Polterabend von Sophie Andreae und Alexander Becker, 29. Juni 1905

Becker, C.H. Nachlass, Geheimes Staatsarchiv Berlin. Rep 92 Becker 8552
Frida und Alexander
Frida und Alexander
Polterabend
Polterabend-Programm

1. Ihr seht in mir den Telephon

Den Höhepunkt der Zivilisation
Ich will dem Spiegel seinen Rang nicht streiten
Dieweil er ja der Ältere von uns Beiden
Doch halte ich mich für viel interessanter …
Der Spiegel ist ja manches mal pikanter
Doch gebt Ihr mir wohl alle darin recht
Daß oftmals, was der Spiegel zeigt, nicht echt.
Es herrscht ja anderseits auch darin Klarheit
Daß auch das Telephon nicht immer hört die reine Wahrheit
Der Spiegel zeigt Euch aber nur die äußere Gestalt
Ich kenne nur den inneren Gehalt.
Und, daß der Schein trügt, das beweist genau
Der Alex hier und seine kleine Frau! …
Ich kenne dich mein liebes Kind schon lange
Und hoffentlich wird Dir gehörig bange
Denn wenn ich reden wollte, könnt ich ihm und Dir
Verderben noch das ganze Festplaisir
Ich glaube, daß in Dein vergangenes Leben
Wohl keinem größrer Einblick ward gegeben
Wie mir, denn Du hast viel durch mich gesprochen
Und manches hast in Deinem Leben Du verbrochen
Nach jenem Ball in Deiner Vaterstadt
Des Morgens bei mir angeklingelt hat
5007 bitte schnell
Ertönte Deine Stimme glockenhell.
Da wohnt die brave Helly Schmidt,
Der teiltest Du dann Deine Sünden mit.
Das war dann ein Gehetschel und Getratsch
Und ein Geschnatter und Geklatsch.
Herrgott, was hab ich da nicht all vernommen:
Es war um graue Haare zu bekommen.
Na, fürchte nicht, daß indiskret ich werde.
Es ist ja nichts vollkommen auf der Erde.
Dein Alex ist ja auch nicht grad ein Engel,
Er ist sogar ein ganz verflixter Bengel.
Und schließlich muß ich auch gestehn
Daß seit den Engel Du gesehn
Und auch seit er in Dich sich hat verliebt,
Es für Euch Beide wieder Hoffnung gibt.
Drum will auch ich Euch meinen Segen geben:
Ich wünsche Euch ein frohes langes Leben.
Euch Beide brauche ich wohl nicht mehr zu verbinden,
Ihr werdet Euch viel lieber ohne mich zusammen finden.
Und vor der Schwiegermutter in der Niederauen
Da brauch’s Euch gar nicht mehr zu grauen.
Wenn die Euch gar zu oft am Telefon will sprechen,
Dann werde ich ganz ruhig die Leitung unterbrechen.
Da klingelt’s … Ich muß fort! Seid’s immer froh mitsamt
Donnerwetter, ja ich komm ja schon! …
Hier Amt! …

2. Der Spiegel

Der Wahrheit Stempel
Der Bosheit Tempel
Der Eitelkeit Siegel …
Ich bin der Spiegel.

Der Spiegel ist, wie die Sprache sagt
Ein Mann – Gott sei es geklagt,
Und Weiber, seien’s auch noch tolle,
Die passen nicht für diese Rolle.
Der Mann sieht die Dinge tel quel, wie sie sind,
Die Weiber, wie Strauße, sie stellen sich blind
Und finden, daß des Spiegels Konterfei
Unvorteilhaft, zu wenig schmeichelhaft sei.
Was wollt Ihr aber, daß ich mache?
Bei mir ist Indiskretion Ehrensache
Und von dem vielen Umgang mit Frauen
Gewöhnt ich mich, nur auf das Ä u ß e r e zu schauen.
Doch keine Angst, vor der Tür da wartet schon
Was Euer Innres aufdeckt – das Telefon.

Zuerst seh ich natürlich die Toilett’,
Und gern bekenn ich: die ist wirklich ganz nett.
Überhaupt, mit Toiletten und Modesachen
Ist bei Dir mit Kritik nicht viel zu machen.
Denn außer Chic hast Du sogar Mut,
Denk nur an den berühmten „Babyhut“!
Bahnbrechend hast Du die Mode kreiert,
Noch von späten Kritikern wirst Du zitiert.
Seit lange Dich der Babyhut schützt,
Aber sprich: Hat er eigentlich genützt?
Der Augenschein gibt mir bedenken,
Das Weitere will ich mir – und Dir schenken.

Und unter dem Hute, da lodert’s und brennt’s
Wie Flammen des feurigen Elements;
Rötlich schimmert es durch die Nacht
Als Dich einst der Storch gebracht.
Und noch heut, daß man Dir die Wagnerschwärmerei glaubt
Trägst Du den „Feuerzauber“ gleich auf dem Haupt.
Stolz bist Du auf Deiner Schultern Breite,
Auf die 56 cm Taillenweite …
Von Neuem kann ich es froh bekennen:
Man muß Dich gut gewachsen nennen.
Was sind die Duncan, Saharet, Madeleine,
Wenn wir die Sophie Andreae sehn? …
Wenn sich die anderen quälen und schwitzen,
Da wo die Mütter als Drachenburg sitzen,
Schwebt sie, wenn sie der Alex führt,
Ohne daß sie den Boden berührt,
Weich, biegsam und doch wieder keck,
Kurz, mit so ’nem gewissen „avec“:
Die früheren Größen gehören zur Masse
Seit Sophie tanzt; denn sie tanzt „Klasse“.

Als Du, Jüngling, zuerst in mich geschaut,
Warst Du fröhlich noch ohne Braut,
Aber dafür mit sehr viel mehr Haar,
Was entschieden zu Deinem Vorteil war.
Entweder hast Du sehr viel gedacht,
Und nächtelang über den Büchern gewacht;
Oder Du hast bei Austern, Sekt und Kaviar
Verschlemmt und verloren Dein üppig Haar.
Oder wär’s in des Sommers Hitze
Die schwere 17er Husarenmütze?
Oder kommt’s gar vom Cigarettenqualmen
Schon rauscht es in den letzten Schachtelhalmen
Und verdächtig leuchtig das Meer …
Bald gibt es keine Schachtelhalme mehr.
Und hell erglänzt an ihrem Platze
Das unbegrenzte Meer der Glatze.
Bei Herren und Damen
Mit griechischen Namen
Gehört griechisch Profil,
So will es der Styl.
Zuweilen aber zeigt sich auch,
Daß Namen sind bloß Schall und Rauch.
Denn wie Euer edles Beispiel lehrt:
Ein griechisch Profil ward Euch nicht beschert.

Noch manches voll Bosheit wollt‘ ich hier sagen,
Aber die Zensur der Frau Generalkonsul hat’s unterschlagen.
Sie erschrak über die Wahrheit in meinem Munde
Und wollt mich zerschlagen noch in letzter Stunde.
Ich kam davon mit dem bloßen Schreck,
Sie aber hat ein verstauchtes Handgelenk weg.
Und die Moral von der Geschicht‘:
Man ärgere sich über des Spiegels Wahrheit nicht.
Nein, vielmehr wünsch ich Sophie und Alexandern:
Seid ehrliche Spiegel einer dem andern.

3.

Frau Eckert:
Gott verdeppel Frau Hüter, so a Geschicht is mer wer noch gar net vorgekomme obgleich ich bald 20 Jahr in de erste Häuser von Frankfort herumkomme bin un doch schon manches gehört hab wie es sich denke kenne.

Frau Hüter:
Was is denn los Frau Eckart?

Eckert:
Was los is? Mischucke sein se all mitnanner, die Mädercher von ganz Frankfort … Alle wolle se heirate un all uff ein Dag … all uff de erste Juli … stelle se sich so was vor.

Hüter:
Wo haw se dann des her?

Eckert:
Sie wisse doch, ich komm regelmäßig in die Niedenau … zu Andreaes mer heest’s ins klaane Conservatorium, weil früher nie weniger als uff 5 Instrumente Musik gemacht worn is … da haw ich’s gestern von der Köchin gehört.

Hüter:
Hi, in des Haus komm ich ja auch regelmäßig alle Woch 2 mal mit meim Geflügel … es is doch da, wo die klaa wuschlig Rot mit dem Becker verlobt is?

Eckert:
Ganz recht! Also heern se zu. Partu wolle se all uff de erste Juli heirate. Die beste Worte hat mer’n gewe awer kaans läßt sich davon abbringe. Ei, wann der lang Albert … sie wisse ja, der Baron von Königstein sich net mit seiner ganze Läng derzwische gelegt hätt … so hätt es die Lina, sei Dochter, auch noch durchgedrückt, daß se uff de erste Juli ihr Pistörche geheirat hätt.

Hüter:
Ei, krie die Kronk Offebach! So ebbes is ja noch gar net dagewese.

Eckert:
Ich möchte nur wissen, wa se all an dem erste Juli hawe?

Hüter:
Des will ich Ihne sage: Die von Deneufville über der Manbrück die hätt gesagt, der Dag deht ihr so gut gefalle, weil’s grad mitte im Jahr wär … sie meint des deht Glück bringe. Der lange Becker, der alles vom musikalischen Standpunkt aus betracht, läßt sich auch net davon abbringe, weil er behaupt, der Richard Wagner, hätt an dem Tag die Wacht am Rhein, oder sonst e Stück komponirt. Die Sophie oder – wie er sagt – des Zöfche aus dem Conservatorium, die meent widder mer sollt nix aufschiewe … je eher je lieber, denn wenn die Hundstag anfange, da wollte se schon bei de Eisbärn in Norwege sei.

Eckert:
Die Geschicht kennt mer wahrhaftig in die Kreppelzeitung setze. Schad, daß der alt Stolze net mer lebt!

Hüter:
Überhaupt in der Niedenau da haw ich schon was haamlich gelacht, sollte sie es vor möglich halte, daß die klaa Rot noch net emal en Krammetsvogel von ere junge Gans unnerscheide kann … ja … wenn mer uff dene Viecher Klavier spiele kennt, … so wär das schon mehr ihr Fall.

Eckert:
Des is noch gar nix. Von Gemies versteht se so viel wie die Kuh vom Sonntag, se kimmt mer vor wie der Hampelmann. Vom grünen Gemies kennt se nur Rotkraut und Gelberübe, awer auch die kennt se noch net emal von enanner unnerscheide, wenn’s net von weg der Farb wär. Kürzlich hätt se sich so geschämt, daß sich der lange Becker ins Mittel gelegt hätt. Wisse se was er jetz duht? Er fährt Nachmittags in eme große Wage durch die Sachsehäuser Gemüsfelder de Hasepfad eruff un erunner un zeigt er alles aus der Kutsch eraus, damit se wenigstens eh’ se heirat die Spargel vom Spinat unnerscheide kann.

Hüter:
No, begreift se’s dann jetzt?

Eckert:
Beileibe net! An dere is Hoppe und Malz verlorn! … Er hat ihr ausdrücklich gesagt, daß Spargel nur in dene Häufelcher wachse, daß mer se awer oft net sehe kennt. Jetzt meent des dumme Oos, wo se e Häufele sieht, müßte Spargel drin stecke.

Hüter:
Das gibt e Kundschaft, die misse mer uns warm halte, ich habb auch gehört, sie wollte von Andreaes die alt Köchin mit erüber nemme, sie wisse ja, die ich so gut kenn?

Eckert:
Daß err euch nur net verguckt, des Vergnüge für uns wird net lang anhalte. Der lang Becker is ärger, wie e Dutzend Hausfrauen zusammen, der guckt durch en Doppeldiel durch und durch bis hinne widder, – ich fercht, die wern mer net lang roppe kenne. Wisse se , der is in Gelnhause groß worn. Beim nix un beim Bettche dagege läßt sich halt net ankomme. Die Späß hörn für uns von selbst bald uff.Na hoffe mer das beste!

Hüter:
Awer die Affenkomödie mit dene Brautbesuche, die hätte se seh solle. Zweine Wage mit guillotinirte Bediente sin drei Dag lang in der Stadt erum gefahrn. Karte sin in der Luft erumgefloge wie e Kett Hühner. Awer e Brautpaar wa überhaupt net drinn.

Eckert:
Ei wer denn? (Spricht ihr leise ins Ohr)

Hüter:
Ich soll’s ja eigentlich gar net verrate … Während die Lina in Königstein und die Sophieche in Gelnhause sich hawe die Kur schneide lasse, sin die Schwestern, die Wally und Karola mit der Kutsch in Frankfort erum gesegelt (Spricht ihr wieder leise ins Ohr), einmal meint ich sogar, ich hätt die dick Frau Andreae selbst in der Kutsch gesehen, wie se sich mit aller Gewalt ins Eck gedrückt hätt (lacht furchtbar). Beschwörn will ich’s net, ich kann mich auch geirrt hawe.

Eckert:
No jetzt mache se nor, daß se in ihr Kundschaft komme, denn dem viele Gebabbel kimmt doch nix eraus.

4. Was machen wir am Polterabend?

Personen:

H: Fräulein Helly Schmidt – mit natürlicher Anmut

M: Richard Merten – mit angeborener Frechheit

A: Theo Andreae – mit natürlichem Phlegma

B: C.H. Becker – etwas philisterhaft

H.M.A. sitzen zusammen. B., begrüßt alle.

H.
Guten Tag! Das ist ja nett, daß Sie extra aus Heidelberg herkommen, jetzt können wir endlich einmal definitiv über den Polterabend einigen. Nehmen Sie eine Cigarette?

B.
Danke gern. Sehen Sie, der Alex ist ein unglaublicher Frechdachs. Angst davor, daß wir ihm auf dem Polterabend recht mitnehmen hat er gar keine, wohl aber, daß wir’s nicht schön genug machen. Er kann sich’s gar nicht vorstellen, daß so etwas mal ohne seine Mitwirkung von Stapel läuft.

A.
Die Sophie ist übrigens grad so; freilich ist es ja noch nie ohne die Beiden gegangen. Wenn die zwei sich hinstellen, so ist’s von vornherein ein Tingeltangel.

M.
Und was für eins.

B.
Heute morgen sagte mir z.B. der Alex: das machst Du alles ganz unpraktisch. Du bestellst Dir den Ricard und den Theo zur Helly und dann macht Ihr’s zusammen.

H.
Also dem Alex habe ich Ihren Besuch zu verdanken.

B.
Seiner Angst, daß es sonst vielleicht nicht schön genug würde.

A.
Hat er Ihnen nicht gleich ein fertiges Manuskript gegeben, worin er sich über Sophie und sich selbst lustig macht? Das wäre am Ende ein ganz moderner Gedanke. Das Brautpaar gegenein-ander zu hetzen. Da könnten wir unsere Witze sparen.

B.
Ja, die Frau Generalkonsul meinte sogar, eigentlich könnten Sophie und Alex zusammen musizieren, da machte den Gästen doch noch mehr Spaß als alles andere …

M.
Es ist halt ne eitle Frau. Die Frau Generalkonsul. Wie sagte sie noch neulich? Mein ältester Sohn, der „Herr“ Landrat, mein anderer Sohn der Privatdozent, mein dritter Sohn, der singt aber schön.

H.
Aber Richard, wie frech, das sagt man doch nicht!

B.
Bitte, hier wird nicht übel genommen.

M.
Doch, wenn man keine Cigaretten kriegt.

H.
Na, die hättest du dir doch auch selbst nehmen können!. Du bist doch sonst nicht so!

B.
Na bitte zur Sache. Sie sollen schon so etwas schönes vorbereitet haben, sagt mir der Schwiegervater.

H.
Ja, Richard. Morgen um drei sollst Du zur Klinkhammer kommen.

B.
Sie sollen doch nicht etwa die Jungfrau von Orleans aufführen? Das ist doch für ne Hochzeit keine ganz geeignete Sache.

M.
Da wäre der gläserne Pantoffel oder der Kampf mit dem Drachen schon eher am Platze.

H.
Ja, was sollen wir dann sonst? Sie ahnen gar nicht, wie wenig wir schauspielern können.

M.
Helly, ich seh Dich schon mit erhabener Geste:

Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften.
Leb wohl Du grüne Niedenau,
die Sophie geht, sie schwebt schon in den Lüften
und wird jetzt Alexanders Frau.

A.
Au wie mau!

B.
Kullussal, wird die Sophie sagen

A.
Also, die Jungfrau von Orleans und die Klinkhammer sind durch gefallen.

B.
Bitte weiter, andere Vorschläge!

H.
Aber ich bitte Sie, wir haben doch schon alles mit der Klinkhammer ausgemacht, und die Fräulein Fuchs, die spielt doch so schön.

A.
Ja, die ginge sogar am liebsten auf die Bühne.

M.
Aber wir können doch nicht der Frl. Fuchs zu Ehren die Jungfrau von Orleans aufführen.

H.
Aber die Sophie will doch durchaus ein Stück haben und die Mutter Andreae, die gewöhnlich den Nagel auf den Kopf trifft, hat gemeint, man solle den sechsten Sinn von Moser nehmen! Denn etwas passenderes könnte man für den Alex gar nicht finden.

P.
Ach Gott, wenn die Weiber nur nicht immer so verrückte Wünsche hätten. Muß es denn durchaus ein gedrucktes Stück sein.

H.
Sie wollen doch nicht etwa selbst eins machen?

M.
Na, etwas was so gut auf ne Hochzeit paßt, wie die Jungfrau von Orleans, das kriegen wir vielleicht auch noch fertig, namentlich jetzt im Schillerjahr

B.
Wir könnten z.B. einige Weisheiten der Völker über die Frau zusammenstellen. Ich hab mal Kolleg über die Frau im Islam gelesen. Schon Seneca spricht vom animal impudenz. Schopenhauer nennt die Weiber Kühe. Von Nietzsche will ich gar nicht reden. Aber z.B. der Talmud.

H.
Talmud habe ich ja noch gar nicht gehört. Kann man das essen? Ich glaub, das ist das was man hier Glunscher nennt.

M.
Ach so.

B.
Im Talmud steht z.B. wenn die Weiber reden, reden sie nur von der Wirtschaft.

M.
Man denke sich die Sophie 5 Minuten von Wirtschaft reden. Ich glaube eher, daß der Alex den ganzen Tag von dere Wirtschaft reden wird.

A.
Das kann freilich ein netter Betrieb werden. Sie haben schon Einladungskarten drucken lassen: Herr und Frau Privatsekretär, Referendar und Leutnant der Reserve Becker beehren sich zu Handkäs mit Musik einzuladen.

B.
So kommen wir nicht weiter. Seid doch einmal nen Moment still, denken wir nach.

*** Pause ***

M.
Wissen Sie, zu geistreich darf’s auch nicht sein, sonst kapieren es die Frankfurter nicht.

H.
Viel Fremdwörter dürfen auch nicht drin vorkommen.

A.
Das wird nix ausmachen, die nachprüfende Schwiegermutter ist ja nicht da. Könnte mer die Sophie mit dem Brendelsche Schnut vergleiche?

B.
Das wär am End was för die Frankforter.

H.
Aber ich bitt Sie, bei all den Andreaes ihre vornehme Verwandtschaft: Was würde dazu die Comtess Esterhazy mit der blauen Jardinière sage!

M.
Ihr habt ja en echte Korvettenkapitän eingelade. Son großes Tier von der Botschaft in London.

B.
Ja, der kommt auch und bringt sei fashionable Tennis spielende Gattin mit.

H.
… und die Lili (Andreae) kommt auch, die prinzipiell nur mit Kronprinzen verkehrt.

A.
… und auch der Onkel Jean zieht sogar des Band von seim portugiesischen Großkreuz an.
Ja, bei einer so vornehmen Gesellschaft …

H.
Sie haben recht: es geht mit dem Brendelschen Schnut ebenso wenig, wie mit der Jungfrau von Orleans.

B.
Wir wollen lieber mal erst uns darüber klar werden: wer kann mitspielen?

M.
Die Helly gewiß nicht, die hat keine Ahnung.

H.
Richard, was fällt Dir ein?

Kleine Zankszene zwischen den beiden

B.
Bitte Herr Merten, spielen Sie nur so wie Sie sin, das is frech genug. Bitte weiter.

A.
Die Rola …

B.
Ich meine, man läßt die Rola als Bub auftreten – das macht Effekt und zieht immer.

H.
… zum B. als Amor.

M.
Dann muß sie aber hochdeutsch reden.

A.
Da lacht sich alles schief und krumm.

H.
Auch ihre Schwägerin, die Frau Landrat.

B.
Die spielt aber nur kokette Rollen: die aber hat se los.

M.
Was sagt denn der dicke Herr Landrat dazu?

B.
Der wacht als Auge des Gesetzes über ihr.

M.
Der Erfolg scheint mir fraglich.

A.
Der Emmo Crevenna könnte auch mitspielen.

B.
Der ist viel zu würdig. So kindisches Zeug macht DER nicht mit.

A.
Dann noch eher der Bär, der ist immer dabei, wenn geknutscht wird. Denn das ist doch immer en hübscher Anblick. Un Ihr Bruder Alfred.

M.
Um Gotteswillen, der ist Familienvater, der muß sein Baby stillen.

A.
Un der Robert Sommerhoff?

M.
Der redet jetzt nur noch englisch. Un wer kein Frankfurter Mädchen nimmt, der wird von vorneherein nicht zugelasse.

B.
Mit dem Lokalpatriotismus wird man auskommen müssen (handschriftlich, z.T unleserlich). Mir graut überhaupt ein bißchen – verzeihen Sie – vor all den Andreaes.

A.
Einzeln lassen sie sich gefalle, wenn se aber wie die Heuschrecken auftreten …

B.
Wie solle mer so verwöhnte und anspruchsvolle Leut zufriddestelle?

H.
Geben se dene nur gut zu essen und zu trinke, so sin se schon zufrieden.

B.
So sind die wirklich so materiell? Dann paßt Alex ja großartig hinein.

M.
Ich muß immer noch an den Andreaesche Familientag denken – da hat die ganze Fremdenlog nach Alkohol gerochen.

H.
Ja, son bischen materiell ist die Sophie ja auch: Wermut, das liebt sie, es ist köstlich. Und erst Aniset…

A.
Das tollste ist, daß die Sophie gar keinen zugesteckt hat. (handschriftl. Zusatz, unleserlich)

B.
Ich glaube, das liegt in der Familie. Ich war in Losann, wie se in Frankfurt sage, mit dem Knopp zusammen. Das hat den Bär und mich den Tag e Kist englische Biscuit gekost. Der Knopp hat nie was übrig gelasse. Schließlich hat der Bär die gut Idee gehabt, immer nur 5 Biscuit liege zu lasse, und wenn wir den Knopp pfeifen hörten, haben wir den Rest versteckt.

M.
Und wie materiell muß erst der Schwiegervater sein, der bei allem, was auf den Tisch kommt, immer AH ruft.

B.
Der Alex paßt großartig in die Familie, der redet nie von etwas anderem, als vom Essen: Wie war noch das berühmte Menü bei dem Junggesellenessen im Falstaff? Rühreier von Kibitzei mit Nachtigallenzungen, Sauerkraut in Pommery gekocht, Seezungen auf Spinat.. Der Frau Generalkonsul haben jedes mal die Haare zu Berge gestanden.

M.
Muß das aber schön ausgesehen haben.

A.
Und das Stück? …

B.
Mein Gott, wie weit sind wir davon abgekommen. Es ist mir immer klar gewesen: An Stoff wird es uns nicht fehlen, wir ersticken ja darin; an Schauspielern auch nicht, aber an der Leitung.

H.
Die große Klinkhammer haben Sie abgelehnt.

M.
Die große Duse und die große Saharet werden auch schwer zu haben sein. Aber wen nannte Alex noch neulich?

A.
Die große Emma.

Alle
Und wie soll das Stück heißen?

B.
Der Privatsekretär des Herrn Merten.

A.
Das geht nicht, denn sonst fühlt sich die ganze Stadt Frankfurt betroffen.

M.
Und am Ende schnappt der alte Merten ein.

B.
Ja, mit dem Einschnappen ist das überhaupt so ne Sache.

H.
Hört mal! Könnten mer nicht die Pfingsttour hereinbringen? Wo der Alex mit der Sophie erst nachts um 1 Uhr von Gelnhausen zurückgekommen ist? Da war se aber bös, die dicke Mama.

A.
Der Alex hat auch uff den schwiegermütterlichen Rüffel noch 3 Tag gezittert wie Espenlaub.

M.
Und dabei ist der Alex doch selbst so ein Zorngickel, der bei allem das Gegenteil behaupten muß.

B.
Hat die arm Emma Bergmann mit dem was auszustehen gehabt.

M.
Das Temperament stammt offenbar von der Frau Generalkonsul.

B.
Ich finde die Sache bedenklich.

H.
Mir lassens lieber ganz.

M.
Irgendwelche gibt’s ja immer, die ihre Verse nicht bei sich behalten können. Wenn z.B. der Papa Andreae mal aufgezogen ist, dann hört er nicht so bald auf..

B.
Ich hab gehört, gestern Nacht sei er plötzlich um zwei Uhr aufgewacht und hätte sei Frau gefragt, ob sie nicht son Dinge … ein Bleistift hat er nämlich gemeint, bei sich hätt, es wärn em grad so e paar gut Vers für en Polterabend eingefalle.

M.
Na wenn’s gar net langt, da muss halt das Brautpaar selbst herhalten.

B.
An MEINEM Polterabend in Augsburg haben die übrigens auch nichts aufgeführt.

M.
Da haben se aber zwei mal 24 Stund das Augsburger Patriziergesicht gemacht, und das ist ihnen schwerer gefallen wie alle Aufführung.

H.
Also, wir lassens bleiben.
Alles Liebe Gut, lassen wir’s bleiben.

M.
Und geben wir uns das Wort, für alles hier Gesprochene: Diskretion Ehrensache.

Alle:
Gewiß, das kleine Ginnheimer Ehrenwort.

Julie Becker – Autobiographie

Vom Leben einer großbürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert

Erinnerungen und Vermächtnis

Gelnhausen, 29.07.1907

Diese Erinnerungen widmet ihren lieben Kindern die durch sie so hoch beglückte Mutter Julie Becker-Schöffer

*28. Januar 1839 †29. Juli 1917

Die Anmerkungen in Klammern () und die Fußnoten wurden zum besseren Verständnis für die junge Generation von Bert Böhmer 2001 hinzugefügt.

 

Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop
Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop

Viele, die das 70. Lebensjahr erreicht haben, sagen: „Das Leben war kurz.“ Ich finde das nicht. Mir scheint der zurückgelegte Weg lang und ganz besonders dann, wenn ich mich in die ferne, ferne Kinder- und Jugendzeit versenke, wenn ich die Fülle der Erlebnisse bedenke und vor mir erstehen lasse, was an Freude und Leid mir zuteil wurde. Wer glaubt noch an Wunder? Es gibt keine! Ich sage: „Es gibt nur Wunder und eines der größten erscheint mir das menschliche Gehirn!“

In nebelgrauer, weiter Ferne liegen die Tage der Kindheit und viel Schönes und Reiches ist untergetaucht in Nirvana und dem Bewußtsein entschwunden, aber vieles hat sich mit ehernem Griffel eingeschrieben in jene wunderbare Rinde, die jahrtausendelang von Geschlecht zu Geschlecht Pergament und Papier vertreten hat, in das en erfreut es doch, ganz besonders dann, wenn der lange Weg noch länger geworden ist und das Ziel erreicht ist, wo die Berührung von Seele zu Seele aufhören wird und Erinnerung alles ersetzen muß, was Leben und Liebe war.

Jugend in Amsterdam

So gedenke ich zuerst meiner Eltern und darf von Einigem sprechen, das ich nur aus Erzählung weiß. Voll Mut und Zuversicht zogen sie im Jahre 1838 in das damals noch ferne Land, das nur langsam zu erreichen war, und selbständig gründete der 22 Jahre alte Mann ein eigenes Handelshaus in Amsterdam.

Die zwei Jahre jüngere Frau sah sich ganz fremden Verhältnissen, fremder Sprache gegenüber. Sie wohnten mehrere Tage in einem Hôtel garni und zogen in ein Haus auf dem Singel in Amsterdam. Am Tage der Geschäftsgründung wurde ein Baum vor dem Haus gepflanzt, der noch steht, wie auch die Firma, als deren Symbol er betrachtet wurde. Magd und Diener hatten sie mitgebracht. Der Diener Steinmetz war sehr tüchtig und stieg immer höher im Geschäft, seine Kinder sind angesehene, gebildete Leute geworden. Am 27. Januar 1839 waren feine Borsdorfer Äpfel von Gelnhausen gekommen, und die junge Frau genoß sie freudig. In der Nacht stellten sich Schmerzen ein. Sie glaubte, die Äpfel seien schuld; sie waren es aber nicht, sondern ein dunkeläugiges kleines Mädel, das erst vierzehn Tage später kommen sollte, und das Mädel war ich.- Die Gelnhäuser Großmutter kam ein paar Stunden nach mir und war zuerst ganz traurig, daß ich meinen Eintritt in die Welt ohne sie bewerkstelligt hatte, aber danach war dann doch die Freude groß. Nach passenden Zwischenräumen kamen zwei Brüder und nach vier Jahren ein Schwesterlein. Von da ab zerreißt der Nebel der Vergangenheit, und die ersten Erinnerungen tauchen mit großer Deutlichkeit auf. Eine schwere Zeit zog für mein Elternhaus heran. Der Mutter Leben, das der zwei ältesten Kinder waren lange in Gefahr. Eine junge Tante, Elisabeth Schöffer, die zur Pflege im Wochenbett gekommen war, mußte das ihre hingeben, nur 18 Jahre alt. Der Typhus war eingezogen und damals erlagen von 100 (Erkrankten) 66, heute noch nicht einer, sondern nur der Bruchteil eines Prozents. Die Mutter war lange Monate schwer ergriffen und brauchte nach dem langen Winter noch den ganzen Sommer zur Erholung. Sie hatte ganz vergessen, daß sie ein viertes Kind geboren, ihr schönes schwarzes Haar fiel plötzlich in einer Nacht vom Kopf, die Lippen waren fort, ersetzten sich wieder, aber der Mund blieb ganz klein, so daß sie Zeit Lebens mit Kinderbesteck essen mußte. Faulfieber wurde diese Nachkrankheit genannt.

Meine erste Erinnerung ist eine materielle. Ein Hühnerbeinchen, das ich essen durfte. Der Arzt sagte zu meinem traurig dreinblickenden Vater: „Sehen Sie, der schmeckt es nun schon wieder.“ Die dritte Erinnerung ist eine seelische: die Taufe der kleinen Schwester. Ich sehe noch meinen Platz am Fenster des Zykamer (Heerengracht 319), wie feierlich war mir zumut, ich faltete die Hände und fühlte mich sehr wichtig. Bald aber kam wieder eine garstige Regung: die Eifersucht. Meine Brüderchen kamen herein und bekamen eine Hand vom Pfarrer, ich aber bekam keine. Eine weitere Erinnerung ist eine echt holländische. Mein kranker Bruder und ich wurden, um der Mutter mehr Ruhe zu geben, zu Freunden (Fuchs) gebracht. Ich sehe uns noch im geschlossenen Schlitten sitzen, in Decken gewickelt, die weiß mit roten Rändern waren. Der Kutscher lief nebenher und schleuderte einen Lappen am Seil vor die Kufen, die darüber hinweg rutschten. Später, als wir auf Kindergesellschaften fuhren, waren wir betrübt, wenn statt des Schlittens ein Wagen auf Rädern (eine Vigilande) kam, denn damit waren wir gar schnell zu Haus und der Spaß war kurz! So ändern sich die Liebhabereien. Noch nicht sechs Jahre alt, kam ich zur Schule, zu einer Fräulein Hecke, einer alten Dame mit Ridikül und einem un-appetitlichen Taschentuch darin, denn sie schnupfte. Eine junge Lehrerin, die sie bei meiner Ankunft vertrat, imponierte mir nicht, und ich verweigerte glatt, ihr zu gehorchen, bis Fräulein Hacke mir den Standpunkt klarmachte. Drei Jahre blieb ich dort und litt unter dem herrschenden Deutschenhaß und fühlte mich als „Moff“ minderwertig, war selig, als es eines Tages hieß: „Morgen kommst du in eine andere Schule.“ Sie war uns vis-à-vis. Die Dame, eine geborene Französin, hatte einen holländischen Steinkohlenhändler geheiratet, und es ging ihr nicht gut Sie war lieb und sanft, aber ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Mit zehn Jahren saß ich in der ersten Klasse unter fünf bis sechs Jahre älteren Mädchen und spielte ganz entschieden eine Rolle, lernte ausgezeichnet holländische Geschichte und Mythologie, auch Französisch aber sonst rein garnichts. Was Literatur ist, war mir gänzlich unbekannt; daß es außer Holland auch noch andere interessante Länder mit Geschichte gibt, Geographie und andere Wissenschaften, das erfuhr ich erst, nachdem ich ein Jahr Privatunterricht genossen hatte, und mit 13 Jahren in die Pension Bickel und Deslondres in Frankfurt zog.

Pension in Frankfurt

Ich war empört, als ich in die dritte Klasse, meinem Alter gemäß, kam, und wie viel hatte ich nachzuholen, wie viele Lücken wurden viel später oder gar nicht geschlossen. Nun erwachte ich erst zum geistigen Leben! Zwar das erste Vierteljahr verging ich fast vor Heimweh, aber als zu Weihnachten die Eltern mich besuchten und mich ausstatteten mit vielem, was ich entbehrt hatte, als ich mich eingearbeitet hatte und sogar bald zu den Besten zählte, als ich Liebe unter den Mitschülerinnen fand und Ver-trauen bei den Lehrerinnen, da fühlte ich mich glücklich, und ich war dankbar für das so ganz andere reiche Leben, das ich mit Bewußtsein genoß. Verstand bei den Menschen hat mich stets angezogen und so wurde das gescheiteste Mädchen meine intimste Freundin, leider eine Jüdin, Toni Lenel. Leider! Denn ich verlor viel Zeit mit Bekehrungsversuchen, die mir teilweise auch gelangen. Abends rückte sie das Kopfende ihres Bettes an das meine, wenn die Gouvernante eingeschlafen war, und wir redeten tief über ernste Dinge. Natürlich war ich ganz befangen im orthodoxen Autoritätsglauben, denn ich schwärmte leidenschaftlich für meinen Pfarrer (Wehner), und was er sagte, war Evangelium. Allerdings nicht mehr, als die Konfirmation herannahte, und ich es sehr gewissenhaft nahm. Da machte ich dem guten, begabten Mann das Leben oft schwer. Aber Streben war unter uns Mädchen (die Regel), und wir arbeiteten ernsthaft an gegenseitiger Besserung, doch Duckmäuser waren wir nicht und machten manchen tollen Streich, erschreckten z.B. unsere Französin, als sie aus einer Gesellschaft kam. Alle Acht standen wir im Nachtgewand im Mondenschein starr und steif auf den Betten, oder wir ließen an einem Faden ein kleines Möbel unter ihrem Bett sich leise bewegen, und das war in der Zeit des Tischrückens unheimlicher wie heutzutage.

Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht fassen, wie damals im Jahre 1853 alles unter dem Bann dieser anscheinend neu entdeckten Naturgewalt stand.. Zwar wurden die Geister in unserer Pension nicht gerufen, aber wochenlang tanzten die Tische und ich selbst galt mit einem zweiten Mädchen als besonderes Medium und wurde in kleinen Versammlungen zur Vorsteherin beru-fen, um meine magnetische Kraft zu erweisen. Wahrscheinlich, weil alle Mithandelnden an mich glaubten, drückten sie unwillkürlich auf den Tisch, wenn ich auf Jemandes Schulter die Hand legte. Faktum ist, daß die Tische sich auch lustig drehten, es waren keine Ausziehtische, sondern ganz leichte, runde, etwa für sechs Personen berechnet. Ich kam mir sehr wichtig vor, aber die Vorsteherin hatte Verstand genug, bald damit aufzuhören, sie fürchtete, mir damit zu schaden.

Am 26.Mai 1854 wurde ich konfirmiert. Es war ein herrlicher sonniger Tag und meine Zweifel waren zur Ruhe gekommen. Friede und Freude erfüllten mich und heiße Liebe, die eine wunderbare Mischung war von der zum Heiland und von der zum Pfarrer. Ganz ohne (Ent)-täuschung ging auch dieser Tag nicht vorüber. Ich hatte auf eine Uhr gehofft, bekam aber eine Brosche. Meine Stellung in der Heimat war damals schwierig, dem Alter nach noch ganz ein Kind, war ich doch bereits so sehr entwickelt, daß ich mich ganz als Erwachsene fühlte. Viel Unterricht empfing ich nicht mehr, und so war es für meine weitere Bildung sehr gut, daß sich die Fäden dafür noch nach Frankfurt spannten. Nun nahte bald die Stunde des Abschieds von der so lieb gewordenen Pension, in der ich zwei Jahre verbrachte, und der ich viel verdankte, aber der ich auch das zuschrieb, was schließlich in der Entwicklung des Alters lag. Ich war erst 15 Jahre alt und trennte mich sehr schwer, lebte noch lang so intensiv im dortigen Leben fort, daß ich sogar Aufsätze einsandte und darüber Kritiken bekam, führte eine ausgedehnte Kor-respondenz mit Schülerinnen und Lehrerinnen.

Heirat mit Carl Wilhelm Ferdinand Becker

Carl Ferdinand Becker 1775-1849. Sprachwissenschaftler. Gemälde von 1840 von G. W. Bode. Kopie von Jenny Fleischhauer (im Besitz der Familie Becker in Bielefeld). Vater von Carl Wilhelm Ferdinand Becker
Carl Ferdinand Becker 1775-1849. Sprachwissenschaftler. Gemälde von 1840 von G. W. Bode. Kopie von Jenny Fleischhauer (im Besitz der Familie Becker in Bielefeld). Vater von Carl Wilhelm Ferdinand Becker

Im Herbst 1855, also bevor ich das 17.Jahr vollendete, trat dann das große Ereignis in mein Leben, das sich jedes Mädchen wünscht, das aber nicht jedem vom Schicksal gewährt wird: die Liebe zum Manne, und zwar zu meinem zukünftigen Manne. Unerreichbar erschien mir aber damals solch himmelstürmendes Glück, ich liebte kindlich, ohne Gedanken an Gegenliebe, aber schwärmerisch und leidenschaftlich. Der erste Funke fiel in meine Seele, als ich mit meinen Eltern bei Bekannten (Heppner) auf einen Landsitz nach Oberveen eingeladen war. Wir fuhren über Haarlem in einem Wagen dorthin, 2 ½ Stunden, und der vierte freie Platz wurde Herrn Becker angeboten, der seit Jahren Hausfreund bei meinen Eltern war. Als ich vier Jahre war, saß ich auf seinem Schoß, er war schon 21, ein schöner, sehr begabter Jüngling mit prachtvoller Stimme, der sich alle Herzen gewann. Er war bescheidener Kommis bei den Vertretern von Rothschild, schwang sich aber sehr bald zum Chef des Bureaus auf. Er fühlte sich im Leben zurückgesetzt, weil in seiner gelehrten Familie der Kaufmannsstand als minderwertig angesehen wurde, und er auch lieber einen wissenschaftlichen Beruf ergriffen hätte. Seine Mutter aber, die einer Kaufmannsfamilie entstammte, wünschte, daß auch einer ihrer Söhne diesen Beruf ergreife. Der älteste, sehr begabte Sohn Ferdinand, wurde selbstverständlich dem Vater nach, Student der Medizin, später gesuchter Arzt in Berlin, wo er kurz verheiratet, mit 29 Jahren dem Typhus erlag. Der zweite erklärte, er dürfe der Mutter Wunsch nicht erfüllen, er fühle einen unbezwingbaren Hang zu Geiz und Geldgier in sich und dadurch sich zu großen Gefahren ausgesetzt. Dies war Bernhard, der auch jung verstarb nach zweijähriger Ehe, als Lehrer in Oldenburg. Nun sollte sich Friedrich, der dritte Sohn entscheiden, aber der verwarf den Plan sofort, hauptsächlich aus einem gewissen Hochmut; auch waren andere der Meinung, seine glänzende Begabung käme in einem anderen Beruf zu höherer Geltung. Das Leben gab ihm nicht recht, seine Begabung war groß, aber zu vielseitig, so zersplitterte sie sich, er kämpfte sein Leben lang mit unerfüllten Hoffnungen, mit Sorgen und Not und hatte dem Bruder Kaufmann – dem von ihm verachteten Stand – in späteren Jahren viel zu danken. Dieser war ein guter Sohn und ihm der Wunsch der geliebten Mutter Maßstab und Richtschnur. Er brachte seine damaligen Wünsche zum Opfer, glaubte sich wohl auch weniger begabt wie die älteren Brüder, hat aber seinen Entschluß niemals bereut, sondern gesegnet. Er machte in Frankfurt im Hause Bernard Seidengeschäft die Lehre durch und spazierte sonntags durch die Apfelallee nach Offenbach, wo er im Elternhaus vielfach Anregung fand und mit bedeutenden Männern in Berührung kam. Uhland und Arndt waren z.B. intime Freunde des Hauses. Seinem Streben gelang es, sich eine recht umfassende Bildung zu er-werben, und er war in modernen Sprachen sehr gewandt. Er kam in Pension zu einer Familie Hestermann, der Gatte war ein trockenes, alltägliches Männchen, die Frau bedeutend und von imponierendem Äußeren, fand frische Töchter, denen er englischen Unterricht gab, aber seine Liebe gehörte der älteren Frau, die sich ihm gern vertraulich aussprach.- Dies Gefühl, das so oft sehr junge Männer zu älteren Frauen hinzieht, bewahrte ihn damals vor Verführungen anderer Art. Schon mit 18 Jahren kam er nach bestandener Lehre, mit schöner goldener Uhr beschenkt, die er später in Zeiten der Not verloste, – nach Paris, in das dortige Haus seines Chefs.- Er suchte damals das Hochzeitskleid für die Königin von Schweden aus und blieb drei Jahre. Sein sehr knappes Einkommen bewahrte ihn auch dort vor großen Ausschreitungen und vor schlechter Gesellschaft. Als er 21 Jahre geworden, gab es Schwierigkeiten im väterlichen Haus in Offenbach und es fehlte an Hilfe. Der Vater ließ ihn von Paris kommen, und er unterrichtete die Pensionäre des Hauses in Sprachen, fühlte sich aber nicht zum Lehrer veranlagt und ergriff freudig die angebotene Stelle in Amsterdam bei Gebrüder Sichel, den damaligen Vertretern Rothschilds. Zwölf Jahre war er dort, als er zum Chef mit Herrn Fuld gewählt wurde, hatte sich niemals bemüht, selbständig zu werden, sogar Anerbietungen abgelehnt, weil ihm ein Arzt in Paris gesagt hatte, er werde höchstens das dreißigste Jahr erreichen. Damals hatte er in einem einzigen Jahr dreimal Lungenentzündung, auch glaubte man noch im Jahre 1853, er sei schwindsüchtig, und noch wie ich mich verlobte, warnte man mich. Ich aber äußerte: „Lieber zehn Jahre nur mit ihm, als fünfzig Jahre mit einem anderen.“ Freilich zehn Jahre erschienen meinen siebzehn Jahren damals eine Ewigkeit! – Auch an Heiraten hatte er aus obigem Grunde nie gedacht und einmal eine reiche Erbin ausgeschlagen, die ihm wohl begehrenswert schien, auch noch aus einem anderen Grund, daß er nicht pekuniär von seiner Frau abhängig sein wollte. So sorgte ein freundlich Geschick, daß er wartete, bis ich herangewachsen war, – das dreißigste Jahr war glücklich vorbei und seine Verhältnisse glänzend geworden. Er kam rasch zu Vermögen, schon dadurch, daß nach damaliger Usance Rothschilds ihren Vertretern eine ganze Million ohne Zinsen zur Verfügung ließen unter der Bedingung, daß sie zu jeder Zeit darüber verfügen konnten. Selbstverständlich aber brauchte das Geld nicht im Kasten zu bleiben, um bei dem unbeschränkten Kredit der Firma stets disponible zu sein. Schöne Wochen folgten jenem ersten Ausflug, wir sahen uns sehr viel, in Gesellschaft, in Konzerten, im Theater, im Haus! Ein Leseabend wurde eingerichtet, und wir beide lasen stets das Liebespaar.

