwechsel mit ihm ist mir mein sog. „Künstlertum“ so fragwürdig geworden, wie noch nie. Denn ich sehe bei ihm, was es heißt Künstler von schicksalswegen zu sein. Aber schließlich brauche ich nur ein Museum zu besuchen oder etwas von Goethes Briefen zu lesen, -und ich erlebe dieselbe (unleserlich: Quelle?) des Vergnügens, das Ausbleiben einer Ruhe von literarischem (kunsthistorisch wertvollem!) Dilettantismus. (Frage Landé auf Ehre und Gewissen: Er muß Dir dies bestätigen; und hierin kann man ihm schon glauben; denn er ist nur Künstler, nur Maler, – alles andere ist unwichtig).

Alle diese Dinge wühlen aber noch so in mir, daß ich lieber nicht weiterschreibe. Entschuldige überhaupt, daß dieser so behaglich (unleserlich) beginnender Brief sich auf einmal so wandelte. Es sollte eigentlich nicht sein. (Aber da ja Du es bist, mag’s stehen bleiben.) Ob ich bald oder erst später mit Dir davon sprechen werde, weiß ich nicht. Aber es kommt!

Grüße Landé; vielleicht schreibe ich ihm nach C(assel).

Es hat Dich sehr lieb Dein Harro.

 

139. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Cassel, 27./28.1.1922

Wir haben keinen Moment Ruhe, kommen auch nicht ins Fried(rich?)Gymnasium, da es zu schlecht ist. Morgen Samstag gehe ich um 5 Uhr zu Deinen Eltern. Dank für Deinen Brief nach Gelnhausen, über das weitere mündlich! CHB.

Nachtrag einer 2. Person:

Die Reise ist schön, Cassel zeigt sich frisch im Sonnenschein. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, der mich ganz froh begrüßte. Sehen wir uns Montag, da Dienstag abwesend? Herzlichst Ihr Walter L(andé?)

 

140. C.H.B an Harro Siegel. (Berlin?), 8.2.1922

Lieber Harro!

Mein Vortrag fällt aus.

Wir erwarten Dich Sonntag 1 Uhr zum Mittagessen. Keine Antwort = Zusage.

Beiliegende Unterstützung Deiner Junggesellenwirtschaft nimm freundlich auf – ohne weiteren Dank. Habe sie selbst für Dich erstanden.

Brief von Ritter erhalten; wenig erfreulich. Näheres Sonntag.

Herzlichst Dein CHB.

 

141. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 25.2.1922

Mein lieber Carl!

Du behältst recht: zu Besorgnissen ist kein Grund.- Aber ich wollte es vermeiden, noch mal so zu schreiben wie neulich. Ich wollte alles hinter mir haben.- Ich schrieb damals etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das soll heißen: Mein Brief beansprucht keine objektive Geltung, er ist nur ein Mittel zur Gemütserleichterung. Wäre es anders, dann wäre es freilich schlimm. Ich habe meistens immer noch so trübe Stunden, daß auch weitere Briefe so ausfallen würden. Aber das Ende zieht sich hin und zieht sich hin, und ich lasse Dich zu lange warten.

Ich war ganz gerührt heute morgen, als ich die Briefe von Dir und Cohn fand.- Hab vielen Dank für Deine Sorge.- Die Prüfung sollte Ende (?) des Monats sein; aber trotzdem ich seit 1 ½ Wochen täglich ununterbrochen 10-12 Stunden arbeite, kam ich mit meinen Probearbeiten nicht zu Rande. Ich muß eben immer wieder Werkstattarbeit dazwischen tun. Auch heut, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Morgen hoffe ich, zum Abschluß zu gelangen, und dann, denke ich, wird in einer Woche die Prüfung steigen.

Übrigens, falls Ihr etwa hochgespannte Erwartungen habt, – es ist nicht anzunehmen, daß ich hervorragend abschneiden werde. Rite, mehr nicht- Vor einem halben Jahr wär’s besser geworden; ich habe zuviel grobe Arbeit getan inzwischen.

Ich möchte gerne 1 Woche vor Ostern nach dort kommen, aber m(ein?) V(ater?) wird die Notwendigkeit dazu nicht einsehen. Und er muß jetzt wie ein rohes Ei behandelt werden. Wenn Du denkst, mit der Zulagensache hätte ich ihn mißverstanden, so ist dem leider nicht so. Es ist ja so fürchterlich, aber hier streckt er eben seine Wurzeln ins Irrationale. Das gibt’s eben auch. Ha, er hat ja nun seinen Willen.

Ich fühle mich allmählich etwas abgekämpft, aber die Nähe der Erlösung, Deine liebende Sorge und meine immer tiefer werdenden Gefühle für den süßen Jungen (ich darf das doch schreiben?) tragen mich über alles hinweg. Körperlich geht mir’s gut.—

Leb wohl, mein lieber Carl! Stets Dein Harro.

 

142. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel, Berlin Frankfurt/M, 26.2.1922

Hoffentlich hast Du bei Deiner heutigen Wanderung so schönes Wetter wie wir hier. Dies als Zeichen treuen Gedenkens im Festtrubel der Goethewoche. Dein CHB

Nachtrag 2. Person:

Wenn Sie wüßten, wie Sie B(ecker) fehlen! Grüße von –au! – Erich Siegelersatz.

 

143. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 13.5.1922

Mein lieber Carl!

Wenn Du Dich auf Deiner Münchener Karte, für die ich herzlich danke, so mit C.H. unterschreibst, so ist es wohl (griechischer Ausdruck), wenn ich obenstehende Anrede hinschreibende Sie hat eine ganze Weile allein dagestanden und kam mir merkwürdig genug vor. Ich erinnere mich noch jenes freudig-beklommenen Schauders, mit dem ich nicht in einem Brief nach Gelnhausen den Dr. vor Deinem Namen fortließ. Auch diesmal empfinde ich Schauder, aber er geht tiefer und ist heiß. Es ist das Gefühl, Dir verfallen zu sein, was über mich gekommen ist, deucht mich. Wie unendlich schön ist es deshalb, daß diese Bindung so klar ist. Es gibt andere, die sind dumpf und verworren, – sie drücken nieder. So ist es bei uns nicht! Aber damit will ich nicht sagen, daß mir unsere Bindung nicht auch schmerzlich wäre. Wieso, das ist nur in Aufsätzen zu „verworten“. Ich vermute, es ist im Grunde das tief-beunruhigende Gefühl des Auseinanderklaffens von Ich und Ich-Ideal, das ich nie verliere. Ich bin imstande, mir einen Harro zu träumen, den ich unbedingt für wert erklären würde, von Dir geliebt zu werden, und den ich selbst auch sehr liebe.

Aber der andere Harro ist eben nicht so, und jetzt weniger als je. Du hast ja selbst bemerkt, wie eigentümlich stumpf ich in letzter Zeit geworden bin; stumpf, innerlich allzu nachgiebig, irgendwie – es sei gesagt – würdelos!

Ich muß wiederholen: fern von Dir ist mein Zustand in der Regel ein gewaltsames Augen-zu-drücken vor der eigenen Umwelt und fernzuhalten vor inneren Pflichtgeboten. Oder (?weggelocht) er ist Verzweiflung (aber das ist zu hochtrabend gesprochen und kommt mir kaum zu!)- Nun ist es ja so, daß all dies (es ist ein Riesengebiet, – wozu Einzelheiten geben?) vor Dir verschwindet, der Spalt beginnt sich zu schließen, ich komme zur Ruhe, schlafe sozusagen ein. (Peinlicherweise drängt sich mir hier der Vergleich mit einem Kinde auf, das in den Schlaf gewiegt wird. Geschmacklos, wie?)

Nur, ich schlafe nicht genug ein, es bleibt hartnäckig ein leiser, dumpfer Schmerz; worüber? Ich will mal sagen, über meine Unehrlichkeit. Ich weiß ja, daß Du mich kritisch siehst, ich habe Dir ja auch oft genug von meinen kleinen und größeren Schmerzen gesprochen. Aber jenes Gefühl bleibt. Wie soll ich dahinter kommen, was es ist? Ich meine manchmal, es gibt Stücke von mir, von denen Du vielleicht weiß, die Du aber dennoch nicht kennst, nicht „erlebtest“ (nur sozusagen). Es sind böse Stücke, glaube ich, und doch nicht wertlose, an meinem Kern unleugbar wesentlich beteiligt. Nun, ich gebe es (vorläufig) auf, dahinter zu kommen.

Wenn Du mich (wie neulich) auf Ehre und Gewissen fragst, ob ich Dich wirklich liebhabe, so erwidere ich ehrlichen Herzens und ohne Anstrengung: Ja. Aber dabei weiß ich (und es tut mir weh): Du hast mich nicht ganz. Denn ich habe mich ja selbst nicht. Sich ganz geben und sich ganz haben ist ja wohl ein -; was soll ich es leugnen, ich habe mich noch keinem Menschen und keiner Sache „ganz“ gegeben. Wenn ich anders wäre, so würde ich das nicht wissen, ich würde Dich und mich glauben machen, ich gehörte Dir völlig und in diesem Rausch selig sein. Aber ich bin nun mal so und kann keinen Schaum schlagen. Aber dies ganze Geständnis ist (vielleicht) das Letzte und Höchste, was ich einem geliebten Menschen geben kann. (Skepsis beiseite.)

Mein erster Versuch, Dir dies zu sagen (sin of selflove…) war täppisch genug, – ich möchte ihn Dir immer wieder abbitten. Ob es diesmal besser gelungen ist?—

Du kennst meinen Haß gegen alles Literatentum. Und doch ist aus dieser Brief ein Zeugnis wider mich selbst hierin. Es sind gar keine Wörter, es sind immer bloß Benennungen, was ich schreibe: Aber ich glaube, Du spürst doch den echten Herzschlag hindurch. Kannst Du erfassen, wie ich Dich auf Deiner Reise begleite? Soll ich Dir sagen, wie mit jedem Gedanken an Dich Dein Bild realiter in meinem Auge entsteht, und wie ich es realiter in Herz und Zwerchfell spüre, daß hier etwas einigermaßen anderes vorgeht, al wenn an Herrn oder Frau XYZ denken? – (Ein bißchen bin ich ja auch stolz, von Dir geliebt zu sein.)

Äußerlich-beruflich geht es mir nicht schön. Gottseidank ist morgen Sonntag. Es ist gut, daß Du bald wiederkommst; ich habe allerlei noch zu sagen. – Wie ist Deine Reise? Ich wünsche Dir das Beste dafür.

Es grüßt Dich Dein Harro.

 

144. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Padua, 15.5.1922

Mein lieber Harro!

Also es ging alles gut. Die Stimmung ist glänzend. Es war ein ganz eigenartiges Fest. Namentlich der Festakt mit König, Kardinal Maffi (?), 100ten fremder Professoren in bunter akadem(ischer) Tracht und von 8000 Personen in dem riesigen 86 x 28 m großen „Salone“ war ein ganz einzigartiger Eindruck. Fabelhafte Disziplin der Massen, obwohl von vornherein 9/10 der Anwesenden kein Wort verstehen konnten. Meine Rede (deutsch, mit italien(ischem) Schluß wurde einfach glänzend aufgenommen und fast mehr applaudiert wie die der anderen fremden Redner. Es war ein kitzlicher Moment, aber es war ordre gegeben, alles Politische zu vermeiden. Der Franzose sprach direkt versöhnlich gegen den Völkerhaß und für die Gemeinsamkeit der Zus(ammen)arbeit aller Nationen sans exception. Man schwimmt mal wieder ständig in vier Sprachen und genießt Italien. Es ist einfach herrlich. Heute Abend ist Schlußbankett, dann Exkursion nach Venedig, wo noch Empfänge stattfinden. Ich nehme mir einen Studenten mit für 1-2 Tage (einen Südtiroler (jetzt Italien), der uns am Bahnhof betreute. Dann bleibe ich noch ein paar Tage allein. Der Betrieb hier ist fabelhaft. Du würdest Augen machen. Ich denke oft und stark an Dich. Dein CHB

 

145. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18.5.1922

Ponte dei Sospiri

Mein lieber Harro!

