Harro Siegel, II.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1922

146. Harro Siegel an C.H.B. (Berlin?) 18.5.1922

Lieber Carl!

Das scheint nun freilich eine recht unruhige Zeit für Dich gewesen zu sein (schönen Dank für Deine Karte); als Schauobjekt denke ich mir das ungeheuer anziehend; ich möchte Dir aber wünschen, daß Du rein äußerlich immer die nötige Distanz hattest. Innerlich – das brauche ich Dir ja nicht zu wünschen. Du wirst schon die rechte Klappe zugemacht haben. Hoffentlich lerne ich das auch noch mal. Pompöse Festlichkeiten pflegen mich zu langweilen oder zu dégoûtieren. Freilich, – in Italien wird alles anders sein. Sicherlich verstehen die Leute dort so was besser.

Vielleicht ist es Dir nun nicht ganz unwillkommen, nach diesem Wirbel in Deiner stilleren Zeit in Venedig nochmals einen Brief von mir zu bekommen. Welch angenehmer Zeitvertreib für mich, während meiner stupiden Tagesarbeit mir diese Deine Reise einzuinhalieren.

Du hast sicherlich am letzten Sonntag mal darüber nachgedacht, was W(endé?). und was ich zur selben Stunde wohl unternehmen möchten. Ob Du aber auf das geraten hast, was Dir unsere Karte verriet? – Dieser Spaziergang war wirklich wundervoll. Weißt Du, -in der Erfüllung von Realitäten haben W. und ich uns dank gleicher schwerflüssiger Anlage wenig zu sagen gewußt. Aber dies unter allem mitschwingende Gefühl unbedingten gegenseitigen Verstehens und Vertrauens ist mir so wohltuend. Ich bezweifle übrigens nicht, daß es ihm ebenso geht. Ich weiß nicht, ob Schicksalsgemeinschaft nun immer (weggelocht: so?) mehr pflichtmäßige Bindung mit sich bringen muß, – aber ich glaube hier von beiden nur zu spüren. Auch um dieses Menschen willen tut es mir weh, jetzt hier fortzugehn. Trotzdem glaube ich, daß auch unserem stillschweigenden Verhältnis Jahre der Trennung im Grunde nichts anhaben können.

Ich vergleiche Dein Urteil über Frau W. mit der Realität, verstehe es, mache es aber nicht mit, sondern finde, daß Du ein wenig ungerecht bist.

Mit den Kindern bin ich sehr gut Freund, besonders mit dem Bübchen. Der immer von neuem aufflammende hitzige Strauß um die Plätze an meiner Seite hat mich fröhlich ergötzt. Diese meinen Kindern zugewandte Komponente scheint mir wichtig.

Oberleutnant Hasse (?), der mich frühmorgens vom Lager (weggelocht: juchzte?) ist wirklich ein durch und durch anständiger Kerl, aber ich weiß nicht, ob noch viel mehr. Er scheint mir nicht problemlos, aber auf alle Fälle unproblematisch. (Aber er stand ja auch glänzend mit seinem Vater.)

Das Wetter ist wundervoll, infolgedessen die Stubenhockerei kam noch zu ertragen.

Nun, Schluß! Es ist spät. Viel Geist habe ich nicht mehr zu verschwitzen. Nimm aber zur Kenntnis, daß ich eben meiner Mutter (die ich doch wirklich von Herzen liebe) zum Geburtstag nur drei weitgeschriebene Seiten schrieb, – und nun dieses!

Ich bin Dein Harro.

 

147. C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18./19.5.1922

Ganz persönlich

Mein liebster Harro!

Das war ein guter Brief, den Du mir da geschrieben hast. Aus der ganzen Schwere Deines Herzens heraus konzipiert trug er den Stempel eines ernsten Ringens, Unaussprechliches in verständliche Worte zu kleiden. Ich glaube Dich verstanden zu haben. Auch den ersten stammelnden Versuch, Dich auszudrücken, hatte ich richtig erfaßt. Ebenso eine zweite Äußerung einmal in meinem Vorzimmer und jetzt dieser Brief. Ich weiß, daß ich Dich nicht ganz habe, aber nicht, weil Du Dich nicht hast, sondern wohl aus anderen Gründen. Ich kann so etwas nicht schreiben. Letzte Dinge kann man nicht durch Niederschreiben objektivieren. Man kann sie wohl aussprechen. Aber dadurch geht ein letzter Hauch verloren, aber es bleibt dafür eine starke Gewißheit. Die Gewißheit der Niederschrift ist so brutal, weil sie übertragbar wird. Der Brief kann in andere Hände fallen und so etwas darf und soll nur zwischen Dir und mir sein. Ich bin nur frei im Gefühl und im Erleben. Schon das Wort wird zur Hemmung, die Schrift zur Schranke. Denke an den schönen arab(ischen) Vers, den Ritter Dir schrieb und den ich Dir übersetzte. Wir müssen noch einmal eine stille Stunde miteinander haben, wo wir beide bereit und offen sind über uns zu reden. Hier wäre ich’s . Wie oft sehe ich Dich hier an meiner Seite stehen. Was ich in diesen letzten Tagen an schönen und eigenartigen Eindrücken aufgenommen habe, ist einfach unerhört.

In Padua1

Erst das Erlebnis der Piazza. Der Student beherrscht die Stadt, die Straße. Dabei ein Frohsinn, eine Leichtigkeit und bei aller Tollheit eine Disziplin und letzte Liebenswürdigkeit, die mit allem versöhnt. Dabei spielt der Alkohol keine Rolle.

Dann die gewaltige internationale Demonstration im Salon2e. Man erlebt eine Nation und

eine res publica gentium. Die Masse tost und die Masse schweigt, in Stille und Ehrfurcht. König, Kardinal, Militär, 100te und Aberhunderte von Akademikern in schillernder Farbenpracht. Eviva il Ré.

Ein alter köstlicher Palast größten Styls. Der noch heute reiche Graf gibt ein Abendfest. In den prächtigen alten Räumen eine riesige Gesellschaft, alle Paduaner in Tracht des (Sette) Cento. Köstlicher Garten mit herrlichen alten Zedern und Platanen. Diskrete grüne Beleuchtung und kunstvolle Ornamentik mit roten Öllampen entsprechend der Architektur der Galerien und Balkone und Pavillons. Ich liebe die italien(ischen) Nächte im allgem(einen) nicht. Aber das war ein Traum, den man nicht vergißt.

Herrlicher alter Park, Styl Schwetzingen oder Belvedere. Alte Kastanien, entzückende Durchblicke. 430 Personen werden an langen Tischen gespeist und dann wandelt man in diesen Alleen. Mittags zwischen 1 und 3 (Uhr) sonnig und doch kühl. Köstliche Weine. Lauschige Gänge und Lauben, blühende Rosen und Glyzinien. Fresken von Tiepolo.3

In Venedig

Canal della Linderra(?), das Boot kommt in die Lagune. Man biegt um die Ecke. Rechts die graziöse Santa Marie Maggiore, links der Marcusplatz und der Palazzo Ducale4 weiß und glänzend, fast rosarot in der Sonne, das Wasser und der Himmel blau – alles ganz unwahrscheinlich und doch wahr.

Marcusplatz, Abends, Dunkelheit, eine angenehme Menschenmenge wogt hin und her, eine Musikkapelle spielt, wie nun Italiener spielen, eine Kette von Studenten mit bunten bengalischen Fackeln stürzt in die Menge, sie umkreisend, das Licht reflektiert auf dem von einem kurzen Gewitterregen feuchten Boden, erhellt die umstehenden Gebäude, aus rosaroten

Wolkennebeln dämmert der Marcusdom hervor.

Im Restaurant, man sucht seine alten Lieblingsspeisen heraus, eine Zuppa, von der man satt wird, oder Risotto oder Spaghetti, Artischocken, gebratene Fische oder gebackenes Allerlei, Käse, getrocknete Südfrüchte, dazu Rotwein und nochmals Rotwein, Cafè nero. Am selben Tisch sitzen Italiener. Ob man will oder nicht, in fünf Minuten ist man mitten in der Politik. Alle Italiener versichern, daß sie ja eigentlich nur mit Österr(eich)5 Krieg geführt hätten und daß sie uns nach wie vor lieben. Das ist keine Phrase. Ehe man sich’s versieht hat man eine Zigarette geschenkt bekommen und man bedauert nur, daß man das Italienisch so barbarisiert.

Draußen am Lido liege ich in den Dünen. Das Meer bricht sich in langen weißen Wellen. Blau wie der Himmel. Ziemlich Einsam. Majestätisch zieht am Horizont die italien(ische) Flotte.

Überall, mein lieber, lieber Harro, habe ich Deiner gedacht und Dich an meine Seite gewünscht. Ich hoffe und weiß, daß auch Du mit mir lebst. Nimm heute mit diesen kurzen Andeutungen vorlieb. Sie sind der Nacht abgerungen. Ich bleibe wohl bis Montag hier und bin wahrscheinlich schon Dienstag Abend in Augsburg, Maximilianstraße 26, bei Geheimrat von Schmid. Vielleicht gehe ich dann noch zu Wende in den Taunus. Eure gemeinsame Karte freute mich sehr.

Ich erhole mich sehr und kann sogar allein sein. Schöner wär’s mit einem Menschen, den man lieb hat, aber sehr lieb. Je lieber man ihn hat, desto schöner wär’s.