Carl Wilhelm Ferdinand Becker 1821-1898. Gemälde von Therese Schwartze, wohl Amsterdam 1865
Carl Wilhelm Ferdinand Becker 1821-1898. Gemälde von Therese Schwartze, wohl Amsterdam 1865

Als wir uns zum ersten Mal verheiraten sollten in „Romeo und Julia“, kam vorher die Verlobung. Nichtsahnend saß ich bei meiner Mutter und strickte beim Lesen, denn nur Lesen hielt man damals für faul. Da meldete das Mädchen einen Herrn, der das Fräulein sprechen wollte. „Ich glaube, es ist Herr Becker“, war die Antwort auf die entsprechende Frage. (N.B. Herr Becker kam fast täglich ins Haus.) Da erlaubte die Mutter, daß ich zu ihm herunterging und beim Schein eines damals noch gebräuchlichen Talglichtes, – andere Beleuchtung war bei den umständlichen Moderateur-Lampen nicht so schnell herzustellen, – hatte ich bald den ersten Kuß und war eine selige Braut, kaum 17 Jahre alt. Es war eine schöne Zeit, die folgte, denn obgleich Carl mir pflichtgemäß gesagt, er könne mir nur die Liebe eines 34jährigen Mannes bieten, so hatte ich mich durchaus nicht über Mangel an Wärme der Empfindung oder über mangelnde Leidenschaft zu beklagen. Sehr bald aber hatte ich schon Sorgen und Schmerzen mit ihm zu teilen, da sein Schwager Helmsdörffer plötzlich starb, und er das von diesem übernommene Elternhaus aufzulösen und Witwe und Waisen beizustehen hatte. Dieser Schwager Helmsdörffer war ein hochbegabter Mann. Er war es, der die Kunst und die Liebe dazu in die Familie einführte, und damit allen ihren Gliedern eine reiche Quelle irdischen Glücks erschloß. Seine Frau, die älteste Schwester meines Mannes, war eine ideale Natur, voller Demut und Aufopferung, groß an Liebe und an warmem Gefühl. Sie hatte die jüngeren Söhne wie eigene Kinder erzogen, und es war nur eine Dankesschuld, die mein Carl ihr später abzutragen suchte.- Ich sah noch im Frühjahr die Erziehungsanstalt und das liebe Heim auf dem Linsenberg,1 in dem auch Ferdinands Witwe, die Schwägerin Zilli lebte, und gewann, da die Zöglinge, meist Engländer, noch da waren, ein Bild von dem früheren Betrieb. Es war eine ideale Anstalt, und noch nach Jahren hörte man von manchem dankbaren Gemüt. Die körperliche und die geistige Pflege war ausgezeichnet, aber die finanzielle Seite stets vernachlässigt, und oft gab es Sorgenzeiten. Der Bruder Kaufmann griff nun überall ein, und der Segen des mütterlichen Gedankens wurde später in der Familie allgemein dankbar anerkannt. Bei einem Besuch in Gelnhausen kam auch mein Bräutigam in das Haus meiner Großmutter, dort ging es damals noch recht patriarchalisch zu. Oben am Tisch präsidierte die kleine freundliche Hausfrau, ihre Kinder reihten sich an, dann kamen die Enkel, und ganz unten fanden zwei alte Damen und ein alter Herr ihren Platz. Tante Katharina Lisbeth, die bei weitem ältere Schwester meiner Großmutter, besorgte die Küche, war berühmt ihres feinen Kochens wegen, Tante Lischen, Schwester des Großvaters, privatisierte mehr und starb auch bald, und Onkel Hannes, Bruder der Großmutter, ein ehrwürdig aussehender Greis, war geistig etwas minderwertig und besorgte häusliche Geschäfte. Er hatte es zu nichts gebracht, hatte seine Frau früh verloren und besaß zwei Töchter, die jung starben. Im Haus lebte noch ein pensionierter Kreissekretär, der eine größere Erbschaft gemacht hatte; ein furchtbar dicker Mensch mit großem Kopf, die stille Liebe meiner alten Tante. Catharin-Liesbeth und ihr Tyrann. Uns Kindern war die Antritts- und Abschiedsvisite stets schrecklich. Er war sehr gebildet sonst und sehr belesen und ging nur früh aus dem Haus, jeden Tag denselben Weg nach dem Dorf Altenhaßlau, wo er einen Grog trank. Carl verlebte seinen Geburtstag in Gelnhausen, er wurde aber gestört dadurch, daß er irrtümlich Weilbacher statt Selterswasser trank und auch durch die Todesnachricht meines kleinen Vetters Gustav Haase, dem zwei Tage später sein Brüderchen Wilhelm folgte, das noch mit auf dem Friedhof gewesen war. Die Kinder waren drei und fünf Jahre alt. An Gustavs Bett war ich noch mit meiner 13jährigen Schwester gewesen, man war damals naiv, denn es war Scharlach, das bei Wilhelm gar nicht herauskam.- Ich blieb darnach noch etwa vier Wochen in Gelnhausen und hatte viel Freude an der Korrespondenz mit meinem Bräutigam, aber auch viele ganz unstillbare Sehnsucht nach ihm.

*

Am 21. August war unser Hochzeitstag und ich die erste Braut in Amsterdam, die ohne Hut, in Myrthenkranz und Schleier zum Altar ging. Man fand es katholisch, machte es aber allgemein nach. Die Ziviltrauung war sehr feierlich im großen altertümlichen Rathaussaal. Der prunkvolle Türsteher war der erste, der mich mit „mevrouw“ anredete. Am Hochzeitsmahl saßen über 70 Gäste, auch die Großmutter aus Gelnhausen, der von ihr gestiftete Becher kreiste, er enthielt einen Madeira-Wein aus 1805, den ein alter Freund bei meiner Taufe versprochen hatte. Die Hochzeitsreise führte durch die Schweiz bis Mailand und Venedig, über Splügen hin und über Simplon zurück. Zum ersten Mal ging mir auf, was die Kunst im Leben des Menschen zu bedeuten hat und ganz besonders, was sie meinem Gatten damals war und immer geblieben ist.

Haus „Die weiße Lilie“ in der Heerengracht zu Amsterdam

Dann kam ich als junge Frau in das eigene Heim, es konnte nicht schwer für mich sein, den Haushalt zur Zufriedenheit meines Mannes zu führen, da er mir reichlich die Mittel dazu zur Verfügung stellen konnte. Unser Haus hieß „Die weiße Lilie“ und war auf der Heerengracht zwischen Wolwen- und Huidenstrast, ganz in der Nähre der Eltern. Der Verkehr war sehr lebhaft, die Brüder waren schon seit dem neunten und zehnten Jahr in Pension Hassel und später in der Lehre, die Schwester damals im Institut Bickel und Deslondres. Auch sonst hatten wir reges geselliges Leben, nach zwei Jahren auch schon einen eigenen Wagen. Gar bald stellte sich Sehnsucht nach einem Kinde ein, die aber erst nach acht langen Jahren befriedigt werden sollte. Fortgesetzte Enttäuschungen waren unser Teil. Erst nach vier Jahren und nach sieben verfrühten Wochenbetten war das Vertrauen zu dem alten Arzt der Familie genügend erschüttert, eine Autorität zu konsultieren, dann freilich die erste damals existierende, (Prof.) Soanzoni in Würzburg. Er stellte fest, daß ein von Anfang an dagewesenes Leiden die Ursache allen Kummers gewesen war. Immer nur hatte Ruhe und Entsagung helfen sollen, aber das Übel blieb und verschlimmerte sich, hätte schließlich zu Krebs und Tod geführt. Ich verbrachte damals vier Monate im Hôtel zum Kronprinz in der alten Universität und katholischen Umgebung Würzburgs. Meine Nichte Fernandine Helmsdörffer war mir liebe und treue Gefährtin, und nachdem die erste schwere Zeit vorüber war, lichtete sich das Leben nicht nur, sondern wurde sogar ein äußerst angeregtes und belebtes, gestaltete sich zu einem reichen und fördernden zugleich, nur die Trennung mußte ertragen werden, doch verbrachte mein Mann die Weihnachtszeit mit mir und beschenkte mich schon damals mit meinen schönen Perlen, die ich auch auf zwei Bällen dort trug. Durch Empfehlung hatte ich mir liebe Freunde in Professorenkreisen erworben, die sich nie genugtun konnten, mir Abwechslung und Freude zu bereiten. Besonders taten dies die Familien Kölliker und Müller, und es war mir, die ich nie aus Kaufmannskreisen herausgekommen war, hoch-interessant, das Universitätsleben so gründlich kennen zu lernen. Ich verkehrte auch mit der ganzen medizinischen Fakultät, von Kaufleuten nur mit den Familien Crevenna und Adelmann, im Hôtel selbst mit einer interessanten russischen Familie von Zassedtky, reiche Gutsbesitzer, die sich in die Aufhebung der Leibeigenschaft (1867) erst sehr fügen mußten. Der Mann war ein echter Mongole, die Frau eine große Schönheit. Sie hatten ein vierjähriges Töchterchen und eroberten sich durch lange Kuren und Geduld dort den ersehnten Erben, mit dem sie mich zwei Jahre später in Amsterdam besuchten.- Es war ein bitterkalter Winter, während 14 Tagen im Januar schwankte das Thermometer nur zwischen 14 und 23 Grad Kälte. Drei langweilige Wochen Hausarrest brachte mir damals einen hartnäckigen Katarrh, sonst aber vergingen die Tage in reicher Abwechslung, täglich von 12 bis 1 Uhr war vor dem Hotel Parade, es gab Spaziergänge, Gesellschaften, Oper, Theater! Emil Devrient2 gastierte und wohnte direkt neben mir, wir sahen ihn in allen Rollen, auch in der des schönen Mannes am Tag! – Anfang März durfte ich endlich nach Hause, mein Bruder Heinrich holte mich, denn damals war es undenkbar, daß eine so junge Frau allein reiste. Meinen Mann fand ich leider an schwerer Bronchitis erkrankt im Hause meiner Eltern, da unser neues noch nicht fertig gestellt war. Wir bezogen es erst im Mai.

*

Anderthalb Jahre vergingen in Sehen und Hoffen und als endlich Erfüllung winkte, gab es die achte Enttäuschung. Das Leiden war durch die lange Dauer nochmals wiedergekehrt. Wir schienen uns in Unabänderliches finden zu müssen und schlossen uns umso inniger aneinander an, genossen unsere Liebe, unser schönes Haus, manche Reisen, viel Geselligkeit und hatten viele Freunde. Ein Whistkränzchen alle 14 Tage erhielt sich durch lange Jahre, sechs Herren und sechs Damen. Wir Frauen plauderten meist am Whisttisch, und beim Abendbrot herrschte stets frischer, fröhlicher Geist. Ich suchte Ersatz in Büchern, studierte gründlich Shakespeare mit dem Kommentar von Gervinus, er ist mein Lieblingsdichter geblieben, aber auch Goethe und Schiller und viel Naturgeschichte, insbesondere Himmelskunde las ich viel und gerne. Großen Einfluß gewann damals mein Schwager Theodor auf mich und wollte mich durchaus zur strengsten Orthodoxie bekehren, in der er bei viel Entsagung Trost und Kraft gefunden hatte, der aber auch er im späteren Leben nicht treu blieb. Darüber gab es einige der sehr wenigen Konflikte, die ich je mit meinem Manne gehabt habe. Dieser ging, so lang wir vereint im Leben waren, 41 Jahre lang, niemals von einem einmal genommenen Standpunkt ab, redete niemals über Religion, so sehr ich mich danach sehnte und ihn veranlassen wollte, und doch war er auf die Dauer treuer und frömmer als ich, er schlief nie ein, ohne sein Vaterunser gebetet zu haben und schwankte nie im Glauben an Gott. Ich quälte mich viele Jahre neben ihm, bis ich endlich zu befriedigendem Abschluß gelangte. Damals in den Jahren des vergeblichen Hoffens las ich sehr viel in der Bibel, auch hier und da ein orthodoxes Buch, z.B. Lutthardts Apologische Vorlesungen, oft glaubte ich nun ganz sicher der erstrebten Wahrheit zu sein, ging stets zur Kirche und fühlte mich dann unglücklich, anders zu denken wie der geliebte Mann. Ich war aber niemals wirklich sicher, immer wieder tauchten Zweifel auf, wie sie schon zuerst in der Konfirmationszeit vorübergehend mich befielen. Viel gab mir damals der alte Probst Nitzsch, dessen Hundert Predigten ich alle oft gelesen habe. Gern sprach ich mit Gesinnungsgenossen über Religion, und ich habe auch einige fördern helfen, aber der Stachel blieb und der fortgesetzte Drang, zur Klarheit zu kommen. Das Leben Jesu von Strauß interessierte mich lebhaft, nahm mir aber nichts, weil dann auch gar nichts übrig geblieben wäre. Auch Ernest Renan3 habe ich gelesen und nur den Stil bewundert. Dann wurde Hülsmann lange mein treuer Begleiter, und endlich nach Jahrzehnten kam ich ungefähr auf gleicher Stufe an, auf der mein Mann gestanden und die er niemals verlassen hat.

Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtiger Schöpfer (des) Himmels und der Erde, ich glaube an den Menschen Jesus Christus, der allein von allen Religionsstiftern Selbstlosigkeit und Liebe zum Nächsten gepredigt hat, dessen Lehre und Vorbild genügt, gute und glückliche Menschen auf Erden zu machen, und ich glaube an einen heiligen Geist, der vom Schöpfer ausgeht und in jedes Menschen Herz einen Funken erzeugt, der erlöschen, aber auch zur mächtigen Flamme werden kann, und in Jesus wurde dieser Funke zur Flamme nicht nur, sondern zum Feuer, das durch die Jahrhunderte brennt. – Ich glaube nicht an Erhörung des Gebets, als wenn es irgendwie den Willen Gottes beeinflussen könnte. Deshalb bete ich nicht mehr. Ich anbete nur oder versenke mich zuweilen in die Tiefen des „Vater unser, der Du bist im All“, denn sie erschöpfen alles, was das Menschenherz bewegt – und suche mich zu ergeben in das Leid, das mir widerfährt und bin dankbar für jedes Glück. Ich glaube nicht an die Auferstehung des Leibes und erwarte ruhig den Tod, den so viele, die ich liebte, vor mir litten, gleichviel, ob er zum ewigen Nirvana führt oder zum Aufbau eines neuen geistigen Daseins, ich fühle mich sicher in des Schöpfers Hand, mich und die Meinen. Nicht lange nach jener Enttäuschung, noch während einer angefangenen Kur, fühlte ich mich endlich Mutter und sah mit Freude der frohen Zeit erfüllter Wünsche entgegen. Grausam und hart traf es uns aber, als nach sechsjähriger Ehe ein wohlgebildeter Knabe uns im Arme lag, aber weiß wie Wachs, ein kleiner Engel mit dem tiefen Ernst des Todes im lieben Gesichtchen. Ein unbegreiflicher Leichtsinn des Arztes verschuldete dieses Geschick. Es mußte getragen werden! Nicht gleich kam uns Ersatz und Ableitung, und Erholung war uns nötig. Wir verbrachten im Jahr 1863 vier schöne Monate in Italien, besuchten Genua, die Riviera, Pisa, Florenz, Rom, Neapel und Sorrent und Capri. Wohl vorbereitet freuten wir uns der Kunst, noch mehr der Herrlichkeit der Natur, wozu es keiner Vorbereitung bedarf. Bis Rom begleitete uns Carls Bruder Theodor und genoß mit uns und war mir auch ein großer Trost, als Carl in Florenz ernstlich an Unterleibsentzündung erkrankte. Über Genf kehrten wir zurück (Mont Cénis) und erkrankten beide dort durch den raschen Übergang von den blühenden Rosen und milden Lüften zu dem kalten Zug des Nordens und lagen mehrere Tage fest, sehnlich zu Hause erwartet, wo Wichtiges sich zugetragen hatte.

Sechs Beckerkinder ca.1882 Emma, Ferdi, Dora, Alex, Carl, Frida
Sechs Beckerkinder ca.1882
Emma, Ferdi, Dora, Alex, Carl, Frida

Wir fanden den Bruder Heinrich verlobt, statt abgereist nach Indien, wie er vorgehabt. Ein Jahr später hielt ich endlich mein erstes lebendes Kind am Herzen, zart und klein, aber seliges Entzücken erregend, meine Dora. Sie entwickelte sich erfreulich, und die Freude, die sie uns nach so langer Entsagung bereitete, ist nicht auszudenken. Als sie erst Papa und Mama sagen konnte, mußte sie es immer wiederholen. Wir konnten das lang entbehrte Wort nicht oft genug hören. Da war es schon gut, daß das Brüderlein nicht allzu lang mehr auf sich warten ließ, sonst wäre wohl die Verwöhnung zu groß geworden. Und Dora war nicht eifersüchtig, sie liebte den kleinen, dunkeläugigen I-A, wie sie ihn gleich nannte, sehr, aber als die zwei Jahre später erschienene Schwester erst vernünftig wurde, spielte sie immer mit dieser, und Ferdinand ging seine eigenen Wege, spielte und baute für sich, wenn die Rehbocks-Buben nicht zur Hand waren. Er machte sich nichts aus Mädchen! Später ist das anders geworden.

Nun schien der Kindersegen erschöpft und wir ließen gefaßt und ruhig noch dreimalige Enttäuschung über uns ergehen, fühlten uns reich und hochbeglückt im Besitz der drei gesunden Kinder.


Der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland bis 1866. Putzger S. 96, 103. Auflage von 1993
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland bis 1866. Putzger S. 96, 103. Auflage von 1993

Die schwarzen und roten Linien zeigen, dass erst 1855 eine Verbindung von Stettin über Berlin nach Frankfurt am Main fertiggestellt war; die Verbindung durch das Rheintal bis nach Amsterdam stammt aus der Zeit von 1856 bis 1866, (grüne Linie) während die Rheinstrecke Richtung Basel und durch das Maintal bis Nürnberg aus dem Jahrzehnt davor stammt. Ein Fürst wie jener von Hessen –Nassau, von dem die Autorin spricht, war gegen den Eisenbahnbau. Preußen hingegen erkannte bereits früh die wirtschaftliche und die strategische Bedeutung der Eisenbahnen. Der blitzschnelle Aufmarsch der Armee unter Generalstabschefs Graf Moltke 1866 zeigte, wie wichtig ein gutes Eisenbahnnetz war.
Warum Carl Becker 1870 die Kutsche von Amsterdam aus nach Gelnhausen benutzte, wird nicht deutlich; wahrscheinlich brauchte die Armee das ganze rollende Material. Aber ob die Landstraßen in einem besonders guten Zustand waren in Hessen, ist eher zu bezweifeln.


Gelnhausen

Villa Schöffer & Becker in Gelnhausen von 1865
Villa Schöffer & Becker in Gelnhausen von 1865

Im Jahr 1865 war die Villa in Gelnhausen bezogen worden. Ihre imponierende Größe war wohl kaum so beabsichtigt gewesen, – auf dem Papier sehen die Pläne immer anders aus, – aber der Vater4 lebte noch in patriarchalischer Anschauung und meinte, dort alle seine Kinder und etwaigen Enkel immer gleichzeitig um sich versammeln zu können. Für alle 4 waren die Räume vorgesehen und für uns Beckers wurde beim Bauen nicht mehr an Kinderstuben gedacht und mußte gleich noch eine Tür durchbrochen werden, denn die kleine Dora war mit unter den ersten Gästen und der Gegenstand allgemeinen Interesses. Schwester Emma5 kam schon mit zwei Kindern, Heinrich6 mit seiner Frau und Sophie und Carl7 brachten zur Einweihung des Hauses seine Braut. Sie alle wohnten dem Einweihungsfest bei, zu dem der Vater auch noch alte Schulkameraden lud, die auf anderer sozialer Stufe standen. Er wußte aber alle zu vereinen, besaß ein großes Unterhaltungstalent und war unter seinen Mitbürgern nicht nur wegen dieser Eigenschaft außerordentlich beliebt.

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Gelnhausen

Wo die Kinzig ihr schmales Tal zwischen Vogelsberg und Spessart verläßt, um in einer weiten, grünen Ebene dem Main zuzufließen, liegt am Südhang des Vogelsbergs die alte Barbarossastadt Gelnhausen.

Schon früh befindet sich hier, an einem Kreuzungspunkt uralter Völkerwege und der einst schiffbaren Kinzig, der Sitz eines fränkischen Königshofes. Im 12.Jahrhundert errichtet Kaiser Friedrich von Hohenstaufen, genannt Barbarossa, an dieser Schlüsselstelle eine Pfalz als repräsentative Wohnstätte für den Herrscher des abendländischen Reiches. Zugleich gründet er im Jahre 1170 aus bereits vorhandenen Siedlungskernen die Freie Reichsstadt Gelnhausen.

Aus einem Prospekt der Stadt Gelnhausen

:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Gelnhäuser Villa, Parterre vor dem Kleinen Esszimmer.
Gelnhäuser Villa, Parterre vor dem Kleinen Esszimmer.

Wir Jüngeren mußten uns erst eingewöhnen. Der Weg zum Wald war weit und keine Spur von Schatten im Garten. Ganz leicht wurde es darum Carl und auch mir nicht, auf des Vaters Vorschlag einzugehen und Miteigentümer der Villa zu werden. Aber die Umstände machten es notwendig. Der Besitz war zu groß und zu kostspielig für die Eltern allein geworden und mein Mann im Alter dem Schwiegervater zu nah, um stets nur als Gast bei ihm zu sein. Über zehn Jahre bis zu des Vaters Tod 1879 bestand dies Verhältnis und verbrachten wir stets den ganzen Sommer in Gelnhausen, das uns dann auch nach und nach zum Heim wurde und es geblieben ist.

Krieg von 1866

Kaum eingelebt im Jahr 1866,8 – als wir schon mit zwei Kindern, Rehbocks mit dreien kamen, – brach der Krieg aus, der uns Beckers in Wiesbaden überraschte. Wir sahen also die durchflutenden Kurhessen noch nicht, dann aber die hin – und herziehenden Württemberger und später die siegenden Preußen.

Preußen „ein industrielles Kriegslager“, Kladderadatsch 23.12.1866.1
Preußen „ein industrielles Kriegslager“,
Kladderadatsch 23.12.1866.9

Für uns Holländer, die noch niemals mit einem Offizier gesprochen hatten, war der Verkehr mit diesen Herren sehr interessant. Alle waren stets erfreut über das schöne Quartier und meist in guter Stimmung; der Ernst der Sache war noch an keinen herangetreten; so genossen sie gern, was der gute Tag gerade bot, und als nun gar Prinz Wilhelm von Württemberg mit seinen Begleitern bei uns einzog, schon damals der präsumtive Thronerbe und jetziger König, da gab es drei wunderschöne Tage für uns junge Frauen, die uns vorübergehend das Schwere der Lage vergessen ließ. Das Wetter war schön, wir spielten mit Kgl. Hoheit im Garten, besuchten die hinter Haitz liegenden Truppen, 20 000 Mann, wir im Wagen, die Herren zu Pferd, nach Tisch spielte die Regimentsmusik, abends saß man auf dem Balkon und übte sich in der Anrede mit der dritten Person in der Mehrzahl. Der Prinz war 18 Jahr, fröhlich und gut aufgelegt und die Herren der Begleitung, 8 Offiziere, alle äußerst liebenswürdig.

Als die letzten Württemberger abzogen, gab es ganz stille Tage, man hörte den Kanonendonner von Aschaffenburg her und die Angst vor dem Kommenden nahm wieder überhand. Da plötzlich mittags 12 Uhr Militärmusik, – die Preußen zogen als Sieger ein. Unser ganzer Hof lag plötzlich voll von erschöpften Soldaten, die in der Gluthitze mit den Tornistern unter dem Kopf schliefen, nachdem sie vorher den Brunnentrog leer getrunken und die Kühe ausgemolken hatten. – Mein kleiner Ferdinand hatte an diesem Tag keine Milch, denn auch ich hatte vor Schrecken die meine verloren. General Bayer führte sich und seinen Stab mit den Worten ein: „Wir kommen nicht als Feinde, wenn Sie uns nicht als solche betrachten.“

Bismarck als preußischer Herkules mit Pickelhaube reinigt den Augiasstall des Deutschen Bundes. Karikatur im Wiener Zeitgeist (?)
Bismarck als preußischer Herkules mit Pickelhaube reinigt den Augiasstall des Deutschen Bundes. Karikatur im Wiener Zeitgeist (?)

Wir hatten im Ganzen für 50 Menschen Quartier zu beschaffen, – die Soldaten lagen in Schulsaal und Kegelhalle auf Stroh. Wir mußten aber auch für Essen sorgen.- Niemand war verwöhnt und alle waren zufrieden. Für die Herren wurden vorrätige Hühner geschlachtet und es gab eine Lende, warm noch dem Ochsen entnommen. Die Soldaten bekamen einen westfälischen Schinken in Stücke geschnitten und dadurch schnell gar. In der Brühe gab´s Kartoffeln und Sellerie und zum Fleisch Salzbohnen vom Winter her. Die noch neue Haushälterin hatte noch kein Maß und so viele Bohnen eingemacht, daß nun so viel Mannschaften satt werden konnten. Im Haus des Kaffeekönigs fehlte es auch nicht an diesem braunen Getränk, und Wein war auch da, Bier längst ausgegangen. Zum Glück zogen alle den andern Morgen weiter nach Frankfurt, der damals so unglücklichen Stadt. Die Regimentsmusik hatte wieder aufgespielt und der General uns beruhigend versichert, nun seien wir hinter der Kriegslinie und aus jeder Gefahr eines Zusammenstoßes. Es käme in zwei Tagen noch ein zusammengestoppeltes Korps unter Oberst von Kortfleisch durch, auch noch für eine Nacht 10 000 Mann. So schliefen wir alle todmüde, aber endlich einmal ohne Sorgen ein. Auch die Dienerschaft war abstrapaziert, die Parkettböden sahen aus wie in einer Herberge der gewöhnlichste Fußboden, man hatte für ihre Pflege keine Zeit, denn irgendwelche Aushülfe war nicht zu erlangen, der kleinste Mann hatte seine Soldaten.

Am nächsten Morgen reisten unsere Herren ab, denn in Amsterdam bedurfte ihrer das Geschäft natürlich auf das dringendste. Und den nachfolgenden Tag kam denn auch der Oberst mit seinen Offizieren, alle in bester Laune über den errungenen Sieg. Plötzlich, als die Regimentsmusik vor dem Hause spielte, entstand Unruhe auf dem Balkon unter den Offizieren, es gab finstere Gesichter, Geflüster, Hin- und Herrennen von Ordonanzen, und bald erfuhren wir durch einen Reserveoffizier, man erwarte Überfall der Bundestruppen, die das zurückgebliebene Korps leicht abschneiden könnten. Der Tag und die Nacht vergingen in großer Sorge, alle Truppen schliefen in Marschrüstung und der Wagen stand angespannt, um eventuell Frauen und Kinder in die Berge, nach Gettenbach zu bringen, um sie vor Kugeln zu sichern.- Aber es regte sich nichts. Früh morgens zogen die Truppen dann ab mit klingendem Spiel, und wir waren hinter der Kriegslinie. Bald gab´s ja dann Frieden, aber die Einquartierung hörte den ganzen Sommer nicht auf. Die Eisenbahn war noch nicht gebaut, da Kurfürstliche Gnaden sie seinen Landeskindern nicht gönnte.11

Im Jahr 1867 besuchten wir die Pariser (Welt)Ausstellung und genossen sie 14 Tage lang gründlich, und im Jahr 1868 zogen wir mit drei Kindern in die Villa ein. Nach und nach gab es auch Schatten im Garten, und viel Besuch weilte bei uns.

Im Frühjahr 1870 brachten wir unsere Kinder nach Berlin, um sie und besonders Emma Ziliaris ihrer unglücklichen Patentante Zilli zu zeigen. Wie ich bereits erwähnte, war sie als 20jährige Frau nach neun Monate langer Ehe Witwe geworden. Da sie ohne jedes Vermögen war, nahmen sie die Schwiegereltern zu sich und sie lebte auf dem Linsenberg vom Jahre 1836 bis 1854, also 22 Jahre, auch nach des Vaters Tod bei Helmsdörffers. Sie machte sich nützlich, so viel sie konnte, war aber ihr Leben lang sehr kränklich und oft schwer leidend. Als ich sie kennen lernte, war sie eine zarte, kleine aber vornehme Erscheinung, die mit rührender Geduld ihr schweres Leben trug. Im Jahr 1856, bei der Auflösung des Hauses, zog sie zu einem verwitweten Bruder nach Frankfurt a. d. O., dem Major Rödlich und erzog dessen einziges Töchterchen; bei seiner Versetzung kam sie nach Berlin, wo ich sie nun das zweite Mal im Leben wiedersah. Vorher hatte ich sie mit Carl auch einmal in Frankfurt a.d.O. besucht. Im Jahre 1870 war sie bereits so taub, daß nur schriftliche Unterhaltung mit ihr möglich war oder Fingersprache, in die ich mich auf der Reise zu ihr einübte. Sie freute sich sehr über die Kinder, und Emma schlief einmal 2 Stunden auf ihrem Bett. So wenig wir uns sahen, so innig wurde unser schriftlicher Verkehr von Anfang an, und es war mir eine große Freude, ihr geistig viel sein zu können. Später zog sie bei einer zweiten Versetzung ihres Bruders nach Breslau, wo sie am 25. Januar 1873 starb, nachdem sie nicht nur taub, sondern auch lichtscheu und dann ganz blind geworden war. Am Hochzeitsmorgen im Oktober 1895 besuchte ich ihre letzte Ruhestätte.

Wir wohnten damals in Berlin Unter den Linden und hatten nachts wenig Ruhe, da das Fahren nicht eine Minute aufhörte. Dies wirkte ungünstig auf die Bonne, die wir mit hatten, und unheimliche Symptome beunruhigten uns in ihrem Benehmen. Nach Gelnhausen zurückgekehrt, mußten wir uns bald davon überzeugen, daß Irrsinn bei ihr ausgebrochen war. Es gab aufregende Tage. Sie wollte mit dem Kind auf dem Arm vom Balkon sich herunterstürzen, und so brachte sie mein Mann noch an dem selben Tage nach der Irrenanstalt Heppenheim. Dort starb sie nach 2 Jahren.

Krieg 1870/71 gegen Frankreich

Noch kaum hiervon erholt, brachen die Kriegsbefürchtungen aus, an die aber niemand ernstlich glaubte. Da, im Juli, als das Haus gerade recht besucht war, flog wie eine Bombe die Kriegserklärung Frankreichs in die Welt und auch in unsere Villa ein. Der Besuch reiste ab, und mein Mann, der in Amsterdam war, schickte drei Depeschen, weil er stets keine Antwort bekam. In Deutschland nahm das Militär alle Linien in Beschlag. Am dritten Tag kam dann Carl, mich und die Kinder zu holen, er wollte nicht, daß der Krieg sich zwischen uns abspiele, und damals erwartete jedermann sofort einen Einbruch der Franzosen über (Bad) Kreuznach. Auch wir dachten nicht anders als dem Feind schon zu begegnen – aber wir kamen nach schrecklicher Reise mit viel Verspätungen doch glücklich nach Amsterdam, wenn auch ohne Koffer, die erst 8 Tage später anlangten. Es war eine wilde Flucht aus allen Bädern und Sommerfrischen und ein Getriebe, ein Geschrei, eine Angst auf allen Bahnhöfen, die nicht zu beschreiben sind. Zu Hause fehlte zunächst für die Kinder die Wäsche, sie mußten einen guten Teil des Tages im Bettchen verbringen, bis wieder gewaschen war.

Die Kaiserproklamation von Versailles. Gemälde Anton von Werners aus der Ruhmeshalle des Berliner Zeughauses. 19021
Die Kaiserproklamation von Versailles. Gemälde Anton von Werners aus der Ruhmeshalle des Berliner Zeughauses. 190212

Der Sommer verging unter schwerem Druck. Zwar berauschten und beruhigten die sich schnell folgenden Siegesnachrichten, aber man fühlte viel schweres Elend mit, nicht nur das, was die Krieger ausstanden. Es gab auch in der Heimat maßloses Unglück und Verarmung in großer Zahl. Man wagte kaum die herrlichen Pfirsiche und Trauben zu genießen, – die ungewohnt billig verschleudert wurden, dachte man an den Durst der Verwundeten und Sterbenden, an den Mangel derer, denen der Krieg alles geraubt hatte! Und nach dem großen Siege von Sédan schlug die bisherige große Sympathie der Holländer in Angst um, und man fühlte überall Haß und unfreundliches Wesen. Selbst wenn man sich nie so deutsch gefühlt und man immer stolzer auf das Vaterland wurde, man sehnte sich, dort zu sein, mit einzustimmen in den Jubel und in alle Begeisterung.

Als nun endlich Paris gefallen und der letzte Sieg errungen, der ersehnte Waffenstillstand eingetreten war, am 28. Januar 1871, da traf die Familie noch ein herber Schlag. Ein lebensfrisches, junges Leben raffte die letzte Kugel dahin. Carl Becker, Friedrichs Sohn, fiel an diesem Tag in einem Vorpostengefecht bei Blois. Eine französische Kugel verwundete ihn, eine zweite tötete sofort! Er hatte bereits das Kreuz erster Klasse, obschon nur ein einfacher Leutnant in einem hessendarmstädtischen Regiment. Der Großherzog selbst machte dem Vater Mitteilung, und die Kameraden setzten ihm ein Denkmal, das auch mitging in die Heimat, als dorthin seine Reste überführt wurden.

Dem Verlangen folgend, nun auch etwas aus dieser großen Zeit zu erleben, reisten wir zum Einzug der Truppen nach Berlin, wohnten bei Trendelenburgs13 und saßen auf einer Tribüne der Universität und teilten die flammende Begeisterung beim Anblick all der großen Männer und all der braven Truppen!

Konsul Conrad Schöffer, Privatier und Landtagsabgeordneter in Berlin

Nun kam eine kurze Zeit großer Prosperität für den Handel, mein Vater benutzte sie zur Liquidierung seiner großen Kaffeevorräte, die teils schwere Krisen mit durchgemacht und zog sich als wohlhabender Mann von den Geschäften zurück, lebte im Winter in Berlin als Abgeordneter des Landtags, und kam mit der Mutter meist zu Weihnachten und Neujahr nach Amsterdam in unser Haus. Auch mein Mann glaubte, genügend für sich und seine Kinder gesorgt zu haben, und schied aus dem Geschäft. Seine bis dahin oft schwankende Gesundheit besserte sich, aber auf meinen Vorschlag, nun vielleicht nach Frankfurt ziehen zu können, meinte er: „Man schlägt in meinem Alter nicht mehr so leicht Wurzel. Hier kennt man mich und weiß, daß ich noch etwas leisten kann, am fremden Ort wäre ich ein Rentier wie viele auch und nichts anderes.“ So blieben wir noch zwölf Jahre in Amsterdam, und mein Mann fand volle Beschäftigung in vielen Ehrenämtern und verblieb auch in einem geschäftlichen Unternehmen, das er mit begründet hatte: die Nation als Hypothekenbank. Ein paar Jahre nach der Gründung verübte der Präsident des Aufsichtsrats Sarfati Selbstmord und brachte die Bank an den Rand des Verderbens. Mein Mann wurde zum Präsidenten nach ihm gewählt und brachte anscheinend Opfer, die sich freilich als das Gegenteil erwiesen. Mit anderen Mitarbeitern brachte er das Institut zu hoher Blüte. – Er war nun ein freier Mann und verlebte fortan den Sommer mit uns in Deutschland. Wir pflegten erst im späten Herbst zurückzukehren. Im Jahr 1875, als schon Pferde und Diener vorausgeschickt waren, erkrankte erst Dora, und dann Ferdinand und Emma an Scharlach, und wir waren gezwungen, bis zum 7. Januar in Gelnhausen zu bleiben. Meine Eltern freuten sich, daß wir noch bei ihnen waren als die Krankheit ausbrach, und diese verlief nach der ersten ängstlichen Zeit auch gnädig und ohne jede Nachkrankheit, sodaß wir uns gemütlich einrichten konnten. Nur Dora hatte eine Zeit lang ängstliche Phantasien, in denen sie sich besonders mit einem blauen Hund mit gelben Ohren beschäftigte. Ganz unvermittelt schwanden plötzlich die kranken Vorstellungen, sie war ganz normal und wußte absolut nichts davon. Bald aber setzten sie sich wieder fort, als hätte keine Unterbrechung stattgefunden. Wochenlang spielten sie Kinder vergnügt in ihren Betten, und Ferdinand schnitt Hunderte von Soldaten aus und spielte mit den selbstgebastelten Regimentern. Wir Alten hatten Zeit und konnten uns der kleinen Gesellschaft viel widmen, und nachdem ein kleiner Schrecken gut verlaufen war, feierten wir ein reizendes Weihnachts-fest. Der Schrecken ging von mir aus, als es schien, daß auch ich Scharlach bekommen sollte, es blieb bei einer schweren Halsentzündung, wäre aber sehr gefährlich gewesen, da der Storch, der uns so lange vernachlässigt hatte, einmal wieder angeklopft hatte und freundlich willkommen geheißen wurde, was lang nicht jeder begreifen konnte. Wir hatten 7° kalt, als wir nach Amsterdam zurückkehrten, doch alles verlief gut. Der Hauslehrer Uhle war gerade nach Gelnhausen gekommen, als die Krankheit ausbrach und fuhr wieder in seine Heimatzelle zurück. Auch Dora lernte Latein bei ihm, damit Ferdinand nicht allein sei. Vor diesem akademisch gebildeten Lehrer hatten die Kinder einen Seminaristen gehabt, der recht guten Unterricht gab, aber etwas derb verfuhr, auch wenig Manieren besaß. Herr Uhle dagegen war sehr fein – zu fein! Etwas sehr für seine Würde besorgt. Eine liebe angenehme Hausgenossin war eine Wandländerin, Fräulein Aline Challand. Sie kam 17jährig zu uns und unterrichtete die Kinder neben dem Lehrer, besonders im Französischen, das auch während ihres 7 jährigen Aufenthaltes bei allen Mahlzeiten gesprochen wurde, sie verließ uns 1882, erlebte also die Geburt unserer drei jüngeren Kinder. Mit großer Freude wurde zunächst der kleine Carl begrüßt. Strahlend umstanden ihn die Geschwister, voller Erstaunen, woher er nur so plötzlich gekommen! Aber auch uns Eltern erschien er nach so langer Zeit wie ein Wunder, ein ganz seliges Wunder, es war uns fast wieder wie ein erstes Kind und blieb lange der Mittelpunkt der ganzen Familie, bis sich Frida zu ihm gesellte. Ein Ausgang bei nassem Schneewetter veranlaßte ihr zu frühes Erscheinen in die Welt, und daß dies gerade an meinem Geburtstag geschah, machte die Sorgen um sie nicht kleiner, sie war zu zart, um Nahrung an der Mutterbrust zu nehmen und am sechsten Tag war sie in größter Lebensgefahr, fast wie tot. Nach zweistündigem Bemühen kam wieder Leben in sie, und sie lag dann 6 Wochen zwischen drei heißen Krügen in Watte gewickelt, und man hörte keinen Ton. Erst zur Zeit, als sie eigentlich hätte kommen sollen, fing sie wie andere Kinder an zu schreien und nahm auch Nahrung bei einer Amme. Mir ging es auch schlecht in diesem Wochenbett, neben anderen Leiden hatte ich täglich holländisches Fieber und nahm vier Monate lang alle Tage ein halbes Gramm Chinin, bis wir endlich im Mai nach Deutschland konnten, wo mich das Fieber sofort verließ, und ich mich für das Ertragen einer schweren Zeit noch rechtzeitig erholte.

Tod des Vaters Conrad Schöffer

Schon den ganzen Winter waren die Berichte über meinen Vater sehr beunruhigend gewesen, er mußte seine Tätigkeit als Abgeordneter in Berlin niederlegen, war eine Zeit lang in Gelnhausen, dann aber im Süden, in San Remo, natürlich in Begleitung meiner Mutter, aber auch in der seiner Schwester Sannchen und einer jungen Nichte. An eigentliche Gefahr dachte aber niemand, bis eines Tages eins der Kinder gerufen wurde. Mein Bruder Carl holte Vater und Mutter zurück, es war eine aufregende Reise, wegen großer Schwäche des Vaters und seines höchst quälenden Hustens. Damals verlangte ein Sodener Arzt, der auch Abgeordneter und dadurch zur Behandlung des Patienten gekommen war, dieser müßte, bevor er nach Gelnhausen zurückkehrte, einen Übergangsaufenthalt in Soden von vier Wochen nehmen, NB in des Arztes eigenem Haus! – Dies war für den Kranken, der sich mit allen Fasern seines Herzens nach der geliebten Heimat sehnte, recht qualvoll und ohne jeden Nutzen. Dort in Soden sah ich Vater nach acht Monate langer Trennung wieder und erschrak aufs tiefste über die mit ihm vorgegangene Veränderung, wußte mit einem Mal, daß er verloren sei, sah es an der hektischen Farbe seiner Wangen. Selig war er, als er sein geliebtes Gelnhausen wiedersehen und sich am Anblich der Enkel erfreuen durfte. Rührend war es, wie er immer schwächer werdend, zuletzt im Rollwagen sitzen mußte und dem ihm gegenüber in seinem Wägelchen liegenden Baby (Frida) freundlich zulächelte. Auch das Kind lachte. Anfang und Ende des Lebens berührten sich täglich. Vom 6.August an mußte er oben in seinem Zimmer bleiben; er hustete immer mehr, aber er blieb genesungsfreudig. Nur einen Tag lag er zu Bett, und als die Trennungsstunde kam, waren alle Kinder da und viele Enkel um ihn versammelt. Am 12.August nahm er rührenden Abschied von jedem Einzelnen, ließ die Abwesenden grüßen und sprach warme Dankesworte zu meinem Mann; sein letztes Wort war: „Wir sehen uns besser wieder!“ Dann versank er in Bewußtlosigkeit und Agonie, die 17 Stunden dauerte. Vier Stunden vor seinem Heimgang traf mich noch ein liebevoller, erkennender, dankbarer Blick. Es war am 13. August 1878 mittags 12 Uhr, als er die Augen schloß. Die Glocken konnten bei seiner Beerdigung nicht läuten, sie waren in Reparatur, denn man war gerade mit der Restaurierung der Pfarrkirche beschäftigt, um die er große Verdienste erworben hat. Er leitete die Sammlungen, verschaffte den Staatszuschuß, und war in jeder Weise tätig, Vorsitzender der Baukommission. Leider hat er die Vollendung nicht mehr geschaut. Sein Nachfolger als Vorsitzender in gleichem opferbereitem Tun war dann mein Gatte, der am 29.August die Einweihung leiten durfte, die in feierlichster Weise vor sich ging. Der Oberpräsident war nebst vielen Gästen dazugekommen und wohnte bei uns im Haus. Noch ehe dieser ereignisreiche Tag zu Ende ging, lag unser jüngstes und kräftigstes Kind (Alexander) in der Wiege. Auch dem leitenden Architekten Baumeister Schmidt war am selben Tag ein Sohn geboren. Zwei Jahre später feierten wir unsere silberne Hochzeit, es war ein froher, unvergeßlicher Tag, eine Überraschung folgte der anderen, man konnte sich nicht genug tun in Erweisungen der Liebe und Anerkennung. Wir waren tief dankbar und hocherfreut über alles Gebotene. Die Mitwirkung unserer Kinder überraschte uns ebenso wie die dichterischen Darbietungen der Geschwister. Das ganze Städtchen nahm teil, und die liebe Mutter mit weißen Spitzen und Schmuck freute sich mit uns trotz allen wehmütigen Gedenkens. – Drei Jahre nach diesem Fest November 1882 faßten wir den Entschluß, Amsterdam doch zu verlassen. Es kam rasch zur Entscheidung. Wir hatten unseren Ältesten, Ferdinand, schon mit zwölf Jahren aus dem Elternhaus ziehen lassen müssen, der von uns gewünschten deutschen Erziehung wegen. Er war nun schon vier Jahre in der Familie eines pensionierten Offiziers in Darmstadt, Oberstleutnant von Kessert, und machte während dieser Zeit verschiedene ernste Krankheiten durch, die uns stets Kummer und oft übertriebene Angst durch die Entfernung versetzten. Nun erkrankte er wieder und zwar traf es sich, daß wir gerade einen fröhlichen Ball zu Hause hatten, während er in Darmstadt durch ein abnorm hohes Fieber in Lebensgefahr geriet, und man uns am nächsten Morgen telegraphisch an sein Lager rief. Dies Zusammentreffen erschütterte uns sehr, und da uns mittlerweile noch zwei Knaben zur Erziehung anvertraut waren, wollten wir uns nicht wieder solchen Ereignissen aussetzen, und beschlossen, nach Frankfurt zu ziehen. Es war ein schwerer Abschied, denn die Befürchtung, die mein Mann schon vor zwölf Jahren ausgesprochen hatte, bestand weiter, und wir mußten sehr viel verlassen, – ein wunderschönes Haus, sehr lieben und großen Freundeskreis, zwei Geschwisterhäuser, mit denen wir eng verbunden waren, meinem Mann angenehme und ersprießliche Tätigkeit und eine sehr angenehme Stellung, – auch ich war im Vorstand einer Industrieschule, die mich sehr interessierte. Wir sahen oft und gern Leute bei uns, und da die Kunstsammlung Carls bereits einen gewissen Ruf erlangt hatte, besuchten uns auch angesehene Fremde. Von hervorragenden Gästen, die an unserem Tisch saßen, nenne ich den Prinzen Reuß Heinrich VII., der sich bald danach mit einer weimarschen Prinzessin vermählte, den Großherzog von Mecklenburg, Großvater des jetzt regierenden, ein liebenswürdiger feiner Herr, der mir ausführlich die Geschichte seiner drei Ehen erzählte. Der Herzog von Nassau, später Großherzog von Luxemburg, der seine Leiden im Jahre 1870 schilderte. Diese drei waren bei dem Erfinder der Massage Dr. Metzger in der Kur und nahmen gern bei den angesehenen Deutschen Einladungen an.

Frankfurt am Main

Wir fanden in Frankfurt ein sehr schönes Haus, das aber noch ganz dekoriert werden mußte, und in der Hoffnung, es im September beziehen zu können, verkauften wir das Amsterdamer und haben im August mit Marie Lachmund 14 Tage bei Rehbocks logiert, um die Verpackung zu leiten, aber erst am 20. November war das neue Heim so weit, es beziehen zu können. Wir waren voller Freude, endlich so weit zu sein, da kam wie eine zerstörende Bombe ein Telegramm aus Hamburg, worin mein Bruder Heinrich das sofortige Kommen meines Mannes verlangte! Er reiste in derselben Nacht ab und ließ uns in Frankfurt allein, fuhr dann von 6 Nächten fünfe nachts von einem Ort zum andern, stets in größter Sorge und Aufregung, von Hamburg nach Amsterdam und von da nach (Le) Havre, zurück nach Hamburg und Frankfurt. Mein Bruder hatte sich festgefahren und war nur mit großen Opfern wieder frei zu machen. Für uns ging ein Kindesteils dahin, wir dachten an unser erstes Söhnchen, und mein Mann glaubte, dies seinen Kindern entziehen zu dürfen. Auch hätten wir nicht leichten Herzens im Überfluß leben mögen, wenn der Name Schöffer in Unehre gekommen wäre, ein eigener Bruder nicht seine Verpflichtungen erfüllt hätte. Es waren schwere Tage für den unglücklichen Mann und für uns mit, der Gedanke, was werden sollte mit seinen 10 Kindern drückte schwer auf uns und wir halfen dazu, ihm wieder eine ausreichende Existenz zu gründen. Zunächst war es ein erschwertes Einleben in neue Verhältnisse, auf die wir uns doch auch gefreut hatten. Die erste Nacht im neuen Haus war schrecklich für mich. In Nacht und Nebel fuhr mein Mann hinaus, mit unbestimmten Ahnungen und großen Sorgen, der Wind heulte ums Haus und es war kalt darin und zog überall, da die Dienerschaft noch nicht verstand, die Zentralheizung zu behandeln und unnötige Klappen aufließ. Die nächsten Tage noch viel Handwerker, Kommen und Gehen, Bestimmungen und Einrichtungen machen ohne des Mannes Rat, die schwer drückenden Sorgen und endlich die niederdrückende, traurige Gewißheit!- Bald kam der Bruder zur Beratung. Es gab unendlich Schweres zu ertragen und der Gegensatz mit der Freude am neuen Heim, an der entschieden besseren Gesundheit und an dem Reiz des deutschen Lebens war oft aufreibend.