Dein guter Brief hat mich im Augenblick meiner Abreise aus Padua mit den ersten Nachrichten aus der Schillerstraße und von Wende erreicht. Also warst Du in der erwarteten Gesellschaft. Ich schreibe Dir heute oder Morgen, noch bin ich nicht allein und ziemlich bewegt. Es ist über alle Begriffe schön hier. Gewiß hat man nicht mehr den frommen Schauder des ersten Sehens, aber um so intensiver wird der Genuß, wenn man sich wissend hingibt.

Das Wetter ist strahlend. Ich wohne in echt ital(ienischer) Kneipe, aber sauber. Nun habe ich noch 4 Tage hier vor mir. Ich werde wohl bis Montag bleiben und dann in einem Rutsch durchfahren bis Augsburg und Frankfurt.

Also bis bald. Dein Carl.


1 Spitzname für Beckers Jüngsten, Hellmut. BB

2 franz. schamlos

3 Wohl der weiter unten genannte Landé, Beckers Mitarbeiter im Ministerium, MR in der Abteilung U II (Höheres Schulwesen) 1926

Willy Bornemann

HA.VI. Rep.92. Becker B. Nr.7920 (Willy Bornemann 1910-1930)

104. C.H.B. an Dr. Willy Bornemann, Frankfurt, Zeil 72 Hamburg (?), 22.10.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Du bist zwar ein hartnäckiger Schweiger, aber wenn man etwas von Dir will, muß man Dir trotzdem wieder schreiben. Bitte sei so freundlich und bestelle mir denselben schönen Turnapparat, den Du unserem Walter geschenkt hast, für mein Patenkind Joachim Becker, Arndt-str.25. Veranlasse bitte, daß er in meinem Auftrage dorthin geschickt wird und daß mir gleichzeitig hierher die Rechnung zugeht. Ein kleines Briefchen lege ich bei.

Hoffentlich geht es Allen so gut wie bei uns; die Photographien wirst Du wohl erhalten haben.

Herzlichst Dein alter (C.H.B.)

 

105. C.H.B. an Willy Bornemann. Hamburg, 29.12.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Zu Weihnachten haben wir gegenseitig ohne viel Worte unserer beiden Söhne gedacht, und ich hoffe, daß der Trambahnwagen Carl soviel Freude gemacht hat, wie Walter das Pilzbuch, mit dem Du gerade eine Liebhaberei von ihm getroffen hast. Stinkpilz ist seitdem ein Lieb-lingswort bei uns geworden. Nimm jedenfalls vielen Dank für die beiden Geschenke.

Punkt 2 meines Briefes betrifft den Jahreswechsel, zu dem Hedwig und ich Duttan und Dir alles Gute wünschen. Möge Euch Euer Kleiner auch im folgenden Jahre so viel Freude bereiten und Ihr selbst so glücklich und befriedigt Euer Leben genießen, wie bisher.

Ich freue mich, Dich in wenigen Wochen wiederzusehen. Am 25. Januar halte ich in Frankfurt und zwar im Verein für Geographie und Statistik einen Vortrag über die Araber in Spanien. Es wäre nett, wenn Du hinkommen könntest. Ich glaube, Du hast mich noch nie sprechen hören. Es wird allerdings diesmal eine milde Plauderei, da das gebildete Frankfurt nicht ohne Lichtbilder auskommen konnte. Ich fahre dann von Frankfurt weiter nach Metz, Saarbrücken und Neunkirchen, wo ich über sympathischere Dinge Vorträge halten werde. Dann gehe ich für 14 Tage nach Hamburg zurück, um hier am 20. Februar über Marseille nach Ägypten zu fahren, wo ich ohne Frau zwei Monate verbringen will.

Alles Nähere mündlich und damit Prosit Neujahr!

Von Herzen Dein alter (C.H.B.)

 

106. Willy Bornemann an C.H.B. o.O. (Frankfurt/M?), 31.12.1910

Lieber Carl!

Herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilen und auch in Carlchens Namen für den prächtigen Trompetenwagen (? Schlecht leserlich) , mit dem Du ihm eine riesige Freude gemacht hast. Für alles was fährt, ist er begeistert, und so konntest Du ihm gar nichts Erwählteres schenken, als jetzt einen Wagen.

Wir hatten recht unruhige Weihnachten und zwar infolge der Verlobung meiner Schwester. Es kam sehr plötzlich 10 Tage vor Weihnachten, wird erst in den nächsten Tagen öffentlich. Der Bräutigam Carl Barthet ist ein sehr netter Mensch, Inhaber der Ferien-Lampen, aber eigentlich ein besserer Schneider, was man ihm aber durchaus nicht anmerkt. Vielleicht er-innerst Du Dich seiner von der alten Schule her, obwohl er 5 Jahre jünger war als wir. In

pekuniärer Beziehung ist die Partie eine sehr gute, und da Emmy durch ihre reichen Freundin-nen recht verwöhnt war, wird sie den vielen Mammon schon anzuwenden wissen. Vielleicht noch besser als der Bräutigam gefällt mir dessen noch ledige Schwester, so gut, daß ich Tutten schon eifersüchtig gemacht habe. Auch der Vater (die Mutter ist tot) macht einen gemütlichen guten Eindruck.

Meine Mutter ist natürlich froh darüber, daß sie Emmy glücklich versorgt weiß. Ich hoffe, sie wird sich nun selbst etwas mehr (Ruhe? Weggelocht) gönnen, nachdem sie eingesehen, daß sie mit all ihrer Plackerei es doch nicht zu Ergebnissen hat bringen können, die im Vergleich zu den Lampen respektive Barthet’schen Mammon irgend in Betracht käme.

Uns in der Fürstenhofstraße geht es gut.- Wir freuen uns sehr auf Dein Herkommen am 25.1. Ich wünschte, ich könnte auch mal aus meiner Tretmühle heraus. Alle Tage immer mehr Krankheit mit ansehen müssen, ist ein bißchen reichlich viel. Man gewöhnt sich aber auch daran.

Mit den herzlichsten Neujahrswünschen von Haus zu Haus Dein aller Willy.

 

107. C.H.B. an Willy Bornemann. O.O. (Hamburg?), 11.1.1911

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich habe Dir schon geschrieben, daß ich am 25. Januar in Frankfurt einen Vortrag halte. Da ich annehme, daß Du nicht Mitglied des Vereins für Geographie und Statistik bist und da Einzel-karten nicht ausgegeben werden, schicke ich Dir anbei zwei Karten, die Du im Verhinderungsfalle weitergeben kannst.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

108. C.H.B. an Frau Bornemann, Frankfurt. Bonn, 8.12.1914

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Diesmal habe ich wirklich den 4.Dezember vergessen, obwohl er doch in meinem Kalender wie jedes Jahr rot angestrichen war. Was werden Sie von mir gedacht haben? Ich hoffe, Sie haben es auf Konto des Krieges gesetzt, der uns ja allerdings etwas aus dem normalen Leben herausreißt. Ich hatte den Kopf so voll und reiste außerdem gerade in diesen Tagen zum Besuch meiner Schwester Riedel nach Magdeburg, daß ich es wirklich vergaß, Ihnen zu gratulieren. Lassen Sie es mich es heute nachholen und Ihnen in dankbarer Treue meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche aussprechen. Meine Frau schließt sich mir natürlich aufs Herzlichste an.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes berichten. Zwar ist unsere Hertha zur Zeit an Mumms erkrankt; aber dafür geht es den Anderen gut. Sorge hatten wir eigentlich nur wegen meiner Mutter, die plötzlich fiebrige Verdauungsstörung bekam und stark abfiel, was in ihrem Alter doch immerhin bedenklich ist. Jetzt scheint sie es wieder überwunden zu haben.

Von unseren Verwandten im Felde haben wir bisher gute Nachricht. Mein Bruder Alex steht sogar noch in Hannover. Der Bruder meiner Frau ist durch einen Zufall bayerischer Nachrichten-Offizier bei meinem Schwager Riedel geworden, der in der Gegend von Arras die preußische Nachbar-Division führt. Zwei Söhne meines Schwester stehen in Rußland, einer ist auf einem Kriegsschiff. Bisher ist alles gut gegangen.

Aber sonst hat sich der Kreis der Freunde doch sehr gelichtet, und auch habe manchen verloren, der mir nahe stand. Leider bin ich selbst verdammt, still zu Hause zu sitzen, doch habe ich mich bemüht, wenigstens mit der Feder mein Teil beizusteuern. Auch hoffe ich, da noch einiges leisten zu können. Es ist eben auch ein geistiger Kampf, der jetzt tobt. Gottlob dürfen wir ja guten Mutes in die Zukunft sehen. Die neuesten Ereignisse in Rußland scheinen ja sehr günstig zu sein.

Mit herzlichen Grüßen an Ihre Kinder – ich denke auch oft daran, wie es Hans ergehen mag – bin ich in alter Freundschaft Ihr getreuer (C.H.B.)

 

109. C.H.B. an Willy Bornemann. Bonn, 24.12.1914

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy!

Zu Weihnachten und dem neuen Jahre möchte ich Deiner Frau und Dir sowie meinem lieben Patenjungen einen herzlichen Gruß senden. Ich habe in diesen ernsten Zeiten von dem üblichen Weihnachtsgeschenk Abstand genommen, da ich nicht etwas kaufen will, was Ihr vielleicht Eurem Jungen von Euch aus schenken wollt. Auch bekommt er vielleicht zu Weihnach-ten schon soviel sonst, daß es richtiger ist, das Geschenk zu kapitalisieren. Ich lege Dir deshalb M(ark) 20,- ein mit der Bitte, sie nach Belieben für Euren Carl zu verwenden. Ich habe gar nichts dagegen, wenn Ihr sie in seine Sparkasse legt.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes melden. Wir sind zwar mit allerlei Krankheiten und Dienstbotenärger reichlich bedacht gewesen, aber was bedeutet das in diesem Jahr, wo rings um einen herum die fallen, die einem nahe stehen. Unseren engeren Familien ist es zwar bisher gut ergangen. So sind sämtliche Riedels seit dem ersten Mobilmachungstag draußen, ebenso mein Schwager Fritz, ohne daß bisher was passiert wäre. Dafür hat sich der Freundes-kreis um so mehr gelichtet, und gestern bekam ich die Nachricht von dem Tode meines treuen Schülers und Assistenten Graefe. Jahrelang habe ich in Hamburg mit ihm zusammen gearbeitet, und nun ist er bereits zwei Monate lang tot, ohne daß Eltern und Braut es wußten. Gleichzeitig starb hier Professor Sell, der uns ein väterlicher Freund geworden war und schon mei-nen Bruder Ferdinand wie dann unseren Jüngsten1 getauft hatte. Gottlob lauten die Nachrichten aus Gelnhausen wieder günstig. Eine Zeit lang hatten wir große Sorge um die Mutter, da sie ganz schwere Verdauungsstörungen mit starkem Kräfteverfall bekam. Nun scheint sie wieder hoch zu sein. Aber immerhin lastet doch all das viele Traurige auf dem diesmaligen Weihnachtsfest, und man muß sich etwas zusammenreißen, um für seine Kinder die nötige Freude zusammen zu bringen. Unser Jüngster wird diesmal den Christbaum zum ersten mal mit einem gewissen Bewußtsein erleben. Er läuft jetzt sehr nett an einer Hand, und man kann schon die Anfänge einer Unterhaltung mit ihm bewerkstelligen.

Von Deiner lieben Mutter hatte ich neulich einen rührenden Brief. Danke ihr bitte vielmals für

ihre freundlichen Berichte. Hoffentlich seid Ihr über Hans beruhigt. Ich wünsche Euch allen ein gutes Fest und ein gutes neues Jahr, das uns hoffentlich einen Frieden in Ehren bringt.

Es wird Dich noch interessieren zu hören, daß Fischler als Zivilarzt den Bonner Universitäts-Lazarettzug führt und vor einigen Wochen mit nach Frankreich abgefahren ist. Die Schwierig-keit seiner Situation wurde durch den Ausbruch des Krieges ungeheuer gesteigert. Die Lösung ist eine vortreffliche. Er ist sehr erholt und war mit wiederbeginnender Arbeit ganz der Alte. Walter Groß sitzt in Antwerpen und hat nichts zu tun, worüber er kräftig schimpft. Sehr ulkig ist auch, daß mein Schwager Fritz als bayerischer Nachrichten-Offizier zum Stabe meines Schwagers Riedel, der die Nachbar-Division führt, kommandiert ist.