Von Herzen Dein Carl.

 

148. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 20.5.1922

Lieber Harro!

Es ist noch immer so schön hier und wir genießen (das) freundliche Wetter herrlich. Heute Murano, die Glasbläserinsel und Mittags San Lazzaro, das armen(ische) Mechitaristen (?) Kloster besucht. Aus Versehen stiegen wir auf einer falschen Insel, dem Irrenhaus, aus und mußten dort 1 Stunde sitzen. Herzl(ichen) Gruß Dein Carl.

PS. Von anderer Hand:

Herr Professor sagte mir eben, daß Sie Verständnis hätten für unser eigentümliches Zusammensein. Am Ende würden Sie gar eifersüchtig sein, wie lieb der Herr Professor mit mir ist.

Recht herzliche Grüße Hans Gladinas (unleserlich).

 

149. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 21.5.1922

Mein lieber Harro!

Hans Gladinas (?) (mitgesendete?) Bemerkung auf der gestrigen Karte habe ich passieren lassen in der Überzeugung, daß Du keinen Mißbrauch damit treibst. Es war ein netter schlichter Jung, der sich mir in rührender Weise anschloß. Obwohl Student in Padua, war er noch nie hier gewesen. So lud ich ihn ein, mit mir zu gehen. Wir waren drei Tage zusammen. Er war gerade das was ich brauchte. Still und behaglich, alles genießend, gesprächig wenn mir’s um Unterhaltung zu tun war – stets eine angenehme Gesellschaft. Jesuitenschüler und auch in

Padua noch in einer Art freiem Pensionat. Es war zu nett zu sehen, wie es ihm immer mehr gefiel und als er eben abfuhr, war ihm ordentlich schwer ums Herz. Du weißt wie ungern ich so etwas unerhört Schönes wie Venedig allein genieße. So hatte ich doppelte Freude davon. Er war gerade in seiner Harmlosigkeit so unendlich ausruhend. Ja, mein Lieber, wenn Du es gewesen wärst! Ich mußte oft daran denken. Das wäre eben ein Märchen gewesen.. Ja, mein Armer. So was im Intimen (wegelocht 2Mal). Bitte dies nicht so liegen lassen.

Dienstag beginnt Rückreise über Gardasee. Von Herzen Dein Carl.

 

150. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 23.5.1922

Lieber Carl!

Ich möchte Dir nur ganz rasch von Herzen für Deinen Brief aus Venedig danken, denn ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme. Er hat mich ungemein erfreut, aber in der Freude verstärkte er auch wieder die Unbefriedigung über Dein Fernsein, und die Begierde, Dich bald selbst wieder zu sehn. Da dies bald der Fall sein wird,, gehe ich nicht weiter darauf ein. Du hast ja Fabelhaftes erlebt und ich bewundere die Kraft Deiner Schilderung.

Wende ist gestern abgereist; besuch ihn doch ja im Taunus und grüß ihn sehr von Herzen von mir. Ich war Sonntag noch mal draußen; es war sehr nett. Für Ende der Woche plane ich zur Zeit noch eine Spritztour nach Hamburg, weiß aber noch nicht, ob ich kann. Im übrigen ist es hier seit Tagen übermäßig heiß, so daß der von der Tagesarbeit schon immer höchst mitgenommene Geist aufs Äußerste reduziert scheint. Deshalb Schluß.

Ich gehöre Dir, soweit ich kann! Dein Harro

P.S. Den Aufsatz von Troeltsch 6(Auf der .<unleserlich> der Wissenschaft) finde ich famos.

 

151. C.H.B. an Harro Siegel, Goslar(?). (Berlin)Steglitz, 1.6.1922

Mein lieber Harro!

Eben kam Deine Karte aus Michendorf (?). Ich freute mich gestern und heute des guten Willens im Gedenken an Dich. Auch in mir klang unser letztes Beisammensein noch lange nach, wenn ich auch ziemlich jäh durch einen Professor herausgerissen wurde, der sein Gehalt erhöht haben wollte und mir eine halbe Stunde etwas vorjammerte. Abends hatte ich dann eine

Aussprache mit Landé, der Dein Buch bis heute noch nicht ausgewickelt hat und es am liebsten so zurückschicken möchte, ohne zu wissen, was es ist. Seit gestern trägt er auch Deinen Brief uneröffnet in seiner Tasche. Er will sich die Illusion nicht nehmen lassen, daß etwas Nettes drinstünde. Hätte er ihn gelesen, dann wäre es mit der Illusion zu Ende. Dabei habe ich ihm bei der Aussprache, als er wieder so den Gekränkten spielte, der von Dir mißhandelt sei, zart aber deutlich angedeutet, worum es sich handelt. Ich fragte ihn zunächst, ob er nicht auch Dich vielleicht „mißhandelt“ habe. Der Gedanke war ihm neu: Noch schöner! Dann aber fand er die Umdrehung köstlich. Erst wurde er mißhandelt und dann solle er noch der Schuldige sein. Natürlich sei er der Schuldige usw. usw. Dann sprach ich ganz allgemein von der Toleranzgrenze, die in solchen menschlichen Beziehungen jeder dem anderen gegenüber habe und fragte ihn, ob er sie Dir gegenüber nie überschritten zu haben glaube. Langsam wurde er hellhörig und dann sehr schmerzhaft. Die naheliegendste Verkettung war diesem Kind und Anfänger in menschlichen Beziehungen nie in den Sinn gekommen. Dann kam der Schmerz in ihm hoch. Das sei ja noch viel schlimmer, nun sei alles kaputt, ich hätte ihm das Letzte zerstört, nun könne er nie wieder einem Menschen näher treten. Er war nüchtern genug zu sagen, ich täte ihm vielleicht damit einen großen Dienst, aber im Augenblick verfluche er ihn. Er kämpfte schwer mit den Thränen und war sehr erschüttert. Er werde den Brief nie aufmachen. Du brauchst das ja nicht zu wissen usw. Gestern und heute war ich dann sehr nett mit ihm. Er ist wieder ruhiger, war heute sogar glückstrahlend über einige Freundlichkeiten des Ministers, und erzählte mir unaufgefordert, daß der Brief eingetroffen. Ich riet ihm, ihn bald zu lesen, er sei sicher zwar hart aber gut und wohltuend. Ich möchte, daß er mit der Sache fertig wird und sich nicht wochenlang mit dem uneröffneten Brief beschäftigt. Ich glaube durch meine übrigens sehr zarte Vorbereitung auch Dir einen Dienst getan zu haben.

Heute las ich mein letztes Colleg. Frau Benecke war allein da und hatte zu arbeiten, zu Tisch hatte ich Gragger, es war sehr nett, friedlich und unaufregend. Zum Schluß kam Richter, der in guter Form ist. Um 5 (Uhr) war dann ein Thee beim Minister mit Damen. Die Kinder spielten gleichzeitig noch einmal die Kindersymphonie für die Studentenhilfe und dann fuhren wir alle fidel im Auto heim.

Wende kommt nun doch heute oder Morgen heim und dann werde ich aller Theorie zum Trotz mit ihm zusammentreffen.

Gestern hätte ich Dich gern da gehabt. Walter war von dem Vater seines Freundes Kuchenthaler (?) eingeladen worden, allein mit s(einem) Freund eine große Reise in die bayer(ischen) Alpen und nach München zu machen. Nach langem Kampf habe ich Nein gesagt. Ich habe Walter ganz offen an meinen Gedankengängen teilnehmen lassen, die Sache kommt mir zu früh, er solle Ruhe haben, solange er auf der Schule ist, bei uns bleiben, Intensivierung statt immer neuer Eindrücke, der Freund will dünn werden, er soll Fett ansetzen, er soll nicht nur von gebratenen Tauben leben usw. Es war Walter natürlich schmerzlich, was ich ihm nicht verdenke, aber er hat es sehr nett getragen. Ich glaube sogar, daß er mir innerlich recht geben mußte. Ich mag diesen reichen Judenmuckel7 nicht, obwohl der Freund selbst ganz famos ist. Mich ärgerte es, daß ich meinen Jungen gegenüber als der versagende Vater erscheinen mußte, nur weil Herrn Kuchenthaler eine Geschäftsreise machen muß, seine Frau nicht allein mit den Kindern sein will und diese deshalb untergebracht werden müssen. Geld spielt keine Rolle, also wird ohne Rücksicht in die Dispositionen anderer Leute eingegriffen. Nun erlaube ich den beiden im Herbst eine bescheidene Fußtour. Dies Herumkutschieren in der Welt mit 16 Jahren mit vollem Portemonnaie, ohne Aufsicht und ohne Zwang zum Sparen, das paßte mir nicht. Ich habe mich dabei wirklich über Walter gefreut und ich will ihm nun auch ein besonderes Bene antun.

Morgen sehe ich auch Wolf Kühn, Montag wickle ich im Ministerium ab, gehe Abends noch mit den Kindern in die „Lustigen Weiber“ in der Hochschule und fahre Dienstag nach Marburg. Nachm(ittags) 3 Uhr werde ich auf der Durchreise in Cassel Deine Geige abgeben. Ich habe Deinem Vater geschrieben, daß er sie abholt oder abholen läßt. So kommt sie noch vor Dir hin.

Alles Gute für Lola8 und Dich. Wie stets von Herzen Dein getreuer Carl.

 

152. C.H.B. an Harro Siegel Im Zug Gießen-Fulda, 6.6.1922

Mein lieber Harro!