Mein Bruder fand dann neue Aufgaben und Arbeit in Liegnitz (Niederschlesien, im NW von Breslau), und ich brachte ihm im Frühjahr acht von seinen Kindern, die in Gelnhausen gewesen waren, dorthin, übernachtete mit ihnen in Dresden und freute mich an dem netten Liegnitz und dem dort gemieteten hübschen Haus und Garten.

In Frankfurt lebten wir uns immer mehr ein und verbrachten dort glückliche Jahre. Besonders genoß ich es, nicht mehr im Frühjahr und im Herbst die weite Reise machen zu müssen, denn es war keine Kleinigkeit, jedes Mal 12 – 14 Personen zu verpflanzen, und auch die Pferde gingen mit. Die Nähe der Mutter, die doch immer älter und schwächer wurde, war mir auch eine große Wohltat. Die Kinder gewöhnten sich auch sehr bald ein. Emma, der es am schwersten wurde, Amsterdam zu verlassen, schloß neue Freundschaft, und Dora bald den Herzensbund fürs ganze Leben. Mein Mann fand die kaum gehoffte neue Tätigkeit und konnte sich besonders der Kunst widmen, als Präsident des Kunstgewerbevereins und als Mitglied des Vorstands im Hoch’schen Konservatorium. Leider nahm er auch eine Aufforderung seines alten Freundes an, in den Aufsichtsrat der Kösterbank zu treten und hatte daran viel Leid und Aufregung.

Schon die letzten Jahre hatte uns Fräulein Marquardt nach Amsterdam begleitet, hatte dort das Scharlachfieber durchgemacht, aber durch gründliche Absperrung niemand angesteckt. Diese treue Freundin war 12 Jahre Erzieherin bei uns im Haus, und meine Kinder haben ihr unendlich viel zu danken, mir war sie eine große, unentbehrliche Stütze, und sie wurde und wird immer noch wie ein Familienglied gerechnet und von allen geliebt. Sie verheiratete sich, wurde aber schon nach 10 Wochen Witwe, blieb uns auch als Frau Bergmann, was sie uns als Frl. Marquardt gewesen war.

Hochzeit Doras mit General Hans Riedel14

Im Jahr 1885 feierten wir im August die Hochzeit der ältesten Tochter, der noch rüstige Vater widmete auch ihr sein hübsches Talent, womit er schon viele erfreut und auch einmal bei Gelegenheit der Schillerfeier in Amsterdam 1859 öffentlich Lorbeeren geerntet hatte, er dichtete eine sinnige Auf-führung, die sich teilweise im Garten abspielte. Wie immer zu allen Festen kamen auch meine Geschwister und deren Kinder, und wiederum nahm unser altes Städtchen Gelnhausen regen Anteil. Es war uns allmählich zur Heimat geworden. Im folgenden Jahr, wiederum im August wurde uns dort der erste Enkel geboren; für seinen Vater ein hartes Zusammentreffen, daß damals sein einziger Bruder aus dem Leben scheiden mußte. Der zweite Enkel folgte bald und zwei Monate nach seiner Geburt erkrankte Dora lebensgefährlich an Nierenbeckenentzündung und lag 5 Monate zu Bett, wonach sie mit einer Pflegerin zwei Monate in (Bad) Wildungen und den Rest des Sommers mit den Kindern in (Bad) Homburg verbrachte.- Es war ein stiller, trauriger Winter gewesen, denn die ungewisse Zukunft lastete schwer auf uns, lange Monate war Doras Leben in steter Gefahr, ihr Bewußtsein meistens getrübt, aber sie hatte auch lichte Stunden und sagte einmal: „Es mag schön im Himmel sein, aber ich bliebe doch so viel lieber noch hier.“ Lange, – lange fragte sie nicht nach ihren Kindern und hatte angstvolle Wahnvorstellungen, dann kam die endlose Zeit der langsamen Rekonvaleszenz, mit ihr viele Stunden, in denen der Geist sich gern beschäftigt hätte, und doch zu schwach dazu war. Ich war jeden Morgen von 9 – 1 Uhr bei ihr oder vielmehr bei den Kindern, während ihr Mann als Bezirksadjudant Dienst hatte, den Mittag hat man ihm ganz frei gegeben, dann nahmen mich Mann, Kinder und Haushalt in Anspruch, um so mehr als gerade diesen Winter Emma Marquardt das Bedürfnis gefühlt hatte, einige Zeit bei ihren Eltern zu verbringen, und ich mich mit einer französischen Bonne behelfen wollte. Ich hatte kein Glück, wechselte dreimal und erlebte die wunderbarsten Sachen, war hocherfreut, als endlich die getreue Emma wiederkam. Sie erteilte damals nur im Sommer Unterricht, die Kinder gingen zur Schule. Carl und Alex mußten vom 10. Jahr an in Pension, Frida ging mit nach Gelnhausen und lernte mit einer Freundin, Emma war erwachsen und wurde im folgenden Winter in die Gesellschaft eingeführt. Ferdinand wurde gerade zum Abiturientenexamen krank und mußte das Mündliche allein bestehen, verbrachte dann ein halbes Jahr in einer Pension … in Genf und diente dann bei den Husaren in Bockenheim (bei Frankfurt a.M.), studierte in Leipzig und Berlin, mußte aber zweimal unterbrechen und einige Monate im Süden zubringen, in den Jahren 1888-89, in Montreux und Mentone. Er hatte sich beim Tode des Kaisers Wilhelm durch langes Stehen in Eis und Schnee einen Schaden in der Lunge zugezogen, der aber wieder ganz ausheilte.

Der Sommer 1889 verlief sehr still, die Gäste mußten das Haus verlassen, da ich an Masern erkrankte, und zwar recht heftig. Ich war am Montag im Kindergarten gewesen, den meine Eltern und wir im Jahr 1873 gebaut und bis 1881 unterhalten hatten. Es waren weit über 100 Kinder anwesend, denen ich Pfeffernüsse austeilte. Am Sonntag wurde er geschlossen, da nur noch 16 übrig waren, die keine Masern hatten. So wurde ich mit 50 Jahren das Opfer dieses großen Ansteckungsherdes und brachte die Krankheit meinen Töchtern Emma und Frida. Auch Emma, die mich liebevoll gepflegt hatte, war sehr krank, Frida hatte es leichter, aber wir verloren damals doch alle drei die Haare und erholten uns langsam.

Im November erkrankte Carl am Scharlach, und wir sandten die ganze Familie nach Gelnhausen zur Großmutter, sie vor Ansteckung zu bewahren. Zu Weihnachten war ich allein mit Carl und seiner Pflegerin, ich selbst war auch sehr leidend und viel bettlägerig, hatte Carl nicht sehen dürfen und erst am Heiligen Abend feierten wir Wiedersehen, und da war es denn eine köstliche Überraschung und große Freude für mich, unter meinen Geschenken die Nachricht zu finden, daß Ferdinand das Referendar- und Doktorexamen bestanden hatte. Carl schien seiner Genesung entgegenzusehen. So war das stille Fest doch ein frohes und innerlich beseligtes. Einige Tage danach brach indessen eine schwere Nach-krankheit, Nierenentzündung, bei ihm aus und brachte lange schwere Sorgen. Ein ganzes Jahr kostete die Krankheit, zur Konfirmation wurde er privatim vorbereitet, durfte aber mit den andern feiern, obgleich er nachher noch ein halbes Jahr der Schule fern bleiben mußte. Es war ein eigenes Gefühl für mich, daß er als einziges meiner Kinder auch wie ich in der Paulskirche eingesegnet wurde. Der darauf folgende Winter war ein sehr belebter, da Ferdinand bei den Husaren in Bockenheim diente, und auch durch Emma, die eine beliebte Tänzerin geworden, Leben ins Haus kam, Dora aber sich wiedererlangter Gesundheit erfreute.

Hochzeit Emmas15 mit Ernst von Blumenstein16
und Tod der Mutter Dorothea Catharina Schöffer

Das Frühjahr 1892 brachte Emmas Verlobung und der Herbst ihre Hochzeit in Gelnhausen. Meine Mutter wurde damals schon sehr leidend und mein Mann verlor an Frische, er konnte nicht mehr wie sonst sich an dem Fest beteiligen, doch dichtete er zwei Rundgesänge, überwachte die Dekorationen und überließ mir, meine schwachen Kräfte für alles sonst einzusetzen. Trotzdem war es ein sehr schöner Tag, und die Stimmung war froh und heiter, wiederum zum Polterabend und zum Hochzeitstag etwa 70 Personen versammelt. Der Vater fühlte sich aber doch wohl genug, mich nach Kassel zu begleiten und mir behilflich zu sein bei der Einrichtung des jungen Paares in Kassel, wo wir es beide auch noch ein paar Mal besuchten.

Gegen Weihnachten wurde es bedenklich mit meiner Mutter, und ich war sehr viel bei ihr, immer in Sorge, etwas zu versäumen, wenn ich ein paar Tage in Frankfurt verweilte. Es gelang aber doch, dort den Heiligen Abend zu verbringen, den wir still mit den von der Hochzeitsreise zurückgekehrten Blumen-steins und allen anderen Kindern verlebten. Am ersten Feiertag abends zündete ich der leidenden Mutter ein Bäumchen an, und Frida und Alex sangen ihr dazu: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Ihr liebes Gesicht bekam einen strahlenden Ausdruck, und sie konnte dabei im Sessel sitzen. Es folgten schwere Leidenstage, alle Geschwister und mehrere Enkel kamen, um Abschied zu nehmen. Meine liebe, arme Schwester kam nach eben überstandener Operation in Bonn. Die Mutter stand nicht mehr auf. Noch erlebte sie das Neue Jahr, strahlend ging die Sonne im Osten auf, sie sah sie nicht mehr, litt furchtbar unter dem quälenden Husten und klagte wiederholt, daß ich das mit ansehen müßte, – sie litt noch für mich! – Am 3. Januar 1893 trat die Agonie ein und währte volle 17 Stunden, meist bewußtlos, aber doch mit immer erneutem Kampf. Sie sah nach dem Bild des Gatten, griff darnach, aber rief fortgesetzt nach Vater und Mutter und „Gott hilf. “ – Endlich mittags um 12 Uhr trat Ruhe ein, noch ein paar Seufzer, sie hatte überwunden! Ein herrliches Bild tiefsten Friedens lag sie da, verjüngt in der Majestät des Todes! – Es ist schwer, die Mutter zu verlieren, auch wenn man sie noch so lange besessen hat. Der Strom der Liebe, der von ihr ausgeht und der niemals verlischt, in den man sich immer mit Sicherheit flüchten kann, auch wenn sonst alle Quellen im Leben zu versiegen scheinen, den ersetzt keine andere, auch nicht die Liebe des Gatten, nicht die Kinder, denn keine ist so selbstlos, keine so immer vorhanden, so stets bewußt! Meine Mutter war eine lebhafte Natur gewesen, aber stille geworden durch den noch lebhafteren, dominierenden Gatten, aber sie war stets eine sehr glückliche Frau, denn die Liebe meiner Eltern und ihre Äußerungen überdauerte alle Stürme und auch alle Jahre, die sie vereint waren. Und Energie besaß die zarte, oft kränkelnde Frau und erzog ihre Kinder in vollstem Pflichtbewußtsein. Es ist wahr, in jüngeren Jahren fühlte ich mich mehr zum Vater hingezogen, denn er war zärtlicher und oft verliebt in seine Töchter, später aber erkannte ich, wieviel ich gerade der Mutter zu danken hatte und bewunderte ihre Energie, die ganz besonders erst nach dem Tod des Vaters hervortrat.- Vierzehn Jahre hat sie noch als Witwe den ganzen Sommer mit uns Beckers gelebt, und immer war sie leidend in dieser Zeit. Sie hatte sich beim Vater angesteckt, und im Frühjahr nach seinem Tod erkrankte sie in Amsterdam schwer an Tuberkulose und gleichzeitiger Lungenentzündung. Wir schickten die Kinder nach Gelnhausen und waren auf das Schlimmste vorbereitet. Sie sah aber selbst klar und sagte, sie möchte in Gelnhausen sterben. Ihr Arzt, unser Freund Prof. Hertz, gab ihr damals nur noch wochenlange Lebensdauer, und es war eine aufregende Reise, als wir sie mit Hilfe einer Pflegerin nach Gelnhausen brachten, natürlich unterwegs stets getragen. Da geschah ein anscheinendes Wunder, sie lebte wieder auf, ward von Tag zu Tag kräftiger und hustete weniger. Prof. Hertz besuchte uns und untersuchte sie wieder, nun stellte sich heraus, daß ein talergroßes Ephisem, das er für neu gehalten hatte, ein alter Herd war, – längst vernarbt, um den sich die neuen Tuberkeln gebildet hatten. Er erklärte damals, mit Vorsicht könne sie nun noch 20 Jahre leben. Und Vorsicht wurde stets aufs Äußerste angewandt und sie überwand viele Anfälle der bösen Krankheit und da auch alle hygienischen Vorschriften befolgt wurden, steckte sie niemand an, auch nicht ihre treue Pflegerin Marie Lachmund, die 14 Jahre sogar im selben Zimmer schlief und deren Gegenwart und töchterliche Liebe für uns ferne Kinder ein großer Trost all die lange Zeit gewesen ist.

Der Rest des Winters verlief in tiefer Trauer, still und gesammelt, umso mehr als das Befinden meines Mannes Anlaß zur ernsten Sorge gab. Im Frühjahr, das sich durch Todesfälle im Bekanntenkreis auszeichnete, kam es zur Krisis, es war wohl ein Vorläufer der späteren Todeskrankheit, aber an einem Abend war es so schlimm, daß ich zu Dora äußerte, sie solle den Vater noch einmal ansehen, man wisse nicht, ob er den nächsten Tag erlebe.- Aber er erholte sich noch einmal, und zwar zu einer Frische, wie sie vorher lange nicht gewesen war, die das Familienleben wie mit warmen Sonnenstrahlen übergoß. Zunächst aber gab es noch eine schwere Zeit zu überwinden. Als wir in Gelnhausen im Frühjahr 1893 einzogen, fanden wir dort Emma, ihrer Entbindung entgegensehend; sie brach in Tränen aus, als sie den Vater erblickte, der noch jammervoll elend aussah, in ihrem Zimmer schluchzte Emma Marquardt herzbrechend, sie hatte vier Wochen vorher plötzlich ihren geliebten Vater verloren. Im dritten Zimmer lag Frida leidend an diphtherieartiger Halsentzündung und sie war doch gekommen, der Schwester Gesellschaft zu leisten, hatte statt dessen gleich ins Bett gemußt. Mir selbst aber war es traurig zu Mute, öde und leer kam mir die Villa und das Leben darin zum ersten Mal ohne die Mutter, vor!

Auch hier linderte, wie immer die Zeit, und die Kranken erholten sich und neues Leben brach an, als freilich um zwei Monate zu früh die Zwillinge Zilli und Lilli17 geboren wurden. Zart und klein lagen sie in einer Wiege zusammen, so wenig zu unterscheiden, daß Zilli ein Bändchen um bekam, aber sie sahen lieblich und rosig aus und wurden nach langen, sorgenvollen Jahren und mühevoller Pflege gesunde Kinder. Der Großvater, der sein Leben lang sehr kinderlieb gewesen ist, hatte noch viel Freude an ihnen, nahm sie gern zusammen auf den Schoß und spielte sehr viel mit ihnen. Sie waren ihm sehr zugetan.

Im Februar 1894 feierten wir nach holländischer Sitte die silbervergoldete Hochzeit, zu der sich in Frankfurt alle Kinder versammelt hatten. Im November wurde bei uns in Frankfurt im Haus Carola von Blumenstein geboren und erkrankte gleichzeitig Frida recht bedenklich in Montreux, wohin ich sie im Herbst gebracht hatte. Ungleichmäßige Entwicklung ihrer Organe hatten ihr Nervensystem in Unordnung gebracht, und es blieb mir nichts anderes übrig, als sie vor Weihnachten wieder nach Hause zu holen.

Als der Baum brannte und wir alle gespannt waren auf den Ausdruck der Freude bei den Zwillingen, machten diese beide ganz erschrocken kehrt und wollten aus dem Saal heraus, was sich ganz drollig ausnahm.

Hochzeit Ferdinands mit Else Bieder

Ferdinand Becker um 1900, Foto Höhn in Hanau
Ferdinand Becker um 1900, Foto Höhn in Hanau
Else Becker geb. Bieder mit Harry ca.1896
Else 18Becker geb. Bieder mit Harry ca.1896

Den folgenden Sommer 1894 machte Ferdinand sein Assessorexamen und kam sehr bald an die Regierung in Stolp (in Pommern). Seine Referendarzeit hatte er zuerst in Homburg v. d. H. und Frankfurt am Main, 1893-94 in Gelnhausen, dann in Schlesien und besonders in Oppeln (Oberschlesien, im SO von Breslau) verbracht und dort auch Else Bieder kennen gelernt, mit der er sich im Sommer 1893 verlobt hatte und mit der er dann auch bald den Bund der Ehe eingehen konnte.

Einladung zur Hochzeit von Else Bieder und Dr. Ferdinand Becker am 9.10.1895 in Oppelnand Becker am 9.10.1895 in Oppeln
Einladung zur Hochzeit von Else Bieder
und Dr. Ferdinand19 Becker am 9.10.1895 in Oppeln

Die Hochzeit war glänzend und wurde im Oktober in Breslau (Provinzhauptstadt Schlesiens) gehalten. Leider war der Vater zu alt für die weite Reise geworden und Bruder Carl erkrankte gerade vorher und mußte auch verzichten, seine Rolle in selbstgedichteten Stücken übernahm liebenswürdigerweise Schwager Hans. Leider fehlte auch Emma, die die Zwillinge nicht verlassen konnte, die damals über alle Maßen elend waren und wie kleine Zitrönchen aussahen infolge eines lang dauernden Darmkatarrhs.

Im Jahr 1895 erlebte Vater noch die Freude, daß ihm ein Stammhalter20 geboren war. Beckers gibt es ja genug auf dieser

Welt; aber dieser Becker-Stamm ist doch von guter Art; und es war erfreulich, daß er wenigstens in den Nachkommen eines Sohnes von den sechsen, die der alte Carl Ferdinand besessen hatte, fortbestehen durfte.

Tod des Gatten Konsul Carl Becker

Der 21.August 1896, unser vierzigjähriger Hochzeitstag, wurde in Dank und Wehmut gefeiert, denn die Anzeichen mehrten sich, daß des Vaters Bleiben unter uns wohl nicht mehr sehr lange währen würde. Ich hatte einen Teil meines Schmuckes für die vier Töchter neu fassen lassen und erregte aufrichtigste Freude. Der Vater saß strahlend und mit liebevollen Blicken unter uns und empfahl mich in seiner beredten, sinnigen Art liebevoll den Kindern, wenn er einmal nicht mehr sein sollte und dankte mir so warm und herzlich für alle Liebe und Treue, daß ich es tief empfand, wie ich nun vor einem Abschluß der schönsten, ungetrübten Gemeinsamkeit stand. Von da an ging es mit der Gesundheit bald bergab und nach wenigen Wochen gab mir Friedrich Trendelenburg die Gewißheit, daß mein Mann am Krebs leide und in seinem Alter eine Operation nur vorgenommen werden könne, um seine Leiden zu verringern oder das Ende sanfter zu machen. Ich verschwieg den Kindern vorläufig noch diese grausame Tatsache, bis sie auch ihnen nicht mehr verborgen werden konnte. Der folgende Winter verging unter dem Druck dieser Wolke, Frida wurde eingeführt; ich war ein paar Mal mit ihr auf Bällen, und wir gaben sogar selbst noch einen kleinen von etwa 60 Personen, auch Blumensteins waren dabei und der Vater nahm herzlichen, freundlichen Anteil daran bis zuletzt, – dann ging Frida noch hier und da allein in junge Gesellschaft, aber ihr so schon mehr ernster Sinn fand unter dem Druck der Umstände niemals den vollen Frohsinn dafür. Im Herbst wurde Carls Zustand quälend. Friedrich kam zum Konsult und konnte wenig Tröstliches sagen und am 14. April mußte ganz plötzlich doch zur Operation geschritten werden, Friedrich nahm sie mit zwei Assistenzärzten vor, während unten alle Kinder außer Emma traurig um mich versammelt waren. Ferdinand war am 1. April auf sein Ersuchen nach Hanau versetzt worden und ist mir in den schweren Tagen eine treue Hilfe und unschätzbarer Berater gewesen.

Die Operation verlief über Erwarten (gut) und statt neuer Qualen trat eine große Erleichterung im Befinden und in der Pflege ein. Leider nur hatten sich scheinbar Partikelchen aus dem Darm in den Blutumlauf und in das Gehirn verirrt, so daß vielfach Wahnvorstellungen und fixe Ideen eintraten, womit er sich und mich oft unsagbar quälte. Er glaubte sich verfolgt und verarmt, suchte nach Dokumenten, verlangte sie von mir und machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich sie ihm, – mit falscher Liebe, – nicht geben wollte. Zwischendurch war er plötzlich ganz klar, sprach liebevoll mit mir, auch über sein bevorstehendes Ende, hatte auch eine Art Bewußtsein, daß er mir wohl Unrecht in seinem Wahn getan, und bat mich rührend um Entschuldigung, war innig dankbar. Es war für mich wie ein Wiedersehn nach langer Trennung, wenn sich so Seele zu Seele wiederfand.- Vom Bett stand er nur noch einmal auf, ließ sich in sein Arbeitszimmer fahren und suchte nach den unglücklichen Doku-menten, die nie existiert hatten. Sonst lag er ohne jede Schmerzen auf seinem Wasserbett, noch über drei lange Monate, oft und viel kamen die Kinder, und einmal war er ganz selig, als Emma von Heidelberg die kleine Karola mitbrachte. Das Kind durfte keinen Augenblick weg, mußte an seinem Bett essen, und er strahlte, wenn es ihn anlachte, was es auch immer wieder tat. Daraufhin entschloß sich Emma, den Juli über zu uns zu kommen. Der Großvater genoß die Kleinen noch sehr intensiv, aber immer nur kurze Zeit. Es machte ihn müde, gab aber eine freundliche Prägung für den ganzen Tag. Anfang Juni mußten die Kleinen der großen Hitze wegen nach Gelnhausen, ich blieb allein mit der Pflegerin und abwechselnd eins oder zwei der Kinder. Langsam schlichen die Tage dahin zwischen dem Wunsch, ihn noch behalten zu dürfen und ihn erlöst zu sehn. Körperliche Schmerzen hatte er nicht, schlief auch sehr viel infolge von Morphium, aber die Seele war infolge der Wahnvorstellungen doch sehr gequält. Endlich nahte die Scheidestunde, noch einmal kehrte das volle Bewußtsein wieder, er umarmte mich herzlich, dankte für alle Liebe und Geduld, dankte auch der Pflegerin, begrüßte die Kinder, die dabei waren, faltete die Hände, – man sah, daß er sein Vater unser betete – und sagte dann: „So, jetzt will ich sterben!“ Es dauerte aber dann noch zweimal 24 Stunden, bis er Ruhe fand. Es war qualvoll anzusehn, bis das kräftige Herz und die noch guten Lungen der großen Schwäche unterlagen, ich glaube aber nicht, daß ihm noch etwas zu Bewußtsein kam. Am 24. Juli 1897 abends um 7 Uhr war der Kampf zu Ende. Außer Dora waren alle Kinder um ihn versammelt. Es war ein großer, heiliger Augenblick und die Allgewalt der gegenseitigen innigen Liebe offenbarte sich mächtig, auch in den folgenden schweren Tagen. Den Geliebten erlöst zu wissen, das Bewußtsein der innigsten Zusammengehörigkeit gab ein inneres Glücksgefühl im tiefsten Leid. Frieden und Dank erfüllte unsere Herzen. Der Vater hat es noch voll erfaßt, was man ihm erst verbergen wollte, welches Glück es für Hans war, daß er nach Brandenburg als Divisionsadjudant versetzt war, und er hatte den vier kräftigen Enkeln zum Abschied noch ein Scherzwort zugerufen, wie er denn oft noch guten Humor inmitten aller Leiden durchblitzen ließ. Für Dora war es trotzdem hart, gerade jetzt den Vater verlassen zu müssen, sie sah ihn nun wieder, ernst und still, aber von Frieden übergossen. Auch die Geschwister kamen und viele liebe Verwandte, von fern und nah, und es war eine traurige Reise, als wir ihn endlich nach Gelnhausen brachten, wohin er sich so oft in seinen Phantasien versetzt hatte. In der Villa duftete und blühte alles, und zum ersten Mal begrüßte ich den ersten Becker-Enkel (Harry), während der treue Gefährte eines langen, glücklichen Lebens zu Grabe getragen wurde. Eine Fülle von Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken überflutete mich, aber siegreich schwebte über allem die Empfindung unendlichen Dankes für ein so langes, glückliches Leben, das nun in diesem Augenblick auch für mich zu Ende schien.

Noch nicht ausgeruht von der langen, schweren und anstrengenden Zeit, kaum vierzehn Tage nach dem Tode, bekam ich für drei Wochen eine zahlreiche Einquartierung, da damals die großen Manöver in unsere Gegend fielen. Wir hatten vier höhere Offiziere mit den Burschen im Haus, die zwar abends auswärts aßen, aber sonst alle Mahlzeiten einzeln auf ihre Zimmer bekamen. Gegen Ende der Zeit gab es noch eine besondere Belastung und hatten wir nicht weniger als drei Generäle unter unserem Dach. Für den Höchstkommandierenden mußte ich mein eigenes Wohnzimmer einrichten. Still und traurig verging des Rest des Sommers, aber die gegenseitige Liebe trat in dieser Zeit mächtig hervor, und es kam mir schon die Ahnung, daß doch nicht aller Sonnenschein aus meinem Leben erloschen bleiben werde. Es kamen dann, als die anderen Kinder heimgekehrt waren, schwere Tage für Frida und mich, die Rückkehr ins Frankfurter Haus und seine Enträumung. Die drei verheirateten Kinder bekamen je einen Möbelwagen voll, und den Rest nahm die Villa auf, die dadurch sehr an Behaglichkeit gewann. Ferdinand, der ja so nahe war, half sehr ergiebig an der Aufstellung. Erst im Frühjahr (1898) wurde das Frankfurter Haus unter ziemlich günstigen Bedingungen verkauft.

Wohnsitz Gelnhausen

Zu Weihnachten versammelten sich dann alle Kinder und Enkel um mich, nur die kleine Ully21, die im Oktober (1897) in der Villa zur Welt gekommen war, blieb in Hanau. Es war ein ernstes und doch schönes Fest. Hauptsächlich meiner Frida zulieb, in deren Lebensfrühling so trauriger Reif gefallen war, entschloß ich mich gegen das Frühjahr hin, eine Reise nach Italien zu unternehmen. In Schnee und Eis fuhren wir weg und waren bald im Frühlingssonnenschein, der uns drei Wochen lang unausgesetzt treu blieb, während wir in Bordighera weilten. Es war eine Zeit wahren seelischen Ausruhens, auch für mich, und die Natur linderte mit milder Hand das oft noch brennende Leid. In Florenz, wo wir auch noch drei Wochen blieben, gab es viel Regen, und ich machte die Erfahrung, daß die Kunst nicht in gleicher Weise auf mich wirkte wie die Natur. Niemals hatte ich sie anders als an der Seite meines Mannes genossen, und auch das schöne Florenz hatten wir früher zusammen gesehen. Für die Kunst war mein Schmerz noch zu neu, und er überwältigte mich stets bei ihrem Anblick. Besser war es, als die lieben Rehbocks und Carl mit seinem Freunde Bornemann sich mit uns vereinten. Zwar, mein Empfinden der Kunst gegenüber blieb wie zuvor, aber auf mein Gemüt war doch der Einfluß groß. Acht Tage verweilten wir noch zusammen in der reizenden Stadt und fuhren dann zusammen nach Rom. Hier erkrankte leider Alexander Rehbock an Influenza, die damals in allen italienischen Städten stark verbreitet war, und mußte acht Tage zu Bett liegen. So blieb ich bei meiner Schwester, während die jungen Leute Rom genossen. Ich frischte ja auch einige alte Erinnerungen auf, aber zu rechtem Genuß kam ich nicht. Auch nicht in dem wunderbaren Neapel, das uns freilich zuerst mit Regen und einer schlechten Nachricht empfing. Ully war in Hanau schwer erkrankt. Ich wäre am liebsten hingereist und ein entschiedenes Heimweh verließ mich von da an nicht mehr, so blieb ich auch in Florenz mit meiner Jungfer Anna, während alle anderen Capri besuchten. Von da an gingen die beiden Freunde südlicher, wir anderen fuhren nordwärts und verbrachten die Ostern (1898) in Lugano.

Sommer und Winter vergingen still, aber die Besuche der Hanauer Kinder und Carls, der in Heidelberg studierte, dabei der rege Verkehr mit meinem Onkel Wilhelm und seiner Familie brachten ausreichend Anregung. Hier und da kam ein kleiner Sturm aus Rathenau, wo Alexander sein Einjährigenjahr abdiente, sie wurden schließlich alle überwunden.

Alexander Becker als Einjähriger (Offiziersanwärter) 898 in Rathenau
Alexander23 Becker als Einjähriger 1898 in Rathenau

Das Jahr 1899 fand Ferdinand und seine Familie in Oppeln (Oberschlesien), Alex bezog die Universität in Freiburg, wo ich ihn auch einmal besuchte, Carl hatte mich zu Pfingsten mit seinem Doktor cum laude überrascht (in Orientalistik), weilte dann in Berlin, wo er früher auch schon einige Semester zugebracht hatte, und bereitete sich für seine Orientreise vor, die ihn Ende 1900 nach Ägypten und Arabien führte und die er im folgenden Jahre wiederholte. Damals machte er auch eine Reise in die Wüste und lernte Entbehrungen aller Art kennen und überwinden. Ehe er aber noch nach Afrika ging, trat ein anderes Ereignis ein, das die Welt und die Meinen und mich im besonderen bewegte: der Krieg mit China (Boxerkrieg)22. Ernst von Blumenstein hatte sich, so unglaublich es uns schien, dafür gemeldet und wurde genommen. Bald hatte ich dann zwei Söhne in verschiedenen Weltteilen, zwar hochinteressante Briefe, aber auch viel schwere Sorgen. Emma blieb sehr tapfer von Anfang bis zu Ende und war mit ihren drei Töchtern damals 8 Wochen bei mir. Es war ein großes Fest, eine nachhaltige Freude, als nach 14 Monaten ihr Gatte wohlbehalten und reich an Erinnerungen und Ehren nach tapfer bestandenen ernsten Gefahren glücklich wiederkehrte.

Hochzeit Fridas mit Pfarrer Otto Michaelis

Er fand Frida24 als Braut von Otto25 Michaelis, deren Hochzeit er dann auch im September mitfeierte und mit verschönern half. Unvergeßlich war das Auftreten der ganzen Familie in echten, chinesischen Kostümen. Auch dieses dritte Hochzeitsfest verlief froh und heiter, wie die früheren, wenn es auch überwunden werden mußte, daß der Vater dabei fehlte. – Ich richtete Frida in Groß-Moyeuvre die Wohnung ein, die sehr einfach war und nur durch zwei eingerissene Wände genügenden Raum zum Wohnen gewann. Ich verließ sie mit etwas schwerem Herzen und fand zu Hause die treue Marie Lachmund sterbend. So hatte ich das letzte Kind aus dem Hause und gleichzeitig die treue Freundin verloren, die täglich nach mir sah und alle Familienfreuden und -schmerzen mit mir teilte. Es war ein schwerer Anfang für mein einsamer gewordenes Leben, mußte es doch überwunden werden, daß zum zweiten Mal mein Bruder Heinrich in schwierige Lage gekommen war, die bereits den ganzen Sommer auf uns alle gedrückt hatte. Riedels waren sehr fern, damals in Glogau (Schlesien), Blumensteins kamen nach Mühlhausen im Elsaß, aber Emma Bergmann blieb mir treu und leistete mir in diesem und vielen folgenden Wintern liebevollste Gesellschaft.

Das Jahr 1902 brachte manche Freude. Im September wurde in Gelnhausen der kleine Otfried Michaelis geboren nach angstvollen Stunden, in denen Tod und Leben um die Herrschaft rangen und im Dezember sein kleiner Vetter Ernst von Blumenstein in Mühlhausen, den ich dort mit Ungeduld, des nahen Weihnachtsfestes wegen, erwartete. Wenige Tage zuvor bestand Alexander sein Referendarexamen in Bonn, dem ich besorgt entgegengesehen hatte. In diesem Semester studierte auch der Kronprinz dort, und es gab dadurch ein außergewöhnlich geselliges Leben, an dem sich Alexander, mehr wie gut war, beteiligte, so daß manche wetteten, er könne unmöglich bestehen. Aber die Gegenpartei behielt Recht und ich atmete auf. Für mich war es dann herrlich, daß er die nächste folgende Zeit in Gelnhausen im Dienst des Amtsgerichts verbringen konnte, wodurch der Winter belebt und sehr angenehm verging. Noch ein viertes frohes Ereignis aus demselben Jahr muß ich erwähnen:

Ully und Harry Becker 1901 in Osterholz, wo der Vater nun Landrat war bis 1933
Ully und Harry Becker 1901 in Osterholz, wo der Vater nun Landrat war bis 1933

Ferdinand wurde Landrat in Osterholz-Scharmbeck und erreichte damit das Ziel seiner Wünsche: eine angesehene Stellung, behagliches Haus, großer Garten und war in nächster Nähe der Großstadt Bremen. Und ich bin noch nicht zu Ende, denn in demselben Jahr durfte ich Carl als Privatdozent in Heidelberg begrüßen, richtete ihm die Wohnung ein und hörte seinen ersten öffentlichen Vortrag über „Die Frau im Islam“. Zur Feier des Tages gab ihm Prof. Bezold, sein verehrter Lehrer, ein Mittagsmahl, bei welcher Gelegenheit er ihn als jungen Kollegen begrüßte und ihm eine außerordentliche Wertschätzung aussprach.

Im folgenden Jahr begleitete ich ihn im Herbst nach Leipzig, wo er sich einer Blinddarmoperation zu unterwerfen hatte, die er tapfer und glücklich bestand.

Währenddessen zogen Michaelis´ nach Metz26, (der Bischofsstadt im 1871 annektierten Lothringen) wohin Otto berufen war, und es begann für sie damit ein ganz neues, reges geistiges Leben, wenn sie sich auch dort noch mit wenig schöner Wohnung behelfen mußten. Im Frühjahr 1904 weilte ich bei ihnen sieben Wochen und erlebte die wieder nicht ganz einfache Geburt der kleinen Tochter (Emma) mit ihnen und die Taufe, die der Vater selbst vollzog.

Riedels hatten indessen die Garnison (wieder) gewechselt und waren in Posen gelandet. Dort traf sie eine lange, bange Sorge in der Erkrankung von Karl, die mit einer großen Operation im Sommer 1904 in Leipzig endete, wobei ihm die eine Niere herausgenommen werden mußte. Darnach erholte er sich mehrere Monate in Gelnhausen, und seit dieser Zeit habe ich ein ganz besonderes Verhältnis mit diesem Enkel. Im August gab es dann eine große Freude! Carl verlobte sich mit Hedwig Schmid aus Augsburg und ein paar Tage nachher brachte sie uns der Vater schon nach Gelnhausen. Es war am 21. August, meinem Hochzeitstag. Unvergeßlich sind die warmen Worte, die gewechselt wurden und beiderseitig in den eben sich noch so fremden Familien das größte Vertrauen auslösten. Alex, den damals die Liebe auch schon berührt hatte, übertraf sich selbst in seiner Rede auf das junge Ehepaar, Vater Schmid und Carl fanden den schönsten Ausdruck für die glücklichen und hoffnungsreichen Gefühle, die sie erfüllten. Ein längerer Besuch der neuen Tochter im Herbst brachte sie meinem Herzen bald nah und mit Freuden lernte ich darnach ihr elterliches Heim im ehrwürdigen Augsburg kennen. Und dann fand auch Alex seine Sophie und sprach sich ihr aus am 14.2.1905, meinem eigenen Verlobungstag. Ich sah sie zuerst in seiner Wohnung in Gegenwart ihrer Mutter und am nächsten Sonntag besuchte uns die ganze Familie in Gelnhausen, auch Carl kam aus Heidelberg und meine Amsterdamer Geschwister Karl und Ottilie waren dabei.- So war nun der Kreis geschlossen, ich hatte es erlebt, alle meine sechs Kinder mit ihren Erwählten zu sehen und auch das jüngst hinzugekommene Kind fand noch warmen Platz im Mutterherzen.

Hochzeit Carls27 mit Hedwig Schmid28

Im März 1905 zog ich dann mit allen meinen Kindern zur Hochzeit nach Augsburg, und wir wurden überaus glänzend dort aufgenommen und bewirtet. Unvergeßlich ist mir besonders der Blumenflor, der einen ganzen südlichen Frühling in den Hochzeitssaal zauberte. Als das schöne Fest

Carl und Hedwig Becker 1908 in Gelnhausen
Carl und Hedwig Becker 1908 in Gelnhausen

in vollster Harmonie verklungen war, verbrachte ich mit den Kindern noch zwei schöne Tage in München und begrüßte die lieben Rehbocks, mit denen ich dann weiter nach Süden reiste, während die andern in allen Richtungen ihrer Heimat zueilten. Wir waren damals am Gardasee, in Riva, Gardone, Rovereno, vorher hatten wir Bozen und Meran besucht und verweilten nachher am Comer See in der Villa Serbelloni. Ich fuhr allein über den Gotthard zurück, um rechtzeitig zur kupfernen Hochzeit der Blumensteins in Mühlhausen zu sein. Von dort fuhr ich über Gelnhausen nach Weimar zum Besuch der alten Freunde Hertz und weiter nach Posen29, wo ich mich an Riedels schöner Wohnung und ihrer freien Lage mit Aussicht auf gepflegten Park freuen konnte, auch genoß ich ihr schönes Familienleben und interessierte mich für die dortigen polnischen Verhältnisse, wünschte ihnen aber doch schönere Umgebung und mir größere Nähe.

Über Liegnitz, wo ich eine Woche zum Besuch meines Bruders und seiner Familie blieb, und über Berlin, wo ich zwei Tage in einer netten Pension verbrachte, weil alle Hôtels bei Gelegenheit des Einzugs des Kronprinzen überfüllt waren, – reiste ich nach Osterholz, genoß dort beim schönsten Sommerwetter Eltern, Kinder, Haus und Garten und kehrte endlich in die Villa zurück, die unterdessen ein neues Kleid angezogen hatte und durch Restauration des Treppenhauses sehr an Schönheit gewonnen hatte und so würdig geworden war, die anspruchsvolle Frankfurter Gesellschaft zu Alex´ Polterabend zu empfangen.

Hochzeit von Alex mit Sophie

Dieser fand am 29.Juni 1905 statt. Leider fehlten dabei Riedels und Hedwig Blumenstein. Mit Extrazug kamen die Gäste um 4 Uhr an, es gab Aufführungen die Menge, Tee und Nachtessen im Freien mit großem Bogenlicht, Tanz, Gesangverein und bengalische Beleuchtung. Am 1. Juli war die Hochzeit im Frankfurter Hof, ein schönes Fest, nur leider etwas beeinträchtigt durch die abnorme Hitze. Ein erfreulicher Anblick war am nächsten Tag in Gelnhausen das neue Ehepärchen, das im Automobil nach Eisenach wollte und von der Familie Landrat abgefangen wurde. Die andern Kinder waren von Frankfurt aus heimgekehrt, auch Blumensteins, die zum Hochzeitstag gekommen waren.

Im Sommer darauf erfreute mich der Anblick von zwei neuen Beckersprossen, Walter und Joachim, und so war in allen meinen Kinderhäusern so rasch wie möglich Kindersegen eingekehrt, auf den ich so lange vergebens hatte warten müssen, und als am 21. August der Tag wiederkehrte, an dem ich vor 50 Jahren als glückselige Braut am Altar gestanden hatte, zählte ich 14 Enkel. Alle Kinder waren zu dem Tag, erschienen, Dora noch ganz überraschend aus weiter Ferne, leider mußten Hans und Else fehlen.

Julie Becker (Schöffer) ca. 1910 mit den Enkeln Carl, Hans, Theo und Paul Riedel; Cilly, Lilly und Carola von Blumenstein; Harry und Ully Becker vor der Villa
Julie Becker (Schöffer) ca. 1910 mit den Enkeln Carl, Hans, Theo und Paul Riedel; Cilly, Lilly und Carola von Blumenstein; Harry und Ully Becker vor der Villa

Früh zogen wir alle auf den Friedhof und gedachten in Wehmut des liebevollen Gatten und Vaters und brachten ihm die Kränze, die vorher sein Bild geschmückt, als Carl in innig warmen Worten den Gefühlen seiner Geschwister Ausdruck gab. Wie reich fühlte ich mich da wieder im Hinblick auf so viel früher genossene und so viel gegenwärtige Liebe. Als wir zurückkehrten, stand neben des Vaters Bild der prächtige Orchideenstrauß mit goldenen Ähren, mit denen die noch lebende Mutter erfreut wurde und wie glücklich fühlte sie sich, daß auch sie den Kindern allen eine unerwartete Überraschung bereiten konnte. Ich hatte den reichen Smaragdschmuck, den ich seit meiner kupfernen Hochzeit viel und oft getragen, zerlegen lassen, und jede Tochter erhielt einen Teil davon. Der ganze Tag verging in gehobener Stimmung und in froher Betrachtung, daß der Spruch, den ich vor 50 Jahren erhalten hatte, sich bewährt hatte in Leid und Freude, im Leben und im Tode, in Eltern und Kinder:
„Die Liebe höret nimmer auf!“

Nach diesem Silberblick für uns alle nahten trübe Zeiten. Zwar brachte der Herbst noch eine große Freude, Hans bekam das Regiment in Offenbach, und die Tochter, die mir so lange die fernste gewesen, kam so in meine nächste Nähe, und von da an konnte ich sie und die ganze liebe Familie viel um mich haben, und ich genieße dies sehr, besonders nachdem der schwere Anfang überwunden und sich Doras Nerven durch einen Aufenthalt in der Schweiz gestärkt hatten und sie sich in der neuen bevorzugten Stellung glücklich fühlte. Aber meine bis dahin recht gute Gesundheit kam ins Wanken, ein geheimnisvolles Leiden befiel mich und da es nicht erkannt wurde, behandelte man mich irrtümlich neun Monate auf Gicht. Der Jahresschluß war traurig, denn ich litt viele Schmerzen und die Entziehung der gewohnten kräftigen Nahrung ließ mich abmagern, die verkehrten Mittel verschlimmerten den Zustand. Im Februar 1907 trat Erleichterung ein durch die Öffnung eines Abszesses innen im Hals, aber sie war vorübergehend, und im April stellte sich durch Röntgenbestrahlung klar, daß der Abzeß im Hals ein sekundärer Prozeß gewesen, die Entleerung eines Halswirbels, der ganz vereitert gewesen war. Gleichzeitig wurde konstatiert, daß sich keine Spur von Gicht im Körper befand. Die Substanz des Wirbels mußte sich ersetzen, und dazu dieser durch das Tragen eines Apparates bei Tag und bei Nacht gestützt und geschützt werden. Wohl verschwanden die Schmerzen, aber große Unannehmlichkeiten mußten ertragen, unendliche Geduld geübt werden, Essen, Lesen, Schreiben wie neu erlernt werden und Abhängigkeit von andern war das Schwerste bei allem. Auch war ich ein Jahr lang an die Scholle gebunden und durfte nur im Herbst zwei Monate nach Frankfurt. Im Jahre 1908 wurde der Zustand leichter und allmählich konnte der Apparat am Tag ausgelassen werden, 1 – 4 Stunden und später bis zu 8 Stunden, im Frühjahr 1909 werde ich ihn vielleicht noch einmal ganz los. Noch war ich recht leidend im Sommer 1907, und alle Kinder wetteiferten, mir Liebes zu erweisen und mir die schwere Zeit zu erleichtern, da wollte es das Schicksal, daß sie mir noch ganz besonders erschwert werden sollte. Im Juli brach eine Epidemie in der Villa aus, an der nicht weniger als 27 Personen teils schwer erkrankten und mit Fieber ins Bett mußten. Es war eine Angina, die an Diphtherie streifte. Einmal lagen 8 Personen gleichzeitig zu Bett, das

Else Becker 1908 mit Ully und Harry
Else Becker 1908 mit Ully und Harry

Ehepaar Michaelis, die ganze Familie Ferdinand und drei Dienstboten. Nachdem 18 Kranke wieder hergestellt und alle Zimmer gründlich desinfiziert waren, reisten die meisten ab und die Familien Carl und Alex zogen mit Freuden ein, hatten sie doch 14 Tage darauf gewartet. Da fing die Sache von neuem an, und es erkrankten 9 Personen, darunter Carl und Alex recht heftig. Jetzt erfuhr ich durch das therapeutische Institut in Frankfurt, an das ich mich in Verzweiflung mit der Frage gewandt hatte, denn irgendwo müsse doch ein verborgener Herd für solche hartnäckige Krankheit sein, – daß alle äußere Desinfektion überflüssig sei. Die Bakterien säßen in dem Speichel der Kranken und Rekonvaleszenten noch wochenlang, diese müßten desinfiziert werden. Hierauf schluckten 20 Personen, die im Hause waren, Formamint, und die Sache hatte ein Ende. Über sechs Wochen hatte sie mir die schwersten Sorgen gebracht, und die ganze Villa war mir verleidet. Ich durfte meines geschwächten Zustandes wegen nicht pflegen, mußte mich fern halten und saß traurig sehr viel allein, und war oft einer Depression nahe, wie sie damals gerade meine Emma befallen hatte, weil eine geistige Überarbeitung und allerhand Sorgen – ich nenne außer meiner Erkrankung nur noch die für ihren Mann notwendig gewordene Operation in Freiburg – ihre Nerven heruntergebracht hatten. Sie war damals in Konstanz und alle Kinder bei mir und – krank! Dazu regnete es sehr viel und war kalt, wie im Spätherbst. Als dieser kam, entschädigte er für manches, Emma kehrte gesund und frisch wieder, und beständiger Sonnenschein beglückte uns. Als uns da Weihnachtsfest vereinte, ging es mir sehr viel besser. Ich konnte vergnügt mit meinen Kindern feiern und hatte außer Carls und Michaelisens alle um mich, Ernst war vollständig genesen, und wir freuten uns des wiedergeschenkten Glückes. Im Frühjahr verlebte ich einige Wochen in Frankfurt im neu gebauten Hospiz und durfte dann Frida in Metz besuchen. Sie hatte auch Schweres durchgemacht. Am selben Abend, als sie in das ersehnte neue Haus einzog, erkrankte ihr Otfried sehr schwer an Lungenentzündung und schwebte acht Tage lang in großer Lebensgefahr. Die Eltern sahen, daß ihn der Arzt schon verloren gab und rangen nach Ergebung, wagten kaum zu glauben, daß die schwere Prüfung glücklich vorüberzog. Dann aber war die Freude groß und alle kleinen Leiden, die noch folgten, wurden für gar nichts geachtet. Nur zehn Tage konnte ich verweilen, genoß aber mit das neugewonnene Glück und das schöne neue Heim.