Ich will am 1.Januar nach Gelnhausen, dann über Berlin nach Hamburg. Ob ich Dich auf der Durchreise sehe, weiß ich noch nicht. Dann aber wird sich wohl um den 28. Gelegenheit zu einem Wiedersehn bieten.

Herzliche Grüße von Haus zu Haus, ein gesegnetes Fest und ein gutes neues Jahr! (C.H.B.)

 

110. C.H.B. an seinen Patenjungen Karl Bornemann. Bonn, 22.12.1915

(Maschinenkopie)

Mein lieber Karl!

Zu Weihnachten sende ich Dir und Deinen Eltern unsere herzlichsten Grüße. Ich habe mir lange überlegt, was ich Dir Schönes zu Weihnachten schenken könnte; aber ich habe Dir schließlich nichts geschickt, weil ich befürchtete, Du fändest vielleicht das Gleiche unter dem Weihnachtsbaum. So sende ich Dir erliegend 20 M; davon kannst Du Dir irgendeine Freude machen, oder Du kannst sie in Deine Sparkasse tun, wie es Dir Deine Eltern raten. Als Dein Vater und ich noch klein waren, da war es immer eine große Sache, wenn Dein Vater zu Weihnachten von seinem Patenonkel 20 M geschickt bekam, und ich habe mich oft mit ihm gefreut, wie glücklich er über dieses Geld war. Nun bin ich Dein Patenonkel, und da möchte

(Schlußblatt fehlt)

 

111. C.H.B. an Frau Bornemann. Bonn, 29.5.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundlichen Zeilen und weiß, daß Sie mit mütterlicher Teilnahme an der neuen Wendung meines Schicksals2 innerlich beteiligt sind. Es war mir eine große Wohltat, den bedeutungsvollen Schritt, noch ehe er öffentlich wurde, mit Willy besprechen zu können. Mittlerweile wird er ja in der Öffentlichkeit bereits sehr diskutiert, und es freut mich eine gute Presse zu finden. Hoffentlich erfülle ich alle die Wünsche, die man in mich setzt, und hoffentlich hält auch meine Gesundheit durch. Ich hätte mir diese Entwick-lung nie träumen lassen; man soll aber zugreifen, wenn einen das Schicksal vor eine große Aufgabe stellt. Und so wage ich es. Allen denen aber, die wie Sie so herzlichen Anteil nehmen, bin ich aufrichtig dankbar.

In alter Freundschaft Ihr Sie dankbar verehrender (C.H.B.)

 

112. C.H.B. an Willy Bornemann, Frankfurt, Leerbachstraße 18. Berlin, 19.2.1920

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy,

Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir meine innigsten Glückwünsche. Als kleines äußeres Zeichen füge ich ein Exemplar meiner letzten Schrift bei, die ja vielleicht nicht in allen Punkten Deine Zustimmung finden wird, mit der Du aber im großen Ganzen doch einverstanden sein wirst.

Dankbar gedenke ich des herzerquickenden Abends, den ich mit meinem Freunde Wende bei Euch verbringen durfte. Ich bin Dir und Deiner lieben Frau wirklich von ganzem Herzen dafür verpflichtet, daß Ihr mich bei meinen zahlreichen Besuchen immer wieder mit der gleichen Herzlichkeit aufnehmt, obwohl unsere Gastfreundschaft in den letzten Jahren so eine ausschließlich einseitige geworden ist und ich immer nur der empfangende Teil bin. Niemals verlasse ich Eure Wohnung ohne das lebhafte Bedauern, daß uns das Leben örtlich so weit auseinandergebracht hat. Unsere gemeinsam verbrachte Jugend und unsere innere Entwick-lung aneinander bilden für uns beide einen unveräußerlichen Besitz, und wenn ich an Deinem Tische sitze, versinken die 20 Jahre, die zwischen unserm gemeinsamen Leben und der Gegenwart liegen, in einem Meer des Vergessens. Besonders dankbar bin ich auch Deiner lieben Frau, die mit unvergleichlichem Verständnis unser altes Verhältnis vertieft und bereichert hat. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, noch einmal besonders zu Euch zu kommen, um etwas mehr Fühlung mit Carl zu bekommen; aber leider mußte ich meinen Plan ändern. Nach sehr anstrengenden Tagen in Marburg und Frankfurt – beide Veranstaltungen aber von Erfolg begleitet – war ich so müde, daß ich mich 8 Tage in Gelnhausen ganz ruhig verhielt und bei der Rückreise nur wenige Stunden in Frankfurt zur Regelung einiger dienstlicher Angelegenheiten mich aufhielt. Besonders lieb war mir, daß Du bei dieser Gelegenheit auch meinen Freund Wende kennen gelernt hast. Je weniger wir imstande sind, eine tägliche körperliche und geistige Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, um so wichtiger ist es mir, daß Du die Menschen kennst, die jeweils mit mir in dieser Gemeinschaft stehen. Wende ist nicht nur mein Nachfolger und – wenn ich so sagen darf – mein Schüler, sondern er steht mir aus dieser gemeinsamen Arbeit heraus ganz außerordentlich nahe. So haben wir denn die ruhigen 8 Tage in Geln-hausen bei guter Verpflegung, auf wenige heizbare Zimmer beschränkt, sehr genossen. Inzwischen hat die Alltagsarbeit uns wieder überflutet, und Marburg, Frankfurt und Gelnhausen liegen wie ein schöner Traum hinter uns.

Hier schlagen wir uns mit Parlament und Staatsministerium herum und kämpfen mit anderen Ministerien um die neue Besoldungsordnung. Jeder Tag bringt sein Neues. Aber manchmal bäumt es sich in mir auf gegen das Zuviel an Arbeit, das auf mir lastet. Als ich gestern abend nach 3 ½ stündiger ununterbrochener Arbeit den letzten Aktendeckel zuklappte, war ich wirklich etwas ärgerlich. Und doch, wohin soll es führen, wenn wir nicht bis zur letzten Kraft unsere Pflicht tun? Darin allein findet man ja auch einen Trost gegenüber den immer schwie-riger werdenden Verhältnissen. Es ist interessant zu beobachten, daß die Gebildeten zunächst die geistige Spannkraft zur Arbeit wiedererlangt haben. Hoffentlich folgen auch die handar-beitenden Volksgenossen uns nach. In diesem Sinne habe ich mich heute morgen einem sehr interessierten Ausländer gegenüber äußern können. Willy Hepner, dessen Du Dich entsinnen wirst, brachte mir den früheren englischen Minister Trevelyan, der, wie du Dich vielleicht erinnerst, als Mitglied der Labour Party bei Kriegsbeginn mit Jone Burns und Morley aus dem Kabinett austrat. Es ist ein famoser Mann, der nach besten Kräften Deutschland helfen möchte.

Über Willy Hepner, der sich sehr deutschfreundlich benommen hat, fällt mir Wilhelm Trendelenburg ein, für den Du Dich ja früher gelegentlich interessiert hast. Er hat vor nicht ganz einem Jahre plötzlich seine Frau verloren und hat sich jetzt wieder mit einer Schülerin verlobt, da er eine Mutter für seine 7 Kinder braucht. Er hat mindestens 10 Rufe gehabt und ist zur Zeit Ordinarius in Tübingen.

So, nun muß ich aber zu meiner Arbeit zurück. Nimm diese Zeilen als Zeichen treuen freundschaftlichen Gedenkens.

Mit allen guten Wünschen für Dich und die Deinen (C.H.B.)

 

113. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.8.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich bin zum Schuljubiläum in Frankfurt, wohne im Hotel Baseler Hof von Donnerstag früh an, besichtige an diesem Vormittag u.a. die Musterschule, wo es mir Spaß machen würde, zufällig in Karls Klasse zu kommen. Ich muß mich darin allerdings der Führung des Direktors überlassen. Zu Mittag esse ich bei Alex, nachmittags halte ich mir frei. Vielleicht könnte ich Euch einmal kurz begrüßen; ich werde Alexens telegraphieren, im Näheres zu verabreden. Abends möchte ich an dem Begrüßungsabend im Zoologischen Garten teilnehmen. Eventuell könnte ich am Freitag bei Euch zu Tisch sein, nach Schluß des Aktes in der Paulskirche. Nachmittags will ich an dem Kaffee am Forsthaus einnehmen und um 6 Uhr dann wieder nach Gelnhausen fahren.

Wir haben nichts voneinander gehört, und ich würde mich riesig freuen, Euch wiederzusehen. Karls Geburtstag habe ich natürlich schmählich vergessen. Er soll mir das nicht übelnehmen. Ich freue mich dafür um so mehr, ihm meinen Glückwunsch jetzt persönlich bringen zu können.

In alter Freundschaft Dein (C.H.B.)

 

114. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 15.12.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich fand immer keine Zeit zum Schreiben; deshalb telegraphierte ich Dir heute, daß wir am Sonntag sehr auf Euch rechnen. Da nun von Frankfurt neuerdings am Sonntag mehrere Züge

fahren, muß ich wissen, wann und wo Ihr ankommt. Je nach der Menge Eures Gepäcks könnten wir das erst nach dem Hotel besorgen. Jedenfalls fahren wir dann 20 Minuten zu uns heraus und könnten dort noch 1 bis 1 ½ Stunden gemütlich zusammen sein. Ich lasse dann das Auto warten, so daß ihr dann bequem ins Hotel zurückfahren könnt. (C.H.B.)

 

115. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 22.2.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Hoffentlich ist Walters Brief zu Deinem Geburtstag rechtzeitig angekommen. Ich hatte mich auf die Erinnerung beschränkt und auf ein treues Gedenken und komme mit meinem schriftlichen Glückwunsch nun wohl etwas spät. Aber ich möchte Dir doch auch ein direktes Zeichen herzlichen Miterlebens zukommen lassen. Zugleich bitte ich Dich, meinen Freund Carl um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich den versprochenen Historiker von Weihnachten immer noch nicht geschickt habe. Aber die Situation ist buchstäblich die, daß ich niemals um eine Zeit, da die Läden noch oder schon offen sind, in Steglitz anwesend bin, wo ich bei unserm dortigen Buchhändler seiner Zeit das Universum gekauft und dann gleich zum Austausch zurückgegeben habe. Ich möchte aber gern selbst für Carl etwas aussuchen und hatte an Bismarcks ‚Gedanken und Erinnerungen’ oder so etwas Ähnliches gedacht. Leider weiß ich ja aber gar nicht, was er alles schon besitzt. Sollte er also einen diesbezüglichen Wunsch haben, wäre es mir natürlich sehr angenehm, ihn zu erfahren.

Wir stehen hier stark in Spannung, ob uns die Wahlen3 einen neuen Kurs im Ministerium bringen werden. Merkwürdigerweise ist die Entwicklung der extremen Parteien nicht ganz so schlimm wie erwartet. Es würde aber eine ganz andere und zwar viel gesündere Situation geschaffen, wenn die Deutsche Volkspartei doppelt so stark wie die Deutschnationalen wäre. Letztere werden durch ihre radikalen Schreier auch in ihren vernünftigen Mitgliedern aus-geschaltet, während Deutsche Volkspartei, Zentrum und Sozialdemokratie eine sehr trag-fähige Regierung bedeuten würden. Wir müssen uns doch im Augenblick ganz unter den

Primat der auswärtigen Politik beugen, aber leider gibt es wenige Leute in Deutschland, die wirklich politisch denken können. Da Minister Haenisch durch Liebäugeln mit dem Bürgertum sich bei seinen eigenen Genossen sehr stark kompromittiert hat, ist nicht sicher, daß er wieder zum Minister gemacht wird. Das kann dazu führen, daß wir einen noch links stehen-deren Sozialisten als Minister bekommen oder aber, daß das Ministerium überhaupt an einen Bürgerlichen fällt. Beides halte ich im Augenblick noch für einen Fehler. (C.H.B.)

 

116. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 10.3.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich habe Walter versprochen, Dir auf Deine Anfrage wegen des Patengeschenkes zur Konfirmation zu antworten, da ich alle derartigen Anfragen beantwortet habe und mir Mühe gebe, für Walther eine schöne Bibliothek bei dieser Gelegenheit zusammenzubringen. Bücher sind etwas so Teures, daß man seinen Kindern nicht mehr so viel schenken kann wie früher und man deshalb solche Anlässe wie die Konfirmation ausnutzen muß. Trotz aller Vorbe-sprechungen haben natürlich zwei Paten bereits Schillers Werke geschenkt, doch hoffe ich, das noch zu entwirren. Jedenfalls bitte ich von Schiller, Goethe, Keller, Bismarck, Treitschke absehen zu wollen.