Ich will mit dem Ausdruck meiner Anteilnahme bis Gelnh(ausen) warten, zumal ich nun weiß, daß mein ausführlicher Brief nach Goslar auch erst verspätet in Deine Hände kommt. Das Mißgeschick tat mir aufrichtig leid. Es paßte so gar nicht zu Dir und weniger in den harmonischen Abschluß der Berliner Zeit. Ich bin brennend neugierig zu erfahren, was nun eigentlich passiert ist. Dein Vater schien etwas ängstlich. Es war sehr nett, daß die Strecken-panne gerade nach Cassel fiel, so daß wir über eine halbe Stunde sehr nett plaudern konnten. Auch über Deinen kleinen Bruder habe ich mich recht gefreut. Wie wird’s denn wohl zu Hause gehen? Ich denke viel, sehr viel an Dich. Doch das weißt Du ja, auch ohne daß ich es sage.

Der Abschied von Wende war sehr, sehr wohltuend. Wir hatten noch das letzte Mittagessen am Montag zusammen. Es war viel zu berichten – gegenseitig. Und es war alles klar. Abends in der „Lustigen Witwe“ wurde ich noch von Benecke herausgeholt, um mit dem Vorsitzer der Studentenschaft eine wichtige, aber auch menschlich wertvolle Besprechung zu halten.. Die Abreise dann ruhig nach dem Programm.

Vom Aufenthalt in Cassel wirst Du alle Details gehört haben. Ich fuhr mit einem netten jungen Schauspieler aus Berlin allein im Coupé. Er gab sich alle erdenkliche Mühe herauszubekommen, was sein in Theatersachen so fabelhaft versiertes Gegenüber eigentlich wäre. Ich hab’s ihm aber nicht gesagt.

In Marburg wurde ich beim Kurator von Hülsen, einem ganz famosen Menschen, der früher im Ministerium war, reizend aufgenommen. Und überhaupt Marburg! Ist das entzückend! Ich wohnte prachtvoll, das weite Tal unter mir. Gleich nach der Ankunft den Rest des Abends Mannhards Brenson (?), ein ganz neuer Typ von Studenteninternat mit ganz einheitlichem Charakter – eine ganz (unleserlich) Sache. Den nächsten Tag von früh bis Abends Besichtigungen. Diner beim Kurator, Bierabend beim Rektor – Reden usw. wie üblich.

Auch hin und wieder ein starkes persönliches Erlebnis. Habe ich Dir von dem kleinen Wilatzky erzählt? Er erreicht mich, um seinem vollen Herzen Luft zu machen. Eine ganz abenteuerliche Ehegeschichte, nämlich zu Dritt, mit allen nur denkbaren seelischen Feinheiten, in fabelhafter Höhenlage, aber erschütternd. Heute früh fuhr er noch bis Gießen mit, um mich noch etwas auszunutzen. In 2 Stunden bin ich in Bieberstein; Freitag Abend oder Sonnabend früh in Gelnhausen. Eben kommen wir in Fulda an. Leb wohl, mein Lieber! Du wirst wohl auch manchmal an mich denken. Wie stets von Herzen Dein Carl.

 

153. Postkarte von Erich Wende an Harro Siegel. Langeoog, 22.6.1922

Lieber Herr Siegel!

Das Kinderreich, zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, dankt Ihnen durch seinen Vater sehr für Ihre Grüße, Ihre Kunst, Ihre fabelhafte Mäusegeschichte. Sehr interessant! Nur beide Eltern mit den Drei sehen Sie mit herzlichem Bedauern auch von uns gehen, ohne daß wir Sie noch einmal sehen konnten. Denn nun hänge ich natürlich hier an dieser Herrlichkeit fest. Es ist fast so schön wie damals an der Havel. Wie an jenem Tag denken wir an Sie immer in aufrichtiger Anteilnahme. Für Sie das Gleiche. Vielmals Ihr getreuer Wende.

 

154. Postkarte von Harro Siegel an C.H.B. Michendorf/Mark, 30.6.1922

L(ieber) C(arl)!

Es wurde doch mittags 1 Uhr bis wir endlich auf die Wendendorffest (?) kamen. Programmgemäß sind wir bis hierher gelangt und warten nun auf unser Nachtlager. Der Marsch aus Berlin heraus über den Hohenzollerndamm in den Grunewald (?) war sehr merkwürdig. L. läßt grüßen; Ich denke an gestern mittag. Herzlichst Dein Harro.

 

155. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 2.7.1922

Lieber Carl!

Zwar hoffe ich Dich doch morgen noch zu sehen, – aber ich finde gerade mal einen Moment Zeit inmitten dieses turbulenten Daseins, das ganz im Zeichen des (unleserlich)-starken Überfalls aus Holland steht. Wir genießen hier Familien in allen Formen, aber von mir aus könnte nun bald Schluß sein. Ich schreie wieder mal nach Alleinsein.

Gesundheitlich bin ich völlig wieder in Form. Ohne daß es aller ärztlichen Kunst gelungen wäre, dem Übel einen Namen zu geben; lediglich von der Kokkentheorie ist man wieder abgekommen.

Die 14 Tage Sommerfrische in unserem kleinen Waldhäuschen waren wundervoll. Sie bilden ein Kapitel für sich, über das weniger zu reden und noch weniger zu schreiben ist. Wald, Wiese und Sonne und ein großes gegenseitiges Sichverstehen, was braucht es mehr?

Weißt Du, es steht ganz fest bei mir, daß wir beide irgend was dergleichen in nicht zu ferner Zeit auch mal tun müssen. Wieviel näher rücken sich die Seelen, wenn man alles gemeinsam tun muß.

L(andé?). ist jetzt in Elberfeld und wird Dir über Schwöber (?unleserlich, da weggelocht) schreiben. Meine Arbeit beginnt am 7. (Juli?). Der neue Meister – ein Vierziger etwa – macht einen sehr offenen, sympathischen Eindruck; freilich scheinen Grenzschranken etwas überdeutlich die Christentum und nationale Gesinnung zu stehen. Aber was tut das? Ich weiß nichtssagend zu schweigen. Die Werkstatt liegt in der Casseler Altstadt an einem von Fachwerkbauten umgebenen Platz, ist sehr eng und niedrig und starrt – für meine durch Sinnesnerven geschützten und verwöhnten Begriffe – vor Dreck. Auch ist die Arbeit natürlich eine ganz andere, aber sicher von sehr erheblichem praktischen Nutzen.

Etwas, worüber ich immer wieder nachdenken muß, ist die Geschichte mit Landé. Offen

bekannt, – das Schuldgefühl auf meiner Seite steigert (teilweise unleserlich, da weggelocht) sich. Aber es ist ihm mit ratio nicht beizukommen. Daß er dies Erlebnis ausradieren möchte, – es wäre meine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Es hätte sich doch ermöglichen lassen müssen. Die Loslösung so zu gestalten, daß ich ihm nicht dadurch die ganze Erinnerung an unser gemeinsames Wegstück vergiftet wurde. Aber ich war mir – wie meistens – zu schade zu persönlichen Opfern und bin mir nun böse, daß ich ihn zum Beispiel 4 Wochen stillschweigend ohne Gewissensbisse meiden konnte. Schreibe mir bitte immer, wie es ihm geht, und ob er wieder vergnügter wird. Ihm selbst natürlich kein Wort von all diesem.

Ein gezeichneter Briefkopf für Wendes liegt schon seit Tagen hier herum, aber ich komme nicht dazu, ihm ein Wort dazu zu schreiben. Bitte grüße ihn doch sehr von mir.

Auf Spengler bin ich ja wirklich sehr gespannt. Ich hoffe auf eine gute Zeit für H.R (?)bei Dir. Grüße auch ihn. Kommt er denn hierher?

Herzlichst Dein Harro.

 

156. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 9.7.1922

Lieber Carl!

Vorgestern Dein Brief aus Fulda, gestern der Goslarer! Ich danke Dir sehr von Herzen.-

Wenigstens stehe ich jetzt wieder auf, aber in Ordnung ist die Sache noch nicht. Man scheint etwas ratlos und vermutet – wie ich wohl schon schrieb – Streptokokken, die von meinen Stirn- und Kiefergeschichten abgewandert sind. Ich hoffe eigentlich, es kommt an irgend einer erreichbaren Stelle (meinem Kiefer) zu einem akuten Ausbruch, auf daß dann kräftig geschnitten werden kann. Ich glaube schon so etwas zu spüren. Jedenfalls ist an eine Reise mit L9. vorläufig nicht zu denken. Auch muß ich ja sehen, wann der neue Meister meinen Eintritt wünscht. Ich hoffe aber sehr, Dich diesen Sommer noch hier zu sehen, wenn Du R. (?) besuchst.

Außer der Tatsache, daß Ihr Euch ¾ Stunden lang unterhalten hättet, hat mir mein Vater nichts über Euer Zusammentreffen erzählt. Das ist ja seine Gewohnheit so. Dagegen verriet mir Rolf, Ihr hättet Euch „über meine Zukunft beraten!“

Was Du über L(andé) schreibst, geht mir nahe genug. Ich enthalte mich eines Urteils darüber; ob es richtig war, ihn so deutlich gewisse Dinge verstehen zu lassen; er sieht das ja alles anders als wir. Aber es ist ja nun geschehen, und mir ist es deshalb lieb, weil er jetzt vielleicht etwas von seinen Anklagen gegen mich zurücknimmt.