Auch dieser Sommer schien unerfreulich werden zu wollen. Ein Scharlachfall im Gärtnerhaus hielt Alexens und die Töchter Blumenstein, die die Pfingstferien mit mir verbringen sollten, fern, aber Familie Riedel und die beiden Ernsten kehrten ein. Emma sollte folgen, jedoch ein leichter Rückfall der vor- jährigen Krankheit machte einen Aufenthalt in (Kassel-) Wilhelmshöhe nötig. Als bald bessere Berichte kamen und dieser Druck von mir genommen war, genoß ich einen schönen reichen Sommer, wie so viele nun schon in der Villa vorübergezogen sind mit glücklichen Kindern und Enkeln, von denen wochenlang 10 auf einmal im Hause waren. Zwar war auch diesmal der August sehr regnerisch, aber wir merkten es kaum, denn wir waren gesund und ohne Sorgen. Als alle geschieden waren, auch mein Neffe Heinrich Schöffer, der meinem Herzen besonders nahe steht, von langer Krankheit sich erholt hatte, durfte ich die Reise nach Osterholz wagen und verlebte dort vier wunderschöne Wochen. Wie wohl war es mir in dem gesegneten Kinderhaus, im trauten Verkehr mit den frohen, glücklichen und fleißigen Menschen. Und das alles fand ich dann wieder, als ich in Hamburg einkehrte, wohin Carl im Oktober als Professor an das neu gegründete Kolonialinstitut unter den angenehmsten Bedingungen berufen worden war. Ich fand ihn schon in voller Tätigkeit und freute mich an der schönen Stellung, die er errungen hat, an der vollen Befriedigung, die ihm sein Wirken gibt, an dem neuen reizenden Haus und seiner ange- nehmen, stillen Lage fern vom Getöse der Großstadt, an der sorgsamen Hausfrau und den süßen Kindern.

Else Becker 1910 in Osterholz
Else Becker 1910 in Osterholz

Hier erreichte mich die Nachricht, daß Blumensteins nach Thorn30 versetzt sind und somit in weite Ferne ziehen. Wir haben indessen die Nähe der letzten 7 Jahre recht gründlich ausgenutzt, es gefällt ihnen in Thorn und sie sind noch jung genug, das Reisen nicht zu scheuen.

Ein alter griechischer Philosoph hat gesagt: man solle keinen Menschen glücklich preisen vor seinem Tode, und wenn ich bedenke, wie viel ich noch besitze und wieviel mir noch genommen werden kann, dann könnte es mich wohl verzagt machen: Zwölf liebe Kinder, 16 blühende Enkel, liebe Verwandte und Freunde, wiedergeschenkte Gesundheit, leidliche körperliche und geistige Kräfte, Erinnerungen, die mich freuen und ohne Schmerzen zu verzichten auf das, was nicht erreichbar ist, und wie man im Herbst dankbarer ist als im Frühling und im Sommer jeden sonnigen Tag genießt, so freue ich mich des Reichtums der Gegenwart und lasse ihn mir nur vorübergehend trüben, denn auch im Alter webt sich das Menschenleben aus Freuden und Schmerzen und nur zu oft überwiegen die letzteren. Aber von der hohen Warte meiner 70 Jahre darf ich mich doch glücklich preisen, auch wenn das tiefste Leid mich nicht verschont hat, denn was Vergangenheit geworden ist, kann uns niemand mehr rauben, es sei denn, daß Erinnerung erlischt! So lange aber diese mir bleibt, werde ich nie ganz unglücklich sein können.

Ully, Lilly, Harry; dahinter Theo und Zilly in Gelnhausen, 1910
Ully, Lilly, Harry; dahinter Theo und Zilly in Gelnhausen, 1910

Oft vertiefe ich mich in den Werdegang der einzelnen Kinder. Ich weiß, sie haben geirrt und gefehlt, denn ich genoß stets ihr Vertrauen, aber alle sind sie doch tüchtige Menschen geworden, füllen ihren Platz aus in der Welt, können ihren Kindern weitergeben, was Gutes in unserer Erziehung gewesen und besser machen, was mangelhaft darin war.- Ein ander Mal gedenke ich an sie alle gemeinsam, an das schöne Familienzusammensein in ihrer Kindheit und Jugend und erlebe die einzelnen Phasen ihrer Entwicklung nun wieder im Zusammenleben mit den Enkeln zum zweiten Mal. Ich lasse die Merktage und frohen Feste an mir vorüberziehen, die das Leben mir gebracht, ganz besonders die meist so schön verlebten Weihnachtsferien. Aus der Kindheit ragt als erste die aus dem Schreckensjahr 1848 hervor. Die schweren Sorgen meiner Eltern waren vorüber, aber lang hatten sie geglaubt, vielleicht den Kindern in Armut bescheren zu müssen, das veranlaßte sie auch, die Kinder zu prüfen. Als es klingelte, stand nur ein einzig Bäumchen da mit bescheidenem Schmuck und wenigen kleinen Geschenken, aber die Kinder merkten es gar nicht und waren zufrieden. Ein goldenes Briefchen am Baum belehrte sie, daß sie besseres suchen durften. In alle Zimmer wurde eingeguckt und in einem ganz entlegenen eine wahre Märchenbescherung gefunden. Ich sehe noch meine Puppe mit wirklichem Haar im grünen Kleid und daneben noch ein rosa und ein blaues, ein sehr grobes Plackbilderbuch, auf der Mitte der letzten Seite ein einziges ganz kleines Männchen! Ich sehe auch noch die schöne gotische Kirche, von innen beleuchtet, die der Hausfreund Carl Becker künstlich geschnitten hatte. Später folgen dann die Weihnachten, wo aller Reichtum und alle Schönheit von Geschenken lagen und tiefer Schmerz und heiße Sehnsucht nach Kinderfreuden mich erfüllten. Und endlich! Da sehen zwei liebe kleine Augen träumerisch in die Lichter des Baumes, im nächsten Jahr jubelte schon das Kind über sein Püppchen und lief hinter dem Schäfchen her, dann waren zwei Kinder, dann drei, vier, fünf und zuletzt sechse!- Und wie war der Vater dann immer mit den Kindern, wie dachte er immer neues aus und arbeitete selbst daran. Man denke nur an das Häuschen, das er gebaut, die Seligkeit aller Generationen, die Bühne für so manche Kindervorstellung. Man denke auch an das heitere Bild, als der erste große Ziegenbock für Ferdinand in den Weihnachtssaal auf den Hinterbeinen, prächtig aufgezäumt, hereinspazierte, die alte Naatje hinterdrein mit Schippchen und Besen! Nur einmal war ich von meinem Mann getrennt am Heiligen Abend, als seine Schwester Sophie, die Hüterin seiner Kindheit, starb. Und als wir zum letzten Mal feierten, da war es unter der schweren Wolke der ewigen Trennung. Aber er lebt weiter in uns, und seit die Feier in Gelnhausen ist, wird seiner stets in tiefer Dankbarkeit gedacht.- Noch anderes bringt Erinnerung zurück, das reiche Leben mit so vielen Freunden, die Liebe und das Vertrauen, das ich so vielfach genossen, manches dahin-geschwundene, reiche Glück lebt wieder auf, auch großes, tiefes Leiden, tragisches Schicksal, das wir, mein Mann und ich mit getragen und manchmal auch haben lindern können. Zuweilen gedenke ich auch der Reisen, die ich gemacht. Erst ein halbes Jahr alt, fuhr ich den Rhein herauf und wenn es zu Land ging, prangte die Wiege oben auf dem Wagen, die Großeltern in Frankfurt und Gelnhausen freuten sich über mich, und die 91 Jahre alte Urgroßmutter Schöffer trug mich freudestrahlend umher und segnete mich. In jedem Jahr fast reisten wir nach Deutschland, hielten uns auch am Rhein einige Tage auf, waren in der Pfalz und in der Schweiz mit den Eltern. Nach der Hochzeitsreise folgte in jedem Sommer eine oder gar zwei Reisen und einmal brachten Carl und ich zwanzig Millionen Gulden nach Paris; damals schenkte mir Baron James Rothschild ein schönes Armband und lud uns zu Tisch, und durch seine Vermittlung sahen wir in nächster Nähe den Kaiser der Franzosen, seine bildschöne Gemahlin am Arm und hinter ihm auf dem Arm der Wärterin den kleinen Prinzen Lulu freundlich mit den Händen uns zuwinkend. Oft und viel besuchten wir die Verwandten und waren besonders häufig in Darmstadt, so auch im Jahr 1862 mehrere Wochen und die ganze Weihnachtszeit nach dem toten Söhnchen. Innige Freundschaft verband mich besonders mit dem Vater meiner Schwägerin, dem alten Geheimrat Maurer, einem bedeutendem und liebenswürdigem Mann. Es war ein Verhältnis wie zwischen Goethe und Bettina, und waren wir auch keine so großen Geister, ebenso beglückt hat es uns doch und über 300 Briefe haben wir gewechselt.

Als die Kinder kamen, wurde das Reisen weniger, nur führte es uns jedes Jahr in die Villa nach Gelnhausen, dann reisten wir auch mit den Kindern, bis zuletzt ich noch einmal mit meinem alten Mann einen vergnügten Ausflug nach Heilbronn, Schwäbisch-Hall und ins schöne Cromburg machte. Es war die letzte gemeinsame Reise.

Und während so mein Leben in Freude und Leid dahinfloß, was alles hat sich in der großen Welt, in der man doch auch lebt, zugetragen? Was alles sah ich kommen und gehen! In Preußen mit Bewußtsein sah ich vier Könige, in Deutschland drei Kaiser. In Frankreich sank Louis Philippe vom Thron, die (II.) Republik folgte, das Kaiserreich und wieder die (III.) Republik. In Amsterdam sah ich den Einzug Wilhelms II. (von Oranien) mit seiner ersten Gemahlin und vor ihnen zwei blühende Knaben, der eine starb jung, der Kronprinz als Mann, ein dritter Erbe blieb Idiot, bis auch er dahinsiechte. Ich sah den Einzug des Königs mit seiner zweiten Gemahlin, ein freundliches zierliches, blühendes Wesen, dem man die spätere gewaltige Fülle nicht ansah, und ich war auch dabei, als die jetzige junge Königin einzog. In Rußland sah ich noch Nikolaus auf dem Thron, erlebte die Ermordung Alexanders III. und machte alle Nöte des jetzigen Kaisers mit. Und alles was in anderen Ländern geschah, interessierte mich.

Die Fülle der Geschichte ist zu groß, sie alle auch nur zu berühren. Ich brauche nur die vielen Kriege zu erwähnen, die in diesen 70 Jahren den Erdkreis erschütterten. Aber gedenke ich der Erfindungen, die in dieser Zeit gemacht wurden, dann wird mir warm ums Herz, und ich fühle es: ich lebte doch in einer großen Zeit, einer Zeit, die nicht nur in der Technik Unglaubliches geleistet, sondern auch die Menschen zu höherer Würde erhoben hat.

Und wenn es für mich Abend geworden ist und vielleicht die Nacht bald kommen wird, so hoffe ich bis zuletzt das Gefühl zu behalten, das meine Mutter erfüllte und das sie aussprach und das auch eins der letzten Worte meines Mannes war:

„Das Leben ist doch schön gewesen!“

Letztes Wort an meine Kinder

nach meinem Tode zu lesen.
Gelnhausen, 29.7.1907

Liebe Kinder!

Wenn Ihr diese Zeilen lesen werdet, bin ich nicht mehr! Welch ernstes, inhaltsschweres Wort! Ihr werdet traurig sein, wenn ich geschieden bin bei verhältnismäßig noch frischer Geisteskraft, vielleicht auch erleichtert, wenn schwere Leiden, vielleicht gar Seelenstörungen vorangegangen sind. Auf alle Fälle aber sollt Ihr noch dieses Wort des Dankes finden, für die viele Liebe, die Ihr mir immer wieder aufs Neue bewiesen habt und die meinem Leben Inhalt und reiches Glück gegeben hat.

Ich bin eine glückselige Frau und Mutter gewesen und viel Köstliches habe ich erfahren und was schwer war und oft nicht zu ertragen, es wurde alles wieder überwunden durch die Kraft eines warmen Herzens, das mir die Natur mit- gegeben hat. Es ist etwas Wunderbares um das menschliche Herz. Immer findet wieder ein neues liebendes Wesen darin Platz, so vielen es auch schon Raum gab und so umfaßte es Euch alle, Euch Kinder und Schwiegerkinder und Enkel; ein jedes ist mir teuer und ein beglückender Besitz. Trauert um mich, Ihr Kinder, ein Mutterherz zu verlieren ist ein großer Schmerz, aber trauert nicht lange. Wendet Euch bald wieder frisch und froh dem Leben und Euren Pflichten

zu. Wir, die vor Euch waren, wir mußten durch das alles auch durch und auch uns war es oft, als sei die Sonne für immer erloschen, aber sie kam wieder und strahlte im alten Glanz. Haltet Eure Nerven hoch, Ihr Töchter, und gebt dem Schmerz nicht zu lange Raum. Wohl sind wir alle den ehernen Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen. Wir sollen es bedenken, aber in Treue und Ausdauer uns dem hingeben, was dazwischen liegt, damit unser Wirken und Streben nicht erlahmt und wir weiterbauen am Glück unserer Kinder und unserer Nächsten. Und glaubt mir, wenn auch Ihr älter oder alt geworden, es gibt kein größeres Glück als das, andere Glücklich zu sehen. Wer das erreicht, sieht ohne Schmerzen die Jugend und die Jahre schwinden, er hat ein neues Fundament für sein Dasein gefunden, – entbehrt nicht mehr und verzichtet gern auf die Freuden jüngerer Jahre. Ihr sechs Geschwister, schließt Euch nun umso inniger an einander an, auch wenn das Leben sich noch so sehr verzweigt, werdet nicht kalt, helfet Einer dem Andern, wo es möglich ist! Verzichtet nicht darauf, Euch wiederzusehn, Euch immer wieder zu finden in aller teuren Erinnerung an Vergangenes, Euch neu Erlebtes mitzuteilen.

Lebt wohl, Ihr Lieben alle, Ältere, Junge und ganz Kleine! Wie mein Segen Euch bisher begleitet hat, so gehe er mit Euch Euer Leben lang und sei Euch allen dereinst ein friedevoller, sanfter Heimgang beschieden!

Eure Mutter und Großmutter

Julie Becker-Schöffer.


Bert Böhmer, September 2001

Nachwort eines Bewunderers

Die Lektüre dieses Lebensberichts meiner Urgroßmutter hat mich immer wieder beim Lesen fasziniert. Was für eine Entwicklung hat diese 17jährige junge Frau an der Seite meines Urgroßvaters vollzogen! Aus einem gut erzogenen, aber doch nur sehr sporadisch gebildetem Mädchen wurde eine durch das Schicksal gebeutelte, reife, schöne Frau. Aufgewachsen im Hause ihres Vaters, eines Kaffeekönigs, wie sie einmal sagt, in der Amsterdamer Heerengracht, dann als junge Ehefrau des Rothschildbankiers Carl Becker von 1855-1882, dann doch der Umzug nach Frankfurt, weil die väterliche Villa und Sommerresidenz in Gelnhausen schön nah war. Sie hat nie Not leiden müssen im materiellen Sinne, hatte Dienstboten und Erzieher für ihre sechs gesunden Kinder nach vorherigen acht (!) Fehlgeburten. Die freund-schaftliche Bindung an den Amsterdamer Hausarzt muß schon durch die Eltern sehr groß gewesen sein, daß sie dieses Ungemach auf sich genommen hat. Als dann der achte Versuch wiederum scheiterte, begab sie sich in die Obhut der Würzburger Medizinischen Fakultät, reiste mit ihrem Mann nach Italien; und ein Jahr später, nach 9 Jahren Ehe kam endlich das langerwartete erste Töchterchen, bald gefolgt von meinem Großvater Ferdinand und einer weiteren Tochter Emma. Man kann sich so richtig den Stoßseufzer vorstellen, den die glücklichen Eltern ausstießen. Die zweite Serie folgte dann (nach weiteren drei Fehlgeburten!) 1876 mit Carl, 1878 mit Frida und 1879 mit Alexander.

Die Entwicklung der Technik schritt in diesem 19.Jahrhundert rasant voran: so bekam allmählich die Eisenbahn und die Fotografie sowie das Telefon eine zunehmende Bedeu-tung. Die Medizin machte gewaltige Fortschritte gegen Ende des Jahrhunderts; ihren Kindern blieb es erspart, so lange auf die Kinder warten zu müssen, so zu leiden. Ich verweise nur auf die Krankheits berichte.

Aber auch der Krieg spielte eine nicht unwesentliche Rolle im Leben der jungen Frau: sowohl 1866 als auch 1870 war das Haus voller Einquartierung – und die junge Frau genoß es und litt im gleichen Atemzuge darunter. Die Söhne studierten alle Jura bis auf den Jüngsten, der Orientalist und Professor, später auch Kultusminister in Preußen wurde. Leider hat Julie Becker ihren Lebensbericht 1907 enden lassen, obwohl sie erst 1917 starb: gewiß hat es ihr angesichts des Grauens des Ersten Weltkrieges die Sprache verschlagen. Zwei ihrer Schwieger-söhne waren Berufsoffiziere, wobei die Älteste, Dora, 1885 den späteren General Riedel ehelichte, Emma 1892 den späteren Oberst von Blumenstein. Er war es auch, der Unruhe ins Haus brachte durch seinen freiwilligen Einsatz in China 1899/1900. Die Familie war entsetzt über diese Entscheidung, denn die junge Frau blieb mit drei Kindern zurück, wohlbehütet von der Großmutter.

Ferdinand Becker mit Else, Ully – und Horst 1920 in Gelnhausen
Ferdinand Becker mit Else, Ully – und Horst 1920 in Gelnhausen

Interessant verlief auch die Karriere ihres Mannes Carl. Früh zum Kaufmann bestimmt von der Familie, weil die Brüder sich dazu zu fein dünkten und studierten wie der Vater, mußte er, der Jüngste, sich dem Wunsche der Mutter fügen. Er lernte in einem Tuchgeschäft in Frankfurt, ging nach seiner Lehre nach Paris, mußte dem Vater zu Hilfe eilen und Hilfslehrer spielen, obwohl er das gar nicht mochte, und nahm das Angebot von der Firma Rothschild in Amsterdam an, wo er als kleiner Commis begann und nach 10 Jahren im Jahre 1852 Bankier-Chef wurde gemeinsam mit einem Partner. Dazu erhielt er eine Million Spielgeld. Mit diesem Pfunde konnte er zu eigenen Gunsten „wuchern“, so daß er sich nach zwanzig Jahren in den Ruhestand zurückziehen konnte. Natürlich war dieser Ruhestand keiner, aber es blieb doch wesentlich mehr Zeit für die Familie, die sich ja dann auch in den 70er Jahren verdoppelte.

Im Jahre 1897, als meine Mutter Ully geboren wurde, starb Carl an Krebs und mußte in seinen letzten Tagen furchtbar leiden, litt an Halluzinationen, Verfolgungswahn. Es muß für die Ehefrau schrecklich gewesen sein, dieses Mißtrauen des Partners zu überstehen.
Mit viel Tapferkeit und der Unterstützung der Kinder überwand sie den Tod des Gatten. Aber die Italienreise 1898 an jene Stätten, wo sie mit Carl gewesen war, konnte nicht mehr jenen Charme der ersten von 1863 haben …

Kirche von Osterholz
Kirche von Osterholz

So bleibt das Bild einer Frau, die fasziniert war vom Leben ihrer Zeit, die mit ihr gewachsen ist zu fruchtbarer Reife. Sie erlebte hautnah die Kriege um die deutsche Einheit, und gewiß wurde sie auch schon zu einer Deutschen in Holland, wo sie zu den „Moffen“ zählte und darunter litt – nicht zuletzt auch durch den dadurch nötigen Ein-tritt in die Frankfurter Pension 1852, jenem Jahr, in dem Carl procura erhielt in Amsterdam. Sie war keine Preußin, doch wurde Hessen-Nassau 1866 ja von Preußen annektiert, und der Freien Reichsstadt Frankfurt erging es nicht besser. Deutschland ging in Preußen auf bis auf wenige Ausnahmen südlich des Mains.

1870 spielte auch der Telegraf eine gewisse Rolle, denn Carl wollte seine Frau und die Kinder ins neutrale Holland holen, telegra-fierte jedoch vergebens, da das Militär die Leitungen beschlagnahmte. So mußte er sie persönlich holen, wobei es mit der Eisenbahn noch nicht soweit her war und die Kutsche helfen mußte. Immerhin hatte die Villa schon 1868 eine zentrale Heizung, was für diese Zeit außer-gewöhnlich war; doch hatte das Personal gewisse Anlaufschwierigkeiten, sie zu bedienen. Schließlich machte der Jüngste, Alexander, 1905 seine Hochzeitsreise bereits mit dem Automobil. Man sieht, die Kinder gingen mit der Zeit – und das freute dann auch wieder die Mutter, man merkt das an ihren Schilderungen.31


1 Auf dem Linsenberg war das Elternhaus Carl Wilhelm Ferdinands

2 Die Devrients sind eine berühmte Schauspielerfamilie des 19. Jahrhundert. Hier handelt es sich wohl um den Sohn Emil Devrients (+1832). Die Nachkommen sind heute durch Emma geb. Michaelis mit dem Herausgeber verwandt; sie heiratete Walter D., einen Diplomingenieur, dessen drei Kinder wiederum alle sehr künstlerisch begabt sind. Ursel studierte Musik, Hanna Kunstgeschichte (mit beiden ging der Hg. in eine Klasse zwischen 1948-51) und Joachim ebenfalls Musik.

3 Ernest Renan,1823-1892, Orientalist und Schriftsteller. Sein Hauptwerk ist die Histoire des origines au Christianisme in 8(!) Bänden

4 Conrad Heinrich Schöffer, 1815-1878, Kaufmann und Konsul in Amsterdam, verheiratet mit Dorothea Catharina Hofmann, 1818-1893

5 Emma Schöffer verh. Rehbock 1842-1902?

6 Heinrich Schöffer *1840, Kaufmann in Hamburg und Liegnitz

7 Carl Schöffer 1841 –xxxx, Kaufmann in Amsterdam

8 Im Kladderadatsch heißt kurz vor dem Krieg in einer kleinen Szene aus der Wirklichkeit:

Exzellenz: Nun, mein Sohn, freust du dich auf einen tüchtigen Krieg?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Ich hoffe, Jungens, ihr werdet euch alle gut schlagen!
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Hast du ein Herz für dein deutsches Vaterland?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Du bist wohl ein Pommer?
Füsilier: Ich sein Litauer, sprech wenik Deutsch!

9 Eine Formulierung des konservativen Abgeordneten Hermann Wagener bei der Debatte über den Haushalt des Kriegsministeriums im preußischen Abgeordnetenhaus am 10.12.1866

10 Bismarck erstrebte die Führung Preußens im Deutschen Bund mit oder gegen Österreich. Nach dem Erfolg im Deutsch-Dänischen Krieg kommt es zur Besetzung Schleswigs (P) und Holsteins (Ö) durch Preußen und Österreich – und auch bald zum Streit Napoleon III. hofft zu profitieren und begünstigt Preußens Bündnis mit Italien.
1866 kapituliert das bundestreue Hannover nach der Schlacht von Langensalza, während Moltke bei Königgrätz siegt. Österreich verliert Venetien; Deutscher Bund wird aufgelöst; Preußen annektiert alle gegnerischen Staaten nördlich der Mainlinie außer Sachsen und Hessen-Darmstadt (Verwandtschaft zum Zaren) und Oldenburg.

11 Hessen-Nassau, in dem Gelnhausen lag, ebenso wie Frankfurt wurden preußisch; erstaunlich, dass die Verfasserin keinerlei Bedauern zeigt. Im Gegenteil!

12 Über die Reichsgründung und ihre Folgen für die deutsche Politik bis 1945 brauche ich mich nicht weiter auszulassen: die Einheit, so wurde deutlich, hatte über die Freiheit gesiegt – ganz anders als die Revolutionäre von 1848 es erstrebten. Viele gingen damals in die USA (Carl Schurz), in die Schweiz, andere passten sich an wie Richard Wagner, der zum Hofkomponisten Ludwigs II. von Bayern mutierte.

13 Friedrich Adolf Trendelenburg, Philosoph, 1802-1872. Vertreter der neuaristotelischen Philosophie an der Berliner Universität

14 Hans Riedel *1856

15 Emma Schöffer 1868-1922

16 Ernst von Blumenstein brachte es bis zum Oberst

17 Zilli und Lilli von Blumenstein

18 Else Bieder 1876-1940

19 Ferdinand Becker 1866-1947

20 Harry Becker 1895-1917

21 „Ully“ Julie Becker verh. Böhmer 1897-1993

22 1900 fand der „Boxeraufstand“ in China statt. Internationale Truppen unter dem Befehl des deutschen Grafen Waldersee eroberten Peking Kanzler Bülow forcierte seinerzeit die deutsche „Weltpolitik“, während Wilhelm II. bei der Verabschiedung der Truppen in Bremerhaven seine berüchtigte „Hunnenrede“ hielt.

23 Der jüngste Becker-Sohn 1879-1939, Kaufmann in Frankfurt/Main

24 Frida Michaelis geb. Becker 1878-1933 ist die Mutter von Emma Michaelis verh. Devrient in Weimar

25 Otto Michaelis war Pfarrer, bis 1918 in Metz, dann in Weimar Am Jakobskirchhof! Nach 1945 Oberkirchenrat in Franken

26 Bischofsstadt in Lothringen, 1871 annektiert und mit dem Elsaß als Reichslande verwaltet bis 1911, dann Selbstverwaltung

27 Carl Becker 1876-1933. Orientalist, Professor in Hamburg,Bonn und Berlin. Kultusminister in Preußen 1925-1930

28 Hedwig Schmid aus Augsburg. Vater Schmid war dort Bankdirektor

29 Posen kam durch die 3. Polnische Teilung 1795 an Preußen und wurde Südpreußen genannt. Heute hat Posen über 500 000 Einwohner, ist Sitz eines Erzbischofs und einer Universität

30 Thorn liegt in Pommern-Kujawien an der Weichsel, heute über 200 000 Einwohner, Bischof, Universität und Offiziershochschule

31 Der Großvater verwaltete die Villa noch bis den 2.Weltkrieg hinein, dann verkaufte er sie an die Diakonischen Werke, die dort heute das Burkhardt-Haus führen. Der Familie Schöffer-Becker gehört nur noch der Alte Friedhof am Stadtpark.

Harro Siegel, II.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1922

146. Harro Siegel an C.H.B. (Berlin?) 18.5.1922

Lieber Carl!

Das scheint nun freilich eine recht unruhige Zeit für Dich gewesen zu sein (schönen Dank für Deine Karte); als Schauobjekt denke ich mir das ungeheuer anziehend; ich möchte Dir aber wünschen, daß Du rein äußerlich immer die nötige Distanz hattest. Innerlich – das brauche ich Dir ja nicht zu wünschen. Du wirst schon die rechte Klappe zugemacht haben. Hoffentlich lerne ich das auch noch mal. Pompöse Festlichkeiten pflegen mich zu langweilen oder zu dégoûtieren. Freilich, – in Italien wird alles anders sein. Sicherlich verstehen die Leute dort so was besser.

Vielleicht ist es Dir nun nicht ganz unwillkommen, nach diesem Wirbel in Deiner stilleren Zeit in Venedig nochmals einen Brief von mir zu bekommen. Welch angenehmer Zeitvertreib für mich, während meiner stupiden Tagesarbeit mir diese Deine Reise einzuinhalieren.

Du hast sicherlich am letzten Sonntag mal darüber nachgedacht, was W(endé?). und was ich zur selben Stunde wohl unternehmen möchten. Ob Du aber auf das geraten hast, was Dir unsere Karte verriet? – Dieser Spaziergang war wirklich wundervoll. Weißt Du, -in der Erfüllung von Realitäten haben W. und ich uns dank gleicher schwerflüssiger Anlage wenig zu sagen gewußt. Aber dies unter allem mitschwingende Gefühl unbedingten gegenseitigen Verstehens und Vertrauens ist mir so wohltuend. Ich bezweifle übrigens nicht, daß es ihm ebenso geht. Ich weiß nicht, ob Schicksalsgemeinschaft nun immer (weggelocht: so?) mehr pflichtmäßige Bindung mit sich bringen muß, – aber ich glaube hier von beiden nur zu spüren. Auch um dieses Menschen willen tut es mir weh, jetzt hier fortzugehn. Trotzdem glaube ich, daß auch unserem stillschweigenden Verhältnis Jahre der Trennung im Grunde nichts anhaben können.

Ich vergleiche Dein Urteil über Frau W. mit der Realität, verstehe es, mache es aber nicht mit, sondern finde, daß Du ein wenig ungerecht bist.

Mit den Kindern bin ich sehr gut Freund, besonders mit dem Bübchen. Der immer von neuem aufflammende hitzige Strauß um die Plätze an meiner Seite hat mich fröhlich ergötzt. Diese meinen Kindern zugewandte Komponente scheint mir wichtig.

Oberleutnant Hasse (?), der mich frühmorgens vom Lager (weggelocht: juchzte?) ist wirklich ein durch und durch anständiger Kerl, aber ich weiß nicht, ob noch viel mehr. Er scheint mir nicht problemlos, aber auf alle Fälle unproblematisch. (Aber er stand ja auch glänzend mit seinem Vater.)

Das Wetter ist wundervoll, infolgedessen die Stubenhockerei kam noch zu ertragen.

Nun, Schluß! Es ist spät. Viel Geist habe ich nicht mehr zu verschwitzen. Nimm aber zur Kenntnis, daß ich eben meiner Mutter (die ich doch wirklich von Herzen liebe) zum Geburtstag nur drei weitgeschriebene Seiten schrieb, – und nun dieses!

Ich bin Dein Harro.

 

147. C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18./19.5.1922

Ganz persönlich

Mein liebster Harro!

Das war ein guter Brief, den Du mir da geschrieben hast. Aus der ganzen Schwere Deines Herzens heraus konzipiert trug er den Stempel eines ernsten Ringens, Unaussprechliches in verständliche Worte zu kleiden. Ich glaube Dich verstanden zu haben. Auch den ersten stammelnden Versuch, Dich auszudrücken, hatte ich richtig erfaßt. Ebenso eine zweite Äußerung einmal in meinem Vorzimmer und jetzt dieser Brief. Ich weiß, daß ich Dich nicht ganz habe, aber nicht, weil Du Dich nicht hast, sondern wohl aus anderen Gründen. Ich kann so etwas nicht schreiben. Letzte Dinge kann man nicht durch Niederschreiben objektivieren. Man kann sie wohl aussprechen. Aber dadurch geht ein letzter Hauch verloren, aber es bleibt dafür eine starke Gewißheit. Die Gewißheit der Niederschrift ist so brutal, weil sie übertragbar wird. Der Brief kann in andere Hände fallen und so etwas darf und soll nur zwischen Dir und mir sein. Ich bin nur frei im Gefühl und im Erleben. Schon das Wort wird zur Hemmung, die Schrift zur Schranke. Denke an den schönen arab(ischen) Vers, den Ritter Dir schrieb und den ich Dir übersetzte. Wir müssen noch einmal eine stille Stunde miteinander haben, wo wir beide bereit und offen sind über uns zu reden. Hier wäre ich’s . Wie oft sehe ich Dich hier an meiner Seite stehen. Was ich in diesen letzten Tagen an schönen und eigenartigen Eindrücken aufgenommen habe, ist einfach unerhört.

In Padua1

Erst das Erlebnis der Piazza. Der Student beherrscht die Stadt, die Straße. Dabei ein Frohsinn, eine Leichtigkeit und bei aller Tollheit eine Disziplin und letzte Liebenswürdigkeit, die mit allem versöhnt. Dabei spielt der Alkohol keine Rolle.

Dann die gewaltige internationale Demonstration im Salon2e. Man erlebt eine Nation und

eine res publica gentium. Die Masse tost und die Masse schweigt, in Stille und Ehrfurcht. König, Kardinal, Militär, 100te und Aberhunderte von Akademikern in schillernder Farbenpracht. Eviva il Ré.

Ein alter köstlicher Palast größten Styls. Der noch heute reiche Graf gibt ein Abendfest. In den prächtigen alten Räumen eine riesige Gesellschaft, alle Paduaner in Tracht des (Sette) Cento. Köstlicher Garten mit herrlichen alten Zedern und Platanen. Diskrete grüne Beleuchtung und kunstvolle Ornamentik mit roten Öllampen entsprechend der Architektur der Galerien und Balkone und Pavillons. Ich liebe die italien(ischen) Nächte im allgem(einen) nicht. Aber das war ein Traum, den man nicht vergißt.

Herrlicher alter Park, Styl Schwetzingen oder Belvedere. Alte Kastanien, entzückende Durchblicke. 430 Personen werden an langen Tischen gespeist und dann wandelt man in diesen Alleen. Mittags zwischen 1 und 3 (Uhr) sonnig und doch kühl. Köstliche Weine. Lauschige Gänge und Lauben, blühende Rosen und Glyzinien. Fresken von Tiepolo.3

In Venedig

Canal della Linderra(?), das Boot kommt in die Lagune. Man biegt um die Ecke. Rechts die graziöse Santa Marie Maggiore, links der Marcusplatz und der Palazzo Ducale4 weiß und glänzend, fast rosarot in der Sonne, das Wasser und der Himmel blau – alles ganz unwahrscheinlich und doch wahr.

Marcusplatz, Abends, Dunkelheit, eine angenehme Menschenmenge wogt hin und her, eine Musikkapelle spielt, wie nun Italiener spielen, eine Kette von Studenten mit bunten bengalischen Fackeln stürzt in die Menge, sie umkreisend, das Licht reflektiert auf dem von einem kurzen Gewitterregen feuchten Boden, erhellt die umstehenden Gebäude, aus rosaroten

Wolkennebeln dämmert der Marcusdom hervor.

Im Restaurant, man sucht seine alten Lieblingsspeisen heraus, eine Zuppa, von der man satt wird, oder Risotto oder Spaghetti, Artischocken, gebratene Fische oder gebackenes Allerlei, Käse, getrocknete Südfrüchte, dazu Rotwein und nochmals Rotwein, Cafè nero. Am selben Tisch sitzen Italiener. Ob man will oder nicht, in fünf Minuten ist man mitten in der Politik. Alle Italiener versichern, daß sie ja eigentlich nur mit Österr(eich)5 Krieg geführt hätten und daß sie uns nach wie vor lieben. Das ist keine Phrase. Ehe man sich’s versieht hat man eine Zigarette geschenkt bekommen und man bedauert nur, daß man das Italienisch so barbarisiert.

Draußen am Lido liege ich in den Dünen. Das Meer bricht sich in langen weißen Wellen. Blau wie der Himmel. Ziemlich Einsam. Majestätisch zieht am Horizont die italien(ische) Flotte.

Überall, mein lieber, lieber Harro, habe ich Deiner gedacht und Dich an meine Seite gewünscht. Ich hoffe und weiß, daß auch Du mit mir lebst. Nimm heute mit diesen kurzen Andeutungen vorlieb. Sie sind der Nacht abgerungen. Ich bleibe wohl bis Montag hier und bin wahrscheinlich schon Dienstag Abend in Augsburg, Maximilianstraße 26, bei Geheimrat von Schmid. Vielleicht gehe ich dann noch zu Wende in den Taunus. Eure gemeinsame Karte freute mich sehr.

Ich erhole mich sehr und kann sogar allein sein. Schöner wär’s mit einem Menschen, den man lieb hat, aber sehr lieb. Je lieber man ihn hat, desto schöner wär’s.

Von Herzen Dein Carl.

 

148. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 20.5.1922

Lieber Harro!

Es ist noch immer so schön hier und wir genießen (das) freundliche Wetter herrlich. Heute Murano, die Glasbläserinsel und Mittags San Lazzaro, das armen(ische) Mechitaristen (?) Kloster besucht. Aus Versehen stiegen wir auf einer falschen Insel, dem Irrenhaus, aus und mußten dort 1 Stunde sitzen. Herzl(ichen) Gruß Dein Carl.

PS. Von anderer Hand:

Herr Professor sagte mir eben, daß Sie Verständnis hätten für unser eigentümliches Zusammensein. Am Ende würden Sie gar eifersüchtig sein, wie lieb der Herr Professor mit mir ist.

Recht herzliche Grüße Hans Gladinas (unleserlich).

 

149. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 21.5.1922

Mein lieber Harro!

Hans Gladinas (?) (mitgesendete?) Bemerkung auf der gestrigen Karte habe ich passieren lassen in der Überzeugung, daß Du keinen Mißbrauch damit treibst. Es war ein netter schlichter Jung, der sich mir in rührender Weise anschloß. Obwohl Student in Padua, war er noch nie hier gewesen. So lud ich ihn ein, mit mir zu gehen. Wir waren drei Tage zusammen. Er war gerade das was ich brauchte. Still und behaglich, alles genießend, gesprächig wenn mir’s um Unterhaltung zu tun war – stets eine angenehme Gesellschaft. Jesuitenschüler und auch in

Padua noch in einer Art freiem Pensionat. Es war zu nett zu sehen, wie es ihm immer mehr gefiel und als er eben abfuhr, war ihm ordentlich schwer ums Herz. Du weißt wie ungern ich so etwas unerhört Schönes wie Venedig allein genieße. So hatte ich doppelte Freude davon. Er war gerade in seiner Harmlosigkeit so unendlich ausruhend. Ja, mein Lieber, wenn Du es gewesen wärst! Ich mußte oft daran denken. Das wäre eben ein Märchen gewesen.. Ja, mein Armer. So was im Intimen (wegelocht 2Mal). Bitte dies nicht so liegen lassen.

Dienstag beginnt Rückreise über Gardasee. Von Herzen Dein Carl.

 

150. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 23.5.1922

Lieber Carl!

Ich möchte Dir nur ganz rasch von Herzen für Deinen Brief aus Venedig danken, denn ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme. Er hat mich ungemein erfreut, aber in der Freude verstärkte er auch wieder die Unbefriedigung über Dein Fernsein, und die Begierde, Dich bald selbst wieder zu sehn. Da dies bald der Fall sein wird,, gehe ich nicht weiter darauf ein. Du hast ja Fabelhaftes erlebt und ich bewundere die Kraft Deiner Schilderung.

Wende ist gestern abgereist; besuch ihn doch ja im Taunus und grüß ihn sehr von Herzen von mir. Ich war Sonntag noch mal draußen; es war sehr nett. Für Ende der Woche plane ich zur Zeit noch eine Spritztour nach Hamburg, weiß aber noch nicht, ob ich kann. Im übrigen ist es hier seit Tagen übermäßig heiß, so daß der von der Tagesarbeit schon immer höchst mitgenommene Geist aufs Äußerste reduziert scheint. Deshalb Schluß.

Ich gehöre Dir, soweit ich kann! Dein Harro

P.S. Den Aufsatz von Troeltsch 6(Auf der .<unleserlich> der Wissenschaft) finde ich famos.

 

151. C.H.B. an Harro Siegel, Goslar(?). (Berlin)Steglitz, 1.6.1922

Mein lieber Harro!

Eben kam Deine Karte aus Michendorf (?). Ich freute mich gestern und heute des guten Willens im Gedenken an Dich. Auch in mir klang unser letztes Beisammensein noch lange nach, wenn ich auch ziemlich jäh durch einen Professor herausgerissen wurde, der sein Gehalt erhöht haben wollte und mir eine halbe Stunde etwas vorjammerte. Abends hatte ich dann eine

Aussprache mit Landé, der Dein Buch bis heute noch nicht ausgewickelt hat und es am liebsten so zurückschicken möchte, ohne zu wissen, was es ist. Seit gestern trägt er auch Deinen Brief uneröffnet in seiner Tasche. Er will sich die Illusion nicht nehmen lassen, daß etwas Nettes drinstünde. Hätte er ihn gelesen, dann wäre es mit der Illusion zu Ende. Dabei habe ich ihm bei der Aussprache, als er wieder so den Gekränkten spielte, der von Dir mißhandelt sei, zart aber deutlich angedeutet, worum es sich handelt. Ich fragte ihn zunächst, ob er nicht auch Dich vielleicht „mißhandelt“ habe. Der Gedanke war ihm neu: Noch schöner! Dann aber fand er die Umdrehung köstlich. Erst wurde er mißhandelt und dann solle er noch der Schuldige sein. Natürlich sei er der Schuldige usw. usw. Dann sprach ich ganz allgemein von der Toleranzgrenze, die in solchen menschlichen Beziehungen jeder dem anderen gegenüber habe und fragte ihn, ob er sie Dir gegenüber nie überschritten zu haben glaube. Langsam wurde er hellhörig und dann sehr schmerzhaft. Die naheliegendste Verkettung war diesem Kind und Anfänger in menschlichen Beziehungen nie in den Sinn gekommen. Dann kam der Schmerz in ihm hoch. Das sei ja noch viel schlimmer, nun sei alles kaputt, ich hätte ihm das Letzte zerstört, nun könne er nie wieder einem Menschen näher treten. Er war nüchtern genug zu sagen, ich täte ihm vielleicht damit einen großen Dienst, aber im Augenblick verfluche er ihn. Er kämpfte schwer mit den Thränen und war sehr erschüttert. Er werde den Brief nie aufmachen. Du brauchst das ja nicht zu wissen usw. Gestern und heute war ich dann sehr nett mit ihm. Er ist wieder ruhiger, war heute sogar glückstrahlend über einige Freundlichkeiten des Ministers, und erzählte mir unaufgefordert, daß der Brief eingetroffen. Ich riet ihm, ihn bald zu lesen, er sei sicher zwar hart aber gut und wohltuend. Ich möchte, daß er mit der Sache fertig wird und sich nicht wochenlang mit dem uneröffneten Brief beschäftigt. Ich glaube durch meine übrigens sehr zarte Vorbereitung auch Dir einen Dienst getan zu haben.

Heute las ich mein letztes Colleg. Frau Benecke war allein da und hatte zu arbeiten, zu Tisch hatte ich Gragger, es war sehr nett, friedlich und unaufregend. Zum Schluß kam Richter, der in guter Form ist. Um 5 (Uhr) war dann ein Thee beim Minister mit Damen. Die Kinder spielten gleichzeitig noch einmal die Kindersymphonie für die Studentenhilfe und dann fuhren wir alle fidel im Auto heim.

Wende kommt nun doch heute oder Morgen heim und dann werde ich aller Theorie zum Trotz mit ihm zusammentreffen.

Gestern hätte ich Dich gern da gehabt. Walter war von dem Vater seines Freundes Kuchenthaler (?) eingeladen worden, allein mit s(einem) Freund eine große Reise in die bayer(ischen) Alpen und nach München zu machen. Nach langem Kampf habe ich Nein gesagt. Ich habe Walter ganz offen an meinen Gedankengängen teilnehmen lassen, die Sache kommt mir zu früh, er solle Ruhe haben, solange er auf der Schule ist, bei uns bleiben, Intensivierung statt immer neuer Eindrücke, der Freund will dünn werden, er soll Fett ansetzen, er soll nicht nur von gebratenen Tauben leben usw. Es war Walter natürlich schmerzlich, was ich ihm nicht verdenke, aber er hat es sehr nett getragen. Ich glaube sogar, daß er mir innerlich recht geben mußte. Ich mag diesen reichen Judenmuckel7 nicht, obwohl der Freund selbst ganz famos ist. Mich ärgerte es, daß ich meinen Jungen gegenüber als der versagende Vater erscheinen mußte, nur weil Herrn Kuchenthaler eine Geschäftsreise machen muß, seine Frau nicht allein mit den Kindern sein will und diese deshalb untergebracht werden müssen. Geld spielt keine Rolle, also wird ohne Rücksicht in die Dispositionen anderer Leute eingegriffen. Nun erlaube ich den beiden im Herbst eine bescheidene Fußtour. Dies Herumkutschieren in der Welt mit 16 Jahren mit vollem Portemonnaie, ohne Aufsicht und ohne Zwang zum Sparen, das paßte mir nicht. Ich habe mich dabei wirklich über Walter gefreut und ich will ihm nun auch ein besonderes Bene antun.

Morgen sehe ich auch Wolf Kühn, Montag wickle ich im Ministerium ab, gehe Abends noch mit den Kindern in die „Lustigen Weiber“ in der Hochschule und fahre Dienstag nach Marburg. Nachm(ittags) 3 Uhr werde ich auf der Durchreise in Cassel Deine Geige abgeben. Ich habe Deinem Vater geschrieben, daß er sie abholt oder abholen läßt. So kommt sie noch vor Dir hin.

Alles Gute für Lola8 und Dich. Wie stets von Herzen Dein getreuer Carl.