Wie schwierig die Auswahl ist, habe ich neulich gesehen, als ich selbst zu dem gleichen Zwecke einen Buchladen aufsuchte. Ich bitte Dich freundlichst ein Werk zu wählen, das wertvoll für’s ganze Leben ist. Viel wird davon abhängen, was Du in Frankfurt bekommst. Hier ist es sehr mangelhaft bestellt. Walther hat z.Zt. stark literarische Neigung, jedenfalls vorwiegend geisteswissenschaftliche, doch liegt es Dir vielleicht mehr etwas Naturwissenschaftliches zu schenken. Ich fände jedenfalls Klassiker hübsch bis zu Storm, Hauptmann und Ibsen; es wird eben einfach davon abhängen, was Du bekommst. Ich würde auch kein Bedenken haben, zu einem gut erhaltenen antiquarischen Werk zu greifen; das wird immer noch länger halten als die modernen, auf schlechtem Papier gedruckten Ausgaben. Sehr willkommene Gaben sind natürlich auch die neueren Memoirenwerke: Nur eines möchte ich Dich bitten: schicke mir möglichst bald eine Postkarte mit der Mitteilung, was Du gewählt hast, da ich auf vielerlei Fragen antworten muß und sich sonst bei der derzeitigen Lage des Büchermarktes Doppelgeschenke nicht vermeiden lassen. Das schönste Geschenk wäre natürlich, wenn Du selber kämst; aber ich fürchte, daß wir damit kaum werden rechnen dürfen.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

117. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.1.1923

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich bin die Nacht vom 29. auf den 30. Januar in Frankfurt und würde gern den Abend des 29. Januar (Montag) bei Euch verbringen. Darf ich kommen? Antwort erbeten bis zum 28. d. M. nach Gelnhausen. Nachdem wir uns in diesem Sommer nur einmal kurz telephonisch gesprochen und ich mich um die Jahreswende durch brutales Schweigen in jeder Richtung hin ausgezeichnet habe, fühle ich das dringende Bedürfnis, einmal wieder ein paar Stunden gemüt-lich mit Dir, Deiner Frau und Karl zu verplaudern. Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr es ein-

richten könntet, mich zu empfangen. Alles nähere mündlich.

Herzlichste Grüße von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

118. Telegramm von C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 21.2.1929

(Maschinenkopie)

Gedenke des heutigen Tages mit innigen Wünschen in alter Freundschaft. Carl

***

Carl Heinrich Becker.

 

119. Nachruf auf Willy Bornemann. Februar 1930

Er war 13 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte. Wir waren Klassenkameraden, dann Verbin-dungsbrüder, vor allem Freunde, vom ersten Tage an. Seine Jugend war auch meine Jugend.

Überschlank, fast zart gebaut, blond, blauäugig, mit frischen Farben, zurückhaltend u(nd) doch zutraulich, klug, aber nie sich vordrängend, besaß er von Natur das Charisma, daß jedermann ihn gerne hatte.

In Kreuznach, wo sein Vater Schulaufsichtsbeamter war, am 21.2.1877 geboren, kam er 1890 durch die Berufung des Vaters zum Stadtschulrat nach Frankfurt/Main, die Stadt, in der sich später auch sein Mannesleben abspielen sollte. Schon auf dem alten städt(ischen) Gymnasium in der Junghopstraße (?Unleserlich) zeigte sich sein Wesen von der gleich sympathischen Seite, wie es nachher im Rupertenkreise und später in der Praxis des Berufes allgemein in Erscheinung trat. Vom Vater, der Westfale war, hatte er die Charakterfestigkeit und die Schweigsamkeit; er war nie der Mann der Worte oder der Formulierungen, aber er besaß eine kritische, ja ironische Art gegenüber jedem Übertriebenem, jedem Gefühlsüberschwang, jedem blinden Optimismus. Er war kritisch und hart gegenüber sich selbst. Nicht als ob ihm Weichheit fremd gewesen wäre. Von seiner temperamentvollen, feinfühligen Mutter, die einer alten rheinischen Familie entstammte, hatte er eine seltene Gefühlslebendigkeit ererbt, die aber bei ihm durch das kritische Erbteil von Vatersseite gebändigt war. So kam es, daß er sich selbst sehr bescheiden, ja zu bescheiden einschätzte, was in Zeiten nervöser Belastung, z.B. vor dem Examen sich bis zu Minderwertigkeitsgefühlen steigern konnte. Dabei war er gewiß kein Hypochonder; niemand konnte, namentlich in jungen Jahren, so ausgelassen, so rheinisch fröhlich sein wie er. Als er im Sommersemester 1895 Ruperte wurde, war er ein geradezu idealer Fuchs und keine leichte Aufgabe für seinen Leitburschen, dem leider allzufrüh heimgegangenen A.H.Weichsel, der ihn auch zur Verbindung gebracht hatte, oder für einen Fuchsmajor bei der damals noch streng geübten Commentpraxis. Obwohl er der Verbindung nur als CK (?)beigetreten war, genoß er eine so große Beliebtheit, schon nach 2 Semestern in den RC (?) berufen wurde und hier jahrelang eine aus Vernunft und früh geborene Vermittlerrolle gespielt hat. Seine Güte ließ ihn alles verstehen, seine Vernunft lehrte ihn Eingreifen oder Laufenlassen, wie es die Umstände erforderten. So konnte er der Freund vieler, allen ein guter Kamerad sein.

Aus dieser Hülfsbereitschaft erklärt sich auch seine Berufswahl. Er studierte Medizin und zwar 5 Semester in Heidelberg, dann 2 Semester in Berlin und dann bis zum Staatsexamen (24.3.1901) wieder in Heidelberg. Es war nicht das Naturwissenschaftlich-Technische, das ihn zur Medizin zog, es war das Menschliche. Nicht durch Worte oder Lehre, sondern durch Handeln helfen, das entsprach seiner Natur. Da er zeitlebens an einem nervösen Herzen litt, konnte er nicht daran denken, praktischer Arzt zu werden, aber auch Neigung trieb ihn zur Spezialisierung; daß er gerade Dermatologe wurde, war mehr eine zufällige Entwicklung, da ihm als Assistenz- und später Oberarzt am Städtischen Krankenhaus (1901-1905) bei Geheimrat Herzheimer eine ungewöhnliche Gelegenheit zu erstklassiger Spezialisierung gerade auf diesem Gebiete geboten wurde. Am 14.1.1905 promovierte er in Leipzig und am 1.4.des gleichen Jahres eröffnete er in Frankfurt seine Fachpraxis.

Es ist unmöglich, im Rahmen eines kurzen Nachrufs ein Leben zuwürdigen, das nicht in wenigen großen Geschehnissen sich auswirkte, sondern in unermüdlicher Kleinarbeit des Alltags bestand. Die Patienten suchten ihn; keiner verließ ihn dem er einmal geholfen. Die Collegen schätzten ihn wegen seines Könnens und seiner versöhnlichen Persönlichkeit, dem äußerer Ehrgeiz, ein Gelten wollen in Vereinen und auf Kongressen fernlag. Er lebte seiner Arbeit, sein Leben war ein Dienst. Die öffentlichen Dinge sah er nur von fern, manchmal mit leidenschaftlicher Kritik, aber ohne Bedürfnis zum aktiven Eingreifen. Er war eben Arzt, der über oder neben dem politischen Leben stand. Im Krieg war es ihm selbstverständlich, daß er sein Können in den Dienst der gr(oßen) vaterländ(ischen) Sache stellte. Erst in Frankfurter Lazaretten tätig, wurde er von 1916-1918 in der Etappe und schließlich auf seinen Wunsch trotz seiner zarten Gesundheit auch an der Westfront verwandt. Kurze Zeit wirkte er dabei an einem von unseren a(Aktiven?) H. Wager geleiteten Lazarett. Das Leben brachte ihn überhaupt immer wieder mit Ruperten zusammen. Eine Schicksalsfügung ließ ihn am gleichen Tage sterben, an dem auch sein Freund a.H. Robert Walde von uns schied. (12.2.1930)

Schwer lasteten auf seiner im Grunde weichen Natur die Nöte des Lebens. Sein Beruf, gerade als Dermatologe, war dazu angetan, keine allzu idealistische Auffassung des Lebens aufkom-men zu lassen. Er zog als Empiriker die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen, war aber in seinem eigenen Leben der lebendige Gegenbeweis gegen manchmal von ihm vertretener pessimistischer Grundsätze. In seinem persönlichen Leben herrschte Reinheit, Sonne und Glück. Er durfte die erste große Liebe seines Lebens als Gattin heimführen und das Schicksal hat diese Ehe in seltener Weise gesegnet. Hier lagen die Quellen seiner Kraft im Kampf mit den dunklen Mächten eines wachsenden Pessimismus.

Und auch zwei Welten gab es, die ihm seine Freude schufen und ohne die man ihn nicht richtig versteht, die Kunst und die Natur.

Schon auf der Schule ist er gern gewandert, später hat er Italien und Sizilien, hat er Dänemark und Schweden, von wo seine Gattin stammte, kennen gelernt, aber über die Größe der ausländ(ischen) Natur hat er nie die Liebe zu Taunus und Spessart verloren. In jungen Jahren war er auch ein leidenschaftlicher Jäger, aber die Natur war ihm bei der Jagd immer das Wesentliche. Und als Spiegel der Natur empfand er die Kunst. Auf einer großen Italienreise 1898 hatte er künstlerisch sehen gelernt, seine Mittel erlaubten ihm keine großen Anschaffungen, aber im kleinen ist er ein Mäzen gewesen, an den mancher junge Künstler, dem er durch Auskünfte geholfen, heute dankbar zurückdenkt.

Als ich ihn das letzte mal sprach, war er schon sehr krank. Ich ahnte, daß es ein Abschied für immer sei. Seine Gedankenwelt war erfüllt von der Liebe zu Frau und Sohn, zu Geschwistern und Freunden und von dem ganzen Ernst strengster Berufsauffassung und tiefer, letzter Bescheidenheit. Den Frohsinn der Jugend hatte die Härte des Lebens gebrochen, aber die Vornehmheit, Güte und Selbstlosigkeit seines Charakters leuchteten durch die schweren Schatten seines nahenden Todes.

Wir wollen ihn in uns lebendig halten, er aber ruhe in Frieden. (C.H.B.)


1 Hellmut

2 Es handelt sich um die Berufung ans Preußische Kultusministerium als Hochschulreferent Frühjahr 1916.

3 Es handelt sich um Wahlen zum Preußischen Landtag.

Walter Becker

HA VI Nr. 6293 (CHB - Walter Becker 1924-1932)

88. C.H.B. an den Reichsminister der Finanzen, Berlin. Berlin, 5.4.1924

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein unmündiger Sohn Walter, der keinerlei eigenes vermögen oder Einkommen besitzt und zu meinem steuerlichen Haushalt gehört, soll in England ein Semester studieren. Die Formalitäten seiner Aufnahme in Birmingham sind erledigt. Der Ankauf englischer Noten und die Überweisung der Pensionskosten sind mit Genehmigung des Finanzamtes in die Wege geleitet. Das englische Einreisevisum ist erteilt. Es fehlt nur noch der Sichtvermerk des zuständigen Finanzamtes.

Es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, welche Bedeutung es auch im vaterländischen Sinn hat, wenn der akademischen Jugend insbesondere den künftigen Staatsbeamten, in ihrer entwicklungsfähigsten Zeit ein Einblick in ausländische, insbesondere angelsächsische Verhältnisse ermöglicht wird. Selbst als höchstbezahlter Staatsbeamter ist man heute nicht mehr in der Lage, die mit schweren persönlichen Opfern erkaufte Bereitstellung von Mitteln zur möglichst besten Ausbildung des Sohnes noch um eine Summe von 500 Mark zu vermehren, deren Erhebung zudem von Erwägungen ausgeht, die auf den vorliegenden Fall ganz gewiß nicht zutreffen. Unter diesen Umständen bitte ich ergebenst, den Härteparagraphen anwenden und die ‚Unbedenklichkeitserklärung’ unter Erlaß der Gebühr von 500 Goldmark1 für den anliegenden Paß meines Sohnes geben zu wollen. Da im Zusammenhang mit dem Beginn des englischen Studiensemesters als Abreisetermin der 15. oder 16. April d.Js. in Aussicht genommen ist, wäre ich für die Herbeiführung einer baldigen Entscheidung besonders dankbar. (C.H.B.)