Bei der Briefgeschichte ist mir etwas unklar. Ich hatte nämlich doch noch einen neuen geschrieben, der die ganze Sache nur leichthin streifte. Den hat er sicher bekommen. Aber ich habe jenen ersten vierseitigen nicht vernichtet und finde ihn jetzt unter meinen Sachen nicht mehr. Du erwähnst einmal, in Eurer Aussprache sei von einem uneröffneten Brief von mir die Rede gewesen, – nachher schreibst Du, L(andé) sei ruhiger geworden und „heute erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen.“ Ich könnte daraus entnehmen, er hätte sie beide bekommen. Das wäre mir sehr unangenehm. Kannst Du diese Befürchtung zerstreuen?

Die Kunstausstellung beschäftigt hier die Gemüter enorm. Dieses Entsetzen über die „moderne Kunst“ hat etwas Groteskes, nachdem die eigentliche Woge schon vor 5 Jahren vorübergebraust ist. Was „moderne Kunst“ ist, werden wir in 40-50 Jahren wissen. Ich war nur in der Akademie; Herrgott, ich bin wirklich froh, da heraus zu sein. Diese Sterilität, Krankhaftigkeit, Selbstbeweihräucherung ist widerwärtig. Aber sie meinen, die Augen der Welt ruhten auf ihnen.—10

Professor Witte freute sich über Dein Kommen. Aber geht mit viel zu viel Elan in diese erneute Freundschaft hinein. Ich kenne das schon: Um so schneller kommt der Zwickpunkt, wo ich nicht mehr mit kann.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder. In treuer Anhänglichkeit Dein Harro.

 

157. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 11.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief hat mich etwas mit Sorge erfüllt. Bitte nimm die Kokkensache nicht auf die leichte Schulter. Gewiß kann die Hüftsache rein toxisch, also eine Vergiftungserscheinung sein, ich habe aber bei Bekannten auch ein Überspringen der Streptokokken gerade auf das Becken erlebt und das war eine endlose Geschichte, die zwar schließlich gut ausging, aber eine jahrelange Quälerei mit sich brachte. Also nur nichts vernachlässigen und nur nicht mit einem Feld-Wald-Wiesendoktor sich begnügen, sondern eine wirkliche Autorität rechtzeitig fragen! Demgegenüber tritt die Enttäuschung ganz zurück, Dich jetzt nicht hier zu sehen. Es wäre zu nett gewesen. Vielleicht wird aber mal ein Besuch von Dir (mit der Eisenbahn11) möglich, ehe Du Deine Arbeit aufnimmst. Dann natürlich ohne Lola als reiner Privatbesuch auf meine Kosten. Überleg Dir’s mal.

Rolf hat Dir sachlich richtig, formal nicht ganz korrekt berichtet. Es war keine „Beratung“ über Deine Zukunft“, wohl aber ein Erwähnen Deiner Zukunftsmöglichkeiten, bei dem wir einig waren, daß die Entscheidung ausschließlich bei Dir liegen könne. Alles käme auf Deine Schöpferkraft im Künstlerischen an.

Es tut mir leid, daß Du meine Aussprache mit Landé nur teilweise billigst. Ich glaubte, ihm und Dir einen Dienst zu tun. Du hattest mich ja auch ausdrücklich ermächtigt, daß ich sehr zart und andeutungsweise vorging, versteht sich von selbst.

Was den Brief betrifft, so weiß ich nur von einem, der nach Deiner Abreise eintraf. Ich wußte ja selbst von dem zweiten nichts. Ich hatte mit ihm davon gesprochen, daß er einen Brief erhalten würde, ehe er ihn hatte.; da sagte er, er würde ihn doch nicht öffnen; tags darauf erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen, aber noch uneröffnet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern habe ich ihm herzlich geschrieben. Vielleicht daß er darauf mal reagiert. Wende habe ich gebeten sich ein bißchen um ihn zu kümmern.

Ob ich mir die Kunstausstellung in Cassel besehe? Sie schließt am 1.8.. Vorher komme ich sicher nicht hin. Auch bleibe ich lieber möglichst lang hier. Auf den 3.8. habe ich mir Ritter für 8 Tage nach Steglitz eingeladen, wo ich dann allein mit ihm hausen werde, 2 Tage noch dienstfrei. Das könnte sehr, sehr nett werden.

Hier lebe ich sehr ruhig von Mahlzeit zu Mahlzeit. Morgen reist meine Frau für 8-10 Tage nach Neuwied. Ich lese mancherlei; Brandi über Geschichtswissenschaft, Ritters Picatrix, eine schöne perspektivenreiche Arbeit, und vor allem Spengler II. Das Buch fesselt mich doch sehr, aber es ist eine richtige Arbeit. Einstweilen war noch viel Unruhe, ein Kommen und Gehen, holländischer und englischer Besuch, man verliert noch viel Zeit mit Gesprächen, da sich die Geschwister meist ein Jahr nicht gesehen haben! Gestern machte ich einen schönen Waldgang allein mit meinen zwei Buben; das war ganz besonders nett. Die Landschaft ist doch immer wieder entzückend. Hellmut schwelgt im Spiel mit den Babies, Walter hat Altersgenossen, jeder lebt nach seiner Facon, nur die Mahlzeiten zwingen alle zur Konsumptionsgemeinschaft.

Aus Berlin hatte ich bisher nur eine Karte von Wende. Doch habe ich ihm von unterwegs schon dreimal, und zwar einmal besonders intensiv geschrieben.

Mir geht’s zur Zeit harmonisch; ich lasse schmoren, was schmoren will und soll und freue mich dessen, was ich besitze. Oft und immer wieder wenden sich da meine Gedanken auch zu Dir. Zur Zeit sorge ich mich um Dich. Sieh’, daß ich’s bald nicht mehr brauche.. Grüße Deine Eltern und Rolf, die Meinigen grüßen Dich. Von Herzen Dein Carl.

 

158. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.7.1922

Mein lieber Carl!

Zu Besorgnissen um mich liegt kein Grund mehr vor. Es kann als erwiesen gelten, daß es sich um irgendwelche Kokken gar nicht handelt. Auch geht es mir für gewöhnlich ausgezeichnet, von merkwürdigen plötzlichen Rückfällen abgesehen, deren Unberechenbarkeit mich allerdings leider in meiner Bewegungsfreiheit behindert. Ich hatte beschlossen, mich als Ersatz für die Tour mit L(ola?) noch ein wenig in unser Gartenhäuschen in Wilhelmshöhe zurückzuzie-

hen. Wir wollten dort auf Feldbetten schlafen, selbst das Essen machen, Sonnenbäder nehmen: L. wollte Landschaften malen und ich den Garten bewirtschaften. Aber ausgerechnet auf dem Rückweg von der Inspektion des Grundstücks bekam ich wieder solche Schmerze, daß wir die Idee vorläufig Idee bleiben ließen. Fast bin ich geneigt, an Hysterie zu denken, denn seit diesem tage habe ich wieder nichts mehr gespürt. Auf die nächste Diagnose bin ich gespannt.

Meine Eltern und Geschwister sind sämtlich verreist; ich bin Herr des Schlachtfeldes. Es gelingt mir ohne Mühe, 9-10 Stunden durchzuschlafen; das ist aber auch das Wertvollste, was ich zur Zeit leiste. Zum Lesen fehlt mir die Sammlung; ich gehe spazieren und mache wohlerzogene Antrittsbesuche.

Brief Harro Siegel
Brief Harro Siegel

Für Deine Einladung danke ich Dir sehr, aber ich möchte eine Reise vorläufig nicht wagen. Nächste Woche habe ich noch frei; vielleicht sage ich mich dann noch plötzlich an – die Ausstellung hier bleibt bis zum 28.8. geöffnet; mir scheint sie freilich des Besuchs des Staatssekretärs kaum wert. Um zu einigen wundervollen Thomas und Steinhausens zu gelangen, muß man sich durch mehrere Misthaufen von Manifestationen der Modernisten (unleserlich) durchfressen. Das ist gute, ehrliche Arbeit – wirklich schon sehr selten. Aber, ich habe nichts gesagt,- ich bin nicht Maler – Dein Wort von meiner Schöpferkraft im Künstlerischen tut mir eigentlich weh. Eine Art Künstlertum will ich mir nicht einmal absprechen, – aber Schöpferkraft? Keine Spur.

Wenn ich mir jetzt so meine alten Mappen besehe, so belächle ich einerseits mit leiser Rührung die Unbefangenheit, mit der ich diese Dinge einst bitterernst machte, und andererseits fühle ich mich mehrfach befreit, weil ich das jetzt nicht mehr nötig habe. Herr Witte freilich erzählt den Leuten, dies sei bloß die neuste Koketterie des Grafen. –

Also, ich mißbillige Deine Aussprache mit L(andé) nicht – hinter meinen diesbezüglichen Äußerungen stecken andere Affekte, die sich ungern zeigen wollten; ich weiß nicht, ob ich mit der Konstatierung von Mitleid bei der letzten Staffel angelangt bin. Im Gegenteil danke ich Dir aufrichtig für alles, was Du unternimmst, ihm Klarheit und damit hoffentlich Beruhigung zu geben.

Ich bemerke, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Dir zu schreiben. Ich könnte Dir noch von allem Möglichen erzählen; doch sei’s zum nächsten Mal verschoben.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder, insbesondere den Muckel. Herzlichst Dein Harro.