 

152. C.H.B. an Harro Siegel Im Zug Gießen-Fulda, 6.6.1922

Mein lieber Harro!

Ich will mit dem Ausdruck meiner Anteilnahme bis Gelnh(ausen) warten, zumal ich nun weiß, daß mein ausführlicher Brief nach Goslar auch erst verspätet in Deine Hände kommt. Das Mißgeschick tat mir aufrichtig leid. Es paßte so gar nicht zu Dir und weniger in den harmonischen Abschluß der Berliner Zeit. Ich bin brennend neugierig zu erfahren, was nun eigentlich passiert ist. Dein Vater schien etwas ängstlich. Es war sehr nett, daß die Strecken-panne gerade nach Cassel fiel, so daß wir über eine halbe Stunde sehr nett plaudern konnten. Auch über Deinen kleinen Bruder habe ich mich recht gefreut. Wie wird’s denn wohl zu Hause gehen? Ich denke viel, sehr viel an Dich. Doch das weißt Du ja, auch ohne daß ich es sage.

Der Abschied von Wende war sehr, sehr wohltuend. Wir hatten noch das letzte Mittagessen am Montag zusammen. Es war viel zu berichten – gegenseitig. Und es war alles klar. Abends in der „Lustigen Witwe“ wurde ich noch von Benecke herausgeholt, um mit dem Vorsitzer der Studentenschaft eine wichtige, aber auch menschlich wertvolle Besprechung zu halten.. Die Abreise dann ruhig nach dem Programm.

Vom Aufenthalt in Cassel wirst Du alle Details gehört haben. Ich fuhr mit einem netten jungen Schauspieler aus Berlin allein im Coupé. Er gab sich alle erdenkliche Mühe herauszubekommen, was sein in Theatersachen so fabelhaft versiertes Gegenüber eigentlich wäre. Ich hab’s ihm aber nicht gesagt.

In Marburg wurde ich beim Kurator von Hülsen, einem ganz famosen Menschen, der früher im Ministerium war, reizend aufgenommen. Und überhaupt Marburg! Ist das entzückend! Ich wohnte prachtvoll, das weite Tal unter mir. Gleich nach der Ankunft den Rest des Abends Mannhards Brenson (?), ein ganz neuer Typ von Studenteninternat mit ganz einheitlichem Charakter – eine ganz (unleserlich) Sache. Den nächsten Tag von früh bis Abends Besichtigungen. Diner beim Kurator, Bierabend beim Rektor – Reden usw. wie üblich.

Auch hin und wieder ein starkes persönliches Erlebnis. Habe ich Dir von dem kleinen Wilatzky erzählt? Er erreicht mich, um seinem vollen Herzen Luft zu machen. Eine ganz abenteuerliche Ehegeschichte, nämlich zu Dritt, mit allen nur denkbaren seelischen Feinheiten, in fabelhafter Höhenlage, aber erschütternd. Heute früh fuhr er noch bis Gießen mit, um mich noch etwas auszunutzen. In 2 Stunden bin ich in Bieberstein; Freitag Abend oder Sonnabend früh in Gelnhausen. Eben kommen wir in Fulda an. Leb wohl, mein Lieber! Du wirst wohl auch manchmal an mich denken. Wie stets von Herzen Dein Carl.

 

153. Postkarte von Erich Wende an Harro Siegel. Langeoog, 22.6.1922

Lieber Herr Siegel!

Das Kinderreich, zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, dankt Ihnen durch seinen Vater sehr für Ihre Grüße, Ihre Kunst, Ihre fabelhafte Mäusegeschichte. Sehr interessant! Nur beide Eltern mit den Drei sehen Sie mit herzlichem Bedauern auch von uns gehen, ohne daß wir Sie noch einmal sehen konnten. Denn nun hänge ich natürlich hier an dieser Herrlichkeit fest. Es ist fast so schön wie damals an der Havel. Wie an jenem Tag denken wir an Sie immer in aufrichtiger Anteilnahme. Für Sie das Gleiche. Vielmals Ihr getreuer Wende.

 

154. Postkarte von Harro Siegel an C.H.B. Michendorf/Mark, 30.6.1922

L(ieber) C(arl)!

Es wurde doch mittags 1 Uhr bis wir endlich auf die Wendendorffest (?) kamen. Programmgemäß sind wir bis hierher gelangt und warten nun auf unser Nachtlager. Der Marsch aus Berlin heraus über den Hohenzollerndamm in den Grunewald (?) war sehr merkwürdig. L. läßt grüßen; Ich denke an gestern mittag. Herzlichst Dein Harro.

 

155. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 2.7.1922

Lieber Carl!

Zwar hoffe ich Dich doch morgen noch zu sehen, – aber ich finde gerade mal einen Moment Zeit inmitten dieses turbulenten Daseins, das ganz im Zeichen des (unleserlich)-starken Überfalls aus Holland steht. Wir genießen hier Familien in allen Formen, aber von mir aus könnte nun bald Schluß sein. Ich schreie wieder mal nach Alleinsein.

Gesundheitlich bin ich völlig wieder in Form. Ohne daß es aller ärztlichen Kunst gelungen wäre, dem Übel einen Namen zu geben; lediglich von der Kokkentheorie ist man wieder abgekommen.

Die 14 Tage Sommerfrische in unserem kleinen Waldhäuschen waren wundervoll. Sie bilden ein Kapitel für sich, über das weniger zu reden und noch weniger zu schreiben ist. Wald, Wiese und Sonne und ein großes gegenseitiges Sichverstehen, was braucht es mehr?

Weißt Du, es steht ganz fest bei mir, daß wir beide irgend was dergleichen in nicht zu ferner Zeit auch mal tun müssen. Wieviel näher rücken sich die Seelen, wenn man alles gemeinsam tun muß.

L(andé?). ist jetzt in Elberfeld und wird Dir über Schwöber (?unleserlich, da weggelocht) schreiben. Meine Arbeit beginnt am 7. (Juli?). Der neue Meister – ein Vierziger etwa – macht einen sehr offenen, sympathischen Eindruck; freilich scheinen Grenzschranken etwas überdeutlich die Christentum und nationale Gesinnung zu stehen. Aber was tut das? Ich weiß nichtssagend zu schweigen. Die Werkstatt liegt in der Casseler Altstadt an einem von Fachwerkbauten umgebenen Platz, ist sehr eng und niedrig und starrt – für meine durch Sinnesnerven geschützten und verwöhnten Begriffe – vor Dreck. Auch ist die Arbeit natürlich eine ganz andere, aber sicher von sehr erheblichem praktischen Nutzen.

Etwas, worüber ich immer wieder nachdenken muß, ist die Geschichte mit Landé. Offen

bekannt, – das Schuldgefühl auf meiner Seite steigert (teilweise unleserlich, da weggelocht) sich. Aber es ist ihm mit ratio nicht beizukommen. Daß er dies Erlebnis ausradieren möchte, – es wäre meine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Es hätte sich doch ermöglichen lassen müssen. Die Loslösung so zu gestalten, daß ich ihm nicht dadurch die ganze Erinnerung an unser gemeinsames Wegstück vergiftet wurde. Aber ich war mir – wie meistens – zu schade zu persönlichen Opfern und bin mir nun böse, daß ich ihn zum Beispiel 4 Wochen stillschweigend ohne Gewissensbisse meiden konnte. Schreibe mir bitte immer, wie es ihm geht, und ob er wieder vergnügter wird. Ihm selbst natürlich kein Wort von all diesem.

Ein gezeichneter Briefkopf für Wendes liegt schon seit Tagen hier herum, aber ich komme nicht dazu, ihm ein Wort dazu zu schreiben. Bitte grüße ihn doch sehr von mir.

Auf Spengler bin ich ja wirklich sehr gespannt. Ich hoffe auf eine gute Zeit für H.R (?)bei Dir. Grüße auch ihn. Kommt er denn hierher?

Herzlichst Dein Harro.

 

156. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 9.7.1922

Lieber Carl!

Vorgestern Dein Brief aus Fulda, gestern der Goslarer! Ich danke Dir sehr von Herzen.-

Wenigstens stehe ich jetzt wieder auf, aber in Ordnung ist die Sache noch nicht. Man scheint etwas ratlos und vermutet – wie ich wohl schon schrieb – Streptokokken, die von meinen Stirn- und Kiefergeschichten abgewandert sind. Ich hoffe eigentlich, es kommt an irgend einer erreichbaren Stelle (meinem Kiefer) zu einem akuten Ausbruch, auf daß dann kräftig geschnitten werden kann. Ich glaube schon so etwas zu spüren. Jedenfalls ist an eine Reise mit L9. vorläufig nicht zu denken. Auch muß ich ja sehen, wann der neue Meister meinen Eintritt wünscht. Ich hoffe aber sehr, Dich diesen Sommer noch hier zu sehen, wenn Du R. (?) besuchst.

Außer der Tatsache, daß Ihr Euch ¾ Stunden lang unterhalten hättet, hat mir mein Vater nichts über Euer Zusammentreffen erzählt. Das ist ja seine Gewohnheit so. Dagegen verriet mir Rolf, Ihr hättet Euch „über meine Zukunft beraten!“

Was Du über L(andé) schreibst, geht mir nahe genug. Ich enthalte mich eines Urteils darüber; ob es richtig war, ihn so deutlich gewisse Dinge verstehen zu lassen; er sieht das ja alles anders als wir. Aber es ist ja nun geschehen, und mir ist es deshalb lieb, weil er jetzt vielleicht etwas von seinen Anklagen gegen mich zurücknimmt.

Bei der Briefgeschichte ist mir etwas unklar. Ich hatte nämlich doch noch einen neuen geschrieben, der die ganze Sache nur leichthin streifte. Den hat er sicher bekommen. Aber ich habe jenen ersten vierseitigen nicht vernichtet und finde ihn jetzt unter meinen Sachen nicht mehr. Du erwähnst einmal, in Eurer Aussprache sei von einem uneröffneten Brief von mir die Rede gewesen, – nachher schreibst Du, L(andé) sei ruhiger geworden und „heute erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen.“ Ich könnte daraus entnehmen, er hätte sie beide bekommen. Das wäre mir sehr unangenehm. Kannst Du diese Befürchtung zerstreuen?

Die Kunstausstellung beschäftigt hier die Gemüter enorm. Dieses Entsetzen über die „moderne Kunst“ hat etwas Groteskes, nachdem die eigentliche Woge schon vor 5 Jahren vorübergebraust ist. Was „moderne Kunst“ ist, werden wir in 40-50 Jahren wissen. Ich war nur in der Akademie; Herrgott, ich bin wirklich froh, da heraus zu sein. Diese Sterilität, Krankhaftigkeit, Selbstbeweihräucherung ist widerwärtig. Aber sie meinen, die Augen der Welt ruhten auf ihnen.—10

Professor Witte freute sich über Dein Kommen. Aber geht mit viel zu viel Elan in diese erneute Freundschaft hinein. Ich kenne das schon: Um so schneller kommt der Zwickpunkt, wo ich nicht mehr mit kann.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder. In treuer Anhänglichkeit Dein Harro.

 

157. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 11.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief hat mich etwas mit Sorge erfüllt. Bitte nimm die Kokkensache nicht auf die leichte Schulter. Gewiß kann die Hüftsache rein toxisch, also eine Vergiftungserscheinung sein, ich habe aber bei Bekannten auch ein Überspringen der Streptokokken gerade auf das Becken erlebt und das war eine endlose Geschichte, die zwar schließlich gut ausging, aber eine jahrelange Quälerei mit sich brachte. Also nur nichts vernachlässigen und nur nicht mit einem Feld-Wald-Wiesendoktor sich begnügen, sondern eine wirkliche Autorität rechtzeitig fragen! Demgegenüber tritt die Enttäuschung ganz zurück, Dich jetzt nicht hier zu sehen. Es wäre zu nett gewesen. Vielleicht wird aber mal ein Besuch von Dir (mit der Eisenbahn11) möglich, ehe Du Deine Arbeit aufnimmst. Dann natürlich ohne Lola als reiner Privatbesuch auf meine Kosten. Überleg Dir’s mal.

Rolf hat Dir sachlich richtig, formal nicht ganz korrekt berichtet. Es war keine „Beratung“ über Deine Zukunft“, wohl aber ein Erwähnen Deiner Zukunftsmöglichkeiten, bei dem wir einig waren, daß die Entscheidung ausschließlich bei Dir liegen könne. Alles käme auf Deine Schöpferkraft im Künstlerischen an.

Es tut mir leid, daß Du meine Aussprache mit Landé nur teilweise billigst. Ich glaubte, ihm und Dir einen Dienst zu tun. Du hattest mich ja auch ausdrücklich ermächtigt, daß ich sehr zart und andeutungsweise vorging, versteht sich von selbst.

Was den Brief betrifft, so weiß ich nur von einem, der nach Deiner Abreise eintraf. Ich wußte ja selbst von dem zweiten nichts. Ich hatte mit ihm davon gesprochen, daß er einen Brief erhalten würde, ehe er ihn hatte.; da sagte er, er würde ihn doch nicht öffnen; tags darauf erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen, aber noch uneröffnet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern habe ich ihm herzlich geschrieben. Vielleicht daß er darauf mal reagiert. Wende habe ich gebeten sich ein bißchen um ihn zu kümmern.

Ob ich mir die Kunstausstellung in Cassel besehe? Sie schließt am 1.8.. Vorher komme ich sicher nicht hin. Auch bleibe ich lieber möglichst lang hier. Auf den 3.8. habe ich mir Ritter für 8 Tage nach Steglitz eingeladen, wo ich dann allein mit ihm hausen werde, 2 Tage noch dienstfrei. Das könnte sehr, sehr nett werden.

Hier lebe ich sehr ruhig von Mahlzeit zu Mahlzeit. Morgen reist meine Frau für 8-10 Tage nach Neuwied. Ich lese mancherlei; Brandi über Geschichtswissenschaft, Ritters Picatrix, eine schöne perspektivenreiche Arbeit, und vor allem Spengler II. Das Buch fesselt mich doch sehr, aber es ist eine richtige Arbeit. Einstweilen war noch viel Unruhe, ein Kommen und Gehen, holländischer und englischer Besuch, man verliert noch viel Zeit mit Gesprächen, da sich die Geschwister meist ein Jahr nicht gesehen haben! Gestern machte ich einen schönen Waldgang allein mit meinen zwei Buben; das war ganz besonders nett. Die Landschaft ist doch immer wieder entzückend. Hellmut schwelgt im Spiel mit den Babies, Walter hat Altersgenossen, jeder lebt nach seiner Facon, nur die Mahlzeiten zwingen alle zur Konsumptionsgemeinschaft.

Aus Berlin hatte ich bisher nur eine Karte von Wende. Doch habe ich ihm von unterwegs schon dreimal, und zwar einmal besonders intensiv geschrieben.

Mir geht’s zur Zeit harmonisch; ich lasse schmoren, was schmoren will und soll und freue mich dessen, was ich besitze. Oft und immer wieder wenden sich da meine Gedanken auch zu Dir. Zur Zeit sorge ich mich um Dich. Sieh’, daß ich’s bald nicht mehr brauche.. Grüße Deine Eltern und Rolf, die Meinigen grüßen Dich. Von Herzen Dein Carl.

 

158. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.7.1922

Mein lieber Carl!

Zu Besorgnissen um mich liegt kein Grund mehr vor. Es kann als erwiesen gelten, daß es sich um irgendwelche Kokken gar nicht handelt. Auch geht es mir für gewöhnlich ausgezeichnet, von merkwürdigen plötzlichen Rückfällen abgesehen, deren Unberechenbarkeit mich allerdings leider in meiner Bewegungsfreiheit behindert. Ich hatte beschlossen, mich als Ersatz für die Tour mit L(ola?) noch ein wenig in unser Gartenhäuschen in Wilhelmshöhe zurückzuzie-

hen. Wir wollten dort auf Feldbetten schlafen, selbst das Essen machen, Sonnenbäder nehmen: L. wollte Landschaften malen und ich den Garten bewirtschaften. Aber ausgerechnet auf dem Rückweg von der Inspektion des Grundstücks bekam ich wieder solche Schmerze, daß wir die Idee vorläufig Idee bleiben ließen. Fast bin ich geneigt, an Hysterie zu denken, denn seit diesem tage habe ich wieder nichts mehr gespürt. Auf die nächste Diagnose bin ich gespannt.

Meine Eltern und Geschwister sind sämtlich verreist; ich bin Herr des Schlachtfeldes. Es gelingt mir ohne Mühe, 9-10 Stunden durchzuschlafen; das ist aber auch das Wertvollste, was ich zur Zeit leiste. Zum Lesen fehlt mir die Sammlung; ich gehe spazieren und mache wohlerzogene Antrittsbesuche.

Brief Harro Siegel
Brief Harro Siegel

Für Deine Einladung danke ich Dir sehr, aber ich möchte eine Reise vorläufig nicht wagen. Nächste Woche habe ich noch frei; vielleicht sage ich mich dann noch plötzlich an – die Ausstellung hier bleibt bis zum 28.8. geöffnet; mir scheint sie freilich des Besuchs des Staatssekretärs kaum wert. Um zu einigen wundervollen Thomas und Steinhausens zu gelangen, muß man sich durch mehrere Misthaufen von Manifestationen der Modernisten (unleserlich) durchfressen. Das ist gute, ehrliche Arbeit – wirklich schon sehr selten. Aber, ich habe nichts gesagt,- ich bin nicht Maler – Dein Wort von meiner Schöpferkraft im Künstlerischen tut mir eigentlich weh. Eine Art Künstlertum will ich mir nicht einmal absprechen, – aber Schöpferkraft? Keine Spur.

Wenn ich mir jetzt so meine alten Mappen besehe, so belächle ich einerseits mit leiser Rührung die Unbefangenheit, mit der ich diese Dinge einst bitterernst machte, und andererseits fühle ich mich mehrfach befreit, weil ich das jetzt nicht mehr nötig habe. Herr Witte freilich erzählt den Leuten, dies sei bloß die neuste Koketterie des Grafen. –

Also, ich mißbillige Deine Aussprache mit L(andé) nicht – hinter meinen diesbezüglichen Äußerungen stecken andere Affekte, die sich ungern zeigen wollten; ich weiß nicht, ob ich mit der Konstatierung von Mitleid bei der letzten Staffel angelangt bin. Im Gegenteil danke ich Dir aufrichtig für alles, was Du unternimmst, ihm Klarheit und damit hoffentlich Beruhigung zu geben.

Ich bemerke, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Dir zu schreiben. Ich könnte Dir noch von allem Möglichen erzählen; doch sei’s zum nächsten Mal verschoben.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder, insbesondere den Muckel. Herzlichst Dein Harro.

PS. Ist nun das Hochgefühlsäußerung hier?

 

159. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 18.7.1922

Lieber Carl!

Leider ist dieser Akt nicht von mir, sondern von Michelangelo. Hab vielen Dank für Deine Einladung; leider kann ich ihr vorläufig noch nicht folgen. Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber es ist noch große Vorsicht geboten.

Da aber die Aussicht, Dich hier zu sehen, durch Eure Wanderpläne so nahe rückt, bin ich ganz getröstet.

Wenigstens aber haben wir jetzt unsere alte Absicht wahr gemacht und bewohnen unser Waldhäuschen. Es ist weniger ein Tusculum, als viel mehr ein „our rustic“, aber es gefällt uns ausnehmend. Nächstens bekommst Du eine Schilderung unseres Tuns und Treibens hier.

L(andé?). (er läßt sehr grüßen) sitzt und verschlingt Spengler II. Ich lauere nur darauf, daß er damit zu Ende kommt, um mich insgleichen darauf zu stürzen.

Herzlichst Dein Harro

 

160. Postkarte von C.H.B an Harro Siegel. Gelnhausen, 19.7.1922

Lieber Harro!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Freue mich sehr, daß Du bald wieder so weit bist, eine Wanderung anzutreten. Schone Dich nur gar! Hier bist Du natürlich sehr willkommen, wenn wir Dich im Augenblick auch nicht logieren können, da wir allein am Herrschaftstisch 17 Personen sind. Aber es wird sich trotz bestehenden Schützenfestes schon ein Quartier finden lassen. Bitte nur rechtzeitig um Nachricht. Lola braucht sich gar nicht in die Büsche zu schlagen. Toilette macht hier niemand. – Die Meinen sind seit gestern auch hier. In Bieberstein war’s ganz famos. Näheres mündlich. Herzlichst Carl

 

161. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Sonntag Abend, (Juli 1922)

Mein lieber Harro!

Nur rasch mit bestem Dank für Deinen lieben Brief die Mitteilung, daß ein Besuch hier diese Woche gut paßt, auch zum Logieren, nur nicht am Samstag (Geburtstag meiner Frau, die Freitag aus Neuwied zurückkommt) und Sonntag. Da ich auch sonst noch mal fort will und wir bei gutem Wetter Ausflüge machen, schreib gleich, ob und wann Du kommst. Mittwoch bis Freitag wäre z. B. sehr schön. Aber ich dränge nicht – Du weißt ja.

Meines Bruders Else will gern mit mir und den Buben einen Ausflug nach Cassel machen. Vielleicht wird was draus.

Walter schrieb an meine Frau: „Vati liest Tag und Nacht Spengler.“ Das ist richtig. Der 2.te Band ist einfach fabelhaft. Lies ihn, wenn Du kannst, sonst will ich ihn Dir später mal schicken. Ein unerhört anregendes Buch.

In Eile, aber von Herzen Dein Carl.

 

162. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 27.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief an mich war mir eine Enttäuschung, Dein Gruß an meine Frau eine sympathische Überraschung. Ich hatte so fest auf Dein Kommen gerechnet, daß ich sogar den Walter an die Bahn geschickt hatte – für alle Fälle. Nunmehr werden wir uns also so bald nicht sehen; denn aus der Ausflugsfahrt nach Cassel wird nichts; obendrein geht mein Urlaub zu Ende. Ich reise am 3.ten , am 4.ten kommt Ritter zu mir, am 7.ten beginnt mein Dienst. Ich finde den Plan sehr nett. Auch Ritter scheint sich drauf zu freuen. Wir zwei sind dann ganz allein in der Schillerstraße 2, was bei Ritters seelischem Zustand gewiß seine Vorzüge hat. Er schrieb mir dieser Tage wieder mal einen trübsinnigen Brief. Wie immer war gerade einer von mir unterwegs.

Die gleiche Kreuzung erlebte ich dieser Tage mit einem Brief von Landé. Ich hatte ihm bald nach meiner Ankunft hier sehr herzlich geschrieben. Als ich 14 Tage ohne Antwort blieb, schrieb ich ihm nochmals herzlich, ohne ihn aufzuziehen, sagte ihm sein Schweigen verriete mehr Styl als ein abgequälter Brief. Er solle mir lieber nicht schreiben, ich wollte nur, daß er sich nicht auch noch mit dem Gedanken des Nichtschreibenkönnens herumquälen. Sein Brief war ruhig, herzlich, glatt und sympathisch. Dein Name kam nicht drin vor, so daß ich nicht weiß, ob er Deinen Brief inzwischen eröffnet hat. Nur an einer Stelle schwingt Vergangenes an, wo er einen starken persönlichen Dank mir gegenüber mit den Worten abschließt: „Ich möchte das um so mehr in dieser Zeit, wo ich – auch das andere Sie wie alles in mir verstehen – leicht geneigt bin, vieles aus meinem Leben fortzuwünschen, auszuradieren, wenn es ginge.“

Der Brief ist sehr beherrscht und so einwandfrei und sympathisch, daß ich ihn meine Frau lesen ließ, der Landé nicht sympathisch ist, um ihn ihr etwas näher zu bringen, was auch gelang. Ich glaube, daß er die Krise überwunden hat. Von Dir werde ich nicht mehr mit ihm empfangen.

Ich habe inzwischen Spengler zu Ende gelesen. Einige meiner Lieblingstheorien sind darin stark bekämpft respektive mit großer Geste als unmöglich abgelehnt. Andere Theorien von mir sind verstärkt und vertieft gesehen. Deshalb habe ich ein besonderes Verhältnis zu diesem Buch. Als Ganzes ist die Konzeption bewundernswert, mit der Schärfe eines Dogmatikers hat er seine Summa theologiae Spenglerianae aufgebaut. Je schwächer seine Argumente, desto größer die Selbstverständlichkeit und die Geste. Der Kernpunkt, eine gewisse Parallelität

historischer Entwicklung, Frühkultur, Zivilisationsepochen ist zweifellos richtig, aber nicht ganz neu. Die dionysische, magische, faustische Seelenlage ist glänzend herausgearbeitet. Der bis in die Einzelheiten gehende Parallelismus ist sicher falsch. Wenn man a oder b bei einem Schluß durch ein beliebiges X ersetzen kann, entstehen Parallelitäten, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Überhaupt redet er immer von Wirklichkeit, er ist aber ganz ein Mensch der Wahrheit d.h. er vergewaltigt die Wirklichkeit. Immerhin ist’s ein kühner, großer Wurf. Ich will ihn nicht bemänteln – trotz einiger Entgleisungen in die Tagespolitik im deutschnationalen Sinn. Solche Leute müssen Aristokraten sein oder werden, wenn es ihnen glückt eine solche Moles (??) einheitlich zu bedecken und zu gestalten. Als Wurf bleibt es ein Kunstwerk und es bleibt erstaunlich, daß trotzdem auch der Historiker soviel davon lernt.. ich habe Ritter gebeten, es auch in Berlin zu lesen, damit wir’s einmal durchdiskutieren können.

Im Übrigen schreibe ich Briefe, gehe jeden Sonnenaugenblick in den Wald, spiele sogar nach 9jähriger Pause mit einigem Erfolg wieder Tennis, habe aber noch nichts Gescheites gearbeitet. Ich denke wie immer oft an Dich und bin sehr neugierig, bald Erfreuliches von Deiner

Gesundheit und Deiner Arbeit zu hören.

Lohe’s Brief über Schröter hat inzwischen Wätzold bearbeitet und Gutachten von Witte und Bantzer eingezogen. Witte versagt dem Künstler die Hochachtung nicht, diskreditiert aber den Menschen. Bantzer äußert sich sehr freundlich. Wätzold will gern etwas tun. Die paar 1000 Mark, die wir aus unserem Fonds geben können, helfen nicht weiter, eine Stelle ist nicht frei und würde sich auch nicht empfehlen. Bleibt nur der Ausweg, den Kunsthandel oder wieder Private zu interessieren. Dafür brauchen wir wenigstens einige photographische Nachbildungen seiner Arbeiten. Können die beschafft werden oder welchen Weg der Unterstützung hat sich Lohe sonst gedacht? Bantzer hat geschrieben, Lohe kenne Schr(öter?) am besten, man solle lieber ihn fragen. Das hatten wir natürlich nicht mehr nötig.

Grüße Lohe und laß bald Gutes von Dir hören.

Ich denke dankbar Deiner. Von Herzen Dein Carl.

 

163. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 30.7.1922

Mein liebster Carl!

Was magst Du von mir denken? Längst hätte ich Dir geschrieben, auch schon vor der Ankunft Deines letzten Briefes, für den ich Dir sehr von Herzen danke. Wir sind aber in letzter Zeit bedeutend mit Besuch gesegnet (allein 8 Menschen aus Holland), so daß ich wirklich keine Zeit zum Schreiben finde. Ein langer Brief in den nächsten Tagen ist Dir gewiß (ich habe Dir sehr viel zu berichten). Jetzt nur diesen kurzen Wisch, damit Du doch was hast. Morgen ziehe ich wieder in die Stadt. L. reist nach Hause, in wenigen Tagen beginnt die Arbeit.

Es geht mir jetzt ausgezeichnet, ich habe sehr zugenommen, und was ich treibe, ist eigentlich die rechte ars semper gaudendi. Ich Esel hätte seinerzeit telegraphieren sollen; Dein Brief kam stark verspätet hier oben an, natürlich erreichte Dich da der meine nicht rechtzeitig. Könnte ich Dich nicht am 3. (August) in Bebra treffen und bis Eichenberg mitfahren? Dann gib mir bitte Nachricht, – und wann.

Deinen Brief habe ich nicht hier, – beantworte ich das nächste Mal. Über Schw. wird Dir L(andé?) schreiben.

Nun lebe wohl. Und sei mir nicht böse ob dieses Wischs, der so wenig Deinem lieben ausführlichen Brief entspricht.

Immer der Deine! Harro

Bitte grüße Deine gesamte Familie.

 

164. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 2.8.1922

L(ieber) H(arro)!

Deinen freundlicher Brief fand ich gestern Abend an, als ich mit Muckel von unser wohl gelungenen Fußtour heimkam. Nachricht würde Dich kaum mehr erreichen, und ich bin auch dafür, ein Wiedersehen zu verschieben. Nach den schönen Stunden in Berlin würden wir von einer kurzen Eisenbahnstunde doch wenig haben. Ich komme übrigens im September und im Oktober wieder nach Hannover-Hessen, einmal zu einer Hochzeit, das andere Mal zu einem Vortrag. Vielleicht fügt es sich es sich dann einmal. Inzwischen hoffe ich mal auf einen richtigen Brief.

Zwischen Packen und Räumen grüßt Dich Dein alter C.

 

165. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 4.8.1922

Mein lieber Harro!

Veranda – herrlicher (unleserlich). Sonntag Nachm(ittag) 6 Uhr, nach dem Café, seit Tisch sitze respektive liege ich mit Ritter hier herum. Zwei Tage sind wir jetzt beisammen. Wir haben entsetzlich viel miteinander geredet, gestern ununterbrochen 14 Stunden hintereinander – von Gott und der Welt, Alfred und Ghazali, Politik und Studentenschaft und immer wieder von dem alten unerschöpflichen Thema, auf das unwillkürlich die meisten Gespräche wieder hinauslaufen. Es ist friedlich und behaglich. Ritter ist der Alte. Er hat immer seine schweren, seine schweigsamen und seine lustigen (?) Stunden gehabt. Auch ich fand ihn genau so wie Du ihn geschildert.

Morgen fängt nun für mich der Ernst des Lebens wieder an. In Gelnh(ausen) sah ich ihm mit Freuden entgegen, hier mit Entschlossenheit. Ich will die Passivität des letzten Jahres überwinden. Ich will es tun und doch gleichzeitig mehr Zeit für Haus und Familie gewinnen. Die Harrostunden sind ja jetzt frei – und ihrer waren nicht wenige. Die Phantasie darf auch nicht mehr so viel Freistunden haben. Auch andere Gäste meiner Freistunden werden knapper gehalten werden. Ich bin neugierig, ob ich dies schöne Programm verwirklichen werde.

Hab Dank für Deinen Brief. Du wirst verstanden haben, daß ich Dich jetzt auf einer kurzen ungemütlichen Eisenbahnstrecke nicht sehen mochte. Du kannst das als Aktivum, nicht als Passivum buchen.

Ich freue mich, daß Du wieder gesund bist. Hoffentlich hält es an. Dein Zus(ammen)leben und Dich Zus(ammen)finden mit Lola hat mich für Dich gefreut. Den Altersgenossen ersetzt einem kein älterer Freund. Daß auch ich gern einmal so ganz mit Dir zus(ammen)leben möchte, weißt Du, doch es ist wenig Aussicht. Vielleicht ist es gut so; denn es wäre vielleicht eine Enttäuschung. Der feste Glaube ist immer mehr als eine enttäuschende Realität.

Fall Landé – ich schreibe Dir darüber, sobald ich klar sehe, was nicht ganz schnell der Fall sein wird, da ich ihn nach nichts fragen werde. Er gibt sich heiter, diensteifrig, beginnt (morgen? Weggelocht) seinen sogenannten Urlaub, den er auf seinem Dienstzimmer verbringt. Ich sprach ihn bisher nur durchs Telefon. Daß Du Reue empfindest, ist nur berechtigt. Der Jugend Alfreds kann man verzeihen, was man der Erfahrenheit eines Hans nicht ganz so leicht vergibt, so klar mir psychologisch der Fall liegt. Du wirst mehr über Landé von mir hören.

Wendes waren sehr beglückt über Deine Zeichnung. Erich war das (unleserlich) und aufrichtig bewundernd.

Ritter tobt über Spengler, der marktschreierisch Wahrheiten verkünde, die andere gefunden hätten. Der Rest sei Phantasie und Unsinn. Als ich ihm diese Formulierung vorlas, erhob er Protest. Tatsächlich ist’s aber so. Dabei ist sein psychoanalytisches Weltbild etwas morphologisch!– Leb wohl! Ich denke Deiner in Treue. Carl.

PS. Brief von H. Ritter an Harro Siegel.

Warum hast Du mir nie von Lohe erzählt? Wie ist das. Ich komme nach Cassel nur dann, wenn ich dort Menschen finde, die ich brauche. Zus(ammen)sitzen und trauern, kann ich nicht. (Verschmierte Passage) Also ist es wohl besser ich komme nicht. Ich will auch zu Schaade. Vielleicht sind dort Menschen, die einen ablenken und eine Freude machen. Schreib mir mal. Dein HR.

 

166. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 15.8.1922

Mein lieber Carl!

Was verstehst Du nun eigentlich unter Passivität? Das möchte ich in der Tat wissen, nachdem Du Dein letztes Jahr als unter diesem Zeichen stehend siehst. Ich für meine Person habe Dich immer so aktiv gefunden – auch in der Contemplation -, daß ich mich von meiner Passivität oft geradezu umschnürt gefühlt habe. Aus dem Willen es Dir (formal wenigstens) irgendwie gleichzutun, ist schließlich der Entschluß zur Werktätigkeit mit erwachsen.

So wünsche ich Dir das beste Gelingen Deiner Pläne; aber nicht wahr, Du gehst nicht ans Kapital!—

Für Deinen Brief danke ich Dir sehr. Wie war es nur mit Ritter? Dauert seine taten- und träumelose Lethargie immer noch fort? Freilich, – er schrieb neulich recht viel froher, er habe dort in B. einen alten Freund wieder aufgetan. Das ist ja sehr schön; glaubst Du nun, daß er aufpaßt und nicht aus lauter Liebe auch diese Freundschaft erstickt?— Seine Mutter lechzt nach einem Lebenszeichen, es kommt aber keins. Was muß es für einen Eindruck auf diese (pracht-volle) Frau machen, wenn ich sie in seinem Auftrag besuche, um ihr Grüße und alles mögliche sonst von ihm zu bestellen? Ich werde das nicht wieder tun.

Was mir bei Landé leid tut, ist dieser starke Wille, alles ungeschehen zu machen. So kann ihm doch unmöglich Erlösung werden. Man kann wohl Arme und Beine amputieren, aber nicht das Wissen, daß man sie mal hatte. Wie traurig, daß er nun seinen Urlaub so verbringt. Chronischer Selbstmord.

Seit anderthalb Wochen bin ich nun wieder an der Arbeit. Die Werkstätte liegt unten in der Altstadt an einem malerisch-mittelalterlichen Platz (aber ich sehe ihn nicht, denn unsere Scheiben sind geätzt) und bildet die Ergänzung zu einem Papierladen, in dem es auch Schul- und Gesangbücher und christliche Wandsprüche zu kaufen gibt. Betrieben wird es von zwei Meistern, die im Schwiegervater-Sohn-Verhältnis stehn. Sehr christliche, ehrbare, monarchistische Menschen, mild und verträglich von Charakter, der Alte etwas mürrisch, aber gut geartet, der jüngere etwa 45, sehr blauäugig-blond mit einer Hensige(?)-Ecke, ist gebildet, besucht die Münchener Ausstellung und schwärmt für Garmisch. Zwei Casselaner (unleserlich) sind meine Kollegen. Die Arbeit ist nach Art und Gegenstand völlig anders als in B(erlin?). Schlechtes Material, die Maschinen in einem skandalösen Zustand, Umstände werden nicht die geringsten gemacht, Herr Linnemeyer (Berlin?) würde verzweifeln. Ich sehe jetzt, wie mich der mit guter Zucht verwöhnt hat, muß mich an vieles sehr gewöhnen und bin vorläufig noch etwas deprimiert, weil ich schlechter arbeiten muß, als ich könnte. Es heißt immer: „Gottsgemicke, disse Umstände, (unleserlich) würen wir aus derg nit uffheben!“12

Aber man scheint zufrieden; auch werde ich ein kleines Gehalt bekommen. Sehr viel Neues übrigens, wozu ich sonst niemals gekommen wäre, lerne ich auch dazu. – Denkbar unpraktisch ist die Arbeitszeit gelegt, nämlich von 8-12 und von 2 bis ½ 7 (Uhr). Da kommt man zu wenigen Dingen sonst.

Ich lebe erstaunlich regelmäßig; fast hasse ich mich ob meines Hasses gegen das Extraordinäre. Ich bekomme aber Verstimmungszustände, wenn ich das Weltkind Lohe sehe, der mit Zeit und Kraft so gar nicht zu zeigen braucht, Gottweißwas anstellt und dabei doch fleißig kleinen Bilder in Lumpen (?) und eine moderne zimtfarbige Dogge lebensgroß in Öl malt. Wobei übrigens die immer und nur allzugern assistierende Besitzerin dieses Tieres sehr überlegt und fein behandelt sein will, was dem guten L(ohe) nicht stets gelingt. Der schliddert immer in die heiklen Situationen hinein und weiß selbst nicht wie und wie wieder heraus.

Kunstausstellung und Akademie erhitzen hier die Gemüter sehr. Cassel verteidigt sich heftig gegen den Überfall der Modernen, (die lange von vorgestern sind). Vielleicht haben sie recht; man soll uns ruhig unsere lieblich-romantische „Gassenkunst“ lassen (und welche Blüten sie treibt!); was an Neuerem sich hier versucht, ist längst wieder ganz (?) akademisch geworden und kann nicht erwärmen (Dülberg nicht ausgenommen, der mir übrigens persönlich absolut nicht liegt; ich würde ihm nie trauen).

Nun, endlich genug des Lokalen.. Ich lese sehr gefesselt den mir noch unbekannten Hyperion und noch manches andere. Sonntags gehe ich mit Rolf und unserem kleinen Pensionär in die Berge; ich höre ihnen auch die Arbeiten ab und schneide ihnen die Haare.. Sie haben mich sehr gerne.

Mit meinem Vater geht’s gut, sehr gut sogar, bis jetzt. Grüß Deine Angehörigen und besonders Wende. Herzlichst Dein getreuer Harro.

 

167. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 18.8.1922

Mein lieber Harro!

Auf Deinen lieben Brief sollst Du einen kurzen Gruß haben, in später Abendstunde, vor dem Schlafengehen. Zu langen Briefen reicht es nicht mehr. Du bist überhaupt der Einzige, dem ich noch mit der Hand schreibe.

Die Tage mit Ritter waren nett. An einem Tage habe wir uns ohne Unterbrechung 14 Stunden lang unterhalten. Das war der Record. Er war erst sehr nervös (?), fahrig, zerstreut, schweigend, nur gelegentlich sich im Reden äußernd (?).Alfred, immer wieder Alfred. Ich brauchte viel Liebe und Geduld. Dann tauchte plötzlich ein „Freund“ auf, erst etwas verschwommen, offenbar war er ihm eingefallen und er wußte nicht wie alles laufen würde. Er besuchte ihn Nachm(ittags), während ich im Ministerium war. R(itter) telefonierte an, ob er ihn zum Abendessen behalten dürfe. Als ich kam, saß er am Flügel, wozu er bisher ganz unlustig gewesen war. Weiter brauchte er mir nichts zu erzählen. Es ist ein netter junger Theologe, 4. Semester, heißt Reichmut, Pfarrerssohn aus Potsdam, Kriegsbekanntschaft aus der Türkei, er damals noch ein Knabe, schloß sich an, nie ganz vergessen, briefliche Initiative zur Wiederanknüpfung von dem Jungen ausgehend. Selbstverständlich, natürlich sehr selbstverständlich, was Ritter natürlich beglückte. Als ich kam, war die gemeinsame Bootsfahrt im Herbst bereits verabredet. Sie waren damals täglich zus(ammen), einen ganzen Tag auch ganz hier im Hause, ich war leider dienstlich verhindert (Verfassungstag).

Von Stund an war Ritter ein anderer Mensch, frisch, interessiert für alles, heiter, arbeitslustig. Nun brauche er nicht mehr im Lande herum Zerstreuung zu suchen. Nun wolle er nach Hamburg zurück, jetzt könne er arbeiten. Also geschah’s.

Wir haben über vieles geredet. Auch lange über den Punkt, den Du nicht mir gegenüber formulieren konntest. Er tat’s, bezog sich auch auf Dich. Es war ganz lehrreich für mich und ich werde die Konsequenzen daraus ziehen.

Seit 8 Tagen sind auch die Meinigen zurück. Ich bin sehr froh darüber. Allabendlich bin ich jetzt um 7 (Uhr) zum Essen daheim, obwohl das Auto immer noch in Reparatur, und Morgens stehe ich Punkt 7 (Uhr) auf und bin bereits 8 ½ (Uhr) in Dienst. Ziemlich ruhige Zeit, wenn auch abends immer noch Akten. Mit Landé spreche ich oft, Dein Name ist noch nie gefallen. Er hat sich heute unter einem Vorwand vom Referat Hessen-Nassau entbinden lassen. Überhaupt gab’s wieder mal viel Ressentiment. Auch das Disziplinarreferat legte er nieder wegen der Haltung des Ministers in einem bestimmten Fall. In beiden Fällen erwartete er meinen Widerspruch, der aber nicht erfolgte. Ich wende die Sache anders, so ist jetzt aus lauter Ressentiment eine geradezu glänzende neue Referateinteilung geworden. Er wir frei für große Sache, wird wirklich Generalreferent und hört auf Mädchen für alles zu sein. Dieser unerwartete

Ausgang einer Unterhaltung, die er mit Herzklopfen begonnen, bewegte ihn sehr und er schied wirklich befriedigt und entspannt.

Wende macht mir Sorgen. Sein Zustand ist unerfreulich. Er ist überlastet, stumpf und reaktionslos. Unser Mittagstisch ist noch in der Schwebe. In der DMG13 –meist mit anderen – ist kein Ort zur ruhigen Fühlungnahme.—

Von Deinem Brief habe ich ein gewisses Bild Deines Lebens bekommen. Ich freue mich, daß es auch erträglich ist und besonders , daß es zu Hause gut geht.

Jetzt muß ich schlafen gehen. Leb wohl! Die Meinigen grüßen. Herzlichst Dein Carl.

 

168. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 29.8.1922

Mein lieber Carl!

Hab vielen Dank für Deinen Brief; weißt Du, er wäre längst beantwortet, aber ich hatte tiefen Barometerstand in letzter Zeit, mußte sehr bedauern, nicht in Berlin zu sein um mir mit Deiner Unterstützung einige Steine vom Herzen zu wälzen; – brachte es aber nicht fertig, darüber zu schreiben. Ich finde mein Dasei im höchsten Maße ungeeignet, mir zu genügen, was nicht viel zu bedeuten hätte, wenn ich in ihm ein asperum und dahinter irgendwelche astra sehen könnte. Dieses ist aber nicht der Fall. Ich überlege mir dann Zeichenlehrer hin und her, und komme immer mehr davon ab. Von immanenten Gründen abgesehen geht es unter den gerade letzthin eingetretenen Verhältnissen nicht an; noch 2-3 Jahre ans Studium zu hängen, nachdem – realpolitisch genommen – schon so viel Zeit verloren ist. Man wird energisch Geld verdienen müssen wie alle anderen. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht überhand nimmt, wird ein Buchbindergehülfe ja auch Platz finden; in Holland steht mir übrigens eine solche Stelle in schwacher Aussicht.

Hiervon abgesehen habe ich aufgehört Pädagogik und –philie (??) in einen Topf zu werfen und muß für mich Fähigkeiten auf dem Gebiet der ersteren in Abrede stellen. Ich sehe das deutlich an meiner Art, mit Jungens und Jüngeren zu verkehren. Ein gewisses Interesse für einzelne ist da, aber es fehlt die Fähigkeit, dies zur „Liebe zur Jugend“ zu sublimieren; man findet es beiderseits nett, zusammen zu sein, aber von der Übermittlung irgendwelcher Güter, ethischer oder Bildungs-, ist keine Rede. Eine solche Aufgabe würde an meiner Selbstkritik

scheitern, glaube ich.

Was künstlerische Betätigung anlangt, so weißt Du ja, wie’s da steht. Was bei mir nicht so aussah, war doch wohl Selbstbetrug (wiewohl ein nicht uninteressanter und meiner durchaus würdiger), aber ich bringe es nicht mehr dazu.

Was andere Leute dazu bringt, Bilder zu malen, diese und sich selbst ernst zu nehmen, begreife ich nicht mehr; ich sehe es interessiert, verwundert in den guten Fällen, und zornig oder höhnisch in den überwiegenden üblen. Für mich kommt so was nur noch als nettes Spiel für Feierstunden in Betracht. Moderne Kunstausstellungen langweilen ich unendlich und erkälten mich. Warringer hat doch nicht so unrecht, wenn er in „Künstlerische Zeitfragen“ die These aufstellt, der Kunstgeist habe sich seit dem XIX. Jahrhundert mehr und mehr ins Denken, in die Wissenschaft geflüchtet; die Husserl’sche Schule, die Georgejünger, Gundolf, Kayserlink und Spengler belegten das. Jeder Ehrliche muß doch auch zugeben, daß ihm aus diesen Büchern mehr Geist natürlich, aber auch mehr Sinnlichkeit anströmt, als aus aller modernen Malerei und Graphik. Revertor ad meas res: Ich bleibe also beim Leisten und nun verüble mir nicht, wenn mich das malerpolitisch (?) erregt. Meine Tätigkeit wird mir ungelogen oft zur Fron, von morgens ½ 8 bis abends ½ 7 (Uhr, es bleibt mir so gar keine Zeit für mich. Gewiß, Du zum Beispiel hast davon noch weniger, aber darfst Du doch im Dienst Du selbst sein, und Du weißt, was und wofür Du arbeitest. Diese neue Depression wird doch nur hie und da erhellt, durch eine Arbeit, die Talent und Initiative erfordert, durch ein gelungenes Stück. Immerhin, ich arbeite jetzt sehr viel selbständiger und verdiene wöchentlich 50 Mark. Mir will übrigens scheinen, als seien die Zeichen einer Aufwärtsentwicklung des Handwerks nicht eben günstig. Sich heute neu etablieren kann nur ein Großkapitalist; und die bestehenden Geschäfte geraten durch das billigere Angebot der Fabriken sehr in die Enge. An Selbständigkeit ist für mich kaum zu denken.