 

89. C.H.B. an Sohn Walter, Birmingham. (Berlin), 7.7.1924

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Im Anschluß an meinen Brief von gestern will ich Dir nur mitteilen, daß mir die Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, gez. Schairer, u.a. Folgendes geschrieben hat:

Gleichzeitig teilen wir Ihnen mit, daß Dr. Schairer an die Leitung der Swanwik-Konferenz in London geschrieben und sie gebeten hat, als deutschen Gast Ihren Sohn Walter einzuladen. Die anderen deutschen Studenten, die Dr. Schairer für die Konferenz ausgewählt hat, sind:

  • Dr. Hans Harmsen, z. Zt. Stud.rer.pol. Universität Berlin, Berlin-Zehlendorf, Schwerinstraße 10, der einer der bekanntesten Führer der Jugendbewegung in Berlin ist. Ferner
  • Stud.jur. Hans D. von Gemmingen, Heidelberg, Gaisbergstraße 22, der Dr. Schairer von Dr. Bergsträsser sehr warm empfohlen worden ist.

(C.H.B.)

 

90. Hertha Becker an ihren Bruder Walter. Salem, 13.3.1925

Lieber Walter!

Vielen Dank für den ‚unverdienten’ Brief und die Karte von Stöckchen (anbei zurück). Ich fühle mich außerordentlich schuldbewußt, aber in Anbetracht dessen, daß ja bald Ferien sind und ich schrecklich viel zu tun habe, werde ich mich an den glühenden Kohlen verbrennen, die Du auf mein Haupt geladen hast. Erst will ich mal Deine Fragen beantworten. Vera, die seit einigen Tagen krank ist (hohes Fieber) und infolgedessen und aus noch verschiedenen anderen Gründen jetzt kein Examen macht, wird am 29.März eingesegnet , in Konstanz. Habe ich wegen Hellmut irgend etwas vergessen? Ich hoffe nicht. Daß Mutter noch im Bett liegt, ist ja einfach entsetzlich. Hat sie irgend einen Arzt?

Mir geht es wieder ausgezeichnet. Es ist plötzlich eisig hier geworden, es liegt ziemlich Schnee, man kann etwas Schilaufen.

Das schriftliche Abitur ist vorbei und unter allgemeiner Aufregung ganz gut verlaufen. Montag kommt das mündliche. Der Geheimrat regt sich furchtbar auf und traktiert uns, als die Zukünftigen ganz wahnsinnig. Ich arbeite kaum etwas anderes als Realistenmathematik für mich und mit drei anderen, die alle ziemlich am Sitzenbleiben sind, mehr oder weniger. Und dazu muß ich am Mittwoch einen Vortrag halten über ‚Das Wesen des deutschen Volkslieds und Goethes Stellung dazu’, also für Arbeit ist gesorgt. Außerdem bin ich in Abwesenheit der Abiturienten das größte Mädchen usw.. Wir haben jetzt jede Woche einen sehr interessanten Musikgeschichte-Vortrag.

Jetzt muß ich aber Schluß machen, obgleich dieser Brief Dich sicher nicht befriedigt, aber ich habe noch keine Ferien und auch noch kein Abitur gemacht und weiß außerdem, daß mein Bruder auch mal vorlieb nimmt.

Gruß und Kuß, Deine Hertha

 

91. C.H.B. an Sohn Walter, stud.jur., Gelnhausen (Berlin), 8.4.1925

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter,

Einliegend schicke ich Dir den Brief des Amerikaners, den ich eröffnet habe, weil ich es für richtig hielt, erst einmal mit Remme darüber zu sprechen. Remme rät nach wie vor sehr zu, obwohl der Brief Mutter und mir nicht übermäßig gefallen hat. Immerhin ist es ein Zeichen besonderer Liebenswürdigkeit, daß er in Deutsch geschrieben ist. Ich habe mir nun überlegt, daß Du ihm schreiben solltest und zwar in gutem englisch, daß du Dich sehr freuen würdest, ihm zur Verfügung zu stehen, daß es Dir aber wegen Deiner Universitätsstudien unmöglich wäre, vor Sonntag, dem 19., zu ihm zu stoßen. Nach seinem Plan würdest Du dann direkt nach Baden-Baden fahren und ihn dort treffen. Du kannst ihm ja ein paar Worte über Deinen Aufenthalt in England sagen, und daß Du Dich seiner Jungens schon nett annehmen würdest. Remme meint, Du solltest die 15 Dollar die Woche beanspruchen. Schreibe ihm bitte sofort, denn der Brief hat einige Zeit bei mir gelegen, und er möchte natürlich bald etwas Entscheidendes wissen. Remme wird gleichzeitig noch einmal an den Generalkonsul schreiben und darüber aufklären, daß Du mein Sohn bist, was natürlich bei einem Besuche von Berlin für einen Amerikaner auch einen gewissen Reiz haben wird.

Von Herthas Operation wirst Du gehört haben. Ich bin sehr beruhigt, daß sich nachträglich herausgestellt hat, daß die Operation unbedingt notwendig war. Auch heute kam wieder ein erfreuliches Telegramm: ‚Gute Nacht ohne Schlafmittel, Stimmung und Befinden gut.’

Für Deine Karte mit Carl Bornemann danke ich bestens. Auch hat mir Mutter Deinen Brief und Deine Karte aus Heidelberg geschickt. In Sachen Hertha waren wir etwas ungeduldig geworden, da die Nachrichten, die Ihr uns schicktet, außerordentlich unpräzis waren und Mutter sich doch mit allem auf die Reise einstellen mußte. Na, diese Dinge sind nun erledigt, und ich hoffe, daß Mutter mit Hertha eine schöne Erholungszeit erlebt. Zufällig erfuhr ich, daß Götsch gerade ebenfalls in Friedrichshafen bei seinem Bruder weilt; er wird vielleicht Hellmut mitnehmen können und dadurch Mutter entlasten.

Du wirst gelesen haben, daß ich inzwischen wieder zum Minister ernannt bin, und wir hoffen, daß es nun für längere Zeit Ruhe gibt. Aber gewiß ist im politischen Leben ja nichts! Gerade die heutige Nachricht von dem Frevel der Aufstellung Hindenburgs hat mich doch sehr erschüttert. Hoffentlich ist das deutsche Volk politisch reif genug, um auf diesen parteipolitischen Schwindel der Rechten nicht hereinzufallen. Nachdem Ludendorff sich selbst zerstört hat, nun auch noch den alten Nationalheros Hindenburg in den Parteikampf zu ziehen, ist ein so unerhörtes Unternehmen, daß ich gar keine Worte dafür habe, zumal doch bekannt ist, daß Hindenburg schon am Ende des Krieges ein überalterter Mann war und für eine siebenjährige Leitung der gesamten Reichspolitik doch einfach nicht mehr in Frage kommen kann. Und so etwas geschieht unter der Ägide derjenigen Parteien, die mit Inbrunst und Überzeugung immer wieder von dem Primat der auswärtigen Politik sprechen. Für das Ausland konnte die Rechte wahrlich keine dümmere Wahl treffen. Mir tut der arme Hindenburg bis in die Seele leid; denn selbst wenn er mit wenigen Stimmen Majorität gewählt werden sollte, so ist er doch nur ein Schatten und ein Spielball in den Händen einiger Drahtzieher.2 Ich saß gerade neben Simons auf einem Frühstück beim Reichskanzler, als die Nachricht kam. Sie erweckte geradezu eine gewisse Depression. Es war übrigens ein sehr nettes Frühstück, das ich nur leider früh abbrechen mußte, da ich hinterher zur Beisetzung von Partsch, die sehr würdig verlief, fahren mußte.

Ich hatte viel amtliche Repräsentationen in letzter Zeit, und Du wirst meinen Namen öfters in den Zeitungen gelesen haben. Ich war zweimal beim Reichspräsidenten zum Frühstück und gebe heute abend selbst einen Empfang für die klassischen Philologen anläßlich der Tagung über das Gymnasium im Zentralinstitut. Es werden ungefähr 80 Personen kommen, dazu der Reichspräsident und der Reichskanzler.

Die nächsten Tage bleibe ich ruhig zu Hause und will an meinem zweiten Band arbeiten. Ostern werde ich in Ruhe mit Gragger verleben.

Allen Lieben in Gelnhausen herzliche Grüße. (C.H.B.

 

92. C.H.B. an seinen Sohn Walter, Freiburg. (Berlin), 13.3.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Einliegend sende ich Dir 100 Mark für Deine Reise. Du mußt sehen, wie Du damit zurecht kommst. Bitte schreibe recht bald einmal, wie Deine Pläne eigentlich sind, d.h. besonders, wann Du zurückzukommen gedenkst.

Wir haben nach langem hin und her nun alle Reisepläne für Ostern endgültig aufgegeben, da es bei Muckels Gesundheitszustand nicht gut geht und auch Mutter kaum frisch genug dazu ist. Sollte schließlich das Wetter wundervoll werden. so können wir ja von hier doch noch irgendwohin fahren; das aber müssen die Umstände ergeben. Wahrscheinlich wird Eberhard zu Ostern da sein, und dann wird es schon ganz vergnügt werden. Auch mit Deiner Rückkehr bitte ich es so einzurichten, daß Hertha, die am 25. oder 26. kommt, noch ein paar Tage allein hier sein kann, ehe der allgemeine Ostertrubel beginnt. Hellmut ist gestern zum ersten Mal eine halbe Stunde aufgewesen, und wir sind nun sehr neugierig auf den Befund. Die Pflege ist schrecklich langweilig und anstrengend für Mutter, und es wird höchste Zeit, daß sie durch Hertha eine gewisse Entlastung erfährt. Auch wird es recht lange dauern, bis Muckel wieder seine alte Frische hat und vor allem ohne spezielle Rücksichten leben kann.

In Osterholz las ich Deinen Brief an Onkel Ferdi. Ich war als einziger Vertreter der Familie hingefahren und verlebte dort zwei sehr nette Tage, traf auch Ully, besichtigte Schulen im Kreise und fuhr dann zwei Stunden mit Else im Auto nach Stade, wo wir einen Abend lang beim Regierungspräsidenten tanzten; dann in der Nacht durch Sturm und Braus mit Tante Else nach Osterholz zurückgefahren, und von dort aus heim nach Berlin, wo ich sofort einen Bierabend bei Hindenburg mitmachte. Gestern hatte ich selbst ein Frühstück mit einigen Hauptwirtschaftsführern zur Finanzierung des Gragger’schen Instituts, die auch bestens gelang. Abends war ich mit Mutter auf der Sowjetbotschaft zu einem sehr festlichen Dîner mit der ganzen Preußischen Regierung und danach noch allein zur Jahresfeier der Hochschule für Politik. So geht es jetzt tagaus tagein, und ich wundere mich immer, daß Magen und nerven noch Stand halten. Wir hatten neulich ein sehr elegantes Frühstück auch auf er Französischen Botschaft, und am Tage meiner Rückkehr aus Osterholz war Mutter allein wieder dort zu einem großen Empfang. Auch aus diesen Gründen freue ich mich auf die Ruhe der Ostertage.

Zu Herthas Empfang ist schon alles vorbereitet. Muckel ist ins Spielzimmer disloziert und Herthas Zimmer mit aus Augsburg eingetroffenen Korbmöbeln sehr nett dekoriert. Es verdient immerhin Erwähnung, daß uns das unglaubliche Mädchen bis heute außer einem Telegramm noch ohne jede Nachricht über ihr Abitur gelassen hat, obwohl es schon 8 Tage her ist,, und sie erst auf ein Telegramm von uns hin entschloß, uns

(Schluß fehlt) (C.H.B.)

 

93. Kultusministerium (wahrscheinlich RR Duwe) an Walter Becker. Berlin, 7.5.1926

(Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Becker!