PS. Ist nun das Hochgefühlsäußerung hier?

 

159. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 18.7.1922

Lieber Carl!

Leider ist dieser Akt nicht von mir, sondern von Michelangelo. Hab vielen Dank für Deine Einladung; leider kann ich ihr vorläufig noch nicht folgen. Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber es ist noch große Vorsicht geboten.

Da aber die Aussicht, Dich hier zu sehen, durch Eure Wanderpläne so nahe rückt, bin ich ganz getröstet.

Wenigstens aber haben wir jetzt unsere alte Absicht wahr gemacht und bewohnen unser Waldhäuschen. Es ist weniger ein Tusculum, als viel mehr ein „our rustic“, aber es gefällt uns ausnehmend. Nächstens bekommst Du eine Schilderung unseres Tuns und Treibens hier.

L(andé?). (er läßt sehr grüßen) sitzt und verschlingt Spengler II. Ich lauere nur darauf, daß er damit zu Ende kommt, um mich insgleichen darauf zu stürzen.

Herzlichst Dein Harro

 

160. Postkarte von C.H.B an Harro Siegel. Gelnhausen, 19.7.1922

Lieber Harro!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Freue mich sehr, daß Du bald wieder so weit bist, eine Wanderung anzutreten. Schone Dich nur gar! Hier bist Du natürlich sehr willkommen, wenn wir Dich im Augenblick auch nicht logieren können, da wir allein am Herrschaftstisch 17 Personen sind. Aber es wird sich trotz bestehenden Schützenfestes schon ein Quartier finden lassen. Bitte nur rechtzeitig um Nachricht. Lola braucht sich gar nicht in die Büsche zu schlagen. Toilette macht hier niemand. – Die Meinen sind seit gestern auch hier. In Bieberstein war’s ganz famos. Näheres mündlich. Herzlichst Carl

 

161. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Sonntag Abend, (Juli 1922)

Mein lieber Harro!

Nur rasch mit bestem Dank für Deinen lieben Brief die Mitteilung, daß ein Besuch hier diese Woche gut paßt, auch zum Logieren, nur nicht am Samstag (Geburtstag meiner Frau, die Freitag aus Neuwied zurückkommt) und Sonntag. Da ich auch sonst noch mal fort will und wir bei gutem Wetter Ausflüge machen, schreib gleich, ob und wann Du kommst. Mittwoch bis Freitag wäre z. B. sehr schön. Aber ich dränge nicht – Du weißt ja.

Meines Bruders Else will gern mit mir und den Buben einen Ausflug nach Cassel machen. Vielleicht wird was draus.

Walter schrieb an meine Frau: „Vati liest Tag und Nacht Spengler.“ Das ist richtig. Der 2.te Band ist einfach fabelhaft. Lies ihn, wenn Du kannst, sonst will ich ihn Dir später mal schicken. Ein unerhört anregendes Buch.

In Eile, aber von Herzen Dein Carl.

 

162. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 27.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief an mich war mir eine Enttäuschung, Dein Gruß an meine Frau eine sympathische Überraschung. Ich hatte so fest auf Dein Kommen gerechnet, daß ich sogar den Walter an die Bahn geschickt hatte – für alle Fälle. Nunmehr werden wir uns also so bald nicht sehen; denn aus der Ausflugsfahrt nach Cassel wird nichts; obendrein geht mein Urlaub zu Ende. Ich reise am 3.ten , am 4.ten kommt Ritter zu mir, am 7.ten beginnt mein Dienst. Ich finde den Plan sehr nett. Auch Ritter scheint sich drauf zu freuen. Wir zwei sind dann ganz allein in der Schillerstraße 2, was bei Ritters seelischem Zustand gewiß seine Vorzüge hat. Er schrieb mir dieser Tage wieder mal einen trübsinnigen Brief. Wie immer war gerade einer von mir unterwegs.

Die gleiche Kreuzung erlebte ich dieser Tage mit einem Brief von Landé. Ich hatte ihm bald nach meiner Ankunft hier sehr herzlich geschrieben. Als ich 14 Tage ohne Antwort blieb, schrieb ich ihm nochmals herzlich, ohne ihn aufzuziehen, sagte ihm sein Schweigen verriete mehr Styl als ein abgequälter Brief. Er solle mir lieber nicht schreiben, ich wollte nur, daß er sich nicht auch noch mit dem Gedanken des Nichtschreibenkönnens herumquälen. Sein Brief war ruhig, herzlich, glatt und sympathisch. Dein Name kam nicht drin vor, so daß ich nicht weiß, ob er Deinen Brief inzwischen eröffnet hat. Nur an einer Stelle schwingt Vergangenes an, wo er einen starken persönlichen Dank mir gegenüber mit den Worten abschließt: „Ich möchte das um so mehr in dieser Zeit, wo ich – auch das andere Sie wie alles in mir verstehen – leicht geneigt bin, vieles aus meinem Leben fortzuwünschen, auszuradieren, wenn es ginge.“

Der Brief ist sehr beherrscht und so einwandfrei und sympathisch, daß ich ihn meine Frau lesen ließ, der Landé nicht sympathisch ist, um ihn ihr etwas näher zu bringen, was auch gelang. Ich glaube, daß er die Krise überwunden hat. Von Dir werde ich nicht mehr mit ihm empfangen.

Ich habe inzwischen Spengler zu Ende gelesen. Einige meiner Lieblingstheorien sind darin stark bekämpft respektive mit großer Geste als unmöglich abgelehnt. Andere Theorien von mir sind verstärkt und vertieft gesehen. Deshalb habe ich ein besonderes Verhältnis zu diesem Buch. Als Ganzes ist die Konzeption bewundernswert, mit der Schärfe eines Dogmatikers hat er seine Summa theologiae Spenglerianae aufgebaut. Je schwächer seine Argumente, desto größer die Selbstverständlichkeit und die Geste. Der Kernpunkt, eine gewisse Parallelität

historischer Entwicklung, Frühkultur, Zivilisationsepochen ist zweifellos richtig, aber nicht ganz neu. Die dionysische, magische, faustische Seelenlage ist glänzend herausgearbeitet. Der bis in die Einzelheiten gehende Parallelismus ist sicher falsch. Wenn man a oder b bei einem Schluß durch ein beliebiges X ersetzen kann, entstehen Parallelitäten, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Überhaupt redet er immer von Wirklichkeit, er ist aber ganz ein Mensch der Wahrheit d.h. er vergewaltigt die Wirklichkeit. Immerhin ist’s ein kühner, großer Wurf. Ich will ihn nicht bemänteln – trotz einiger Entgleisungen in die Tagespolitik im deutschnationalen Sinn. Solche Leute müssen Aristokraten sein oder werden, wenn es ihnen glückt eine solche Moles (??) einheitlich zu bedecken und zu gestalten. Als Wurf bleibt es ein Kunstwerk und es bleibt erstaunlich, daß trotzdem auch der Historiker soviel davon lernt.. ich habe Ritter gebeten, es auch in Berlin zu lesen, damit wir’s einmal durchdiskutieren können.

Im Übrigen schreibe ich Briefe, gehe jeden Sonnenaugenblick in den Wald, spiele sogar nach 9jähriger Pause mit einigem Erfolg wieder Tennis, habe aber noch nichts Gescheites gearbeitet. Ich denke wie immer oft an Dich und bin sehr neugierig, bald Erfreuliches von Deiner

Gesundheit und Deiner Arbeit zu hören.

Lohe’s Brief über Schröter hat inzwischen Wätzold bearbeitet und Gutachten von Witte und Bantzer eingezogen. Witte versagt dem Künstler die Hochachtung nicht, diskreditiert aber den Menschen. Bantzer äußert sich sehr freundlich. Wätzold will gern etwas tun. Die paar 1000 Mark, die wir aus unserem Fonds geben können, helfen nicht weiter, eine Stelle ist nicht frei und würde sich auch nicht empfehlen. Bleibt nur der Ausweg, den Kunsthandel oder wieder Private zu interessieren. Dafür brauchen wir wenigstens einige photographische Nachbildungen seiner Arbeiten. Können die beschafft werden oder welchen Weg der Unterstützung hat sich Lohe sonst gedacht? Bantzer hat geschrieben, Lohe kenne Schr(öter?) am besten, man solle lieber ihn fragen. Das hatten wir natürlich nicht mehr nötig.

Grüße Lohe und laß bald Gutes von Dir hören.

Ich denke dankbar Deiner. Von Herzen Dein Carl.

 

163. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 30.7.1922

Mein liebster Carl!

Was magst Du von mir denken? Längst hätte ich Dir geschrieben, auch schon vor der Ankunft Deines letzten Briefes, für den ich Dir sehr von Herzen danke. Wir sind aber in letzter Zeit bedeutend mit Besuch gesegnet (allein 8 Menschen aus Holland), so daß ich wirklich keine Zeit zum Schreiben finde. Ein langer Brief in den nächsten Tagen ist Dir gewiß (ich habe Dir sehr viel zu berichten). Jetzt nur diesen kurzen Wisch, damit Du doch was hast. Morgen ziehe ich wieder in die Stadt. L. reist nach Hause, in wenigen Tagen beginnt die Arbeit.