Na, überhaupt, – aber ich verliere den Kopf mitsamt der Objektivität; sehe den bisherigen Studiengang als nutzlose Zeitvergeudung und blicke düsteren, tränenlosen Auges in die Zukunft. Warum, warum? Auch meine Familie findet mich nachgrade etwas reichlich mit mir selbst beschäftigt; mit Recht, – Gott besser’s!

Lohe reist morgen fort; mir tut es sehr leid; ihm auch. Für ihn ist’s aber gut; meine Zweifelsucht war keine Kost für ihn. Und noch aus anderen Gründen; ich muß jetzt ein bißchen allein sein, Ruhe haben. Gut, daß Ritter den jungen R. mit herbringt; so braucht er mich nicht; ich hätte nichts zu bieten.

Der arme Wende! Man soll nichts sagen, es gibt immer noch Leute, die es viel schwerer haben, als man selbst. Ihm sehe ich’s an der Nasenspitze an, daß dies der Fall ist, – zugleich mit einer gewissen Unentrinnbarkeit; ob ihm zu helfen ist, ob er sich selbst helfe kann? Grüße ihn bitte sehr.

Von Benecke erhielt ich kürzlich einen netten, wiewohl nicht eben inhaltsreichen Brief. Er schreibt übrigens, L(andé?) habe sich die letzte Zeit sehr zu seinem Vorteil gewandelt, sei ruhiger und zielbewußter geworden. Bestätigst Du das? Das wäre schön.

Was macht Deine Familie? Bitte grüße doch alle und empfehle (unleserlich, weggelocht) mich Deiner Frau. Und was ist mit Dir? Bekommt Dir die Mehrarbeit gut?

Herrgott, was ist dies nun wieder für ein Brief! Ich möchte solche nicht bekommen; wann wird es mir gelingen, den mir zuteil gewordenen sportiven Geist vom Ich zu lösen und für mich und andere erbaulich an objektives Gut zu wenden.

Letzten Freitag habe ich mir an der Beschneidemaschine den linken Zeigefinger bis zur Knochenmitte durchgesäbelt und muß nun in unfreiwilliger Muße warten bis er wieder festwächst, was noch eine Woche dauern wird. Das sind solche Freuden.

Für Dich bleibt meine Gesinnung unwandelbar – Dein Harro.

 

169. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 1.9.1922

Mein lieber Harro!

Das war ein trüber Brief. Und Du hast ihn selbst gleich wieder Lügen gestraft. Wer so eine Zeichnung wie die des Bärleins hinhauen kann der ist wirklich nicht zum Buchbinder geboren. Und doch liegt eine gewisse melancholische Symbolik in dem Bilde. Deine (unleserlich) Margiana (?) ist wirklich noch nicht gestorben. Du hast alles Recht an sie zu glauben. Mensch, Mensch! Wie gern hätte ich Dir den Kopf gewaschen. Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben. Hoffentlich hast Du Dich wenigstens durch den Brief an mich befreit. Gefreut hat’s mich natürlich doch, daß Du ein so unverfälschtest Stimmungsbild gabst; denn der Brief war echt in jeder Zeile. Ich mußte mich davon befreien; denn er bedrückt mich; und so habe ich ihn in sicherer Voraussetzung Deiner inneren Zustimmung dem Wende vorgelesen. Schreib mir, wenn’s Unrecht war; dann tu ich’s nie wieder. Aber an der Wirkung sah ich daß es richtig war. Namentlich der Passus über ihn (weggelocht) berührte ihn stark und tat ihm wohl. Auch er freute sich riesig über die künstlerische Einlage und meinte, ein Künstler wie Du würde sich schon durchringen – durch alle Skepsis. Du siehst, an Vertrauen bei Deinen Freunden fehlt es nicht. Du bist einer, der schwer und spät zur Produktion heranreift, aber Du wirst produzieren.

Ich gehe deshalb auch gar nicht weiter auf Deinen Brief ein. Schweren Herzens nahm ich ihn auf, und es war als säßen wir unter der roten Lampe. Laß Dir dies Echo genügen. Diskutieren kann man solche Briefe nicht. Hoffentlich fühltest Du etwas von dem, was mich bewegt.

Jedenfalls mußte ich Dir heute gleich schreiben, so kurz wie’s auch heute nur sein kann.

Zur Zeit ist Schauder (?) hier. Wir hatten gestern einen feinen stillen Abend. Er ist ruhiger, dicker und besser aussehend als je. Seine Habilitation ist in ihrem kritischen Teil erledigt. Vor dem Schluß muß erst seine Arbeit gedruckt sein

Von Landé kann ich auch nur Gutes melden. Er hat 14 Tage seines Urlaubs zu einer großen dienstl(ichen) Arbeit benutzt (Fragenkomplex des numerus clausus), die er heute früh in der Abteilung vortrug, wo ihn niemand recht verstand und würdigte, und die er Nachm(ittags) in einem langen Vortrag mir auseinandersetzte. Natürlich verstand ich ihn besser als die Abteilung. Es ist ein unerhört schwieriges Problem scharf und sauber durchdacht und taktisch klug verhüllend aufgebaut. Ich glaube, es tat ihm sehr wohl, daß ich ihn nicht nur anerkannte, sondern auch sachlich die Tragweite übersah, während Jahnke nur am Styl genörgelt hatte. Er ist ruhig und markiert heitere Resignation. Er wird immer misogyner. Mit Fräulein Zotze macht er gelegentlich Spaziergänge. Er ist weich und wie Wachs mir gegenüber. Deinen Namen habe ich noch nicht wieder ausgesprochen. Er kommt nur, wenn ich ihn rufe, ist dann aber immer freundlich und sympathisch.

Mir geht es gut; körperlich wechselnd. Ich habe noch nicht einen Morgen um 8.10 (Uhr) nicht am Potsdamer Bahnhof gestanden, obwohl das Auto immer noch nicht aus der Fabrik ist. Ich bin jeden Tag spätestens um 7 (Uhr) daheim und gehe um 11 (Uhr) schlafen. Eben kommt Walter tief ergriffen aus dem Hannele heim, Muckel ist zum ersten Mal im Heidehaus (trotz schlechten Wetters) und Hertha ist lieb und häuslich wie immer; ein sonniges Kind, wie sie’s einst in der Wiege war. Mein Frau hat mit einem Mädchen und ohne Köchin viel Arbeit, dazu Zahnarzt fast alle Tage und diese gräßliche Teuerung – eine Qual für alle Hausfrauen. Aber sonst ist alles gut. Seit Anfang dieser Woche bereitet uns Frau Höndel (?)wieder das Mittagessen in vereinfachter Form (wie unser Abendessen), worüber Walter und ich sehr glücklich sind.

Gelegentlich gibt’s eine stille Stunde mit Gragger.

Ich merke erst, wie viel Zeit ich habe, seitdem Du nicht mehr da bist. Dafür kann ich schon manchmal schreiben. Es tritt hier ja doch niemand an Deine Stelle. Die bleibt offen – oder besser gesagt, sie bleibt besetzt.

Halte den Kopf hoch, Du Lieber! Laß Dich etwas stützen durch meinen Glauben an Dich. Leb wohl! Dein Carl.

P.S. Es schlägt 11 (Uhr). Die Meinen und Wende grüßen besonders.

 

170. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 10.9.1022

Mein lieber Carl!

Im Grunde schreibt man ja Briefe wie einen letzten nur, um solche dafür wieder zu bekommen, wie der Deine es war. Man behält das schlechte Gewissen, läßt es toben, wie es möchte, nach allen Regeln der Kunst, und das Gute überantwortet man seinem Freunde, auf daß es von dort her um so tönender und wirksamer – weil doch unverdächtiger – erschalle. Das ist gar nicht dumm und man fährt wohl dabei.

Ich danke Dir für Deine Rückenstärkung von Herzen; gewiß, es ist wahr, daß es mir wohltut, ein paar der schlimmsten meiner schwarzen Nachtvögel zu Dir gejagt zu haben, und ich war erfreut, sie so weiß gewaschen wieder zu erblicken. Doch ist dies nicht das Entscheidende. Nicht eine Widerlegung meiner Thesen galt es, sondern – um in Maik Ritters rauh-treffenden Worten zu reden – eine Art von „Liebeserpressung“, die unsereiner ja immer nötig hat. So ist man nur!

Wenn Du dem Wende meine Briefe vorliest, so ist mir das recht, ja, eigentlich nicht unlieb. Freilich, es kann auch mal ein Brief kommen, der nur Dich angeht, was Du dann zur gegebenen Zeit wohl wittern wirst.

Sonst aber – ich weiß soviel von ihm (wiewohl es wenig ist) durch ihn, durch Dich, mehr noch mich selbst, – daß schon mein Gerechtigkeitsgefühl solcherlei Einblicke für ihn fordert.

Einiges von dem, was im letzten Briefe stand, muß ich aber doch als tatsächlich gelten und stehen lassen. Und es war – halbausgesprochen – eine von mir dem Lohe anvertraute Mission, Dir hierüber noch etwas mehr Klarheit zu geben. Er schrieb gestern von einem Colloquium mit Dir; – hat es im obigen Sinne etwas geleistet? – Es berührt mich merkwürdig, nun aus seinem Munde gewisse Beobachtungen über Dich (und sich selbst vor Dir) zu hören, die ich früher schon angestellt hatte.

Es ist doch eigentlich fast Deine Sendung, einer gewissen Menschenart (zu der Wende, Ritter, er, ich und wer weiß wer noch gehören) zur Erkennungsmöglichkeit ihres Zustandes, zur (unleserlich) Scheidung und Kristallisation zu verhelfen. Das ist unersetzbar. L(ohe?) meint er habe zuviel gesagt, Dinge, die nicht gesagt werden sollten.

Dachte ich auch erst, aber ich finde nun, daß eben diese heiklen Chosen für Dich aufbewahrt werden müssen, und daß es Deine Bestimmung ist, sie zu haben.

Immer findet er, man stünde leicht in allzu gutem Lichte vor Dir und hätte Mühe, das zu korrigieren. Das stimmt nun ganz unbedingt; und eben dieser dauernde Zwang zur Korrektur ist es, dem ich über mich so sehr viele Aufschlüsse verdanke.

Soll ich etwas sagen: Vielleicht ist es bei all dem gar nicht vonnöten, daß Du einen völlig verstehst, und es ist viel mehr Dein Beruf, einen zum Verständnis seiner selbst zu bringen. Denn wir sonderbaren Kreaturen, bei allem Spintisieren, – wir verstehen uns doch selbst nicht immer allzu gut, Deine Meinung aber von uns – treffe sie’s, treffe sie’s nicht – sie beleuchtet bisweilen die Szene, wie es nie zuvor der Fall sein konnte.

Das ist es, was uns an Dich fesselt, und dafür (mit-)liebe ich Dich so.

Erstens liegt es in meiner Natur, das Jetzt zu fliehen und immer ein anderer und wo anders sein zu wollen. Mit dieser (unleserlich: Zielsuche?) – nicht mit der des Jetzt! – beginne ich mich allmählich auszusöhnen. So bin ich, hieraus müßte etwas gemacht werden. Es kann sein, daß mir das gelingt. Hoffen tue ich es bisweilen.

An Deinem Satze: Du wirst spät zur Produktion kommen, ist ganz unbedingt viel Wahres.

Ich muß das Ziel viel weiter hinausstrecken. Auf einer gewissen Art von „Knabenschicksal“ kann ich immerhin zurückblicken, aber es war keine Erfüllung. Ein „Jünglingsschicksal“, das ist mir wohl sicherlich versagt, wie Du zugeben mußt. Wie ich das Bücherwurm! Hier sitzt ein dickes Wurzelende meiner Melancholie.

Bliebe also die Erfüllung eines „Männerschicksals“. Männerschicksal! Vorerst bekomme ich ein wahres Grauen vor diesem Wort; das wird man mir verzeihen. Aber es kann darauf hinauskommen; und besser wie Nichtigkeit ist’s ja; (Dir kann’s aber auch kommen; den stärksten Männern ist das schon passiert!) – Mithin, warten wir’s ab. Erst mal gibt’s noch viel zu beißen, z.B. morgen, wo der Dienst neu beginnt. Der Finger ist geheilt zum Glück; aber diese geschenkten Ferien waren doch recht hübsch. Ich habe viel gelesen, freilich wenig bis zu Ende: Spengler II, Maupassant, Manzoni, Th(omas) Mann, Justi, Carl Spitteler. Von all dem wird noch zu reden sein.

Ich bin recht im Schreibeschwung, aber man ruft schon zum Abendessen, darum Schluß.

Ich verspüre viel Lust, Italienisch zu lernen. Welchen Weg rätst Du mir dazu und besitzt Du irgendwelche Hilfsmittel? Kommst Du etwa zur Pädagogischen Woche? Wenn doch sogar der Minister kommt, zur Knabengeleitsleute-Tagung!

Leb recht wohl! Grüße W(ende?) und die Familie, auch Gragger(?); Lohe schrieb ich selbst schon heute. Immer Dein Harro.

Zeichnung von Harro Siegel an C.H.B. Kassel, Juli 1922

Barbier von Bagdad. Dir zu Füßen liegen/Lippe an Lippe schmiegen

Orer Marzianaaa!! (schlecht leserlich)

Verzeihung; dies war ein früher begonnener Brief an Dich, dessen Inhalt mir heute aber zu ungewiß erscheint, als daß ich Dich Obiges (9 Zeilen unleserlich gemacht) lesen lassen möchte. – Jedoch, ich wollte Dir das Bild nicht vorenthalten.

H.S.22


1 Padua, Hauptstadt (211 000 Einwohner) der Provinz Padova. Universität von 1222! Kunstakademie, wissenschaftliche Institute, Observatorium; ältester botanischer Garten Europas von 1545. (Brockhaus medial 2004)

2 Salone, die Piazza della Erbe vor dem Palazzo della Regione, früher Justizpalast, unten mit Marktbuden versehen , oben ein einziger durchgehender Saal, der heute für Ausstellungen genutzt wird und daher fast immer zugänglich ist

3 Giovanni Battista Tiepolo *1696 Venedig + 1770 Madrid. Bedeutender Vertreter der venezianischen Malerschule. Ich füge hinzu: Würzburger Residenz! BB

4 Dogenplast, Venedigs prachtvollster Profanbau, 71 m lang, mit der Sala del Maggior Consiglio (54×24 m; 15,5 m hoch, mit Bildern aller Dogen von 804-1559 und dem größten Ölgemälde der Welt , Tintorettos Paradies. Paradies (griechisch, aus dem altpersischen) bedeutet Vorhof früher christlicher Basiliken, mit Reinigungsbrunnen, gleichbedeutend mit Atrium. (Dumont, Oberitalien S.280)

5 Venedig gehörte von 1815 bis 1866 zu Österreich…Aufstand 1848 niedergeschlagen.

6 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1923 Berlin. Evangelischer Theologe, Philosoph und Historiker, Professor in Bonn, Heidelberg (Max Weber!), seit 1914 Berlin

7 Muckel ist bei Becker ein familiäres Kosewort, das er und andere auch für den jüngsten Sohn, Hellmut, verwandten. Hier jedoch auf den Freund bezogen.

8 Freundin Harros in Kassel.

9 Hier wohl seine Freundin Lola.

10 Hervorhebung des Herausgebers.

11 Randbemerkung Beckers mit den Abfahrtszeiten der Züge.

12 Hessischer Dialekt…

13 Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft? Kein Hinweis auf den Ort, und daß da ein Restaurant sei.

Harro Siegel, I.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1921/1922

120. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 18.1.1921

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Siegel,

Damit Sie sich wundern, von Herrn Professor Waetzoldt nicht geladen zu werden, teile ich Ihnen mit, daß Herr Waetzoldt, wie ich erst nachträglich feststellen konnte, diese ganze Woche von Berlin abwesend ist. Ich werde aber sofort nach seiner Rückkehr mit ihm über Sie Rücksprache nehmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (gez.) Becker

 

121. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 21.2.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Lieber Herr Siegel.

Es freut mich sehr, Ihnen anbei 1000 M(ark) zur Beschaffung Ihres Handwerkzeuges überreichen zu können. Der Stifter ist der bekannte Privatgelehrte Dr. Heinrich Braun, Berlin-Zehlendorf-M(itte), Am Erlenweg, der Herausgeber der Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Das Geld stammt aus dem Erlös der Lebenserinnerungen und Briefe seines im Felde gefallenen Sohnes Otto Braun, der ein ungewöhnlich vielseitig begabter und vor allem unendlich frühgereifter junger Mann gewesen ist. Mit ihm hat die Nation einen ihrer Besten verloren. Obwohl selbst nicht gerade reich, verwendet Herr Dr. Braun den Reingewinn, den er aus diesem Werk erzielt hat, zur Unterstützung talentvoller junger Gelehrter und Künstler. Ich würde es für richtig halten, daß Sie ihm einmal einen Besuch machen und sich bedanken, vielleicht bei der Gelegenheit ihm auch etwas von Ihren Arbeiten zeigen. Im Augenblick verreist er allerdings, um das Grab seines Sohnes in Frankreich zu besuchen. Er wird also Ihren Besuch erst nach seiner Rückkehr erwarten; vielleicht fragen Sie in 8-10 Tagen einmal telephonisch bei ihm an: Zehlendorf 25. Jedenfalls bitte ich Sie, ihm gleich jetzt ein paar Worte des Dankes zu schreiben.

Wie lange denken Sie noch in Berlin zu bleiben? Ich möchte gern noch einmal mich etwas in Ruhe mit Ihnen unterhalten, bin aber während dieser Woche so maßlos in Anspruch genommen, daß ich keine Stunde in Aussicht zu nehmen wage. Vielleicht rufen Sie mich Anfang nächster Woche einmal telephonisch an (Zentrum 11340), im Laufe des Tages außer zwischen 2 und 4 Uhr.- Einstweilen verbleibe ich mit verbindlichen Grüßen und guten Wünschen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (gez.) Becker.

 

122. Harro Siegel an C.H.B. Berlin SW4, Yorckstraße 13a, 22.2.1921

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Vorläufig bin ich noch etwas fassungslos diesem heute morgen unerwartet über mich hereingebrochenem Ereignis gegenüber. Das ist mehr, als ich verdient habe. Ganz begrifflich zu erfassen vermag ich es nicht, aber ich glaube, es ist der Name des Spenders und der Gedanke an seinen unersetzlichen Sohn, was mich dabei so „antut“.

Nun, jedenfalls ist mir jetzt für lange Zeit hinaus geholfen; mit Wonne lasse ich die längst verfaßten Aquarellfarben liegen und gehe zum Öl über.

Herrn Dr. Braun schrieb ich gleich; ich freue mich unendlich darauf, ihn später selbst aufzusuchen, ebenso wie über die Möglichkeit eines baldigen etwas ausgiebigeren Zusammenseins mit Ihnen. Wäre mir Ihre Arbeitsüberlastung nicht bekannt gewesen, so hätte ich vielleicht selbst schon gewagt darum zu bitten. Ich werde also nächste Woche anrufen.

Es grüßt Sie mit großer Hochachtung Ihr dankbarer Harro Siegel.

 

123. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W8, 18.3.1921

Lieber Herr Siegel!

Da ich nicht weiß, ob ich anwesend bin, wenn Sie die Karte abholen, will ich Ihnen nur mitteilen, daß Sie heute Abend in der Ministerloge meinen Freund Geheimrat Wende nebst Frau und drei Gästen antreffen werden. Wende ist mein nächster Freund und weiß über Sie Bescheid. Machen Sie sich mit ihm bekannt. Es ist ein nicht großer sehr jung aussehender Mann, bartlos, Cutaway, dunkelblond mit braunen Augen. Sie haben ihn schon einmal flüchtig in meinem Zimmer getroffen, als Sie mir Ihre Bilder zeigten.

Viel Vergnügen! Bitte geben Sie Wende die Karte zurück.

Herzlichst der Ihrige. Becker

 


Plädoyer für eine handwerkliche Grundausbildung eines Künstlers


 

124. C.H.B. an StR Siegel (Vater Harros). Berlin, 5.4.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Studienrat!

Ihr Sohn Harro, den ich durch Vermittlung meines Freundes, Professor Ritter, kennen gelernt habe, erzählte mir gestern Abend, daß sein Entschluß, seiner künstlerischen Ausbildung eine handwerkliche Grundlage zu geben, bei Ihnen Sorgen und Bedenken ausgelöst hätte. Da ich Ihren Sohn im Einverständnis mit ersten Fachleuten beraten hatte, fühle ich das Bedürfnis, den geplanten Schritt Ihnen noch etwas näher zu begründen. So habe ich ihm spontan angeboten, an Sie zu schreiben. Ich tue das um so lieber, als ich ihn nicht nur für einen werdenden Künstler, von dem noch etwas zu erwarten ist, halte, sondern mich auch seiner wertvollen menschlichen Eigenschaften freue, die ihm hier schon eine recht nette Position geschaffen haben. Ich habe ihn persönlich sehr lieb gewonnen und möchte alles tun, was in meinen Kräften steht, ihm den dornenvollen Weg des künstlerischen Sichdurchsetzens zu erleichtern.

War der Bildungsgang des jungen Künstlers schon vor dem Zusammenbruch ein schwieriger, so haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren so vollständig verschoben, daß man mit ganz neuen Ausbildungsmethoden rechnen muß. Die führenden Sachverständigen sind jetzt ganz einhellig der Meinung, daß jede künstlerische Betätigung auch auf dem Gebiete der sogenannten höheren Kunst handwerksmäßig verankert sein muß, und daß es zugleich darauf ankommt, nicht nur ein einzelnes spezielles künstlerisches Gebiet zu beherrschen, sondern daß eine möglichst breite künstlerische Allgemeinbildung Voraussetzung für eine künstlerische Lebensexistenz ist. Nun liegt das Talent Ihres Harro unbedingt auf graphischem Gebiet. Das zentrale Handwerk, von dem aus man an diese künstlerische Betätigung herankommt, ist die moderne Kunstbinderei. Es gibt hier in Berlin einige wenige ausgezeichnete Firmen, die hierfür besonders in Betracht kommen, und die eine gewisse Schule bedeuten. Wir haben vom Ministerium aus Harro dorthin empfohlen, und es scheint ja auch, als ob er die Möglichkeit bekommt, dort anzukommen. Ich würde das für ein großes Glück halten, denn, worauf es ankommt, ist nicht nur die Fingerfertigkeit, sondern der ganze Geist des Handwerks, das sich ja immer mehr zur Kunst veredelt. Wenn ich auch der Überzeugung bin, daß Harro nach dieser Schulung zu rein künstlerischer Arbeit zurückkehrt, so wird es für ihn doch immer von sehr großer Bedeutung sein, auf einem seine Existenz sichernden Gebiete Fachmann zu sein. Hätte ich einen künstlerisch talentierten Sohn wie Harro, würde ich ihn unbedingt diesen Weg gehen lassen, da ich in Freundeskreisen den großen Vorteil der handwerklichen Schulung von Gebildeten kennen gelernt habe. Verschiedene meiner früheren Universitätskollegen lassen jetzt ihren Sohn nach einigen Semestern Studium ein Handwerk erlernen, sogar ohne künstlerischen Einschlag, rein wegen der wirtschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten. Bei Harro steht mir der pädagogische Gesichtspunkt höher wie der der wirtschaftliche Sicherung, wenn ich ihn auch nicht übersehe.

Die beiden anderen Wege, die möglich wären, das Zeichenlehrerexamen oder ein kunstgeschichtlicher Doktor, sind beide m.E. sowohl in pädagogischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht weniger zu empfehlen. Der Zeichenlehrerberuf ist derartig überfüllt, daß dies Examen keinesfalls eine Sicherstellung bedeuten würde. Übrigens ist er durchgebildet genug, um dieses Examen im Notfall auch später jederzeit zu machen. Pädagogisch würde ich es aber für verkehrt halten, weil die Tätigkeit als Zeichenlehrer, die nun einmal an bestimmte Vorschriften und Formen gebunden ist, keine Entwicklung, sondern eine Hemmung seiner künstlerischen Fähigkeiten bedeuten würde. Als kunstgeschichtlicher Doktor wäre er auf den Zufall eines Unterkommens in der musealen Laufbahn angewiesen und würde durch eine notwendige Hypertrophie geschichtlicher Arbeit und intellektueller Einstellung in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt werden. Nur das Handwerk bietet ihm große pädagogische Wirkung der Zucht und der Arbeit, die er für seine künstlerische Gesamtpersönlichkeit braucht, ohne daß er dadurch in der individuellen Entfaltung seiner Anlagen gehemmt wird. Die materielle Sicherstellung ist dabei ein erfreuliches Nebenprodukt.

So sehe ich, sehr geehrter Herr Studienrat, die Dinge an, und ich weiß mich dabei einig mit den ersten Fachleuten, die Deutschland auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.. Ich fühle durchaus, daß ich eine Verantwortung übernahm, als ich Harro diesen Rat gab, aber er muß in irgend einer Weise jetzt sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat die Jahre seit seinem Abitur weiß Gott nicht verloren und sich eine Summe von Können und Kenntnissen angeeignet, die mich immer wieder erfreut, und die den Durchschnitt seines Alters weit übertrifft. Wenn er jetzt aus innerer Nötigung heraus – von einem suggestiven Zwang meinerseits ist natürlich nicht die Rede – diesen neuartigen, aber zukunftsreichen Weg beschreiten will, so würde es mich für ihn besonders erfreuen, wenn er dabei von dem Bewußtsein getragen würde, das volle Verständnis seines Vaters zu finden. Ich habe selbst erlebt, wie sehr mich dies Bewußtsein gefördert hat, und das ist der letzte Grund meines Schreibens an Sie, daß ich es ihm erleichtern möchte, diese voll und freudige Zustimmung des Elternhauses zu finden. Ich verstehe vollauf, daß es Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vielleicht lieber wäre, Ihren Jungen den Rest seiner Ausbildung in Cassel absolvieren zu sehen; aber ich glaube doch, Ihnen raten zu müssen, ihn diesen so günstigen besonderen Umständen in Berlin nicht zu entziehen. Er hat hier neben der handwerklichen Spezialausbildung eine solche Fülle von Möglichkeiten für künstlerische Allgemeinausbildung wie nirgends sonst. Vor den sogenannten Berliner Gefahren sichert ihn seine solide, so ganz unbohémienhafte Eigenart. Alles, was ich bisher von ihm gesehen habe, gibt mir die Berechtigung zu dem Vertrauen, daß er seinen Lebensweg aus inner Nötigung heraus gehen wird, und daß man ihm möglichste Freiheit der Entwicklung lassen sollte.

Schließen Sie, bitte, aus der Ausführlichkeit dieses Briefes auf das warme Interesse, das ich an Harro als Künstler und als Mensch nehme. Ich glaube wirklich, man kann Sie zu diesem Jungen beglückwünschen.

In hoher Verehrung Ihr sehr ergebener (gez.) Becker, Staatssekretär.

 

125. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin, Unter den Linden 4, 14.4.1921

Mein lieber Siegel!

Nachdem ich 2 Tage lang 5-6 Mal versucht habe, Sie telephonisch zu erreichen, möchte ich nicht länger zögern Ihnen meinen innigen Dank für Ihre große Geburtstagsüberraschung schriftlich auszusprechen. Lieber Freund, Sie haben mir wirklich eine Freude bereitet. Erstens, daß Sie überhaupt den Tag festgestellt hatten und dann, daß Sie aus Eigenstem spendeten. Ihre Gabe hat mich schrecklich beschämt, aber ich nehme sie doch dankbar an, weil ich weiß, daß sie ein Symbol ist – auch in einem andern Sinn expressionistisch. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Gesinnung, daß ich mir sehr gern etwas von Ihnen schenken lasse, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß sich zwischen uns ein so selbstverständliches Verhältnis ent-wickelt hat, wie ich es mir schöner und wohltuender gar nicht vorstellen könnte. Ich habe nur den Eindruck, als ob wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen hätten. Wir müssen telefo-n(isch) recht bald ein Zus(ammen)sein verabreden. Dann sprechen wir auch über Ihr Bild, über das sich meine Familie lebhaft zankt. Es macht allgemein einen starken Eindruck, nur weichen die Deutungen ab. Mir ist es ein Ausdruck Ihres Suchens und Sehnens und ich verstehe es ohne das Verlangen nach intellektueller Deutung.—

Ich denke in diesen Tagen sehr viel an Sie und war so ärgerlich, Sie nicht zu erreichen, da ich ja so gespannt bin zu hören, wie Ihnen Ihre vita nuova gefällt. Von Ihrem Vater habe ich bisher nichts gehört.

Also auf bald und auf immer Ihr Becker

 

126. StR Siegel an C.H.B. Kassel, 16.4.1921

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

Für Ihr freundliches Schreiben und die darin bekundete Teilnahme für meinen Sohn danke ich Ihnen verbindlichst.. Ich erhielt Ihren Brief bei der Rückkehr von meiner Reise, nachdem ich inzwischen bereits Harro unsere Einwilligung zu seinem Vorgehen gegeben hatte. Dennoch war es mir wertvoll, von so berufener Seite über unseren Sohn und seinen Entschluß ein Urteil zu hören, das uns mit Befriedigung über unsere Entscheidung erfüllen konnte.

Nur zur Aufklärung eines scheinbaren Mißverständnisses möchte ich erwähnen, daß ich weit davon entfernt bin, die von Harro bereits zurückgelegten drei Lernjahre für ganz oder halb verloren zu halten. Ich bin nicht so engherzig, in dem ausschließlichen, eng umschriebenen Studium irgend eines Faches oder gar der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung das Heil zu erblicken (? Unleserlich, weggelocht). Im Gegenteil, ich empfinde Freude und Genugtuung darüber, daß mein Sohn gerade auch in seiner Allgemeinbildung sicherlich Anerkennenswertes erreicht hat. Mein Hinweis sollte Harro lediglich darauf aufmerksam machen, daß es an der Zeit sei, ein bestimmtes Ziel in Auge zu fassen, und mein Hauptbedenken war, (?weggelocht: daß) er das, was er jetzt als richtig erkannt hatte, auch durchführen werde.

Darüber haben mich nun ein weiterer Brief meines Sohnes und besonders auch Ihre Ausführungen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, beruhigt. Seien Sie nochmals unseres herzlichen Dankes versichert.

Mit größter Hochachtung. (gez.) Siegel, Studienrat

 

127. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 5.5.1921

Lieber Dr. Becker!

Mir ist etwas eingefallen: Vielleicht finden Sie mal einen kleinen Moment Zeit, daran zu denken, ob Sie mir nicht das nächste Mal irgend eine Aufgabe stellen können – ein Bild oder eine Folge von Bildern, am Ende mit bestimmten Ablieferungstermin. Wir sprachen ja mal über den stimulierenden Wert solcher Verpflichtungen.

Vielleicht bringt mich das aus dieser toten Zeit heraus. Denn, dem beziehungsheischenden Banne Ihrer Augen entzogen, kann ich es leichter sagen, wie sehr mich das Fehlen jeglicher Produktion seit 2 Monaten bedrückt; es muß mal etwas geschehen.

Dem Wiedersehen mit Muck1 sehe ich ruhig entgegen; ich glaube, ich gestehe mir noch nicht einmal ein, wie ruhig.

Immer Ihr Harro Siegel

 

128. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 17.10.1921

Mein lieber Harro!

Ich bin sehr besetzt diese Woche und muß mir’s deshalb in diesen Tagen – sehr zu meinem Leidwesen – versagen, Sie zu sehen. Donnerstag halte ich einen großen polit(ischen) Vortrag im demokrat(ischen) Klub, der mir den Mittwoch Abend kostet wegen der notwendigen Vorbereitung. Den Freitag Abend halte ich für Sie frei (Anmerkung Beckers: Peer Gynt). Ich habe zwar Staatsministerium, komme aber danach ins Schauspielhaus, wo Sie mich erwarten wollen. Billet holen Sie bitte vorher wie immer beim Portier ab. Wir werden allein sein.

Einlage gilt für ca. 10 Tage. Vielleicht interessiert es Sie am Sonntag mal hin zu gehen.

Ich freue mich sehr Sie wiederzusehen.

Wie stets herzlichst Ihr C.H.B.

 

129. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 22.7.1921

Viellieber Dr. Becker!

Wenn Sie nun schon seit nahezu einer Woche fort sind, so ist das für mich eine kleine halbe Ewigkeit. Ich fühle mich sehr zur Erfüllung meines Schreibeversprechens gedrängt (?). Es zeigt sich jetzt, daß Ihr Hiersein eigentlich die einzige wirkliche Rechtfertigung meines Berliner Aufenthaltes ist, daß ich nur um Ihretwillen mich hier, ohne andere Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen, so fest gebunden habe. Dies als Liebeserklärung vorweg. Ich entbehre sehr unser Zusammensein. Die Aussicht darauf war immer Ziel und Mitte während der Wochenarbeit. Von dort bezog ich meine Widerstandskraft gegen das Hineingeducktwerden in die Banalität. Ich will nun versuchen, Ihnen zu sagen, was mich diese ganze Zeit über bedrückt und des öfteren sehr erschreckt hat. Es ist das Gefühl, mit meiner Jugend höchst unhaushälterisch (ist nicht das rechte Wort) umzugehen. Statt der Erweiterung und Vertiefung meines Geistes

zu leben, lebe ich der Erlernung einer stumpfen Handarbeit, deren Vergeistigung mir nicht innerer Zwang, sondern nur theoretisch anerkannte Aufgabe ist.

Und nun etwas sehr abenteuerliches (? Schlecht lesbar), das ich nur Ihnen und nur sehr verstohlen sage: Auch der homo academicus ist doch nur oder vorläufig nur ein Lack, eine Fassade. Zuinnerst sitzt, glaube ich, ganz einfach noch ein Junge, der sich in Wiesen und Wäldern, unter Sonnen und blauem Himmel austoben müßte.

Wie im vorigen Jahre noch nackt impudent2 in der Sonne zu liegen, hat für mich noch immer einen Zustand höchster Euphorie bedeutet, den ich jetzt schmerzlich entbehre. Nicht wahr, Sie wittern da keine Romantik; das Bewußtsein vollendeter Einheit mit der Umwelt, das ich in solchen Momenten habe, entbehrt dann jeder Gefühlsduselei. Wirklich; Sie werden es auch begreifen, daß ich dann mich als Kaldakayersatz (?unleserlich) fühle; ein Gedanke, über den ich in jeder anderen Lage nur lachen kann.

Diesen kleinen Ausbruch mußte ich mir mal gestatten; ich finde, er ist noch recht zahm ausgefallen.

Es ist doch wunderbar, daß ich ihnen das sagen kann, wenngleich ich gestehe, daß ich das eben Gesagte doch lieber schriftlich, als Auge in Auge vorbringe.

Und nun etwas anderes, was ich auch leichter so sage.

In unseren letzten Gesprächen über Ritter hat sich gezeigt, daß wir an einer Stelle nicht denselben Weg wandeln. Ja, ich will es nicht länger geheimhalten: Wenn Sie mir seine Briefe vorlasen, so schrie es oft in mir: „Ja, ja, so ist es; es kann nicht anders sein.“ Und sein Ringen um Ihr Verständnis habe ich bis zum Schmerzlichen miterlebt. Er redete ja doch auch in meiner Sache.

Selbstverständlich halte ich seine Ausbrüche gegen Sie für unberechtigt und aus Überreizung geboren. Fragten Sie mich aber um meine Meinung, so kam ich oft in einen Konflikt zwischen dem, was ich glaubte sagen zu müssen, und dem, was ich unterdrückt habe aus Furcht, von Ihnen nicht verstanden zu werden.

Relativistisch könnte man es ja bei der Anerkennung beider Standpunkte lassen; ich glaube aber an eine Einigungsmöglichkeit, besser sogar Einheit. Nur will ich es hier noch einmal für mich so aussprechen. Würde ich forensisch befragt, so würde ich mich mit Haut und Haaren der Ritter’schen Theorie verschreiben, mag gleich die Gesellschaft sich auf den Kopf stellen.

Entschuldigen Sie, dies wirkt jungenhaft. Überhaupt ist mein Brief nicht, wie ich ihn wünschte. Ich möchte mehr sagen, und ich möchte es besser sagen. Nun, wenn Sie ihn in Gnaden annehmen, so hoffe ich das nächste Mal noch einen besseren Ton zu treffen.

Geht es Ihnen gut?- Es grüßt Sie sehr

Ihr Ihrer viel und gern gedenkender Harro Siegel.

 

130. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Villa Becker, 24.7.1921

Mein lieber Harro!

Ihr Brief hat mich erschreckt und erfreut. Erfreut durch den warmen und offenen Ton, der allzeit zwischen uns bestehen soll, erschreckt durch die Erkenntnis, wie viel unbewußte Verantwortlichkeit ich an Ihrem derzeitigen Dasein trage. Ich habe mich immer bemüht, keine Suggestion auf Sie auszuüben; denn Sie sollen ein freier, autonomer Mensch werden. Jeder Widerspruch war mir willkommen, namentlich in der Wahl Ihrer Arbeit nur Ihrem inneren Bedürfnis entgegengekommen zu sein. Nun meinen Sie Ihr Leben nicht richtig zu erfüllen. Wären die quälenden Stunden künstlerischer Produktionsunfähigkeit eine Ihnen genehme Erfüllung gewesen? Sind Sie nicht erst 21? Und liegt somit der fruchtbarere Teil Ihrer Jugend nicht noch vor Ihnen? Fassen Sie jedenfalls keine übereilten Beschlüsse!

Daß Sie sich noch als großen Jungen fühlen, der am liebsten nackt im durchsonnten Grase läge und mit der Natur wunschlos in Eins verwüchse – das war mir keine Offenbarung. So habe ich Sie immer angesehen. Das ist aber nur eine Ihrer Seiten, wenn auch vielleicht Ihre wertvollste. Das ist nämlich kein Infantilismus sondern echtester Humanismus, von dem auch ich gottlob noch ein gut Stück besitze. Erhalten Sie sich dies seelisch-körperliche Bedürfnis. Ich habe es mir erst nach langen Irrfahrten wiedererworben. Es ist das beste Gegengift gegen den Zweifel am Ich, gegen das Mitleid mit sich und gegen die Kleinbürgerlichkeit – lauter Eigenschaften oder sagen wir seelische Unarten, mit denen Sie auch zu kämpfen haben. Ihr Künstlertum liegt in Ihrer Jungenhaftigkeit in diesem Sinn. Bisher haftet Ihren Werken auch zu viel Schmerzgebrochenes an. Ich sehe darin noch Ihre Hemmungen, über die Sie nur der Humanismus, wie ich ihn eben umschrieb, hinwegbringen wird.

Daß Sie sich menschlich-persönlich bei mir etwas in Behandlung gegeben hatten, ist mir auch nicht verborgen geblieben. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut. Daß Sie auch mir viel, sogar sehr viel gewesen sind, haben Sie bemerkt. Auch ich habe mich von einem Zus(am-men)sein auf das nächste gefreut. Für mich waren das seelische Ruhepunkte in einem tiefbewegten, inhaltsübervollen Leben. Ich rechne bestimmt damit, daß unsere Beziehungen ein Lebenswert für uns beide bleiben werden, aber schließlich muß der werdende Mann den Weg zum Ich finden. Hoffentlich haben Sie empfunden, daß ich Ihnen dazu helfen wollte. In Ihnen steckt viel Harmonie, viel was nur Harro Siegel ist, aber es ist doch noch von manchen Eierschalen überdeckt, die manchmal Licht und Luft nehmen. Nichts ist umsonst unternommen was direkt oder durch Protest gegen mich oder Ihre Arbeit Sie sich selbst entdecken läßt. Ich predige weder Stolz noch Wehmut, sondern nur schlichte Selbsterkenntnis. Und nur nichts verdrängen, sondern bewußt sublimieren auf Grund der Erkenntnis in das Wesen des eigenen Selbst. Sie werden als Künstler und Mensch nicht durch Sturm, sondern auch bei Ihnen naht sich der Herr wie bei Elias in leisen Säuseln. Verstehen Sie mich ganz?

Über den Fall Ritter kann ich nicht ganz so sprechen wie ich möchte, weil es zu weit führen würde. Auch habe ich deshalb noch immer nicht an Ritter geschrieben. Mir ist nichts Menschliches fremd – das kann ich offen und ehrlich aussprechen. Mir ist auch Ritters Denkweise nicht fremd, aber ich verstehe auch die des alten Heiß (?). Ritter ist genauso einseitig eingestellt wie E’s Vater (??). Als Dritter kann man nur dann richtig urteilen, wenn man nach beiden Seiten hin menschlich mitfühlt. Schalten wir den Vater aus, so liegt der Fall schon anders. Dann halte ich es mit Plato, aber nicht mit dem was Plato ebenso menschlich verzeiht, sondern ich fordere mit Plato das Höchste was Plato selbst fordert. Ritter und Sie übersehen immer, daß über aller Duldung bei Plato eine sittliche Forderung steht. Das mag sehr unbequem sein, aber dieser Forderung liegt eben eine Vernunfterkenntnis zu Grunde, die auch mir unabweisbar erscheint, und ein Menschenverständnis, das allen Seiten gerecht wird. Und noch ein Drittes und Höchstes: Ein Erlebnis und eine Segnung durch dies Erlebnis. Mit 21 hat auch Plato vielleicht gedacht wie Sie, mit 45 schrieb er was er schrieb. Und Ritter ist keine 21 mehr. Gerade dieser Umstand, den er immerbetont, sollte ihn zwingen wie Plato zu handeln.—

Mir geht es gut. Ich erlebte im großen Geschwisterkreis mit meiner Frau (meist noch ohne Kinder) sehr stille Tage, mit einsamen Wanderungen auch mit meiner Frau, langem Liegen unter durchleuchteten Buchen, nachts auf weiter Terrasse mit unbegrenztem Blick in die weite, schlafende Ebene mit einem großen Himmel darüber. Manchmal denke ich auch an Sie, Ihre Sorgen und Nöte, Ihr Können und Ihr Sein. Dann trage ich auch Ihr Schicksal auf liebendem Herzen. Ihr Becker

 

131. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 26.7.1921

Lieber Dr. Becker!

Über Ihren Brief habe ich mich nur gefreut und danke Ihnen von Herzen dafür. Ich sehe, daß ich schwärzer gemalt habe, als richtig war. Zu erschrecken brauchten Sie nicht. Ich glaube, – hören Sie: ich glaube auch an die Fruchtbarkeit meines jetzigen Daseins, mit allen Licht- und Schattenseiten. Mir lag daran Ihnen auszudrücken, daß Sie auf der allerhellsten Lichtseite

stehn. Und dann hatte ich etwas Großstadtüberdruß, der sich ja in Staub und Hitze dieser Tage unbedingt einstellen mußte.

Ich bekämpfe ihn dadurch, daß ich jeden Abend schwimmen gehe, und mit bestem Erfolge. Ausgesaugt und ermüdet komme ich nach Haus und schlafe traumlos.

Verzeihen Sie es mir, wenn ich noch einmal „zum Thema“ spreche. Sie schreiben, daß bei Plato über aller Duldung eine sittliche Forderung stehe. Gut. Dabei fällt mir als Gegenbeispiel Tolstoj ein. Genau dasselbe läßt sich von ihm sagen in Bezug auf das mann-weibliche Verhältnis. Nur wird hier merkwürdigerweise jeder zugeben, daß das zu weit gegangen sei, und man führt rationalisierend das Gattungsinteresse ins Gefecht. Einen Fortpflanzungstrieb gibt es aber bestimmt nicht.

Weiter. Nehmen wir Goethe. Es würde eine Lücke in der Sphäre Goethe entstehen, wollte man seine Liebeserlebnisse als ungeschehen annehmen. Wer fragt hier danach, ob es dabei bis zum Letzten kam? Mit Selbstverständlichkeit wird das zur Nebensache. Hier sieht man die Versittlichung und Vergeistigung…

(Schluß fehlt)

 

132. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Fulda/Frankfurt/Main, 1.10.1921

Lieber Freund!

Hatte sehr schöne Tage in Leipzig. Alles verlief glänzend. Und Ritter erschien unerwartet. Ich hatte langes Gespräch mit ihm: seitdem ganz beruhigt. Er ist jetzt wirklich auf dem richtigen Wege. Ich schreibe dies im Zug zwischen Bebra und Frankfurt. Viel Vergnügen mit den „Meistersingern“ und gute Enrfolg bei den Beratungen mit Gericke und Sell.

Herzlichst Ihr B.

 

133. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin?), 18.11.1921

Lieber Harro!

Ich habe mich im Tage geirrt. Die Pfitzner-Première ist erst Morgen (Sonnabend). Also dann auf Wiedersehen. Herzlichst. Ihr Becker

 

134. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 26.12.1921

Mein lieber Becker

Zeichnung Harro Siegel
Zeichnung Harro Siegel

Bei dieser Anrede überläuft mich ein schöner Schauder, wie bei einem eigentlich unerhörten Wagnis.– Und den genieße ich (-wie schon immer!).—Ich stelle es aber gleich voran: Du mußt Dich mit der Immanenz dieses Briefes begnügen, denn über Dich und mich kann ich trotz vieler Fülle eigentlich nur schweigen.; und sonst habe ich wenig zu leiden, also wenig zu sagen.

Etwas psychoanalytisch geredet: Von meinen beiden Carmiliumimagines lebe ich fast ausschließlich in der guten, was jedoch durch eine leise Regression in die böse einen gewissen spannenden Nebenzweig bekommt.

Ich sehe es ein, daß mit heftigem Ringen um Loslösung von der Familie schließlich doch eine ebenso heftige Bindung an sie parallel laufen muß. Man bleibt zu einem Teil ein ewiger Junge, der verwöhnt und gehätschelt wird und manchmal etwas „hochgenommen“ werden muß. Aber ich will es ja gar nicht anders.