Ihr Herr Vater, der augenblicklich durch die Beratung des Etats unseres Ministeriums im Plenum des Landtages besonders stark in Anspruch genommen ist, hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß er am Freitag, dem 14. des Monats in St. Blasien die Eröffnung eines vom Preußischen Lehrerverein dort eingerichteten Kurhauses vornehmen wird. Bei seinen Reisedispositionen hat der Herr Minister auch einen Tag des Zusammenseins mit Ihnen in Aussicht genommen, für den Sie nach Belieben ein Programm vorsehen möchten.

Der Herr Minister wird hier am Mittwoch, dem 12. Mai, abends 9.12 Uhr abfahren und am Himmelfahrtstage mittags 12.34 Uhr in Freiburg eintreffen. Am Freitag, dem 14. Mai, kommt mit dem gleichen Zuge Herr Ministerialdirektor Kaestner nach und werden dann beide Herren vom Bahnhof die Weiterfahrt mit dem Auto, das ihnen von dem Kurhause geschickt wird, fortsetzen. For Sie steht also die Zeit vom 13. Mai 12.34 h bis 14.Mai 12.34 h zur Verfügung. Am Sonnabend, dem 15. Mai, kommen die Herren wieder mit dem Auto nach Freiburg, um von hier mit dem Zuge um 9.30 h vormittags die Fahrt nach Coblenz/Bonn fortzusetzen.

Von Ihrem Herrn Vater Ihnen recht herzliche Grüße übermittelnd, denen ich solche von mir mit verbindlichsten Empfehlungen anschließe, bin ich Ihr sehr ergebener (?Duwe)

 

94. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Genf-Champel, 2.8.1926

Lieber Vater,

nach herrlicher Fahrt über Romanshorn – Zürich – Bern – Fribourg – Lausanne bin ich gestern abend hier wohlbehalten angekommen. Es war der erste August du auf den Bergen zu beiden Seite des Sees loderten die Feuer. Die Stadt selbst war gebadet in einem Meer von licht, als ich ankam.

Hier draußen wurde ich von Mme Gentat (?) reizend aufgenommen und in demselben Zimmer untergebracht, in dem ich voriges Jahr mit Oskar gewohnt habe. Es liegt im ersten Stock und hat einen herrlichen Blick über die alten Bäume des Gartens auf den Lalève. Ich bin wirklich sehr froh, daß ich hier wohne, und habe mich aufs neue überzeugt, daß der Preis im Verhältnis zu dem, was ich dafür bekomme, nicht zu hoch ist.

Der Hauptzweck dieser Zeilen ist begreiflicherweise der, Dich über meine finanzielle Lage zu orientierten. Ich habe zur Zeit noch 350 Franken, also nicht ganz 300 Mark. (Die anderen 100 Mark – 800 hattest Du mir geschickt – sind für Reisekosten etc. draufgegangen. Als Hauptposten wären zu nennen: Mark 16,35 =20 frs, die ich hier als Anzahlung einschicken mußte; Mark 8,80 Franz(ösisches) Lexikon und Grammatik; Mark 33,10 Billet Freiburg Genf; Mark 12,40 Gepäck; sowie Reiseausgaben und Schlußausgaben in Freiburg.) Das Zimmer hier kostet mit voller Pension 9 Franken pro Tag + 5% Bedienung. Das wären für den ganzen August Franken 293, wozu noch 5 Franken für Licht kommen. Der Kurs an der Universität kostet 90 Franken. 20 Franken habe ich schon im Voraus bezahlt, es bleiben also noch 70 Franken zu bezahlen.

  • Pension Frs. 298.-
  • Kurs Frs. 70.-

Frs. 368.-

Ich glaube nicht, daß hierzu noch sehr wesentliche Ausgaben hinzukommen. Ich bitte Dich aber, mir (möglichst sofort noch etwas zu schicken, und vielleicht ein bißchen mehr, als ich unbedingt brauche, damit ich für alle Fälle etwas in der Tasche habe. Ich brauche Dir nicht zu versichern, daß ich alle Extraausgaben möglichst einschränken werde. Ich besitze wie gesagt z.Zt. noch 354 Frs.—

Heute früh war ich auf der Universität. Alles scheint glänzend organisiert zu sein. Die Kurse beginnen heute Nachmittag. Die Stadt ist bezaubernd, das Wetter strahlend. Es kann eine herrliche Zeit werden.

Hier im Haus habe ich viel Gelegenheit zu sprechen, und kein Mensch kann ein Wort Deutsch. Ich bin überzeugt, daß ich sehr schnell hereinkommen werde.

Nun Schluß für heute. Ich wünsche Dir weiter gute Erholung und grüße Dich vielmals,

von Herzen Dein Walter.

 

95. C.H.B. an Sohn Walter in Genf (Berlin?), 18.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Gestern war Oskar bei mir, wir hatten eine gemütliche Teestunde im Rauchzimmer des Ministeriums. Ich will überlegen, ob ich Dir für Paris nicht noch ein paar Einführungen verschaffen kann. Jedenfalls suche meinen Freund Professor Louis Masssignon auf (Paris VII, Rue Monsieur 21). Am besten schreibst Du ihm vorher. Ich betrachte ihn als einen, der zu meinem engeren Freundeskreise gehört. Du wirst in ihm einen ganz hervorragenden Typ feinster französisch-katholischer Geistigkeit kennenlernen. Glänzender Orientalist, aus sehr gutem Hause, vermutlich aber jetzt in bescheideneren Verhältnissen lebend. Er ist etwa 40 Jahre. Ich bin mit ihm in Griechenland und Holland sehr nahe zusammen gewesen. Er ist ein Mystiker, hat ein Erlebnis wie Paulus vor Damaskus gehabt und sein ganzes Leben danach gestaltet. Davon brauchst Du ihm gegenüber natürlich nichts zu wissen. Grüße ihn sehr, sehr herzlich von mir und sage ihm, wie freundschaftlich ich an ihn denke. Hoffentlich ist er in Paris. Ich werde Dich durch ein paar Worte avisieren.

Hellmut geht es wieder gut. Er kommt dieser Tage auf den Ottenberg zurück. – Hier stand alles im Zeichen des neu ernannten Generalintendanten. Die Sache ist ausgezeichnet abgelaufen, und selbst einige Mäkler habe ich durch lange persönliche Besprechungen zu freudig zustimmenden Artikeln gebracht. Damit sind wir eingroßes Stück auf dem Wege der Gesundung der Berliner Opernverhältnisse vorangekommen. – Meine Rede auf Tagore im Kaiserhof lege ich Dir im Auszuge bei.

Heute ist ein herrlicher Tag. Mutter und Hertha sind ans Wasser gegangen. Ich beginne morgen eine längere Reiseperiode, zunächst Naturforschertag in Düsseldorf mit Gesolei, wo ich Lexis’ ens und vielleicht Ernst Blumenstein treffen werde. Dann Breslau. Der Betrieb beginnt wider gründlich. Ich freute mich sehr, von Oskar zu hören, daß Du im Winter viel zu Hause sein und arbeiten willst. Die Botschaft hör’ ich wohl.—Weidmannsheil! Geld werde ich dann wohl nach Paris schicken, sobald Du schreibst, wohin. Wenn’s nicht zu viel kostet, bleibe natürlich möglichst lange dort, damit Du recht viel davon hast.

Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater).

 

96. C.H.B. an Sohn Walter, Lausanne-Ouchy. (Berlin), 25.9.19263

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter.

Ich schicke Dir einliegend 100 Schweizer Franken und 25 Dollar. Es ist für Paris am besten, langsam zu wechseln. Eine weitere Sendung schicke ich Dir dann unmittelbar nach Paris, wenn es nötig ist. Ich bin der Meinung, daß Du möglichst lange in Paris bleiben solltest. Einliegender Brief meines Freundes Massignon (Paris VII, Rue Monsieur 21) wird Dir zeigen, was für ein entzückender Mensch das ist. Schreibe ihm also, bitte, sofort. Ich will ihm Deine Adresse in paris mitteilen, aber ist schon richtig, daß Du ihm auch persönlich schreibst.

Uns allen geht es sehr gut. Heute nur so viel; ich bin in großer Eile und schreibe Dir nach Paris in Ruhe. (C.H.B.)

 

97. C.H.B. an Sohn Walter, Referendar, Chicago, bei Dr. Baum (Berlin), 26.1.1929

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Heute erhielten wir mit der Morgenpost Deinen ersten Brief aus Amerika, der von Deiner Seefahrt berichtet. Schon seit Tagen hatten wir bei jeder Post darauf gelauert, da natürlich unsere Gedanken sehr viel bei Dir sind und es uns so merkwürdig vorkommt, daß immer fast 14 Tage zwischen Deinem Erleben und unserem Nacherleben liegen. Da Du gar nichts von Deiner Gesundheit schreibst, hast Du offenbar die Grippe der ersten Tage schnell überwunden und doch ganz viel Genuß von der Überfahrt gehabt. Mit größter Spannung erwarten wir die ersten Nachrichten aus Chicago. Jeder, mit dem ich spreche, stellt mir Empfehlungen für Dich zur Verfügung, aber ich habe sie bisher alle abzudrängen verstanden, da ich glaube, daß Du zunächst genügende besitzest. Nur Dr. Paul Lempner erklärte sofort, daß er Dir schreiben wolle und daß er so ganz besonders gute Freunde hätte, die Dir gerade auf juristischem Gebiet von Nutzen sein könnten. Deshalb konnte ich sein Angebot nicht ablehnen, und Du wirst ja wohl inzwischen seinen Brief erhalten haben. Bei der ganzen Art Kempners handelt es sich da gewiß um innerlich wertvolle Menschen. Ferner hatte ich neulich ein langes Gespräch mit unserem deutschen Konsul Dr. Ahrens in St.Louis, der zurzeit hier ist und den ich von früher her kenne. Er würde Dir natürlich jeden Gefallen tun, wenn Du hinkämst. Er ist ein frischer, noch jüngerer Mann, der mir auch allerlei Tips über die Chicagoer Gesellschaft gegeben hat. Er meint, Du würdest ja wohl von selbst durch Generalkonsul Simon mit Louis Günzel in Beziehung kommen. Das wäre ein sehrempfehlenswertes Haus. Dagegen sprach er mit sehr viel Reserve von dem Vertreter des Norddeutschen Lloyd, Ludwig Plathe, der sehr reaktionär und zudem sehr indiskret sei. Du möchtest Dich also bei ihm durch etwaige Liebenswürdigkeit nicht täuschen lassen. Endlich erhielt ich einen reizenden Brief von meinem ältesten Schüler Professor Julian Morgenstern (Cincinatti, Ohio, The Hebrew College), von dem ich Dir ja schon gesprochen habe. Ich sende Dir auf besonderem Zettel den Dich betreffenden Auszug seines Briefes.

Von uns ist nur Gutes zu berichten. Ich verbringe meinen Sonnabend nachmittag im Ministerium, nachdem ich vorhin um ½ 3 Uhr mit Mutter und Hellmut, Wende und Kunert zusammen zu Mittag gegessen und mit ihnen beim Kaminfeuer die Korrekturen für unser großes Tischordnungsprogramm nächsten Montag gelesen habe. Wir werden Dir einen Reindruck zugehen lassen, damit Du siehst, wie viel erlauchte Leute an diesem Feste teilgenommen haben. Die ganze vorige Woche waren wir keinen einzigen Abend zu Hause. Ich hatte Hellmut zwischen vorigem Sonntag und heute, Sonnabend, überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Montags beim Reichskanzler, Dienstag beim Reichspräsidenten mit Hertha und hinterher sehr vergnügter Universitätsball, auf dem ich sogar noch getanzt habe, und zwar mit der Frau von Eberhard, während Hertha mit ihm tanzte. Am Mittwoch war ein Dîner bei Guérards, am Donnerstag ein fabelhaft elegantes Essen auf der Niederländischen Gesandtschaft, gestern war das Universitätskonzert unter dem Protektorat der Mutter in der alten Aula mit daran (an)schließendem Tee und guter mittelalterlicher Musik, wobei Sooth und Frau Richter mitwirkten, und heute Abend gehe ich mit der Tante Sophie auf den Presseball. Morgen kommt Professor Fischler aus München, unser alter Freund, zu Tisch und abends Harro und Unruh. Am Montag ist dann die Gesellschaft.