Es geht mir jetzt ausgezeichnet, ich habe sehr zugenommen, und was ich treibe, ist eigentlich die rechte ars semper gaudendi. Ich Esel hätte seinerzeit telegraphieren sollen; Dein Brief kam stark verspätet hier oben an, natürlich erreichte Dich da der meine nicht rechtzeitig. Könnte ich Dich nicht am 3. (August) in Bebra treffen und bis Eichenberg mitfahren? Dann gib mir bitte Nachricht, – und wann.

Deinen Brief habe ich nicht hier, – beantworte ich das nächste Mal. Über Schw. wird Dir L(andé?) schreiben.

Nun lebe wohl. Und sei mir nicht böse ob dieses Wischs, der so wenig Deinem lieben ausführlichen Brief entspricht.

Immer der Deine! Harro

Bitte grüße Deine gesamte Familie.

 

164. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 2.8.1922

L(ieber) H(arro)!

Deinen freundlicher Brief fand ich gestern Abend an, als ich mit Muckel von unser wohl gelungenen Fußtour heimkam. Nachricht würde Dich kaum mehr erreichen, und ich bin auch dafür, ein Wiedersehen zu verschieben. Nach den schönen Stunden in Berlin würden wir von einer kurzen Eisenbahnstunde doch wenig haben. Ich komme übrigens im September und im Oktober wieder nach Hannover-Hessen, einmal zu einer Hochzeit, das andere Mal zu einem Vortrag. Vielleicht fügt es sich es sich dann einmal. Inzwischen hoffe ich mal auf einen richtigen Brief.

Zwischen Packen und Räumen grüßt Dich Dein alter C.

 

165. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 4.8.1922

Mein lieber Harro!

Veranda – herrlicher (unleserlich). Sonntag Nachm(ittag) 6 Uhr, nach dem Café, seit Tisch sitze respektive liege ich mit Ritter hier herum. Zwei Tage sind wir jetzt beisammen. Wir haben entsetzlich viel miteinander geredet, gestern ununterbrochen 14 Stunden hintereinander – von Gott und der Welt, Alfred und Ghazali, Politik und Studentenschaft und immer wieder von dem alten unerschöpflichen Thema, auf das unwillkürlich die meisten Gespräche wieder hinauslaufen. Es ist friedlich und behaglich. Ritter ist der Alte. Er hat immer seine schweren, seine schweigsamen und seine lustigen (?) Stunden gehabt. Auch ich fand ihn genau so wie Du ihn geschildert.

Morgen fängt nun für mich der Ernst des Lebens wieder an. In Gelnh(ausen) sah ich ihm mit Freuden entgegen, hier mit Entschlossenheit. Ich will die Passivität des letzten Jahres überwinden. Ich will es tun und doch gleichzeitig mehr Zeit für Haus und Familie gewinnen. Die Harrostunden sind ja jetzt frei – und ihrer waren nicht wenige. Die Phantasie darf auch nicht mehr so viel Freistunden haben. Auch andere Gäste meiner Freistunden werden knapper gehalten werden. Ich bin neugierig, ob ich dies schöne Programm verwirklichen werde.

Hab Dank für Deinen Brief. Du wirst verstanden haben, daß ich Dich jetzt auf einer kurzen ungemütlichen Eisenbahnstrecke nicht sehen mochte. Du kannst das als Aktivum, nicht als Passivum buchen.

Ich freue mich, daß Du wieder gesund bist. Hoffentlich hält es an. Dein Zus(ammen)leben und Dich Zus(ammen)finden mit Lola hat mich für Dich gefreut. Den Altersgenossen ersetzt einem kein älterer Freund. Daß auch ich gern einmal so ganz mit Dir zus(ammen)leben möchte, weißt Du, doch es ist wenig Aussicht. Vielleicht ist es gut so; denn es wäre vielleicht eine Enttäuschung. Der feste Glaube ist immer mehr als eine enttäuschende Realität.

Fall Landé – ich schreibe Dir darüber, sobald ich klar sehe, was nicht ganz schnell der Fall sein wird, da ich ihn nach nichts fragen werde. Er gibt sich heiter, diensteifrig, beginnt (morgen? Weggelocht) seinen sogenannten Urlaub, den er auf seinem Dienstzimmer verbringt. Ich sprach ihn bisher nur durchs Telefon. Daß Du Reue empfindest, ist nur berechtigt. Der Jugend Alfreds kann man verzeihen, was man der Erfahrenheit eines Hans nicht ganz so leicht vergibt, so klar mir psychologisch der Fall liegt. Du wirst mehr über Landé von mir hören.

Wendes waren sehr beglückt über Deine Zeichnung. Erich war das (unleserlich) und aufrichtig bewundernd.

Ritter tobt über Spengler, der marktschreierisch Wahrheiten verkünde, die andere gefunden hätten. Der Rest sei Phantasie und Unsinn. Als ich ihm diese Formulierung vorlas, erhob er Protest. Tatsächlich ist’s aber so. Dabei ist sein psychoanalytisches Weltbild etwas morphologisch!– Leb wohl! Ich denke Deiner in Treue. Carl.

PS. Brief von H. Ritter an Harro Siegel.

Warum hast Du mir nie von Lohe erzählt? Wie ist das. Ich komme nach Cassel nur dann, wenn ich dort Menschen finde, die ich brauche. Zus(ammen)sitzen und trauern, kann ich nicht. (Verschmierte Passage) Also ist es wohl besser ich komme nicht. Ich will auch zu Schaade. Vielleicht sind dort Menschen, die einen ablenken und eine Freude machen. Schreib mir mal. Dein HR.

 

166. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 15.8.1922

Mein lieber Carl!

Was verstehst Du nun eigentlich unter Passivität? Das möchte ich in der Tat wissen, nachdem Du Dein letztes Jahr als unter diesem Zeichen stehend siehst. Ich für meine Person habe Dich immer so aktiv gefunden – auch in der Contemplation -, daß ich mich von meiner Passivität oft geradezu umschnürt gefühlt habe. Aus dem Willen es Dir (formal wenigstens) irgendwie gleichzutun, ist schließlich der Entschluß zur Werktätigkeit mit erwachsen.

So wünsche ich Dir das beste Gelingen Deiner Pläne; aber nicht wahr, Du gehst nicht ans Kapital!—

Für Deinen Brief danke ich Dir sehr. Wie war es nur mit Ritter? Dauert seine taten- und träumelose Lethargie immer noch fort? Freilich, – er schrieb neulich recht viel froher, er habe dort in B. einen alten Freund wieder aufgetan. Das ist ja sehr schön; glaubst Du nun, daß er aufpaßt und nicht aus lauter Liebe auch diese Freundschaft erstickt?— Seine Mutter lechzt nach einem Lebenszeichen, es kommt aber keins. Was muß es für einen Eindruck auf diese (pracht-volle) Frau machen, wenn ich sie in seinem Auftrag besuche, um ihr Grüße und alles mögliche sonst von ihm zu bestellen? Ich werde das nicht wieder tun.

Was mir bei Landé leid tut, ist dieser starke Wille, alles ungeschehen zu machen. So kann ihm doch unmöglich Erlösung werden. Man kann wohl Arme und Beine amputieren, aber nicht das Wissen, daß man sie mal hatte. Wie traurig, daß er nun seinen Urlaub so verbringt. Chronischer Selbstmord.

Seit anderthalb Wochen bin ich nun wieder an der Arbeit. Die Werkstätte liegt unten in der Altstadt an einem malerisch-mittelalterlichen Platz (aber ich sehe ihn nicht, denn unsere Scheiben sind geätzt) und bildet die Ergänzung zu einem Papierladen, in dem es auch Schul- und Gesangbücher und christliche Wandsprüche zu kaufen gibt. Betrieben wird es von zwei Meistern, die im Schwiegervater-Sohn-Verhältnis stehn. Sehr christliche, ehrbare, monarchistische Menschen, mild und verträglich von Charakter, der Alte etwas mürrisch, aber gut geartet, der jüngere etwa 45, sehr blauäugig-blond mit einer Hensige(?)-Ecke, ist gebildet, besucht die Münchener Ausstellung und schwärmt für Garmisch. Zwei Casselaner (unleserlich) sind meine Kollegen. Die Arbeit ist nach Art und Gegenstand völlig anders als in B(erlin?). Schlechtes Material, die Maschinen in einem skandalösen Zustand, Umstände werden nicht die geringsten gemacht, Herr Linnemeyer (Berlin?) würde verzweifeln. Ich sehe jetzt, wie mich der mit guter Zucht verwöhnt hat, muß mich an vieles sehr gewöhnen und bin vorläufig noch etwas deprimiert, weil ich schlechter arbeiten muß, als ich könnte. Es heißt immer: „Gottsgemicke, disse Umstände, (unleserlich) würen wir aus derg nit uffheben!“12

Aber man scheint zufrieden; auch werde ich ein kleines Gehalt bekommen. Sehr viel Neues übrigens, wozu ich sonst niemals gekommen wäre, lerne ich auch dazu. – Denkbar unpraktisch ist die Arbeitszeit gelegt, nämlich von 8-12 und von 2 bis ½ 7 (Uhr). Da kommt man zu wenigen Dingen sonst.

Ich lebe erstaunlich regelmäßig; fast hasse ich mich ob meines Hasses gegen das Extraordinäre. Ich bekomme aber Verstimmungszustände, wenn ich das Weltkind Lohe sehe, der mit Zeit und Kraft so gar nicht zu zeigen braucht, Gottweißwas anstellt und dabei doch fleißig kleinen Bilder in Lumpen (?) und eine moderne zimtfarbige Dogge lebensgroß in Öl malt. Wobei übrigens die immer und nur allzugern assistierende Besitzerin dieses Tieres sehr überlegt und fein behandelt sein will, was dem guten L(ohe) nicht stets gelingt. Der schliddert immer in die heiklen Situationen hinein und weiß selbst nicht wie und wie wieder heraus.