Laß mich Dir ein etwas abwegiges Geständnis machen: Vorläufig in noch sehr tiefen und dunklen Gründen meiner Psyche regt sich ein leise nagendes Gefühl, – ein sehr häßliches und auch undankbares, dem ich vorläufig noch scheue, die Laterne gerade ins Gesicht zu halten. Ich kennzeichne es vielleicht halbwegs treffend als Ressentiment gegen mein Berliner Wohlergehen. Dies „im Sturm erobern“ doch nur zumeist unterschiedlicher Leute ist mir irgendwie unheimlich. Ich habe Angst um den Bestand meines „An-sich“ erwartet. Hinein gehst auch Du mit den anderen in eins: Du siehst mich, wie Du mich wünschst (und ich bin Dir gegenüber unbeabsichtigt so). Aber wie nahe liegt hier die Verführung zur Vita contemplativa, zum Pflanzen daheim: „Ist es nicht genug, wertvollen Menschen ein Lebenswert zu sein?“- Aber hier darf ich nicht stehen bleiben, – denn ich habe doch Schaffensdrang.

Nun, im Grunde ist meine letztjährige (im Zeichen Deiner Mentorschaft stehende) Entwicklung so unendlich weit, daß man wohl einige anrufbare Früchte daraus erwarten kann.

Ein etwas konfuser Weihnachtsbrief, wie? Es geht mir aber sehr gut!! Und das hoffe ich auch von Dir.

Geheimrat(?) R. sehe ich öfters. Davon mündlich Jedenfalls ist mein Verhältnis zu ihm nun auch so stabil, daß ich keinen Sturm mehr fürchte. Übrigens klagt er, daß Du überhaupt nicht mehr schriebest.

Nun wünsche ich Dir und den Deinen alles erreichbare Gute zum Neuen Jahre und bin

Dein Harro

 

135. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 28.12.1921

Mein lieber Harro!

Ich dachte mir gleich, daß Du etwas zögern würdest, ehe Du die Anrede an mich schriebst. Um so selbstverständlicher fließt mir das Harro und das Du, das ich ja innerlich schon lange zu Dir sagte. Daß man über Vieles, oft das Beste und Letzte, lieber schweigt, ist auch ganz nach meinem Sinn, und ich glaube auch, daß wir uns über das Ich und das Du nichts mehr zu sagen brauchen. Das so schrecklich objektive und prosaische Papier kann nur schaden, wo Lebendiges wirkt, so subjektiv es sein mag. Und neugierige Dritte geht es schon gar nichts an. Trotz allem hast Du in Deinem Brief schließlich mehr gesagt, als Du eingangs zu wollen schienst. Auch das habe ich verstanden und schon gewußt, ehe Du abreistest. Du erinnerst Dich vielleicht meiner mehrfach gestellten Frage an unserem letzten Abend. Damals schlummerte die Formel vielleicht noch in Deinem Unterbewußtsein, jedenfalls verstand ich die Unklaglichkeit ihrer bevorstehenden oder schon erfolgten, aber noch verschleierten Geburt mit einer Stärke, die mir fast physisch weh tat. Ich empfinde es nicht als Undankbarkeit, ich freue mich dieser Deiner Reaktion gegen das seelische Sybaritentum der letzten Monate. Sieh, seit langem hoffe ich auf dies Ressentiment bei Dir und wenn Du mich auch – sicher mit Unrecht – mit den anderen in einen Topf wirfst, so will ich Dir doch sagen, daß Du mich schon zu meiner Reaktion auf den Chinaplan hättest erkennen können. Ich sehe Dich nicht nur, wie ich mir Dir wünsche. Ich sehe Dich mit doppeltem Gesicht. Das eine ist sehr nüchtern und sehr kritisch. Aber ich weiß, daß Kritik oder pädagogisch angewandte Kritik bei Menschen Deines Schlages doch nicht verfängt. Umstände und Erfahrungen müssen den Antrieb bringen. Man kann sie massieren helfen und auf die Wirkung warten. Das ist die einzige Pädagogik, die ich bei Dir angewandt habe. Ich habe Liebe auf Liebe gehäuft in der stillen aber sicheren Hoffnung, daß daraus die Tat geboren werden müsse, die künstlerische Tat, auf die ich von Anfang an bei Dir hoffte. Ich ging mit Dir einen doppelten Weg: durch die Härte und Öde der Werkstatt und durch die Weichheit und den Reichtum persönlicher Wertung, die wenn etwas in Dir steckte, die verschlackte Flamme zum leuchtenden Durchbruch bringen mußte. Ich merke jetzt, daß eine erste, noch scheue Flamme durchschlägt. Laß ein starkes Feuer daraus werden! Ich will kräftig blasen helfen, daß die Schlacken Deiner Passivität, Deiner Besinnlichkeit, Deiner Skepsis und Deiner Bequemlichkeit vom heiligen Eros zu Deiner Kunst und vom Glauben an Dich selber verzehrt werden. Das ist mein inniger Wunsch zum Neuen Jahr.

Und das andre Gesicht, mit dem ich Dich sehe? Das ist allerdings unbedingt, das geht nicht auf Experimente aus und will nicht erziehen. Das geht von Mensch zu Mensch, das sieht den „ewigen Jungen“ wie den werdenden Mann, die doch im Grunde eins sind. Das sieht die Zusammengehörigkeit, ohne den Zwang übersteigerte Bindung, ohne „Vergottung“, ohne Schwüle – kurz, ohne allen Un-Sinn, weil eben Sinn und Sein alles ist. Und wo dieser letzte Sinn herrscht, da braucht er keinen Namen, wie auch der Vater im Hause nur der Vater und der König im Lande nur der König heißt. Und so läuft das Wissen um den Sinn eben auf Schweigen hinaus.

Du siehst, ich habe Deinen Neujahrsbrief nicht so konfus gefunden wie Du selber ihn fragendst bezeichnest. Mögest Du Dir bewußt werden, daß ich Dich auch diesmal besser verstanden habe, als Du glaubtest. Und Du bist ja gewohnt, schon einiges vorauszusetzen.—

Wir hatten ein sehr schönes Fest – selten harmonisch und warm. Die Kinder waren köstlich und innerlich. Es wurde viel Liebe geschenkt und empfangen. Am 2.ten Feiertag waren Wendes mir ihren drei Kleinen bei uns. Er schien sich über die Bildersammlung sehr zu freuen.. Er schenkte mir Sa’di und ein lang gehegter Wunsch! – sein Bild. Dann begann wieder der Alltag, aber durch einige Sonntagsunterhaltungen mit Landé und anderen verschönt. Morgen nacht fahre ich auf einen Tag nach Cöln zum Kardinal, wenn nicht der Streik uns daran verhindert.

Dein schönes Bild hängt jetzt als Pendant zu Deinem ersten und interessiert und gefällt sehr. Auf Deine innere Vorbereitung für China schließe ich aus Deiner hübschen Skizze. Hab Dank dafür. Grüße die Deinen und Ritter, aber behalte bitte diesen Brief für Dich. Er ist ein persönliches Neujahrsgeschenk.

Dein CHB.

 

136. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.1.1922

Lieber Carl!

Wende hat doch wirklich recht: Menschen untereinander dürfen nicht restlos offen sein. Es ist nicht ethisch.- Ich mußte neulich restlos offen sein; jetzt ist mir das sehr übel bekommen.- Ich schrieb von einem Brief, den m(ein?) V(ater?) das Unglück hatte zu lesen. Diese Indiskretion hat für uns beide die grauenhaftesten Folgen gehabt..-

Er drang vorgestern Abend auf Erklärung und volle Wahrheit. Da ich eine hart im Raum stehende Äußerung (ich hatte ihn als Fremdkörper in der Familie bezeichnet) zu rechtfertigen hatte, so sah ich keinen Ausweg, als dem zu folgen. Es war über jedes Maß hinaus entsetzlich, trotzdem ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis ausstellen darf, mich durchaus anständig benommen zu haben.- Aber was für mich seit langem unverbrüchliche Tatsache war, – das traf ihn in dieser Absolutheit offenbar als ein völlig Neues (?) mit erheblicher Wucht: unser völliges inneres Fremdsein nämlich; da dies auch für meinen Bruder gilt, so hatte der arme Mann wohl recht mit den Worten, „ich zerstöre sein Leben“. –

Ich kam mir vor wie ein Henkersknecht, alle Zorn- und Rachegefühle schwanden im Lauf der Auseinandersetzung, trotzdem er vorläufig noch nicht das Maß seiner und des Schicksals Schuld einsehen will und mich zum Sündenbock machen zu wollen scheint.

Aber es tut mir weh, ihn zu sehen; ich finde wieder, daß ich ihn doch lieb habe. Woher die Kraft nehmen und wie den Weg finden, ihm das zu zeigen?. Jetzt wird er mir’s schon gar nicht mehr glauben. Vielleicht tust Du’s mal für mich.

Wir leben äußerlich so weiter wie bisher, und die Atmosphäre ist wenigstens nicht mehr so geladen wie bis dato.

Auf alle Fälle ist es gut, daß ich jetzt fortkomme. Obwohl – der Zwiespalt ist grausam – mich eine ebenso starke Kraft hier hält: das ist meine Liebe, wie Du denken kannst. Sie hat allerlei Stöße auszuhalten, aber sie wird stetig tiefer.

Ich klage nicht mehr über Mangel an Urerlebnissen; wenn ich noch hinzufüge, daß ich außer zum Buchbinden (gestern freilich mußten wir 55 Zentner Braunkohlen ins Kellergewölbe schaffen) zu nichts komme, als zu sehr oberflächlicher Lektüre freilich sehr rechtschaffner Bücher und zu sehr wenig Schlaf (erstens komme ich zu wenig an die Luft und zweitens bin ich zu verliebt),- so hast Du alles, was Du brauchst, Dir ein Bild meiner Tage zu machen. Aber ich halte aufrecht, was ich das letztemal schrieb: Es geht bergauf: – Ich habe mein Gesuch an die Handwerkskammer losgelassen. Findest Du es richtig, wenn Gericht gleich von sich aus ein befürwortendes Schreiben dazutut? Dann würde ich ihn sofort darum bitten.

In Berlin – bei meinem ausgezeichneten Meister – hätte ich es vielleicht zu einer 1 in der Prüfung bringen können; hier muß ich froh sein, so durchzukommen.—

Grüß bitte Hedwig (?) und alle anderen. Herzlichst Dein Harro.

 

137. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 20.1.1922

Mein lieber Harro!

Es geht mir etwas gegen den Strich, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag schreiben soll. Ich hätte ihn gern mit Dir verlebt und Dir etwas Ersatz geboten für fehlendes Vaterhaus; denn mag sich auch noch so vornehm über Zeiten und Termine erheben, gerade „große Jungen“ lassen sich an solchen Tagen doch gern auch einmal streicheln und das Gefühl gefeiert zu werden macht warm, tut wohl und gibt Kraft. Außerdem ist das Leben so kurz und man macht sich’s

meist durch lauter Bedenklichkeiten so schwer, daß man die Feste feiern soll, wie sie fallen; dann darf man sich sagen, daß man sich lieb hat, ohne daß es gleich sentimental wirkt, dann darf man sich versöhnen, ohne daß man sich selbst den Krampf der mangelnden Pädagogik machen müßte – und schließlich gibt’s doch nichts Schöneres, als wenn man einmal selbst im Rahmen des Herkommens wahr sein darf, wenn die Form zum Sinn wird und die Festtagsfeiern doch nur den Ausdruck der Alltagsstimmung zwischen Mensch und Mensch wiedergibt. So wenigstens empfinde ich an Deinem Geburtstag und so hätte ich ihn gern gefeiert.

Feiern, mein lieber Harro, will ich ihn aber auch so. Den Plutarch habe ich Dir schicken lassen, wenn möglich gebunden. Ich war die letzten Tage vor der Abreise wenig wohl und habe mich nur sehr schwer zur Abfahrt am Dienstag entschlossen – noch Abends vorher mußte ich den Arzt kommen lassen -, sodaß ich nichts mehr selbst besorgen konnte. Wenn die Bücher deshalb wenig geburtstäglich ankommen, so schieb’s auf die leidigen Umstände. Einige materielle Dinge, die Dir sonst noch zugedacht waren, gebe ich Dir erst nach der Heimkehr; dann unterteilt sich’s besser, da doch sicher zum 24.ten auch in Cassel einiges eingeht.

Unser letzter Abend, so schön er war, bleibt für mich etwas unbefriedigend. Es ist etwas nicht zu Ende beredet worden. Das für mich ganz überraschende Problem L. (??3) mit seinen Auswirkungen hat die Besprechung der Dinge verhindert, von denen ich eigentlich erwartet hatte, daß sie zum Sprechen kommen würden. Ich denke an Deine eigene nicht menschliche, sondern berufliche Zukunft. Die aufrüttelnde China-Episode hat doch auch Dich veranlaßt, Deine berufliche Ausbildung nochmals zu durchdenken. Du wirst natürlich Deine jetzige Ausbildung zu einem gewissen Abschluß bringen – also allzu eilend ist die Sache nicht, aber wenn Du mir von dem Haufen schriebst, den Du abzuladen hättest, so dacht ich immer zuerst an die Entwicklung Deiner Berufsstellung. Seitdem ich Deine Zeichnungen gesehen habe, habe ich doch auch eine andere Anschauung von Deinem Können erhalten und möchte Dir sogern helfen, das wirklich künstlerisch Wertvolle in Dir zur Entfaltung zu bringen. Darüber müssen wir reden.

Inzwischen beschäftigt mich die Angelegenheit L. natürlich auch sehr. Ich werde ihn nächste Woche hier oder in Cassel treffen und das wird zu mancher Aussprache Anlaß geben. Ich werde ihm natürlich völlig die Initiative überlassen. Er muß mit Göttingen wieder anknüpfen. In solchen Fällen darf man nicht entweder –oder sagen. Ob Du schon Gelegenheit hattest mit ihm zu sprechen?

Wenn alles nach Wunsch läuft, bin ich am 26.ten Abends bis 29.ten Abends 8 (Uhr) in

Richerts Hotel, Cassel. Ich werde wohl mal nach Zwehren (?) hinausfahren, sicher aber nach Humboldtstraße 30. Was meinst Du, wenn ich mich Sonntag Nachmittag zwischen 4 und 5 (Uhr) bei Euch ansagte? Oder gibt es irgend welche h(eiligen) Gesetze über den Sonntag Nachm(ittag) wie Club, Familiencafé oder Spaziergang übers Land? Eigentlich ginge ich lieber ohne Landé hin; wenn er aber da ist, werde ich ihn kaum nicht mitnehmen können. Die Nacht von Sonntag auf Montag fahre ich zurück und erwarte dann daß Du Montag Nachmittag mal nach mir schaust. Bis zum 26.ten Nachmittags bin ich hier.

Und nun, leb wohl, mein lieber Harro! Was man als Vater, Bruder und Freund für einen geliebten Menschen auf dem Herzen haben kannst, das setze ich bei mir für Dich voraus. Laß es auch in Deinem neuen Lebensjahr – übrigens das erste, das ich bewußt mit Dir antrete – zwischen uns so bleiben, wie’s geworden ist. Und m(u)st (weggelocht!) Du wachsen vor den Menschen, vor mir und – vor Dir.

Dein C.H.B.

138. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 24.1.1922

Mein lieber Becker!

Es traf sich merkwürdig gut, daß ich gerade heute morgen Deinen Islam in die Hände bekam und den ganzen Tag daran zu tun hatte. Dieser Mittelsgegenstand ließ mein Tagträumen sich immer wieder um Deine Person verdichten. Und so war ich die ganze Arbeitszeit über in stiller und angenehmer Feierstimmung (trotz allerübelster Gegenströmungen meisterlicherseits)! Ich fand es dann auch nicht mehr nötig, zu noch größerem Schwung auszuholen; habe meine Pakete ausgepackt und gedenke mich nach Absendung dieses Briefs in mein Bett zu verkriechen. (Denn es ist allem Feuern zum Trotz erbärmlich kalt.)

Für Deinen Brief, den ich schon Sonntag erhielt, danke ich Dir von ganzem Herzen. Ich bin ja so dankbar, daß ich Dich habe. (Dankbar nicht irgendwem, – aber man umschreibt mit diesem Wort doch gut den Gefühlsinhalt, über den ich mich hier wohl nicht weiter zu äußern brauche.)

Der Plutarch kam gestern in einem vorläufigen (weil beschädigten) Exemplar; man hofft bald ein besseres zu besorgen. Ich freue mich wirklich sehr über diesen Besitz.

L(andé) habe ich inzwischen noch gesprochen. Ich glaube zu sehen, daß sein Verhalten zu mir jetzt von selbst eine Richtung nimmt, der ich Gegengewicht geben kann. Auch nach seinem heutigen Geburtstagsbrief scheint es mir so.- Wenn sich das in Zukunft bestätigte,- ich wäre ungeheuer befreit! Es sei wie es sei – er wird mich nie völlig verstehen können. Wieso, weiß ich natürlich auch nur zum Teil. Es ist eben nicht anders.

Übrigens gedenkt er nächsten Sonntag nach Göttingen zu fahren. (Zeige es ihm nur nicht zu sehr, daß Du Dich darüber freust.)- Doch müssen wir über all dieses noch mehr als ein Wort sprechen, auch über das Entweder-Oder– Du hättest dann auch die Möglichkeit, Sonntag nachmittag ohne ihn zu meinen Eltern zu gehen (was mir natürlich auch lieber ist). Von meiner Mutter bekam ich einen Brief, der mir sehr nahe ging.- Ich konnte Weihnachten zu keiner wahrhaften Aussprache mit ihr kommen; sie leidet offenbar auch sehr unter dem Gefühl, ich sei unzufrieden, zwiespältig. (Sie hat auch recht; es ist doch noch oft so.)- Nun kam hinzu, daß G.R in Kassel war, der mich auch in der Zeit dort, wo ich nicht mit ihm zusammen war, sehr in Anspruch nahm; ganz naturgemäß fühlte ich mich in die letzten qualvollen Jahre, die ich zu Haus verlebte, zurückversetzt; kurz, mich quält jetzt der Gedanke, sehr viel Liebe, die man mir entgegenbrachte, nicht beachtet zu haben, allzu sehr verkapselt in mich selbst.- Ich sehe doch selbst noch so sehr wenig klar: was hilft es auch, wenn ich die (unleserlich: Aura?) meiner Zwiespaltenheit bald so, bald so benenne? Ich habe noch soviel dumpf-chaotisches in mir, daß ich zwar hoffe, daß daraus noch mal irgendwas (unleserlich: Brauchbares?) hervorgehen kann, daß aber Angst und Melancholie mich jetzt meistens an solchem Darüberstehen hindern.- Die gelassene Ruhe, in der Du mich für gewöhnlich kennst kommt eben nur in Deiner Gegenwart über mich;- umso wohltuender ist sie, – aber sie ist noch völlig die Ausnahme.- Sollte es sich ergeben, daß Du mit meiner Mutter allein sprechen kannst (was ich kaum glaube), so sage ihr bitte, daß ich alles, was an guten und zukunftsvollen Kräften etwa in mir ist, als von ihr allein kommend betrachte, und daß es vielleicht der Kampf um die Durchsetzung dieser Kräfte ist, der mich so unerträglich an mich selbst fesselt. (Es ist vielleicht gut, wenn Du gleich nach Deiner Ankunft anrufst, dann richtet man sich auf alle Fälle auf Dich ein.)- Wenn Du irgend Zeit hast, besuch doch die L(andés?) in Galwin (?). Sie ist wundervoll.-

Du hast schon durchaus recht; daß L(andé?)-Problem mußte seiner Zeit heraus, weil die Zeit dazu drängte. An innerer Wichtigkeit kann es sich mit der Berufsfrage (die aber das Gegenteil

von äußerlich maßgebend ist) nicht messen.

Hier stehe ich erst an der Wurzel meiner derzeitigen Nöte. Und noch völlig im Dunkeln.- Ich wünschte wirklich, Du besuchtest meinen Freund Hermann Cohn. Durch einen plötzlich einsetzenden zweimaligen Briefwechsel mit ihm ist mir mein sog. „Künstlertum“ so fragwürdig geworden, wie noch nie. Denn ich sehe bei ihm, was es heißt Künstler von schicksalswegen zu sein. Aber schließlich brauche ich nur ein Museum zu besuchen oder etwas von Goethes Briefen zu lesen, -und ich erlebe dieselbe (unleserlich: Quelle?) des Vergnügens, das Ausbleiben einer Ruhe von literarischem (kunsthistorisch wertvollem!) Dilettantismus. (Frage Landé auf Ehre und Gewissen: Er muß Dir dies bestätigen; und hierin kann man ihm schon glauben; denn er ist nur Künstler, nur Maler, – alles andere ist unwichtig).

Alle diese Dinge wühlen aber noch so in mir, daß ich lieber nicht weiterschreibe. Entschuldige überhaupt, daß dieser so behaglich (unleserlich) beginnender Brief sich auf einmal so wandelte. Es sollte eigentlich nicht sein. (Aber da ja Du es bist, mag’s stehen bleiben.) Ob ich bald oder erst später mit Dir davon sprechen werde, weiß ich nicht. Aber es kommt!

Grüße Landé; vielleicht schreibe ich ihm nach C(assel).

Es hat Dich sehr lieb Dein Harro.

 

139. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Cassel, 27./28.1.1922

Wir haben keinen Moment Ruhe, kommen auch nicht ins Fried(rich?)Gymnasium, da es zu schlecht ist. Morgen Samstag gehe ich um 5 Uhr zu Deinen Eltern. Dank für Deinen Brief nach Gelnhausen, über das weitere mündlich! CHB.

Nachtrag einer 2. Person:

Die Reise ist schön, Cassel zeigt sich frisch im Sonnenschein. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, der mich ganz froh begrüßte. Sehen wir uns Montag, da Dienstag abwesend? Herzlichst Ihr Walter L(andé?)

 

140. C.H.B an Harro Siegel. (Berlin?), 8.2.1922

Lieber Harro!

Mein Vortrag fällt aus.

Wir erwarten Dich Sonntag 1 Uhr zum Mittagessen. Keine Antwort = Zusage.

Beiliegende Unterstützung Deiner Junggesellenwirtschaft nimm freundlich auf – ohne weiteren Dank. Habe sie selbst für Dich erstanden.

Brief von Ritter erhalten; wenig erfreulich. Näheres Sonntag.

Herzlichst Dein CHB.

 

141. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 25.2.1922

Mein lieber Carl!

Du behältst recht: zu Besorgnissen ist kein Grund.- Aber ich wollte es vermeiden, noch mal so zu schreiben wie neulich. Ich wollte alles hinter mir haben.- Ich schrieb damals etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das soll heißen: Mein Brief beansprucht keine objektive Geltung, er ist nur ein Mittel zur Gemütserleichterung. Wäre es anders, dann wäre es freilich schlimm. Ich habe meistens immer noch so trübe Stunden, daß auch weitere Briefe so ausfallen würden. Aber das Ende zieht sich hin und zieht sich hin, und ich lasse Dich zu lange warten.

Ich war ganz gerührt heute morgen, als ich die Briefe von Dir und Cohn fand.- Hab vielen Dank für Deine Sorge.- Die Prüfung sollte Ende (?) des Monats sein; aber trotzdem ich seit 1 ½ Wochen täglich ununterbrochen 10-12 Stunden arbeite, kam ich mit meinen Probearbeiten nicht zu Rande. Ich muß eben immer wieder Werkstattarbeit dazwischen tun. Auch heut, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Morgen hoffe ich, zum Abschluß zu gelangen, und dann, denke ich, wird in einer Woche die Prüfung steigen.

Übrigens, falls Ihr etwa hochgespannte Erwartungen habt, – es ist nicht anzunehmen, daß ich hervorragend abschneiden werde. Rite, mehr nicht- Vor einem halben Jahr wär’s besser geworden; ich habe zuviel grobe Arbeit getan inzwischen.

Ich möchte gerne 1 Woche vor Ostern nach dort kommen, aber m(ein?) V(ater?) wird die Notwendigkeit dazu nicht einsehen. Und er muß jetzt wie ein rohes Ei behandelt werden. Wenn Du denkst, mit der Zulagensache hätte ich ihn mißverstanden, so ist dem leider nicht so. Es ist ja so fürchterlich, aber hier streckt er eben seine Wurzeln ins Irrationale. Das gibt’s eben auch. Ha, er hat ja nun seinen Willen.

Ich fühle mich allmählich etwas abgekämpft, aber die Nähe der Erlösung, Deine liebende Sorge und meine immer tiefer werdenden Gefühle für den süßen Jungen (ich darf das doch schreiben?) tragen mich über alles hinweg. Körperlich geht mir’s gut.—

Leb wohl, mein lieber Carl! Stets Dein Harro.

 

142. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel, Berlin Frankfurt/M, 26.2.1922

Hoffentlich hast Du bei Deiner heutigen Wanderung so schönes Wetter wie wir hier. Dies als Zeichen treuen Gedenkens im Festtrubel der Goethewoche. Dein CHB

Nachtrag 2. Person:

Wenn Sie wüßten, wie Sie B(ecker) fehlen! Grüße von –au! – Erich Siegelersatz.

 

143. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 13.5.1922

Mein lieber Carl!

Wenn Du Dich auf Deiner Münchener Karte, für die ich herzlich danke, so mit C.H. unterschreibst, so ist es wohl (griechischer Ausdruck), wenn ich obenstehende Anrede hinschreibende Sie hat eine ganze Weile allein dagestanden und kam mir merkwürdig genug vor. Ich erinnere mich noch jenes freudig-beklommenen Schauders, mit dem ich nicht in einem Brief nach Gelnhausen den Dr. vor Deinem Namen fortließ. Auch diesmal empfinde ich Schauder, aber er geht tiefer und ist heiß. Es ist das Gefühl, Dir verfallen zu sein, was über mich gekommen ist, deucht mich. Wie unendlich schön ist es deshalb, daß diese Bindung so klar ist. Es gibt andere, die sind dumpf und verworren, – sie drücken nieder. So ist es bei uns nicht! Aber damit will ich nicht sagen, daß mir unsere Bindung nicht auch schmerzlich wäre. Wieso, das ist nur in Aufsätzen zu „verworten“. Ich vermute, es ist im Grunde das tief-beunruhigende Gefühl des Auseinanderklaffens von Ich und Ich-Ideal, das ich nie verliere. Ich bin imstande, mir einen Harro zu träumen, den ich unbedingt für wert erklären würde, von Dir geliebt zu werden, und den ich selbst auch sehr liebe.

Aber der andere Harro ist eben nicht so, und jetzt weniger als je. Du hast ja selbst bemerkt, wie eigentümlich stumpf ich in letzter Zeit geworden bin; stumpf, innerlich allzu nachgiebig, irgendwie – es sei gesagt – würdelos!

Ich muß wiederholen: fern von Dir ist mein Zustand in der Regel ein gewaltsames Augen-zu-drücken vor der eigenen Umwelt und fernzuhalten vor inneren Pflichtgeboten. Oder (?weggelocht) er ist Verzweiflung (aber das ist zu hochtrabend gesprochen und kommt mir kaum zu!)- Nun ist es ja so, daß all dies (es ist ein Riesengebiet, – wozu Einzelheiten geben?) vor Dir verschwindet, der Spalt beginnt sich zu schließen, ich komme zur Ruhe, schlafe sozusagen ein. (Peinlicherweise drängt sich mir hier der Vergleich mit einem Kinde auf, das in den Schlaf gewiegt wird. Geschmacklos, wie?)

Nur, ich schlafe nicht genug ein, es bleibt hartnäckig ein leiser, dumpfer Schmerz; worüber? Ich will mal sagen, über meine Unehrlichkeit. Ich weiß ja, daß Du mich kritisch siehst, ich habe Dir ja auch oft genug von meinen kleinen und größeren Schmerzen gesprochen. Aber jenes Gefühl bleibt. Wie soll ich dahinter kommen, was es ist? Ich meine manchmal, es gibt Stücke von mir, von denen Du vielleicht weiß, die Du aber dennoch nicht kennst, nicht „erlebtest“ (nur sozusagen). Es sind böse Stücke, glaube ich, und doch nicht wertlose, an meinem Kern unleugbar wesentlich beteiligt. Nun, ich gebe es (vorläufig) auf, dahinter zu kommen.

Wenn Du mich (wie neulich) auf Ehre und Gewissen fragst, ob ich Dich wirklich liebhabe, so erwidere ich ehrlichen Herzens und ohne Anstrengung: Ja. Aber dabei weiß ich (und es tut mir weh): Du hast mich nicht ganz. Denn ich habe mich ja selbst nicht. Sich ganz geben und sich ganz haben ist ja wohl ein -; was soll ich es leugnen, ich habe mich noch keinem Menschen und keiner Sache „ganz“ gegeben. Wenn ich anders wäre, so würde ich das nicht wissen, ich würde Dich und mich glauben machen, ich gehörte Dir völlig und in diesem Rausch selig sein. Aber ich bin nun mal so und kann keinen Schaum schlagen. Aber dies ganze Geständnis ist (vielleicht) das Letzte und Höchste, was ich einem geliebten Menschen geben kann. (Skepsis beiseite.)

Mein erster Versuch, Dir dies zu sagen (sin of selflove…) war täppisch genug, – ich möchte ihn Dir immer wieder abbitten. Ob es diesmal besser gelungen ist?—

Du kennst meinen Haß gegen alles Literatentum. Und doch ist aus dieser Brief ein Zeugnis wider mich selbst hierin. Es sind gar keine Wörter, es sind immer bloß Benennungen, was ich schreibe: Aber ich glaube, Du spürst doch den echten Herzschlag hindurch. Kannst Du erfassen, wie ich Dich auf Deiner Reise begleite? Soll ich Dir sagen, wie mit jedem Gedanken an Dich Dein Bild realiter in meinem Auge entsteht, und wie ich es realiter in Herz und Zwerchfell spüre, daß hier etwas einigermaßen anderes vorgeht, al wenn an Herrn oder Frau XYZ denken? – (Ein bißchen bin ich ja auch stolz, von Dir geliebt zu sein.)

Äußerlich-beruflich geht es mir nicht schön. Gottseidank ist morgen Sonntag. Es ist gut, daß Du bald wiederkommst; ich habe allerlei noch zu sagen. – Wie ist Deine Reise? Ich wünsche Dir das Beste dafür.

Es grüßt Dich Dein Harro.

 

144. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Padua, 15.5.1922

Mein lieber Harro!

Also es ging alles gut. Die Stimmung ist glänzend. Es war ein ganz eigenartiges Fest. Namentlich der Festakt mit König, Kardinal Maffi (?), 100ten fremder Professoren in bunter akadem(ischer) Tracht und von 8000 Personen in dem riesigen 86 x 28 m großen „Salone“ war ein ganz einzigartiger Eindruck. Fabelhafte Disziplin der Massen, obwohl von vornherein 9/10 der Anwesenden kein Wort verstehen konnten. Meine Rede (deutsch, mit italien(ischem) Schluß wurde einfach glänzend aufgenommen und fast mehr applaudiert wie die der anderen fremden Redner. Es war ein kitzlicher Moment, aber es war ordre gegeben, alles Politische zu vermeiden. Der Franzose sprach direkt versöhnlich gegen den Völkerhaß und für die Gemeinsamkeit der Zus(ammen)arbeit aller Nationen sans exception. Man schwimmt mal wieder ständig in vier Sprachen und genießt Italien. Es ist einfach herrlich. Heute Abend ist Schlußbankett, dann Exkursion nach Venedig, wo noch Empfänge stattfinden. Ich nehme mir einen Studenten mit für 1-2 Tage (einen Südtiroler (jetzt Italien), der uns am Bahnhof betreute. Dann bleibe ich noch ein paar Tage allein. Der Betrieb hier ist fabelhaft. Du würdest Augen machen. Ich denke oft und stark an Dich. Dein CHB

 

145. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18.5.1922

Ponte dei Sospiri

Mein lieber Harro!

Dein guter Brief hat mich im Augenblick meiner Abreise aus Padua mit den ersten Nachrichten aus der Schillerstraße und von Wende erreicht. Also warst Du in der erwarteten Gesellschaft. Ich schreibe Dir heute oder Morgen, noch bin ich nicht allein und ziemlich bewegt. Es ist über alle Begriffe schön hier. Gewiß hat man nicht mehr den frommen Schauder des ersten Sehens, aber um so intensiver wird der Genuß, wenn man sich wissend hingibt.

Das Wetter ist strahlend. Ich wohne in echt ital(ienischer) Kneipe, aber sauber. Nun habe ich noch 4 Tage hier vor mir. Ich werde wohl bis Montag bleiben und dann in einem Rutsch durchfahren bis Augsburg und Frankfurt.

Also bis bald. Dein Carl.


1 Spitzname für Beckers Jüngsten, Hellmut. BB

2 franz. schamlos

3 Wohl der weiter unten genannte Landé, Beckers Mitarbeiter im Ministerium, MR in der Abteilung U II (Höheres Schulwesen) 1926

Julie an CHB

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. VI.HA.Nl.C.H.Becker Nr.8610
Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop
Julie Becker, Gelnhausen 1909, Foto Dührkoop

Briefe Julie Beckers an Sohn Carl Heinrich 1897-1906/17

1. Julie Becker an Sohn Carl. Frankfurt, 21.5.1897, 7 Uhr

Mein liebes Carlchen,

Was machst Du für Sachen? Betrübst und erschreckst mich ja sehr. Es muß schon nicht ganz so leicht sein, sonst wärest Du doch gefahren und hättest Dich pflegen lassen. „Ganz famos“ kann man schreiben, denn das Papier ist geduldig, – ich weiß es besser, kann’s leider nicht ändern!

Dora kommt Sonntag von ½ 5 Uhr bis 8.50 hierher, so könntest Du sie doch noch sehen. Sie pflegt Alex, der natürlich auch noch krank ist. Er nimmt es der Krankheit und uns Allen furchtbar übel, meinte recht, wir seien toll geworden, der Doktor und ich, daß er nach Gelnh(ausen) solle, doch hat er gefolgt und auch wie ich mit Befriedigung höre sich meinem Wunsch gefügt. Ut mine Stromtid zu studieren statt des (unleserlich) … Schuld und Sühne, das er hier mit wahrer Habgier las.

Deine Karte hatte ich schon um 5 ¼ Uhr.

Die Nacht war gut, Vater schlief von 9 – 6 Uhr, der Tag heute wie immer.

Grüße Willy und schreibe mir gleich morgen früh wieder aufrichtig wie’s Dir geht.

Treu Deine Mutter

die natürlich auch Willy grüßt, der mal wieder nurse ist?

 

2. Julie Becker an Sohn Carl. Frankfurt/Main, 16.6.1897

Lieber Carl,

Vater war gestern und heute wieder viel aufgeregt, aber schlief auch viel, – eigentlich unverändert. Frida machte vorgestern Kränze im Diakonissenhaus und fiel danach aufs Knie, zog sich einen schlimmen Bluterguß zu und wird mal 8 Tage auf der Chaiselongue liegen müssen. Emma schnitt sich feste in den Finger und konnte auch nicht nach Darmstadt. Heute sind Bl(umensteins) bei Konsul Rohmer (?) zum Wurstessen.

Hast Du eigentlich gehört, daß sich die junge Frau Meister stark verbrannt hat und die schlimmsten Gerüchte gingen? Ganz Sicheres weiß man nicht, jedenfalls stand ihr Kleid in Flammen und lief sie damit in den Zug…

(…)

 

3. Julie Becker an Sohn Carl. Frankfurt/Main, 8.7.1897

Lieber Carl,

Ferdis Besuch hat auf Vater wie ein Fest, auf mich wie 8 Tage Landluft gewirkt. Vater hatte sehr bewegte Tage, vorgestern machte auch Frida einen sehr heftigen Sinnes (unleserlich): Näheres erzähle ich Dir morgen und auch daß Ferdi ihn sehr beruhigt hat.

Ferdi sieht prächtig aus und ist sehr beglückt auch über die Hanauer Wohnung und daß alle seinen Harry so nett finden.

Er kam zu Tisch -: um 5 (Uhr) auch noch Ernst, sie blieben bis 11 (Uhr) und waren bei Vaters Nachtessen, das äußerst gemütlich verlief. Frida fuhr programmgemäß. Maria kommt erst heute. Wie geht es denn Dir, ich werde mich da wohl bis morgen gedulden müssen. Zeit zum Schreiben hatte ich absolut nicht.

Gruß an Willy. Deine tr(eue) M(utter)

 

4. Julie Becker an Sohn Carl. Frankfurt/Main, 16.7.1897

Lieber Carl,

die akute Gefahr ist wieder vorüber gezogen, Vater bleibt aber sehr schwach. Es ist immerhin möglich, – wie Dir der D(okto)r. schon sagte, – daß ein Herzschlag eintritt, – jedenfalls kommt der Tod durch Herzschwäche, doch kann es wohl noch 14 Tage dauern und es wird nicht wahrscheinlich, daß alle Kinder um uns versammelt sein werden. Ich will aber doch jetzt immer eins hier haben. Es war gestern ungemütlich, daß keiner da war. Vater frug: Ist denn gar kein Sohn da? Und als er mir dankte, sagte er: Grüße die Kinder.

Heute kommen Bl(umenstein)s und morgen lasse ich Alex kommen und Samstag Frida, – da bist Du frei. Hast ihn ja noch lieb gesehen. In Gedanken seid Ihr ja alle da. Vater hatte gute Nacht und frühstückte in sehr guter Stimmung, fühlt sich wohl und ist in Gelnhausen.

In Liebe.


Konsul Carl Becker starb am 22. Juli 1897


5. Julie Becker an Carl. in London. Gelnhausen 3.9.1897

Lieber Carl,

Ganz erstaunt war ich als mir bereits gestern um 6 Uhr Dein Brief aus der neuen Wohnung gebracht wurde, – das ist ja fabelhaft expediert gewesen. Onkel Will(helm?) wollte es gar nicht glauben. Wie mag er wohl gereist sein?

Ich freue mich sehr Deiner glücklichen Reise und hoffe der Regen hat aufgehört und die Gesellschaft entsprach Deinem ersten Eindruck. (Doch?) 4 Pfund, das ist enorm, nur für Wohnung, da kommst Du doch nicht aus mit Deinem Geld?- Sehr freue ich mich, daß Du auch Grünes siehst und gesund ist das ja auch. Schone mir ja Deine Augen und kaufe eine ordentliche Lupe, da Du die hiesige vergessen hast.

Es ist hier jetzt recht still geworden, doch bekommt mir die größere Ruhe gut. Regen ist täg-lich viel, aber dazwischen Sonnenschein. Wir spazieren Abends, kommen nicht weit mit den Kindern. Manch Mal stehe ich, rechts ein Mantel, links einen, in jeder Hand einen Schirm und warte bis Mutter und Töchter genug Brombeeren haben.

Gestern sah ich zuerst die Diebesburg in der Nähe, sie sieht niedlich aus, doch liegt Prieß mit Wohlfahrt im Prozeß, da dieser so tief gebaut hat, daß im Haus Wasser steht..- Mein Befinden ist entschieden besser, ich esse etwas Kompott und Gemüse ohne Schaden.

Innerlich lebe ich so innig mit Vater weiter, daß ich oft ganz glücklich bin, ich hätte es mir nicht so gedacht, – manch Mal überfällt es mich: „Niemals mehr!“, aber dann denke ich, er ruht in Frieden und hat überwunden, dann wird’s wieder ganz stille in mir. Lieber treuer Junge, laß es Dir gut gehen. Es küßt Dich Deine tr(eue) M(utter).

 

6. Karte von Julie Becker an Sohn Carl, London. Gelnhausen, 6.9.1897

Deinen langen Brief erhielt ich, wegen des Sonntags erst heute früh. Dieses geht erst um 8 Uhr, soll Dir melden, daß von Capstadt Bericht da ist, daß Theo1 splendid arrived! Die Noth-quartiere sind Wahrheit geworden. Die ganze Nacht zog Militär vorüber in furchtbarstem Sturm und Regen, und um 3 Uhr hatten wir 1 General, 2 Offiziere, 3 Unteroffiziere, neun Gemeine und 10 Pferde! Es ist möglich, daß sie 5 Tage immer wieder kommen, wenn sie die Preußen nicht schlagen, – dann bekommen wir (mehr?), denn Biwacks sind wohl unmöglich nach den endlosen Güssen. In der Kinderschule liegen 160 Mann, die Schüler sind die ganze Woche zu Hause. Ferdi will trotz des Wetters hinaus. Wir sind alle wohl. Herzl(ichen) Gruß. M(utter)

 

7. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 8.9.1897

Lieber Carl,

Wir sitzen hier mitten im Krieg, – zum Glück fließt kein Blut, um so mehr Regen. Gestern war ein guter Tag und als Emma um ½ 5 Uhr die Truppen abmarschieren sah, wurde sie mild und unternehmungslustig, alarmierte Marie, Onkel Wilh(helm), Heinrich Anton usw. und danach gingen sie los. Onkel glaubte, Emma sei durch den General unterrichtet und sie dirigierte nach Hörensagen, so fuhren sie auf die Bergkirche, bestiegen die Nonnenburg, (…) und kamen dann nach 4 Stunden wirklich zurück und um ½ 2 Uhr ziemlich naß nach Hause. Die Pferde waren tief eingesunken und Emma sich darüber wie gewöhnlich heldenmüthig mitteilt(?).-Eben schreien sie Mami und Emma: „Aber den Kaiser haben wir gesehen und das ganze bayerische Korps und den ganzen Train!“ Eben gehen sie wieder los mit dem Hektor, die Sonne bricht durch und es schießt stark hinter dem Berg.2

Dein lieber Brief kam erst gestern Morgen an, es hängt mal an der Minute; er interessierte mich sehr und ich danke Dir für Deine gemütlichen3 Worte. Es geht auch mir so, ich thue nichts lieber als innig und lang an Vater denken und bin, wie Du weißt, mehr beglückt, wie betrübt. Zuweilen erfaßt dann auch mich wieder der ganze Jammer der Trennung, aber ich richte mich bald wieder auf an der Liebe von Euch Allen, Ihr treuen Kinder.

Frida hat ja auch schlechtes Wetter im Schwarzwald, sitzt aber gemütlich mit Fr(au) Pfarrer Kasimir Aja und Bibi im einzigen großen Zimmer; sie lesen sich vor und musizieren sehr viel. Sie machte auch Ausflüge und fiel auf derselben Stelle wieder hin wie voriges Jahr, doch that’s ihr nichts, sie glaubt sich schon sehr zu erholen und hat guten Appetit. Ein H(err) Zimmer war da, dem scheint sie interessanter, wie er ihr gewesen zu sein, – es schwebt über dem Bericht ein eigenthümliches Element.- Dora schreibt vergnügt und mir geht es nun wieder ganz gut, ich esse Gemüse, aber wenig Kompott. – Hoffentlich hat Bezold nun aus aller Noth geholfen! Von Allen herzliche Grüße, Ferdi fährt immer um 6 (Uhr) fort um kommt um 8 (Uhr) wieder; die Einquartierung war nett und hochzufrieden. Herzlichst umarmt Dich, Du Einsamer in der großen Welt (Deine Mutter; fehlt – kein Platz mehr…)

 

8. Karte von Julie Becker an Carl, London. Gelnhausen, 13.9.1897

(Lieber Carl,)

Heute nur die Mittheilung, daß Hans Major und Alex mulus geworden ist. Samstag früh fand ich ihn angekommen, als wir mit den Zwillingen vom Dietrichshofspaziergang heimkamen. Emma Bergm(ann) kommt wohl später am Sonntag, etwa 20 Uhr.

Treu D(eine) M(utter)

 

9. Julie Becker an Sohn Carl in London. Gelnhausen, 15.9.1897

Lieber Carl,

Der gestrige Brief kam um 6 Uhr an. Fleißige Arbeit und angenehme Erholung, was kann man sich beßres wünschen? Dein Aufenthalt scheint sich sehr in die Länge zu ziehen und hier werden wir Dich nur sehr kurz mehr sehen. Frida schreibt auch sehr vergnügt. Am Sonntag hat Ernst sie in Sassbachwalden besucht und fand sie sehr gut aussehend. Am Montag ist sie mit Aja und Casimir über Yburg in Baden nach Gernsbach marschiert und hat es herrlich getroffen, schreibt ganz begeistert. In Gernsbach bei Frau Katz scheint’s auch sehr gemütlich. Ihren mysteriösen Andeutungen zu Folge hat sie sicher einen, wie mir scheint zwei Körbchen ausgetheilt. Das hat sie sichtlich gehoben. Ein Ernstfall wäre mir aber sehr störend gewesen. Eine gute Parthie war der eine, ein Verwandter von Kaysers, Namen werden nicht genannt! – Schrieb ich Dir, daß Paulchen fragte, ob er nun wohl noch „Vater“ sagen dürfe? – Hier sind wir wohl, Alex ist natürlich voller Übermuth. Zum Glück ist Emma wanderlustig und sie flogen heute schon zum 2ten Male aus nach Herrenmühle, und noch dazu mit einem erst gestern getauschten Pferd. Das eine von Rota bekam Spolh.- Ferdi hat mit seinem Landrat 1600 Parzellen abzuschätzen- muß meist ½ 7 Uhr abfahren, kommt 8 Uhr müde heim.

Montag wurde Harry drei Mal gefeiert, hatte den ganzen Tag ein Rosenkränzchen auf und ein Kleid-chen mit Rosen bestickt. Für die Zwillinge und Lola fiel auch etwas ab. Der Kleine war reizend. Else ist manchen Tag sehr beschwert, aber dann wieder so mobil, daß sie am liebsten die Partien mitmachte.- Die Wohnung in Hanau wird noch fortwährend umgekrempelt, glück-licher Weise in Gedanken. Rehbocks haben schmuddelhaftes Wetter, gingen nach Interlaken, bessern wird es sich dort nicht wollen. Sie kommen durch den Gotthard, kommen Ende des Monats hierher.- Kyritz hat Besuch in der Niedenau gemacht, wohl für Dich? Nimm Notiz davon.