Von den unzähligen Lessing-Feiern habe ich nur am vorigen Sonntag die Rede von Gundolf gehört, die ganz vorzüglich war und die mich so begeisterte, daß ich ihn am nächsten Tag zum Frühstück einlud., wo wir uns famos unterhielten. Ferner hörte ich in der Akademie einen sehr guten Vortrag von Thomas Mann, echt mannisch, eine Parallele zwischen Lessing und ihm selbst mit dem entzückenden Satz:

Lessing wäre dem Schicksal so mancher Dichter verfallen, daß man erst alles Dichterische ihm abstritte und dann zu dem Urteil käme, daß er eben doch nur ein Schriftsteller gewesen sei, und zwar nicht einmal ein patriotischer.

Es gab natürlich ein allgemeines Geschmunzel. Dann habe ich noch die Lessing-Ausstellung in der Staatsbibliothek mit eröffnet, wobei Molo famos sprach. Du siehst also, an Betrieb fehlt es mir nicht. Aber Gottlob habe ich auch dienstlich zur zeit viel Interessantes. Wir machen jetzt einen Endspurt mit dem Konkordat, da ein klarer Text vorliegen muß, auf den die Volkspartei verpflichtet werden kann, wenn sie überhaupt den Wunsch hat, in die Koalition in Preußen einzutreten. Auf unklare Versprechungen wie bei dem Schulgesetz läßt sich das Zentrum zum zweiten Mal nicht ein. Die starke Spannung mit dem Nuntius hat sich etwas behoben, namentlich da wir uns fast allabendlich auf Gesellschaften begegnen, so daß ich jetzt wieder mit einigem Optimismus der Entwicklung entgegensehe. Aber auch auf schulischem Gebiet gehe ich zur Zeit einigen großen Gedanken nach, die aber noch nicht reif sind, in einem Brief skizziert zu werden.

Damit will ich für heute schließen. Hoffentlich bleibst Du gesund und bist durch Deine kleine Grippe geimpft. Das Ministerium bricht nahezu vor Grippeerkrankungen zusammen. Zur Zeit fehlen unter meinen nächsten Mitarbeitern Lammers, Duwe, Richter, Nentwig, Zierold. Letzterer hat sich sogar fluchtartig nach Stettin zurückgezogen.

Viele innige Grüße vom ganzen Hause (C.H.B.)

 

98. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Berlin-Steglitz, Schillerstr.2, 15.2.1930

Lieber Vater,

in Liebenwalde war diese Woche so viel los, daß ich erst in dem stillen Berlin dazu komme, Dir für Deinen lieben Brief, den ich sofort an die Geschwister weitersandte, zu danken. Zur Ergänzung meiner Zeilen vom vorigen Sonntag möchte ich noch sagen, daß ich den Präsidenten Hutchins persönlich nicht kennengelernt habe, da er erst nach meiner Abreise von Chicago zum Präsidenten gewählt worden ist. Damals war der Posten gerade verwaist.

Ich nehme an, daß sie Dich dort als Pädagogen und Universitätsfachmann wollen, die dauernde Stellung wäre sicher eine solche mit der Aufgabe, die Organisation der jungen Universität, von der ich neulich schon schrieb, nach deutschem Vorbild leitend zu beeinflussen.

Hier fand ich heute alles bestens vor. Das Verhältnis zu Mlle. Jacobi scheint äußerst harmo-nisch und für alle Teile befriedigend. Heute Nachmittag werden wir mit Gene Staley und ihr eine Bridge-Party geben, ob auf englisch, französisch oder deutsch, wissen wir noch nicht.

Abends gehen Hertha und Hellmut zu einer Galsworthy-Aufführung ins AGD, ich werde mit Marianne Partsch ins Esplanade Tanzen gehen.

Amtgerichtsrat Hassert ist heute nacht plötzlich an das Sterbebett seines Vaters abberufen worden. Wir haben als Vertreter für 10 Tage einen Assessor Last aus Berlin zum Chef.

Die Arbeit in Liebenwalde ist weiterhin äußerst befriedigend, gestern erhielt ich zum ersten Mal ein Lob für ein Civilurteil, während bisher alle von uns beiden gefertigten Urteile als nicht genügend bezeichnet worden waren.

Eure (bzw. Mutters) Briefe habe ich mit viel Interesse soeben gelesen, leider schreibt die Zeitung heute wieder von einem erneuten Wettersturz an der Riviera. Hoffentlich ist auch dieser nur vorübergehend, so daß Ihr recht auf Eure Kosten kommt. Mutters Kniesache ist ja sehr ärgerlich, aber vielleicht hat sie sich gelegentlich des Wettersturzes etwas ausheilen können.

Alles Liebe Euch beiden, und viele Grüße.

In treuem Gedenken Dein Walter.

 

99. Walter Becker a The Windermere Hotel, Chicago Ingleside, Magnetawan,

Ontario, Canada. 4.9.1930

(Maschinenkopie)

Dear Sirs,

My father, Dr. C.H.Becker of Berlin, Germany, and I intend to spend a week or two in Chicago the coming October. We want to stay at the south-side of the City and should like to stay at your hotel if we can get a really nice double room at a good weekly rate. I called up your office the other night and got the information that you had rooms for a double rate from 35 to 45 Dollars a week at the East Windermere Hotel. Will you please confirm me this information, and if it is correct, will you reserve a double room for us for a week starting the evening of October 6th. Our address from now on up to September 22nd will be c/o Dr.W.O. von Hentig,70 Seacliff Avenue, San Francisco, California, and I should be much obliged if you would let me have your reply as early as possible. We should want to have a room with bath overlooking the lake at a rate of between 40 and 45 Dollars for the two of us.

Will you please also tell me in your letter, if there is a difference in the management of the two Windermere Hotels, so that in order to avoid confusion we had better give a more definite address for our mail than just Windermere Hotel Chicago.

I am enclosing a check for a suit-case checked at La Salle Street Station Chicago and would oblige me very much by having it brought up to the hotel and checked there at our expense.

Hoping to hear from you soon, yours truly (Walter Becker)

100. Hotels Windermere, Chicago an Walter Becker, San Francisco bei Dr.W.O. von Henting. Chicago, 8.9.1930

Dear Mr. Becker,

We are pleased to receive your letter of September 4th advising that you expect to reach Chicago the evening of October 6th to remain one week, ore possibly more.

We have made a definite reservation for a large comfortable room with twin beds and a private bath which will be in readiness for you on your arrival here at that time at a weekly rate of $45 which we trust will meet your approval.

This room is located in Windermere East Hotel which is the larger and newer of the two units. The two hotels are operated under the same management, which will assure you that there will be no delay in mail reaching you promptly. It would be well, possibly, to have your mail addressed to hotel Windermere East however.

The baggage check which was enclosed in your letter we have turned over to our head porter and your bag will be brought from the La Salle Street Station immediately and taken care of here at the hotel without any charge for the care of same at the hotel until you claim it.

Assuring you this matter will have our personal attention and anticipating your arrival with Dr. C.H. Becker, we are cordially yours (signed) Robert Riley Asssistant Manager.

101. Referendar Walter Becker an C.H.B. Berlin, 26.5.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Vater,

Für den Fall, daß ein Dir von mir mit Flugpost nach Eastbourne nachgeschickter Brief des 2.Generalsekretärs des Völkerbundes, Dr. Dufour-Féronce, Dich infolge des Feiertagsbetriebs in England nicht erreicht hat, will ich Dir schnell den Inhalt dieses Briefes wiederholen:

Dr. Dufour fragt bei Dir im Auftrag des Völkerbundsrats vertraulich an, ob Du bereit wärst, die Leitung einer aus 4 Vertretern verschiedener Länder bestehende VölkerbundsKommission zum Studium der Erziehungsverhältnisse in China zu übernehmen und mit dieser Kommission noch in diesem Sommer für3 Monate auf Kosten des Völkerbundes nach China zu fahren. Herr Dr.Bonnet, der Direktor des Instituts für internationale geistige Zusammen-arbeit in Paris, wird in diesen Tagen gelegentlich Deines Vortrages gleichfalls versuchen, Dich zur Übernahme dieses Amtes zu überreden. Die Tätigkeit der Kommission bzw. des Völkerbundes überhaupt in dieser Sache ist auf ein Ersuchen der Nanking-Regierung zurück-zuführen. Bisher sind in ähnlicher Weise vom Völkerbund vor allem Enquêten auf sanitärem Gebiet in China vorgenommen worden, die bereits zu erheblichen praktischen Ergebnissen geführt haben sollen. Einzelheiten wirst Du ja, falls Du den Brief noch nicht hast, später aus ihm entnehmen können, wenn er Dich erreicht. Ich wollte Dir nur die Hauptpunkte mitteilen, damit Du evtl. im Bilde bist, wenn Dr. Bonnet Dich auf die Sache hin anspricht. Dr. Dufour scheint sehr viel daran gelegen zu sein, daß gerade ein Deutscher die Führung dieser

Kommission übernimmt.

Ich hatte herrliche Pfingsttage in Liebenwalde. Gene und einbefreundetes Ehepaar kamen gestern noch heraus. Bei strahlendem Wetter lagen wir die ganzen Tage abwechselnd im Wasser und in der Sonne.

Im Hause ist alles in bester Ordnung. Die leider recht zahlreiche persönliche Post schicke ich Dir in diesem Brief.

Hoffentlich bist Du befriedigt mit der Zeit in Eastbourne. Von Hertha kam heute eine vergnügte Karte vom Zusammensein mit Mutter und Hellmut in Salem.

Viele Grüße und alles Gute für die Pariser Tage. (W.B.)

 

102. C.H.B. an Walter Becker, Berlin. Paris, 22.3.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Walter,

bisher habe ich Dir nur mit einem kurzen Telegramm für alle Deine Mühewaltung danken können. Wenn wir mit Mark 60 Zoll abgekommen sind, so ist das fabelhaft günstig, und ich kann mir nur vorstellen, daß selbst den Argusaugen der Zollbehörde noch einiges entgangen ist. Wenn es Dich auch sehr viel zeit gekostet hat, was ich bedauere, so scheinst Du doch die Sache sehr geschickt gemacht zu haben. Ich finde es einen Unfug, daß man harmlose Reisende so schikaniert. Ich bin doch kein Händler, sondern bringe nur Sachen zu meinem eigenen Gebrauche mit, die ich mir in Deutschland doch nicht gekauft hätte.

Hauptsache dieser Zeilen ist aber nicht nur, Dir zu danken, sondern auch, die Frage der Sekretärin zu beantworten. Ich kann mich zu nichts entschließen, bevor ich weiß, wie weit meine Gehaltskürzung vom 1. April ab geht und ob ich überhaupt noch Mittel für eine Sekretärin vom Ministerium gestellt bekomme. Wenn die Streichungen wirklich so rigoros.

Vorgenommen werden wie verlautet, wird eine ganz neue Regelung greifen müssen und Mutter selbst, mit der ich dies besprach, würde vielleicht die neue Arbeit übernehmen oder aber, wir würden eine Dame für den Haushalt zur Unterstützung der Mutter engagieren, die gleichzeitig einige Stunden für mich arbeitet. Ich kann mich deshalb zur Zeit noch auf niemanden festlegen und vor allem auch auf kein Gehalt. Ich hatte ursprünglich daran gedacht, Hellige ins Haus zu nehmen und ihm noch ein klein wenig draufzuzahlen, um ihm dadurch das Studium zu ermöglichen und als Entgelt jeden tag ein paar Stunden zur Verfügung zu haben. Hellige ist aber Mutter so wenig angenehm, daß sie das sehr ungern tun würde, und ich habe deshalb diesen Gedanken aufgegeben.

Verzeihe die Kürze dieses Briefes. Ich bin stark in der Arbeit und in Paris natürlich auch sonst viel in Anspruch genommen. Es ist herrliches Wetter, und ich genieße diese wunderbare Stadt wie noch nie.

Grüße vor allem auch Hertha. In treuer Liebe (C.H.B.)

 

103. Dr. Walter Becker an Carola (von Blumenstein?). Berlin, 6.3.1933

(Maschinenkopie)

Liebe Carola!