Kunstausstellung und Akademie erhitzen hier die Gemüter sehr. Cassel verteidigt sich heftig gegen den Überfall der Modernen, (die lange von vorgestern sind). Vielleicht haben sie recht; man soll uns ruhig unsere lieblich-romantische „Gassenkunst“ lassen (und welche Blüten sie treibt!); was an Neuerem sich hier versucht, ist längst wieder ganz (?) akademisch geworden und kann nicht erwärmen (Dülberg nicht ausgenommen, der mir übrigens persönlich absolut nicht liegt; ich würde ihm nie trauen).

Nun, endlich genug des Lokalen.. Ich lese sehr gefesselt den mir noch unbekannten Hyperion und noch manches andere. Sonntags gehe ich mit Rolf und unserem kleinen Pensionär in die Berge; ich höre ihnen auch die Arbeiten ab und schneide ihnen die Haare.. Sie haben mich sehr gerne.

Mit meinem Vater geht’s gut, sehr gut sogar, bis jetzt. Grüß Deine Angehörigen und besonders Wende. Herzlichst Dein getreuer Harro.

 

167. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 18.8.1922

Mein lieber Harro!

Auf Deinen lieben Brief sollst Du einen kurzen Gruß haben, in später Abendstunde, vor dem Schlafengehen. Zu langen Briefen reicht es nicht mehr. Du bist überhaupt der Einzige, dem ich noch mit der Hand schreibe.

Die Tage mit Ritter waren nett. An einem Tage habe wir uns ohne Unterbrechung 14 Stunden lang unterhalten. Das war der Record. Er war erst sehr nervös (?), fahrig, zerstreut, schweigend, nur gelegentlich sich im Reden äußernd (?).Alfred, immer wieder Alfred. Ich brauchte viel Liebe und Geduld. Dann tauchte plötzlich ein „Freund“ auf, erst etwas verschwommen, offenbar war er ihm eingefallen und er wußte nicht wie alles laufen würde. Er besuchte ihn Nachm(ittags), während ich im Ministerium war. R(itter) telefonierte an, ob er ihn zum Abendessen behalten dürfe. Als ich kam, saß er am Flügel, wozu er bisher ganz unlustig gewesen war. Weiter brauchte er mir nichts zu erzählen. Es ist ein netter junger Theologe, 4. Semester, heißt Reichmut, Pfarrerssohn aus Potsdam, Kriegsbekanntschaft aus der Türkei, er damals noch ein Knabe, schloß sich an, nie ganz vergessen, briefliche Initiative zur Wiederanknüpfung von dem Jungen ausgehend. Selbstverständlich, natürlich sehr selbstverständlich, was Ritter natürlich beglückte. Als ich kam, war die gemeinsame Bootsfahrt im Herbst bereits verabredet. Sie waren damals täglich zus(ammen), einen ganzen Tag auch ganz hier im Hause, ich war leider dienstlich verhindert (Verfassungstag).

Von Stund an war Ritter ein anderer Mensch, frisch, interessiert für alles, heiter, arbeitslustig. Nun brauche er nicht mehr im Lande herum Zerstreuung zu suchen. Nun wolle er nach Hamburg zurück, jetzt könne er arbeiten. Also geschah’s.

Wir haben über vieles geredet. Auch lange über den Punkt, den Du nicht mir gegenüber formulieren konntest. Er tat’s, bezog sich auch auf Dich. Es war ganz lehrreich für mich und ich werde die Konsequenzen daraus ziehen.

Seit 8 Tagen sind auch die Meinigen zurück. Ich bin sehr froh darüber. Allabendlich bin ich jetzt um 7 (Uhr) zum Essen daheim, obwohl das Auto immer noch in Reparatur, und Morgens stehe ich Punkt 7 (Uhr) auf und bin bereits 8 ½ (Uhr) in Dienst. Ziemlich ruhige Zeit, wenn auch abends immer noch Akten. Mit Landé spreche ich oft, Dein Name ist noch nie gefallen. Er hat sich heute unter einem Vorwand vom Referat Hessen-Nassau entbinden lassen. Überhaupt gab’s wieder mal viel Ressentiment. Auch das Disziplinarreferat legte er nieder wegen der Haltung des Ministers in einem bestimmten Fall. In beiden Fällen erwartete er meinen Widerspruch, der aber nicht erfolgte. Ich wende die Sache anders, so ist jetzt aus lauter Ressentiment eine geradezu glänzende neue Referateinteilung geworden. Er wir frei für große Sache, wird wirklich Generalreferent und hört auf Mädchen für alles zu sein. Dieser unerwartete

Ausgang einer Unterhaltung, die er mit Herzklopfen begonnen, bewegte ihn sehr und er schied wirklich befriedigt und entspannt.

Wende macht mir Sorgen. Sein Zustand ist unerfreulich. Er ist überlastet, stumpf und reaktionslos. Unser Mittagstisch ist noch in der Schwebe. In der DMG13 –meist mit anderen – ist kein Ort zur ruhigen Fühlungnahme.—

Von Deinem Brief habe ich ein gewisses Bild Deines Lebens bekommen. Ich freue mich, daß es auch erträglich ist und besonders , daß es zu Hause gut geht.

Jetzt muß ich schlafen gehen. Leb wohl! Die Meinigen grüßen. Herzlichst Dein Carl.

 

168. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 29.8.1922

Mein lieber Carl!

Hab vielen Dank für Deinen Brief; weißt Du, er wäre längst beantwortet, aber ich hatte tiefen Barometerstand in letzter Zeit, mußte sehr bedauern, nicht in Berlin zu sein um mir mit Deiner Unterstützung einige Steine vom Herzen zu wälzen; – brachte es aber nicht fertig, darüber zu schreiben. Ich finde mein Dasei im höchsten Maße ungeeignet, mir zu genügen, was nicht viel zu bedeuten hätte, wenn ich in ihm ein asperum und dahinter irgendwelche astra sehen könnte. Dieses ist aber nicht der Fall. Ich überlege mir dann Zeichenlehrer hin und her, und komme immer mehr davon ab. Von immanenten Gründen abgesehen geht es unter den gerade letzthin eingetretenen Verhältnissen nicht an; noch 2-3 Jahre ans Studium zu hängen, nachdem – realpolitisch genommen – schon so viel Zeit verloren ist. Man wird energisch Geld verdienen müssen wie alle anderen. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht überhand nimmt, wird ein Buchbindergehülfe ja auch Platz finden; in Holland steht mir übrigens eine solche Stelle in schwacher Aussicht.

Hiervon abgesehen habe ich aufgehört Pädagogik und –philie (??) in einen Topf zu werfen und muß für mich Fähigkeiten auf dem Gebiet der ersteren in Abrede stellen. Ich sehe das deutlich an meiner Art, mit Jungens und Jüngeren zu verkehren. Ein gewisses Interesse für einzelne ist da, aber es fehlt die Fähigkeit, dies zur „Liebe zur Jugend“ zu sublimieren; man findet es beiderseits nett, zusammen zu sein, aber von der Übermittlung irgendwelcher Güter, ethischer oder Bildungs-, ist keine Rede. Eine solche Aufgabe würde an meiner Selbstkritik

scheitern, glaube ich.

Was künstlerische Betätigung anlangt, so weißt Du ja, wie’s da steht. Was bei mir nicht so aussah, war doch wohl Selbstbetrug (wiewohl ein nicht uninteressanter und meiner durchaus würdiger), aber ich bringe es nicht mehr dazu.

Was andere Leute dazu bringt, Bilder zu malen, diese und sich selbst ernst zu nehmen, begreife ich nicht mehr; ich sehe es interessiert, verwundert in den guten Fällen, und zornig oder höhnisch in den überwiegenden üblen. Für mich kommt so was nur noch als nettes Spiel für Feierstunden in Betracht. Moderne Kunstausstellungen langweilen ich unendlich und erkälten mich. Warringer hat doch nicht so unrecht, wenn er in „Künstlerische Zeitfragen“ die These aufstellt, der Kunstgeist habe sich seit dem XIX. Jahrhundert mehr und mehr ins Denken, in die Wissenschaft geflüchtet; die Husserl’sche Schule, die Georgejünger, Gundolf, Kayserlink und Spengler belegten das. Jeder Ehrliche muß doch auch zugeben, daß ihm aus diesen Büchern mehr Geist natürlich, aber auch mehr Sinnlichkeit anströmt, als aus aller modernen Malerei und Graphik. Revertor ad meas res: Ich bleibe also beim Leisten und nun verüble mir nicht, wenn mich das malerpolitisch (?) erregt. Meine Tätigkeit wird mir ungelogen oft zur Fron, von morgens ½ 8 bis abends ½ 7 (Uhr, es bleibt mir so gar keine Zeit für mich. Gewiß, Du zum Beispiel hast davon noch weniger, aber darfst Du doch im Dienst Du selbst sein, und Du weißt, was und wofür Du arbeitest. Diese neue Depression wird doch nur hie und da erhellt, durch eine Arbeit, die Talent und Initiative erfordert, durch ein gelungenes Stück. Immerhin, ich arbeite jetzt sehr viel selbständiger und verdiene wöchentlich 50 Mark. Mir will übrigens scheinen, als seien die Zeichen einer Aufwärtsentwicklung des Handwerks nicht eben günstig. Sich heute neu etablieren kann nur ein Großkapitalist; und die bestehenden Geschäfte geraten durch das billigere Angebot der Fabriken sehr in die Enge. An Selbständigkeit ist für mich kaum zu denken.