Tante Marie geht es nicht besser, sie fühlt selbst, daß sie zurück geht. Mimi ist seit 8 Tagen in Baden-B(aden) mit ihrem Mann, da es hohe Zeit für sie zur Erholung war.. Es scheint eine ähnlich lange Sache zu werden, wie bei Papa. Sie liest noch viel und freut sich besonders an Briefen. –Ich komme noch immer nicht zur Auseinandersetzung der Möbel und Bilder. Über Dora waren wir nicht wenig erstaunt, die Frau Major machte sich schon sehr in ihren Wün-schen geltend. Unter Vielem mehr: das ganze rote Zimmer mit Teppich von Kerman den großen Achenbuch! Na, was sagst Du dazu? Ich habe ihr noch ein Mal geschrieben und sei enttäuscht, da ich das rote Zimmer bekanntlich selbst behalte.- Nun rückt allmählich die Sommereinquartierung ab. Heute ging Emmas Köchin und Freitag empfängt …Ernst in der Wohnung. Am 1,.Okt(ober) sind dann alle zu Hause.- Adolf hat uns auch verlassen, was Niemand großen Schmerz bereitete. Emil ersetzt ihn vollkommen. Von Frankfurt schrieb er am (unleserlich), ich möchte ihm doch ein Zeugnis ausstellen wie es nahezu bräuchlich wäre. Er schreibt denn uns vor, worin er dem meinen noch allerhand zufügt: zur größten Zufrieden-heit, – kann ihn besonders empfehlen und Ähnliches! Ist das nur dumm? – „Sehr geschickt“ fehlte auch in dem meinen.

Emma Bergmann habe ich Deine Adresse zugeschickt. Du kannst aber doch auch an sie schreiben unter der Adresse Martinis, die ich Dir gab. Colonel Crozier hat mir nicht kondoliert, ob er die Anzeige nicht empfing? – Neues gibt’s nicht, mir etwas sehr Altes: Es hat dich innig lieb

Deine treue Mutter

 

10. Karte von Julie Becker an Sohn Carl, London. Gelnhausen, 21.9.1897

(Lieber Carl,)

Dein lieber Brief erreichte mich doch erst heute früh. Bitte arbeite nicht mehr von 8-10 Uhr (Abends!). Es tritt sonst Überanstrengung ein. Zeit zum Schreiben habe ich heute nicht, da Rehbocks gestern schon angekommen und ich heute Nachricht erhielt, daß T(ante) Maria in Darmst(adt) gestern Abend sanft und doch noch ziemlich plötzlich gestorben ist, morgen Nachmittag ist schon die Beerdigung. Die Feier für Herrn B(ornemann)4 war erst Sonntag, es sei recht feierlich gewesen. Alex war da und Willy hat gut geredet. Tante Emma liegt heute zu Bett, hat aber nichts auf sich. M(utter)

 

11. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 22.9.1897

Lieber Carl,

also darum hattest Du Sonntag so schön Zeit, weil Du einen Schnupfen hattest? Ein Wunder ist es nicht bei dem schauderhaften Wetter. Zwei ganze Tage konnte man keinen Moment vor die Thüre! Auch hier! Heute scheint eine wäßrige Sonne. Meine Karte, die Dir Tantchens Tod meldet wirst Du erhalten haben. Am Samstag trat eine Änderung ein, sie hatte heftige Leibschmerzen und war zeitweilig irre. Jedoch scheinen sie es nicht bedrohlich gefunden zu haben, denn Minni wurde erst Montag soeben telegraphiert, kam leider eine halbe Stunde zu

spät! Tante war bis kurz vorher bei Bewußtsein, sprach mit allen freundlich, auch mit den Helmerdörfers und verschied plötzlich ganz sanft. Line und Marielle waren dabei. Warum die Beerdigung noch früher als 48 Stunden, weiß ich nicht. Ferdi ist dienstlich verhindert, hat wirklich schwer zu arbeiten, ich kann Else nicht verlassen, und so werden Alex, Emma und Frida uns vertreten! Ich schickte eine Palme für Euch: von den Kindern Onkel Carls und Minni. Diese schrieb mir schon selbst so rührend!- Tante Emma war schon in Locarno recht unwohl und hatte starkes Erbrechen. Auch hier noch, doch geht’s heute besser und ist sie wieder auf, sitzt in Fridas Zimmer.

Über Deine (unleserlich)Laufschonung möchte ich Manches sagen, aber zu solchen langen schriftlichen Ergüssen fehlt mir jede Zeit. Wir versparen es auf später, ich stimme nicht ganz damit überein.

Einliegend der Ausschnitt aus dem GeneralAnzeiger.- Frida ist sehr erholt. Ihr erstes Liebes-abenteuer – zum Glück einseitig, – erzählen wir Dir mündlich. Sie war immer sehr erstaunt, daß sich überhaupt Jemand in sie verlieben könnte und noch mehr, daß Andere das Interesse früher schon bemerkt und sie absolut nicht. Sie wäre nach Heidelberg gekommen, in glänzen-de Verhältnisse. Nur wirst Du’s schon wissen? Ich schreib nicht gern dem Manne. Der Mann war ihr nicht verliebt (?) genug, sie fühlte nichts für ihn und hätte den Pantoffel gehütet. Das wollte sie nicht!


Ein Kutschenunfall anno 1897 in Gelnhausen


12. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 27.9.1897

Lieber Carl,

Ich freute mich sehr Dich gesund zu wissen, kann mir denken, wie Du mich wegen des Namens ausgelacht hast. Na, es war ja auch im 2ten Brief mehr Scherz. Ich und wir alle genießen Rehbocks Hiersein sehr, besonders da uns neben den alten Freundinnen mit den Männern auch ganz herrliche Herbsttage endlich beglücken. So machte ich vorgestern eine herrliche Fahrt über Eidegesäß mit Rehbocks und gestern fuhren die andern, Ferdi mit Alex im Dogcarr mit Lucullus, der plötzlich einen sehr unangenehmen Rückfall in die Unzuver-lässigkeit bekam. In Großerhausen trennten sich zum Glück die Wagen, so daß die zart-besaiteten Damen dann aus dem Weg waren, als Lucullus vor Berbach vor einem Kreide-haufen (?) scheute und urplötzlich den Boden verlor und mitsamt Allem 5 à 6 mètres tief herunter in einen Graben sauste. Das Wasser darin linderte zum Glück die Wucht. Alex stand sofort wieder auf den Füßen und befreite Ferdinand , auf dem der Kopf des Pferdes lag, das zwar aus einer Kopfwunde blutete, aber doch sonst heilgeblieben war. Einige Kinder riefen die gerade versammelte Feuerwehr zu Hülfe, und während Alex losschirrte, hielt Ferdi mal 20 Min(uten) den Kopf des Pferdes, damit es nicht losschlug und nicht im Wasser erstickte. Mit Hilfe (von) 7 Männern kam es auch wieder hoch und nur der Wagen ging in Trümmer.- Du kannst Dir unsere Angst denken, als sie immer nicht kamen und die Dunkelheit hereinbrach.- Endlich! Ein Viertel nach 8 (Uhr) führte Alex Lucullus an unserem Louciarposten (?) vorüber nach dem Stall, es waren angstvolle Minuten bis Ferdi mit einem Veloziped erschien, – er führte es , denn zum Fahren war er doch zu angegriffen, Beide sehen sehr elend aus und waren ganz naß, – wir ließen den Doktor wegen der Wunde kommen, der sie desinfizierte und uns vollkommen beruhigte. – Beide Herren hatten guten Appetit, – und Ferdi ist um ½ 7 Uhr wieder nach Hanau, Alex nach Frankfurt.- Else, – die nicht alles so genau erfuhr, – hatte sich doch auch recht aufgeregt und sie und Ferdi hatten schlechte Nacht, um ½ 1 (Uhr nachts!) kam auch noch ein dienstliches Telegramm!

Samstag hatten Emma und Frida die geschwisterliche Liebe früh ½ 7 (Uhr) nach Frankfurt zu Fahren, um Alex’ Rede zu hören und amüsierten sich höchlich ihn so ernst und würdevoll zu sehen. Es lief für ihn gut ab, während der Lateiner bös und wiederholt stecken blieb. Als Alex ging mußte er doch sein Frätzchen den Schwestern machen! Der vorher dünne Chor wurde dann sehr gut durch ihn und schließlich nahm er dann noch die Huldigungen eines Chores von Müttern entgegen, worüber Emma sich noch totlachte. – Frida kam ganz vergeistert (?) wieder, hatte einen argen Darmkrankheitsanfall (?) und legte sich um 2 Uhr ins Bett,, konnte aber um 6 Uhr ihre Suppe essen und ihre Singstunde nehmen, d.h. sie sang uns sehr schön vor, Onkel ist sehr befriedigt über ihre schönen Fortschritte.

Eben gingen sie wieder, Frl. Scharfer, Onkel und Frida! – Es war nett von Dir mir den Brief Lasinius’(?) zu schicken, er interessierte und erfreute mich sehr, es ist ein nettes Freund-schaftsverhältnis zwischen ihm und Frida. Ein 2tes Abenteuer hat sie übrigens nicht erlebt, das war ein Mißverständnis. – Das Geld werde ich pünktlich senden lassen. Viele Grüße von Allen. Treu D(eine) M(utter).

 

13. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 3.10.1897

Lieber Carl,

Ich schreibe Dir noch schnell vor der Kirche und sende Dir die wichtigsten Familiennachrichten, – kannst Dir denken wie ich mich für Alex freue. Sonst ist’s hier sehr still geworden, Rehbocks fuhren um ½ 11 Uhr nach Hamburg, wo heute die Taufe bei Hübners ist, morgen fahren sie nach Amsterdam zurück. Sie bedauern sehr, Dich nicht zu sehen, haben mir aber die frohe Aussicht eröffnet, uns in Bordighera zu besuchen. Am Ende reisen sie gar weiter mit. Wir hatten sehr gemütliche Tage und auch viel Fröhlichkeit. Onkel war so frisch wie nie und Tante erholte sich sehr rasch und genoß wirklich auch sehr die Ruhe und die vielen lieben Menschen hier, namentlich hatte Onkel Spaß an Fridas Gesang. Ernst traf am Mittwoch ein und gestern um ½ 4 fuhren Alle ab. Elisabeth die zurückblieb, heulte furchtbar und machte großen Sturm (?), so daß die Zwillinge ganz bedrückt wurden und Lilli auch heulte. An Lola glitt alles ab. Sie sagte nur immer strahlend: „Ich gehe nach Heidelberg.“ Gertrud ist seit Dienstag hier und Frida angenehm, heute kommt Ferdi Müllenhoff um 12 Uhr. Eine sehr große Freude ist mir noch geworden durch einen sehr guten Bericht von Onk(el) Heinr(ich), dessen Geschäft einen plötzlichen Aufschwung genommen hat durch die vielen Regen, denen ich so besorgt zusah. Dadurch können viele gute Sorten Getreide nicht versandt werden, die er billig bekommt und dabei ist das Mehl gestiegen. Auch hat Tinchen Hoffnungen. – Daß Du nur so kurz hier sein kannst, ist mir ja schmerzlich, aber Du hast sehr recht die Gelegenheit auszunützen. – Emma Bergmann schrieb aus Chislehurst, Kent um Deine Adresse. Sie hat die früher gesandte verloren, und andererseits British Museum, lud Dich früher ein und erhielt keine Antwort. – Ferdi ist immer todmüde wenn er Abends heimkommt. Die Parzellen haben sich auf 25.000 erhöht. Er arbeitet in 6 Kommissionen.

Leb wohl! Herzliche Grüße. Deine M(utter).


Geburt von Julie Beate Becker gen. Ully 7.10.18975


14. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen 12.10.1897

Lieber Carl,

Es geht hier sehr gut weiter, Else nährt aber selbst und Ully, d.h. Julie befindet sich sehr wohl, ist ein niedliches Baby. Sonst heißt’s noch Beate, Emma (nach Tante) Dora und Louise (nach Frl. von Leibitz).

Therese Schwartz besucht mich Freitag, sie lobte sehr Papas Bild und fand es sehr ähnlich: sie legte Rosen auf sein Grab und war sehr herzlich.

Gestern aßen Elise und Marie mit uns und nach Tisch ging Gertrude, Ferdinande geht morgen. Dann bekomme ich mal etwas mehr Zeit.

Herzlichst D(eine) Mutter.

 

15. Julie Becker an Sohn C.H.B. Gelnhausen, 19.10.1897

Lieber Carl,

Deinen Brief vom 17ten, 18 Uhr erhielt ich soeben und werde Deine Aufträge besorgen. Da Nachschicken nicht geht, so habe ich von inliegenden Briefen die Kouverts abgenommen, sie aber nicht gelesen, nur gesehen, daß der eine von Schön ist, der auch Paletot schickte. Ernst Schöffer habe ich geantwortet, er schrieb allerdings über seine Pläne, thut mir sehr leid, daß er so schlecht aussieht. Deinen Paletot in Frankfurt werde ich Freitag nachsehen und ihn sicher besorgen.

Ich wollte schon gestern nach Frankfurt, wir hatten aber einen kleinen Schrecken mit Else und so kam ich nicht hin. Sie bekam des Morgens Fieber 39(°C) und das stieg auf 40°, es kam von einer Entzündung in der Brust, Fachmer (?der Arzt) war sehr unglücklich und dachte sich gleich das schlimmste. – Grade war auch Dr. Mumm zu seinem Sohn gereist und kam erst Abends wieder, Huter macht Examen und hat einen sehr jungen Vertreter und Beckmann genierte sich zu kommen. Gott sei Dank ist es heute Abend besser, heute früh waren (es) noch 39°, aber heute Abend 37,5°.

Wir sind sehr erleichtert. Die kleine Ully ist brav, verträgt die Kuhmilch, mit der sie sich einige Tage begnügen muß.

Nelly Chaillet hat sich verlobt mit einem Gutsbesitzer, der 5 Kinder von 14 – 5 Jahren hat, aber sehr vermögend ist und dessen Familie schon einige hundert Jahre das Gut Stickelkamp besitzt. Nelly soll nun als guter Geist über dem ganzen schweben. Sie ist sehr glücklich, sie lieben sich und passen sehr zusammen. Ihr ödes Dasein hat nun Zweck und Freude bekommen. Ihren Brief habe ich den Schwestern geschickt, der ostfriesische Name muß erst noch auswendig gelernt werden!

Den Tod der alten Frau Steinmetz in Amsterdam habe ich Dir glaube ich schon gemeldet.- Alex hat sich glänzend gerechtfertigt, er schickte einen Brief am 1sten Oktober, der ihm am 15ten wieder zugegangen war, wegen verstümmelter Adresse. Er ist sehr vergnügt, sein heutiger Brief hat nur allzu viel Stalljargon. Du wirst sie später hier lesen, sie gehen zu Emma und besonders Neues steht nicht drin. Wir haben wunderbares Wetter, genießen sehr die offenen Fenster.

Sei herzlich gegrüßt! Treu Deine Mutter.

Noch viel Vergnügen, lieber Junge und halte Dich gesund. Alle grüßen Dich, auch Rehbocks. Deine tr(eue) M(utter)

 

16. Julie Becker an Sohn Carl aus Bellagio, Comer See. 12.4.1898

Lieber Carl,

Deine Karte klang ein wenig ungnädig, aber Deine Depesche mußte doch erst unsere Ankunft abwarten und da war es uns zu spät, noch an den ersten Ort zu telegraphieren. Frage auch im Grand Hôtel noch nach, jedenfalls schrieb ich eine Karte hin. Ich schrieb Dir von Sorrent Brief vorher nach Messina, denke Du erhieltst ihn auch. Ich saß dort ziemlich langweilig, die Zimmer liegen alle nach Norden und haben tief eingebaute schmale Fenster, so daß man nur ganz vorne und auf den zahlreichen Altanen die Aussicht genießt. Da der Wind oft recht heftig war, blieb ich meist in einer Glasveranda sitzen und sprach mit Niemand. Sorrent ist nicht geeignet zu längerem Aufenthalt, doch wurde nach einigen Tagen meine Erkältung besser.

Ully’chens Zustand drückte auch schwer auf mich, Ferdis haben viel durchgemacht und Blumensteins fanden das Kind miserabel und die Eltern abgemagert, sie hatten geraten, einen Hals- & Ohrenarzt zu consultieren, Emil behielt das Telegramm 4 Tage in der Tasche und dann war der Mann in Ferien gereist. Nun nahmen sie einen Frankfurter, der die beiden Trommelfelle durchstach, ohne Erfolg. Endlich trat sehr langsam Besserung ein, und gestern Abend meldeten sie, daß Gefahr ganz vorüber sei!

Der Weg von Sorrent nach Neapel ist nicht so schön, daß Ihr nicht besser zur See ginget, – doch kommt dieser Wind mal zu spät.

Nach Capri hatte unser Bötchen absolute Windstille, aber so aufgeregte See, daß fast alle seekrank wurden. Onkel (Erich? Unleserlich) beschränkte sich auf gelb-grün zu werden, Frida wurde schon im Boot elend und in die Blaue Grotte fuhren nur die beherztesten, kamen nicht hinein, nachdem zwei Damen pudelnaß geworden und eine andere sich das ganze Gesicht blau gestoßen hatte. Das Schiff muß dabei richtig geschwankt haben und Frida will nie wieder auf die See. Auf Capri hat’s ihr aber doch gefallen, meint hier auf den Bergen sei es ansehnlich. Auch in die Grotte kann sie am nächsten Morgen und ohne Seekrankheit nach Hause.. Tantchens Magen hat sich aber noch nicht ganz erholt. In Neapel war wieder Sirocco bei herrlichster Abendbeleuchtung, und am nächsten Tag sahen wir zum ersten Mal den Vesuv ganz frei und mit prächtiger Rauchsäule. Frida hatte selbst keine Lust hinauf, war doch noch angegriffen und wir Alle waren heilsfroh darüber. Die Reise nach Florenz war arg anstrengend, schlechte Wagen und alles besetzt. Durch große Grobheit Onkels blieb wenigstens der 6te Platz (im Durchgangswagen) frei. In Rom gerade Zeit, einige Bücher (?) zu kaufen und weiter gar nichts. In Mailand 3ter Stock, Alles besetzt, aber schöne Zimmer, vom Dom herrlichsten Eindruck, Galerie geschlossen, Abends hier hoch entzückt nach reizvoller Fahrt. Gestern brillanter Tag und heute aufklärend nach Ganither (?) in der Frühe. Hier genießen wir sehr, keine Sorge mehr und so nahe der Heimat! Wir werden wohl Sonntag nach Heidelberg kommen, Freitag sind wir in Straßburg, wohlmöglich Mittwoch Hanau und Donnerstag Gelnh(ausen). Conrad Schöffer hat Stelle in Frankfurt selbst gefunden: Technische Papier-handlung von Arndt & Trost. Carl (Schöffer?) hat sich mit einer Erzieherin in Hamburg, wahrscheinlich mittellos, verlobt. Sie ist 26 Jahre, er kannte sie schon früher.- Conrad war mit Alex in Heidelberg an Ostern.- Deine Depesche erhielt ich eben mit Freuden, kann keine genaue Adresse vor Straßburg angeben. Herzlichen Gruß von D(einer) M(utter)

 

17. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 25.6.1898

Lieber Carl,

ich glaubte jeder Tag sei mir nunmehr gleich bei dem Schmerz, der…niemals vergehen wird, – aber der Geburtstag mit seiner Flut lieber und ernster Erinnerungen hat doch noch in besonderem Macht. Alles aufgewühlt, mehr Sehnsuchtsschmerz, mehr Trennungsweh erzeugt, aber viel Liebe hat mich nun beglückt auf’s Neue ins volle Leben hineingetragen, der mir noch so viel Frohes gewährt.

Dein lieber Brief war mir eine große Freude, ich fühlte mich von Dir verstanden und sah, daß auch Du Ähnliches innerlich durchzumachen hattest, aber Dich auch wieder der Pflicht in der Freude des Daseins genommen hast.- Früh am Morgen zogen wir Alle hinaus, Frida hatte einen schönen grünen Doppelkranz um das Postament geschlungen, das Grab war mit Rosen besteckt und viele Kränze legten wir nieder. Ich blieb dann noch länger in stillerem Versun-kensein mit Emma und Frida zurück, die beiden letzten Geburtstage standen ernst in jeder Stunde vor unserer Seele. Nun lebe ich wieder in dem Liebesgefühl, das ordentlich Anfeue-rungskraft in sich hat, – ich fühle mich oft weniger getrennt! – Nachmittags legte noch Ferdi-nand mit mir seinen Kranz nieder, auch Blumensteins gingen wieder hin.

Line Maurer ist nun mit Emma für drei Tage bei Fr. Kuchen in Heidelb(erg) (beim?) Arzt.- Ully’chen hatte wieder ein Mal Fieber, war aber bald vorbei.- Sonntag besuchte ich H(errn) Metzler, es lief gut ab, obgleich das Wetter schwankend, – er war ganz paff über Fridas Gesang und Stimme, – er behauptete wieder, Vaters Bild sei gar nicht ähnlich! – war aber sonst sehr liebenswürdig. Er hat es gar zu traurig und verlassen zu Hause und fühlte sich hier sehr wohl.- Wir haben viel schönes Wetter, aber es ist zu kühl zum draußen sitzen. Für Euch und Alex … viele Grüße von Willy. Eure treue Mutter

 

18. Julie Becker an Sohn Alex. Gelnhausen, 2.7.1898

Lieber Alex,

ich wollte Dir gestern die rechte Willekarte (?) nicht mit der Nachricht verderben, daß Hektor grade gestern vom Leben zum Tode gebracht wurde. Wir haben alles versucht, Ferdi stets mit Hoffnung, ich ohne eine solche. Er war dreimal in Sprendlingen, die Hufen waren wirklich gut geworden, dagegen war er gefühlloser geworden. Noch einmal gab ich Einwilligung zu einer gründlichen Kur mit Doctorskosten, – Alles erfolglos, so wurde er denn gestern in Gegenwart von Heinrich in Offenbach geschlachtet, es war sehr schnell und schmerzlos vorüber. Freude am Leben konnte er nicht mehr haben, da Rheumatismus Schmerzen macht. Ferdi war noch ein Mal sehr traurig, – mir tat’s ja auch leid. Alles wäre längst vergessen und 500 bis 600 Mark gespart, hätte man sich im Herbst entschlossen. Nun haben wir zwei Pferde (im Hofe) von gleichem Temperament, sie laufen gut, der neue hält den Kopf zu sehr aus-wärts und (röchelt?) zuweilen, der 2te ist der gute vom vorigen Jahr. Ernsts Pferd ist hier ein-gefahren worden und macht sich gut. Ferdis Lucullus ist zweispännig sicher und kann dann das andere von mir gut allein fahren. Mitte Juli werden wir dann nur zwei Pferde haben, – wenn Ferdi nicht hier ist, habe ich davon genug. Ich schrieb an Lautzius Beringa, ob er mir vielleicht zu zwei guten eigenen verhelfen könne, dann hätte ich vier, bis die neuen eingefahren sind, da ich dreimonatliche Kündigung habe.- Heinrich sollte Dienstag seine Übung antreten, dafür hatten wir Ernsts Burschen bestellt, mit einem Mal kommt er zum allgemeinen Kummer als überzählig zurück. Besonders Anton war traurig und ließ ihn auch den ganzen Dienstag, – an dem gerade viel zu tun war, – nicht auf den Bock. Rutthardt habe ich dann auf dringende Fürsprache auch behalten, er soll sich nützlich machen, wo er kann. Arbeit findet sich ja immer.- Schultheiß, der, wie ich Dir wohl schrieb, wegen eines Tritts auf die Brust von einem fremden Pferd 8 Tage zu Bett und 14 Tage ganz dienstunfähig war, tut nun seine Arbeit wieder, der Kuhstall und das Hühnerhaus sind neu angestrichen und endlich ist auch der letzte Rest des Rumzuges(?) verschwunden, in dem das Schulzimmer mit dem Rest von allerhand Möbeln sehr gemütlich, – von mir zusammengestoppelt möbliert ist, – so selbst, daß Emma absolut hineinziehen wollte.- Gestern ist nun auch die arme Ernestine in Alten Hasslau erlöst worden, Ernst fährt bereits morgen hin, ich gehe morgen.

Weißt Du eigentlich, daß ich die Gelnh(äuser) Jagd gepachtet habe für 2/3 mit Carl Alments 1/3 und die Rötzner allein, natürlich auf Namen von Ferdi und Ernst? Flegel hat die Stadt uns oktroyiert und da er schlapp ist, wurde noch der Dachdecker Hemey engagiert, jeder für 150 Mark, zus(ammen) Kostenpunkt 1200 Mark für 12 Jahre. Vorläufig ist sie so abgeschossen, daß geschont werden muß. Bert schoß 38 Stück Hochwild voriges Jahr! – Erst ließ sie Ferdi sich entgehen, aber durch geschickte Manipulationen erhielt er sie doch. Das kannst Du mündlich hören.

Wie Du aus Früherem siehst, wird Ferdi seinen Dienst am 1. August antreten und sich vorher 14 Tage trainieren. Eben vertritt er den Landrat, was ihm Spaß macht, aber Arbeit und Zeit kostet. Hier sind eben noch die beiden Hoffs, Mlle Bost und früh kommt Line Maurer wieder, sie war schon 14 Tage hier, ging dann zurück wegen Adolf Helmsdörfer, der allein war, da Ferdinande und Gertr(ude) nach Kiel in Holstein auf 6 Wochen sind. Adolf reiste gestern für die Ferien nach Paris und nun wäre Line allein, so kommt sie noch zu uns. Tante Anna aus Liegnitz kommt am 8ten, Emma Bergmann am 15ten, letztere für 4 Wochen. Adolf Geißler ist nicht in Sicht, es liegen Briefe für ihn da. – Blumensteins wollen Montag in die Schweiz auf 14 Tage. Emma war vorige Woche in Heidelberg um Zahnangelegenheiten, die nun in Ordnung sind. Frau Buhl schrieb ihr ab, weil sie an Influenza litt, nun logierte sie bei Frau Kuchen, besuchte aber Frau Buhl und steckte sich an. Sie legte sich nun auch einige Tage ins Bett und hoffte, so schnell genug davon zu kommen. – Die arme Dora plagt sich noch immer ohne Fräulein, 6 Uhr auf, 9 Uhr ins Bett. Ich bin froh, wenn sie glücklich in Sonbord (unleser-lich) ist, sie muß nur das Hausmädchen mitnehmen und hat wieder keine Stütze. Diesen Bericht kannst Du Carl schicken, damit er auch Hectors Ende erfährt. Herzlichen Gruß Deine M(utter).

 

19. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 18.7.1898

Lieber Carl,

Ich wollte Alex nun doch dazu bringen, mir regelmäßig am Sonntag eine Karte zu schreiben. Ich freue mich stets sehr über die Deine, es genügt mir aber vollständig, wo mich so viele Kinder und Enkel umgeben, ich weiß doch auch sicher, daß Du meiner gedenkst, was mir von Alex mehr wie zweifelhaft ist, nicht ein Mal den Empfang von Geld zeigt er an und seit er am 1sten auf flüchtiger Karte den Unteroffizier meldete, weiß ich nichts von ihm. Das fürchterliche Unglück im Regiment muß ihn doch erschüttert haben, – so was hätte auch ihm gesche-hen können, er schrieb aber doch nicht, obgleich ich ihn Sonntag vor 8 Tagen dazu auffor-derte. Meinen Brief an ihn vom 29sten hast Du hoffentlich bekommen? Ich legte förmliches Kouvert ein. – Dora schrieb ausführlich sehr beglückt von Bansin, schade, daß sie es dort nicht besser getroffen hat. Der kühle Sommer ist ja sonst wohl günstiger für Berlin.

Heute ist der 4te schöne Tag nach endlosem Regen, d.h. nur einen Tag konnte man nicht heraus, sonst war’s zum Gehen angenehm morgens und abends. Vorigen Montag trafen die beiden Tanten ein, Anna und Ottilie, mit Marie, es war sehr nett. Tante Anna ist nun noch hier mit Heinrich, der Conrad gestern brachte. Er hat sich etwas gespart und sein Papa gab ihm 50 Mark zu, da ging er zu Conrad nach Heidelberg und hierher. Er ist sehr lang geworden, macht einen bescheidenen, sehr anständigen Eindruck, ist aber sehr auffallend blaß. Ich hoffe doch, Deine Ermahnungen haben Frucht getragen? Conrad sah auch schlecht aus, fühlt sich aber wohl und ist vergnügt. Tante Anna nimmt mich mehr in Anspruch wie andere Gäste, es ist aber sehr gut, daß ich sie ausführlich sprach, bevor Onkel kommt, der noch in München und Umgegend ist. – Ernst ist schon seit gestern in Galgenhumor, weil er morgen fort muß. Er thut uns allen sehr leid, er spielt(e) heute an seinem Geburtstag doch sehr vergnügt mit seinen Kindern und baut mit ihnen unter den Linden ganz Wilhelmshöhe in den Sandhaufen. Emma Bergmann ist gestern gleichzeitig mit den beiden Schöffers von zwei Seiten eingetroffen. Sie war drei Wochen in England und hat sich sehr erholt und ist wieder so lieb und sympathisch wie früher. Das junge Ehepaar Huisken ist auch in Sicht, hoffentlich kommt er nicht grade nächsten Sonntag. – Die Großmutter von Else ist gestern von ihrem Leiden erlöst worden, Ferdi kommt aber nicht hin. – Von Anna Jansen sind die Berichte gut, sie hat in einer Woche 4 Pfund zugenommen, da dies der Zweck ist, hofft man das Beste.

Der König von Württemberg hat mir eine Salonphotographie zugeschickt mit eigenhändiger Unterschrift und dahinter 1866-98 und auch durch Herrn von Reden versichern lassen, er erinnere sich mit größtem Interesse der Zeit bei uns und der genossenen Gastfreundschaft.- So hat er doch seine Schuld eingelöst nach einem vollen Menschenalter.

Grüße Willy herzlich. Ich erwarte morgen oder übermorgen Geld und werde Dir senden.

Treu D(eine) Mutter.

 

20. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen.9.8.1898

Lieber Carl,

als Du nicht nach Rathenow gekommen bist, hat mir eine Karte von Dir völlig genügt. Daß die ersten Tage nicht schön waren, hatte ich mir schon gedacht. Dora scheinst Du auf der Durchreise nicht gesehen zu haben, ich freue mich für sie des schlechten Wetters, das tröstet doch sehr. Für uns ist es schade und für die Erndten darf es nicht lange dauern. Von Tag zu Tag warte ich auf wichtige Nachrichten – sie bleiben aus. Es fällt mir schwer nicht kribbelig zu werden. Die n(…unleserlich) ist von Alex, heute war ich besonders enttäuscht, da ich auf Sonntag hoffte, ich will ihm heute dann doch Mal wieder ins Gewissen reden; die andere ist wegen des Hauses, da es so lange dauert, fürchte ich nun, es ist wieder nichts. Ferdi war gleich Donnerstag bei Morck, der ihm auch schließlich den Reflektanten nannte, ein Banquier Hahn, Bruder der Frankfurter, der Millionär ist aber in Homburg zur Kur. Abgesprochen wurde, daß er’s zeigen solle und Ferdi ließ durchblicken, daß wir bis 310 (000 RM) herunter gehen wollten. Vorläufig hatten sie 250.000 (Reichsmark) ungesehen geboten. Na, es wird ja mal wieder nichts sein.

Else ist denn nun doch glücklich Samstag fort. Die Kleine ist wieder wohl, aber natürlich zurückgegangen. – Willy Jansen war 2 Tage da, mit Anna geht’s noch langsam, doch werden sie nun wenigstens eine Einsamkeit zu Zweien haben in Oosterbeck. Anna muß täglich trotzdem zur Heilgymnastik. Höre ich etwas Interessantes schreibe ich wieder. Grüße Rudi und wenn seine Eltern hier sind, soll er auch einmal kommen. – Du mußt es mir wegen Deines anderen Besuchs einrichten.

Treu Deine M(utter)

PS. Emma und Frida waren Beide etwas angegriffen von der Badischen Krankheit, die dort epidemisch … ist, doch sind sie wieder wohl. (ergänzende Klammer unleserlich)

 

21. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen 15.8.1898

Lieber Carl,

Diesmal erhielt ich schon gestern Deine Karte, von Alex noch immer nichts. Ernst und Ferdi und Adolf Helund (?) waren über Nacht hier, dazu fallen wir Familienesser mit der Witteck und aßen in der Hitze in 2 Zimmern, der Saal war zu heiß und nach Westen war es schön kühl. Sehr besorgt waren wir wegen Ully, die seit Freitag hohes Fieber hatte das sich trotz Einpackung auf 40.5° gestern Mittag steigerte. Wir schickten nach Frankfurt um gewisse Fieberpulver zu holen, die sie um 10 und um4 (Uhr) Mittags bekam. Zu dieser Zeit war die Temperatur noch immer 39.3°. Heute früh ist sie fieberfrei und ganz munter und war ich erfreut dies telegraphisch den Eltern melden zu können. Else wollte Donnerstag zurück sein, kommt aber nun wohl früher, man konnte es ihr nicht verschweigen und wegen des Sonntags scheint sie wohl heute erst Alles auf ein Mal zu hören. Ferdi hat rührend mit gepflegt, das Meiste tat Emma.

Ernst und Ferdi und ich theilten uns gegenseitig unsere Besorgnisse wegen Alex mit. Ernst … hatte die Sache noch nicht halb erfahren. Beide wundern sich über Hans, daß er nichts gethan hat. Ich hatte ihm auch wieder geschrieben, heute antwortet er darauf. Die Übung für vorige Woche war abbestellt worden, Hans meint es fiele auf wenn er hinginge, er wollte mit Bode in Berlin Zusammenkunft, scheint gescheitert zu sein! – Ich habe tolle Angst, daß es Alex aufs Gemüth geschlagen ist. Sein Wille scheint jedenfalls lahmgelegt, da er auf meinen sehr dringenden Brief vom Dienstag auch wieder nichts sagt. Ob sie ihn auch aus dem Unterricht heraus gethan? Das wäre doch zu entsetzlich. Wenn er nur nicht wieder etwas Dummes ge-macht hat in seinem deprimierten Zustand. Fahre Du nun bitte doch bald hin. Gott gebe, daß noch nichts passiert ist! Die Angst um den Jungen steigert sich mit jedem Tag!

Treu D(eine) M(utter)

 

22. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen,16.8.1898

Lieber Carl,

schon der Anblick Deines Briefes verhieß mir Nachricht von Alex, und ich kann Dir nicht sagen welch Glücksgefühl mich nach Kenntnisnahme des Inhalts durchströmte. Ein entsetz-licher Druck ist von mir genommen, – der Junge ist doch gesund, nicht aus dem Unterricht, für immer gebrandmarkt!- So fern (unleserlich) er bleibt, wenn er nicht in seinem geliebten Reg(iment) bleiben darf, so könnte es doch noch schlimmer sein und die erhaltene Lehre wird hoffentlich einen bleibenden Eindruck auf ihn machen, daß er erst überlegt, ehe er handelt, und diese Erfahrung wird ihn für fernerhin stets an den richtigen Takt mahnen.- Geschrieben hat er noch immer nicht, – aber man vergißt ja nur zu leicht; wenn man wieder schlafen und ohne Druck leben kann.

Ullys Besserung hält stand, Else ließ sich darauf hin noch einen Tag fallen.

Treu, Du treuer Jung, – Deine Mutter

 


 Aus einem Brief der Mutter Becker6 an ihren Sohn Bernhard (+1837)

So wird man am Ende allein stehen, bis man denn wieder den früher Heimgegangenen die Hände reicht und später auch die Seinigen ausstreckt, um die Zurückgelassenen in Empfang zu nehmen.

22. Juni 1821 – 1897

Du kamst am Sommermorgen,
Durch Mutterkuß geweckt,
An Mutterbrust geborgen,
In diese Zeitlichkeit.

Nun, – da am Lebensende
Den Geist schon Dämmerung deckt,
Die Mutter treue Hände
Dem Sohn entgegenstreckt!

Du Letzter all der Meinen
Ich warte Dein, brich auf!
Du hast vollbracht den reinen,
Den arbeitsreichen Lauf.

Wie mich mit süßen Klängen
Dein kindlich Lied ergötzt,
In meiner Seele Eingang
Stimm ein, mein Sohn, auch jetzt!

Womit ich rang vergebens,
Der Sorg und Schulden Last,
Das Bittre meines Lebens
Du mild gesühnet hast.
Die Hand, die kühn entschlossen,
Mir war sie unverdrossen
Zum Geben aufgetan.

Du stilltest viele Zähren
Von Not und Menschenleid,
Zu Perlen sie verklären
Sich in der Ewigkeit,
Hat nicht mich wundgedrückt
Der Sorgen Dornenkranz,
Sieh, wie Du nun geschmücket
Mein Haupt mit Perlenglanz.

Geh aus dem Kreis der Deinen
Nun mit getrostem Mut.
Auf Großen und auf Kleinen
Dein frommer Segen ruht.
Wenn Deine Augen brechen
Wird Frieden Dich umwehn,
Du hörst die Mutter sprechen
Das Leben war doch schön!“


 

23. Julie Becker an Sohn Carl. Gelnhausen, 23.8.1898

Lieber Carl,

Deine Sonntagskarte blieb aus! Fehlt Dir etwas? Ich bin natürlich gleich besorgt.-

Da ich sie gestern und heute erwartete, wollte ich Dir gleich die frohe Nachricht bringen, daß der Kommandeur des Reg(iments) von Zieten mit dem Offizierscorps die Sache mit Alex geregelt hat und sie ihn beim Regiment behalten wollen. Wir alle werden froh sein, wenn die Zeit herum ist, damit er nichts mehr anstellen kann. An Ermahnungen von allen Seiten hat es ihm nicht gefehlt. Er war am Sonntag in Rathenow und Hans hat sich auch versöhnen lassen.

Hier haben eben Tante Line, Louise und Ernst Hoff, Otto Michaelis (gegessen?), und Abends spielt uns Marie Becker auf dem herrlichen neuen Flügel Beethoven, und wir lauschen andächtig beim Sternenschein, ich wünsche meinen vier Soldaten und meinen armen Berliner Studenten diese abendliche Kühle, bei der man die Hitze des Tages vergißt.

Ferdi war Sonntag da und kommt wieder zu Elsens Geburtstag. Er sah die Mainzer Parade hinter dem Kaiser stehend und hörte zwei Kritiker.

Hahns (?) finden es immer noch zu heiß das Haus anzusehn … Abgesprungen sei er noch nicht.

Anna Jansen geht es aber besser, sie sei viel heiterer, ist in Osterbeck mit ihrem Mann.

Ich schrieb eben Alex zu seinem Geburtstag morgen.

Es küßt Dich Deine … Mutter

 

24. Julie Becker an Carl. Gelnhausen, 13.9.1900 (Brief V)

Lieber Carl,

Deine Briefe sind bis jetzt alltäglich eingetroffen, gestern drei auf ein Mal und des Morgens die Karte an Frida. Ich war sehr erstaunt, daß Du schon wieder in Madrid warst, doch erklärte es dann Dein Brief. Heute früh erhielt ich Briefkarte vom 10. Nach und nach geht die Verbindung, wie es scheint, besser. Ich freue mich riesig, daß Du wohl, vergnügt und gesund bist. Hoffe auch bald zu hören, daß die Arbeit sich auch lohnen wird. Willy ist bang, daß Du fleißig bist, all den ungehobenen Schätzen gegenüber. Ein Glück, daß man Dich nur 5 Stunden zuläßt.

Willy hat auch recht Pech, er schrieb mir von seinem neuen bösen Karfunkel, das ihm so zu schaffen machte. Ich denke eben viel an ihn, durch Rudi, der mir gestern, als wir uns zufällig zu einsamen Spaziergang zusammenfanden, viel erzählte, was man alles zum Examen wissen muß. Es gibt Knochen im Gehirn, die 75 Ecken und Löcher haben, alle mit Namen versehen, die man nennen muß. Rudi ist gerade heute angekommen, er studiert eifrig in Deinem Studierzimmer, schläft aber gut, ißt ordentlich, ist Nachmittags um 5 (Uhr) zu allem zu haben. Vorgestern waren Rehbocks von 11 bis 5 Uhr hier, die erzählten mir von W. Hegeners Verlobung, was zwischendurch allerhand Hoffnungen durchkreuzt, die Eltern aber sind sehr zufrieden, da die Familie eine vornehme holländische ist. Vermögen war früher groß, es wurde aber größtenteils verloren. Das Mädchen ist elegant und hübsch, nur ein Jahr jünger als er. Auch Theodor wurde als er in Landvoort war, mal von ihnen als Mann geplant, er aber hielt sich sehr reserviert, Und Du, Carlchen, eine Spanierin bringst Du mir nicht mit, gelt? Wäre nicht mein Wunsch.

Rehbocks entführten uns die Jugend, es war am Abend Zauberflöte und wurde ich auch gleich sehr bearbeitet und erteilte ich die Erlaubnis, Rehbocks spendierten das Nachtessen.

(Schlußblatt fehlt) (Mutter)

 

25. Julie Becker an ihre Kinder. Gelnhausen, 21.8.1906

Meine lieben Kinder,

das Herannahen des heutigen Tages hat mich schon lange bewegt und nun ist er wirklich da mit seiner Flut von Gedanken und Erinnerungen! Vor 50 Jahren stand ich als junge Braut am Altar , den so heiß Geliebten zur Seite, die grüne Myrthe im Haar, die Welt und Zukunft vor mir im Sonnenglanz, aber auch den festen Vorsatz und die heiße Bitte im Herzen den Mann dessen Wahl mich so stolz gemacht, so glücklich zu machen, wie es mit allen meinen Kräften nur möglich sein würde!

Dann kam der Tag, heute vor 25 Jahren, wo die grüne Myrthe gefeiert wurde und mit Dank und großer Freude sahen wir beide auf den lang versagten Segen unverhofft auf sechs blühende Kinder und genossen die Liebe von Geschwistern, Verwandten und Freunden, die sich so überraschend kund gab.

Alles was wir nicht zu hoffen gewagt, das geschah,- nach 16 Jahren ungetrübter Gemeinschaft wurden uns vergönnt, liebe Schwiegersöhne, eine vierte Tochter, liebliche Enkel erhöhten unser Glück, und als dann endlich die schwere Trennungsstunde schlug und jede Lebens-freude für immer verdunkelt schien, da erwies sich meine Liebe zu Euch und die Eure zu mir doch mächtig genug, mir noch ein Mal wunderschöne Zeit zu gewähren. Ich genieße den Einblick in sechs wahrhaft glückliche Ehen und freue mich an der Entwicklung lieber Enkelkinder in allen Stämmen.

Wie gern laß ich alles Leid zurücktreten, das ein langes Leben Jedem bringt, – ich fühle mich nicht in trauriger, sondern in gehobener Stimmung, denn ich habe ein großes Los gezogen und wenn auch allein im Leibe noch, so doch im Geist verbunden mit den Vorangegangenen, freue ich mich diesen Tag zu erleben, der mir ein Feiertag seliger Erinnerung und tief emp-fundener Dankbarkeit sein soll.

Es ist daher mein Wunsch, auch Euch, liebe Kinder, eine Freude zu bereiten und ein Andenken zu überreichen an den 21sten August, der für mich so große Bedeutung gewann, eine stete Erinnerung beim Tragen an den Vater, dem Spender der edlen Steine, als wie ein Symbol seiner sich niemals genug tuenden Liebe und an die Mutter, die sie über 37 Jahre getragen hat und sich heute freut, daß sie für Alle reichen und auch ihr noch ein Andenken bleibt.

Nehmt die Gabe hin mit meinem warmen Dank für Alles was Ihr mir gewesen, was Ihr mir seid und noch sein werdet und mit meinem und des Vaters Segen für Euch und Eure Kinder, denen Gott Erfüllung geben wolle!

Amen.-

***

26. Julie Becker an Sohn Carl. Frankfurt/Main, 19.11.1916

Lieber Carl,

Ich möchte Dir heute nur mitteilen, daß ich die Sache mit den Banken geordnet habe und die Sache Ferdinand mitgeteilt habe. Die Fassung ist ein bißchen verschieden, da beide Banken meinen Text etwas veränderten. Die Frankfurter schreibt, sie nähme Notiz davon, daß ich beiden Söhnen Vollmacht gegeben über mein Guthaben Jeder allein zu verfügen und Jeder allein über das Vermögen, wenn der Andere nicht zu erreichen sei. In diesem Fall gälte für sie die Mitteilung des Einen, daß dieser Fall eingetreten sei.

Die Filiale fand das zu riskiert und gab ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß ich Jedem über Beides die Vollmacht erteilte. Ich machte damit keine Schwierigkeit. Ihr werdet Euch schon verständigen, da natürlich immer Einer nur die Teilung haben kann, damit es kein Durcheinander gibt. Jeder wird gern über das Vermögen lieber nur die halbe Verantwortung

tragen.

Gestern kam eine wahre Freudenbotschaft. Hans schrieb mir, daß er die Kais(erliche) Bot-schaft bekommen habe, daß er nun doch noch kommandierender General7 werden soll und zwar in der Heimat bei einem stellvertretenden Kommando. Wo? Und wann ist noch unbe-kannt, jedenfalls aber bald. Könnt Euch denken, wie glücklich Dora ist. Aber Weiteres können sie erst beschließen, wenn sie wissen wohin. Auch Hans schrieb sehr befriedigt, denn im Krieg sei dies ein sehr wichtiger einflußreicher Posten, aber der Abschied von der Division tue ihm leid. Sonst nichts neues. Herzlichen Gruß Mutter.


1 Theo Riedel war Marineoffizier; während des Spanischen Bürgerkrieges war er als Kapitän mehrmals dort zur Unterstützung General Francos. Selbstmord 1939.

2 Zu dieser Zeit fanden die üblichen Herbstmanöver statt; Großvater Ferdinand mußte als junger Assessor in Hanau die Flurschäden regulieren und war deshalb bei der Geburt Ullys nicht in Gelnhausen.

3 Sie meint wohl gemütsvoll o.ä.

4 Wilhelm Bornemann war Frankfurter Stadtschulrat, Sohn Willy ein Schul- und Studienfreund Carls. Zum ersten Todestage wurde ihm in der Stadt von Freunden ein Denkmal gesetzt. Willy, cand.med., sagte lt. Pressenotiz, „das ihm gewidmete Denkmal werde ihnen stets eine ernste Mahnung sein, in den Fußstapfen des Verstorbenen zu wandeln im Dienste und zum Wohle der Menschheit.“

5 Julie ist die Mutter des Herausgebers.

6 Amalie Becker geb. Schmincke, aus Carlshafen an der Weser

7 Hans Riedel wurde Generalleutnant.