Auf Deinen Brief vom 2.3.33 hin habe ich soeben mit Herrn Ministerialrat von Rottenburg im Preußischen Kultusministerium telefoniert, dem die Technischen Hochschulen in Preußen unterstehen. Er hat mir folgende Auskunft gegeben:

Die Entscheidung über die frage der Anrechnung des Freiwilligen Arbeitsdienstes auf das praktische Jahr der Studenten steht im freien Ermessen der zuständigen Fakultät. Die Fakultäten pflegen im allgemeinen Bau-Ingenieuren die im freiwilligen Arbeitsdienst verbrachte Zeit ganz oder teilweise anzurechnen, da die von diesen Leuten im freiwilligen Arbeitsdienst geleistete Arbeit auf demselben Gebiet liegt, wie diejenige Tätigkeit, die sie während des praktischen Jahres auszuführen haben. Bei Architekten dagegen besteht eine derartige Übung bisher nicht, da nur in den seltensten Fällen eine Beschäftigung auf einem Bau während des Arbeitsdienstes stattfindet.

Da diese Fragen eine grundsätzliche Regelung aber noch nicht gefunden haben, hält Herr v. Rottenburg ein diesbezügliches Gesuch nicht unbedingt für aussichtslos. Er empfiehlt daher Deinem Sohn, sich zunächst bei dem Arbeitslager einen möglichst genauen Bescheid über die von ihm während der Arbeitsdienstzeit auszuführenden Arbeiten zu holen und dann unter Beifügung dieses Bescheides ein Gesuch an die Fakultät für Architektur an der technischen Hochschule Hannover zu richten bzw. zunächst einmal anzufragen, ob ein solches Gesuch bei dieser Fakultät Aussicht auf Erfolg haben würde.

Mehr kann ich Dir leider auch nicht sagen. Das Kultusministerium ist auf jeden Fall nicht zuständig, da es sich um eine selbständige Entscheidung der Fakultät handelt.

Für Deine warmen Worte der Teilnahme danke ich Dir sehr. Ich hatte schon anläßlich des lieben Briefes, den Du mir nach meiner Verlobung geschrieben hast, die Absicht, Dir einmal ausführlicher zu schreiben, kam nur bisher nicht dazu, und jetzt wirst Du verstehen, daß ich noch weniger die Ruhe dazu finden kann. Es wäre schön, wenn man sich nach der langen Zeit einmal wiedersehen könnte. Mit vielen Grüßen auch von den Meinen an Dich, Deinen Mann und Deinen Sohn bin ich Dein Vetter (W.B.)


 

1 Das ist wahrlich eine gewaltige Summe für einen Paß! Hervorhebung vom Herausgeber

2 Hervorhebung vom Herausgeber.

3 Auf der Kopie steht 1925, gewiß ein Tippfehler und von mir in 1926 geändert. Der Herausgeber

Schwiegervater Schmid

HA.VI. Nr. 8681 (Schwiegervater Schmid)

79. C.H.B. an seinen Schwiegervater (Schmid). Berlin, 13.1.1922

Lieber Vater!

Eine kleine Grippe, die mich die letzten Tage aus Bett gefesselt hat, hat es verhindert, daß ich Dir nicht schon längst für Deinen köstlichen Neujahrsgruß gedankt habe, der in Gestalt zweier Zigarrenkisten richtig in meine Hände gelangt ist. Nimm vielen Dank für das freundliche Gedenken, das meiner Dir ja bekannten Schwäche sehr entgegen kam. Ich habe auch schon gekostet und kann Euer Urteil nur bestätigen. Ich bitte, auch in künftigen Fällen meiner bei solchen Anlässen freundlich gedenken zu wollen.

Um mich von der Grippe und der Ministerschaft, diesen beiden ephemeren Erlebnissen der letzten Zeit, zu erholen, will ich nächste Woche nach Gelnhausen. Hedwig geht mit, obwohl sie sich nur sehr schwer loseist. Da auch Hellmut wieder von der Grippe erfaßt war und eine kleine Erholung ebenso nötig hat wie sein Vater, darf er uns begleiten. Vor Beginn der hohen Preise wollen wir wieder in Berlin sein. Hätten wir noch frühere Zeiten, so wären wir irgendwo ins Gebirge gefahren. Heutzutage ist man froh, wenn man in einem selbst im Winter nicht ganz unbehaglichen Heim wie in Gelnhausen unterschlupfen kann. Man ist jedenfalls einmal fern von Berlin, und es ist nicht so schrecklich weit. Wir sind schon um 5 Uhr dort. Man sieht Geschwister und Verwandte einmal wieder. Vielleicht erleben wir sogar den Geburtstag der Mutter dort. Kurz, es hat allerlei Verlockendes, selbst auf die Gefahr hin, daß kein Schnee liegt. Besser wie ein verregneter Aufenthalt in einem teuren Gebirgsgasthaus ist es allemal.

Während ich dies schreibe, gedenke ich des heutigen Geburtstages der lieben Mutter. Ich habe wegen meiner Grippe nicht schreiben können und bitte sie, auf diese Weise noch nachträglich meine herzlichen Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Mein geplanter Besuch in München ist leider unterblieben, da ich den Nuntius Pacelli1, den ich aufsuchen wollte, sehr eingehend in Berlin sprach, während die Besprechung mit dem Kardinal von Köln noch kurz vor Jahres-schluß glücklich vom Stapel lief. Wir haben sehr interessante und wichtige Besprechungen gehabt und alles hat sich zu einem, wie ich glaube, Gutes verheißendes Einvernehmen gefügt. Es waren vom Reich schwere Fehler gemacht worden, die wir von Preußen dann mit vieler Mühe ausbalancieren mußten2. Nun läuft die kirchenpolitische Entwicklung so, wie wir sie in Preußen von Anfang an hatten haben wollen. Leider ist mit Bayern auf diesem Gebiet nicht leicht zu arbeiten. Man ist immer gleich mißtrauisch und kommt aus dem alten Schema nicht heraus, als ob Preußen über die Reichsregierung Deutschland beherrschen wolle. Dabei besteht die Reichsregierung nur aus Süddeutschen, und Preußen hat einen weiß Gott schwereren Stand als Bayern; denn es kann nun einmal leider von Berlin nicht abfallen. Wie herrlich wäre die preußische Position, wenn Berlin außerhalb Preußens läge. Manchmal kann einen wirklich die Wut packen, wenn man sieht, wie wir an unserer eigenen staatsrechtlichen Kompliziertheit zu Grunde gehen. Wir brauchen diesen komplizierten Bau, um unserer partikulären Geistesart einen gewissen Auspuff zu geben, und dann schlagen wir uns wieder mit demselben Instrument gegenseitig die Köpfe ein. Und das alles trotz dem ausgesprochenen Willen, beisammen zu bleiben. Ich muß manchmal daran denken, daß spätere Jahrhunderte auf all diese Verhältnisse mit dem gleichen Mitleid zurückblicken wie wir auf die staatsrechtlichen Verhältnisse im Götz von Berlichingen. Schade, daß wir es nicht mehr erleben werden. Meine Arbeit gilt jedenfalls dem Ziel, unter Aufrechterhaltung aller landsmannschaftlichen Eigenart doch den Einheitsgedanken als nächstes Ziel über alles andere zu stellen. Nur das Tempo sollte man nicht forcieren.

Der außenpolitischen Entwicklung stehe ich mit großer Reserve gegenüber. Ich bewundere manchmal den Optimismus, mit dem unsere leitenden Männer heute an die Arbeit gehen müssen. Die kulturpolitische Arbeit ist da doch immerhin noch erfreulicher. Man kann sie zur Not auf die Intensivität einstellen, wenn man sich in Bezug auf die Extensität Schranken auferlegen muß. Aber in der Außenpolitik ist man doch jetzt nur noch Objekt. Und dabei das entsetzliche Gefühl, daß die Torheit der Engländer die Franzosen so mächtig hat werden lassen, daß dieses wildgewordene Narrenvolk jetzt selbst den Engländern eine Gefahr wird, weshalb diese immer weiter vor ihnen zurückweichen. Immerhin ist doch zu hoffen, daß die Welt allmählich einsehen wird, woran sie mit den Franzosen ist. Aber angenehm ist die Zeit nicht, die man darauf warten muß. (CHB)


 

1 Nuntius Pacelli ist der spätere Papst Pius XII. Seine Residenz in der Münchener Kaulbachstraße wurde nach dem 2. Weltkrieg Sitz des Institut Francais.

2 Hervorhebung des Herausgebers.

Else Becker

HA VI. Nachl. C.H.Becker. Rep.92. Nr.6283

67. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Bonn), 2.5.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Nach Bonn zurückgekehrt, ist es mir ein lebhaftes Bedürfnis, Dir und Ferdi nochmals Dank zu sagen für die reizende und wirklich erquickende Aufnahme, die ich bei Euch gefunden habe. Die gemütlichen Plauderstündchen und Spaziergänge mit Dir werden mir in unvergeßlicher Erinnerung bleiben.

Mein Vortrag ist dann schließlich noch etwas anders geworden, als ich ihn Dir skizzierte; vor allem habe ich ihn ganz anders eingeleitet, da ja gerade im richtigen Moment Kut el Amara gefallen war. Ich hatte von dem Publikum den allerangenehmsten Eindruck und war nachher noch bis 1 Uhr mit den Herren in regem Gedankenaustausch zusammen.

Die mitgebrachte Butter genieße ich sehr, und wir danken Dir nochmals für dieses schöne Geschenk. Wenn es Dir möglich ist, die 30 Dutzend Eier für uns zu beziehen, so würdest Du in uns dankbare Abnehmer finden. Der Eierbezug scheint hier in nächster Zeit sehr erschwert zu werden; um so angenehmer wäre es uns, wenn sich die Sendung bald ermöglichen ließe.

Hier fand ich alles wohl vor. Sonntag erwarten wir Tante Emma Rehbock zu Besuch.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer Schwager (CHB)

 

68. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Bonn), 10.6.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Nur schnell herzlichen Dank für Deine Karte. Die Briefe von Harry haben wir alle mit großer Freude gelesen. Emma sollte sie eigentlich mitnehmen, vergaß es aber; so sandte ich sie Dir gestern, leider nicht eingeschrieben, da sie mir auch uneingeschrieben zugegangen waren. Auch ich hatte einen sehr netten Brief von Eurem Jungen, der sich in seinen Briefen wirklich von seiner besten Seite zeigt.

Wenn Du uns 10 oder 20 Dutzend Eier schicken kannst, sind wir natürlich sehr dankbar und glücklich. Hier bekommt man auf Brotbuch auch nach vielem Bemühen bestenfalls drei Eier pro Kopf und Woche. Einfuhr ist aber gestattet, ja sogar erwünscht.

Ich sende Euch einliegend ein kleines Schriftchen, das nur als Privatdruck erscheinen kann, da die Zensur den dritten Teil gestrichen hatte und ich deshalb auf Veröffentlichung verzichten mußte. Jetzt ist es ohne Streichungen gedruckt.

Herzliche Pfingstgrüße vom ganzen Hause und vielen Dank für Deine Bemühungen.

Dein getreuer Schwager (CHB)

 

69. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Berlin), 16.9.1927

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Herzlichen Dank für Deine Karte. Wir haben wirklich Pech mit Ferdis Besuchen. Hedwig ist noch in Gelnhausen mit den Kindern und kommt vielleicht gerade gleichzeitig mit Ferdi an. Da außerdem große Wäsche ist und Du den Zustand bei Rückkehr der Hausfrau kennst, wäre es uns lieber wenn Ferdi diesmal anderswo wohnte. Ich halte ihm aber für alle Fälle Dienstag Abend frei und erwarte ihn um 8 Uhr zum Abendessen. Wenn er in der Stadt ist, kann er ja vorher mal im Ministerium vorsprechen und evtl. mit mir herausfahren. Voraussetzung ist dabei, daß nicht noch für den Abend eine Staatsministersitzung anberaumt wird. Es geht wieder einmal so heiß zu wie in den schlimmsten Krisenzeiten. Eine Sitzung jagt die andere. Reichsschulgesetz – das sagt alles. Daneben verschwindet fast die Besolddungsordnung. Um so mehr freue ich mich auf die Ruhe des Wiedersehens bei Ferdis Jubiläum. Ich komme gern am 30. September mittags und bleibe bis zum 2. Oktober in der Früh, wenn es Euch paßt. Habt Ihr andere Gäste, wohne ich in Bremen.

Dein getreuer Schwager (CHB).