Na, überhaupt, – aber ich verliere den Kopf mitsamt der Objektivität; sehe den bisherigen Studiengang als nutzlose Zeitvergeudung und blicke düsteren, tränenlosen Auges in die Zukunft. Warum, warum? Auch meine Familie findet mich nachgrade etwas reichlich mit mir selbst beschäftigt; mit Recht, – Gott besser’s!

Lohe reist morgen fort; mir tut es sehr leid; ihm auch. Für ihn ist’s aber gut; meine Zweifelsucht war keine Kost für ihn. Und noch aus anderen Gründen; ich muß jetzt ein bißchen allein sein, Ruhe haben. Gut, daß Ritter den jungen R. mit herbringt; so braucht er mich nicht; ich hätte nichts zu bieten.

Der arme Wende! Man soll nichts sagen, es gibt immer noch Leute, die es viel schwerer haben, als man selbst. Ihm sehe ich’s an der Nasenspitze an, daß dies der Fall ist, – zugleich mit einer gewissen Unentrinnbarkeit; ob ihm zu helfen ist, ob er sich selbst helfe kann? Grüße ihn bitte sehr.

Von Benecke erhielt ich kürzlich einen netten, wiewohl nicht eben inhaltsreichen Brief. Er schreibt übrigens, L(andé?) habe sich die letzte Zeit sehr zu seinem Vorteil gewandelt, sei ruhiger und zielbewußter geworden. Bestätigst Du das? Das wäre schön.

Was macht Deine Familie? Bitte grüße doch alle und empfehle (unleserlich, weggelocht) mich Deiner Frau. Und was ist mit Dir? Bekommt Dir die Mehrarbeit gut?

Herrgott, was ist dies nun wieder für ein Brief! Ich möchte solche nicht bekommen; wann wird es mir gelingen, den mir zuteil gewordenen sportiven Geist vom Ich zu lösen und für mich und andere erbaulich an objektives Gut zu wenden.

Letzten Freitag habe ich mir an der Beschneidemaschine den linken Zeigefinger bis zur Knochenmitte durchgesäbelt und muß nun in unfreiwilliger Muße warten bis er wieder festwächst, was noch eine Woche dauern wird. Das sind solche Freuden.

Für Dich bleibt meine Gesinnung unwandelbar – Dein Harro.

 

169. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 1.9.1922

Mein lieber Harro!

Das war ein trüber Brief. Und Du hast ihn selbst gleich wieder Lügen gestraft. Wer so eine Zeichnung wie die des Bärleins hinhauen kann der ist wirklich nicht zum Buchbinder geboren. Und doch liegt eine gewisse melancholische Symbolik in dem Bilde. Deine (unleserlich) Margiana (?) ist wirklich noch nicht gestorben. Du hast alles Recht an sie zu glauben. Mensch, Mensch! Wie gern hätte ich Dir den Kopf gewaschen. Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben. Hoffentlich hast Du Dich wenigstens durch den Brief an mich befreit. Gefreut hat’s mich natürlich doch, daß Du ein so unverfälschtest Stimmungsbild gabst; denn der Brief war echt in jeder Zeile. Ich mußte mich davon befreien; denn er bedrückt mich; und so habe ich ihn in sicherer Voraussetzung Deiner inneren Zustimmung dem Wende vorgelesen. Schreib mir, wenn’s Unrecht war; dann tu ich’s nie wieder. Aber an der Wirkung sah ich daß es richtig war. Namentlich der Passus über ihn (weggelocht) berührte ihn stark und tat ihm wohl. Auch er freute sich riesig über die künstlerische Einlage und meinte, ein Künstler wie Du würde sich schon durchringen – durch alle Skepsis. Du siehst, an Vertrauen bei Deinen Freunden fehlt es nicht. Du bist einer, der schwer und spät zur Produktion heranreift, aber Du wirst produzieren.

Ich gehe deshalb auch gar nicht weiter auf Deinen Brief ein. Schweren Herzens nahm ich ihn auf, und es war als säßen wir unter der roten Lampe. Laß Dir dies Echo genügen. Diskutieren kann man solche Briefe nicht. Hoffentlich fühltest Du etwas von dem, was mich bewegt.

Jedenfalls mußte ich Dir heute gleich schreiben, so kurz wie’s auch heute nur sein kann.

Zur Zeit ist Schauder (?) hier. Wir hatten gestern einen feinen stillen Abend. Er ist ruhiger, dicker und besser aussehend als je. Seine Habilitation ist in ihrem kritischen Teil erledigt. Vor dem Schluß muß erst seine Arbeit gedruckt sein

Von Landé kann ich auch nur Gutes melden. Er hat 14 Tage seines Urlaubs zu einer großen dienstl(ichen) Arbeit benutzt (Fragenkomplex des numerus clausus), die er heute früh in der Abteilung vortrug, wo ihn niemand recht verstand und würdigte, und die er Nachm(ittags) in einem langen Vortrag mir auseinandersetzte. Natürlich verstand ich ihn besser als die Abteilung. Es ist ein unerhört schwieriges Problem scharf und sauber durchdacht und taktisch klug verhüllend aufgebaut. Ich glaube, es tat ihm sehr wohl, daß ich ihn nicht nur anerkannte, sondern auch sachlich die Tragweite übersah, während Jahnke nur am Styl genörgelt hatte. Er ist ruhig und markiert heitere Resignation. Er wird immer misogyner. Mit Fräulein Zotze macht er gelegentlich Spaziergänge. Er ist weich und wie Wachs mir gegenüber. Deinen Namen habe ich noch nicht wieder ausgesprochen. Er kommt nur, wenn ich ihn rufe, ist dann aber immer freundlich und sympathisch.

Mir geht es gut; körperlich wechselnd. Ich habe noch nicht einen Morgen um 8.10 (Uhr) nicht am Potsdamer Bahnhof gestanden, obwohl das Auto immer noch nicht aus der Fabrik ist. Ich bin jeden Tag spätestens um 7 (Uhr) daheim und gehe um 11 (Uhr) schlafen. Eben kommt Walter tief ergriffen aus dem Hannele heim, Muckel ist zum ersten Mal im Heidehaus (trotz schlechten Wetters) und Hertha ist lieb und häuslich wie immer; ein sonniges Kind, wie sie’s einst in der Wiege war. Mein Frau hat mit einem Mädchen und ohne Köchin viel Arbeit, dazu Zahnarzt fast alle Tage und diese gräßliche Teuerung – eine Qual für alle Hausfrauen. Aber sonst ist alles gut. Seit Anfang dieser Woche bereitet uns Frau Höndel (?)wieder das Mittagessen in vereinfachter Form (wie unser Abendessen), worüber Walter und ich sehr glücklich sind.

Gelegentlich gibt’s eine stille Stunde mit Gragger.

Ich merke erst, wie viel Zeit ich habe, seitdem Du nicht mehr da bist. Dafür kann ich schon manchmal schreiben. Es tritt hier ja doch niemand an Deine Stelle. Die bleibt offen – oder besser gesagt, sie bleibt besetzt.

Halte den Kopf hoch, Du Lieber! Laß Dich etwas stützen durch meinen Glauben an Dich. Leb wohl! Dein Carl.

P.S. Es schlägt 11 (Uhr). Die Meinen und Wende grüßen besonders.

 

170. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 10.9.1022

Mein lieber Carl!

Im Grunde schreibt man ja Briefe wie einen letzten nur, um solche dafür wieder zu bekommen, wie der Deine es war. Man behält das schlechte Gewissen, läßt es toben, wie es möchte, nach allen Regeln der Kunst, und das Gute überantwortet man seinem Freunde, auf daß es von dort her um so tönender und wirksamer – weil doch unverdächtiger – erschalle. Das ist gar nicht dumm und man fährt wohl dabei.

Ich danke Dir für Deine Rückenstärkung von Herzen; gewiß, es ist wahr, daß es mir wohltut, ein paar der schlimmsten meiner schwarzen Nachtvögel zu Dir gejagt zu haben, und ich war erfreut, sie so weiß gewaschen wieder zu erblicken. Doch ist dies nicht das Entscheidende. Nicht eine Widerlegung meiner Thesen galt es, sondern – um in Maik Ritters rauh-treffenden Worten zu reden – eine Art von „Liebeserpressung“, die unsereiner ja immer nötig hat. So ist man nur!

Wenn Du dem Wende meine Briefe vorliest, so ist mir das recht, ja, eigentlich nicht unlieb. Freilich, es kann auch mal ein Brief kommen, der nur Dich angeht, was Du dann zur gegebenen Zeit wohl wittern wirst.

Sonst aber – ich weiß soviel von ihm (wiewohl es wenig ist) durch ihn, durch Dich, mehr noch mich selbst, – daß schon mein Gerechtigkeitsgefühl solcherlei Einblicke für ihn fordert.

Einiges von dem, was im letzten Briefe stand, muß ich aber doch als tatsächlich gelten und stehen lassen. Und es war – halbausgesprochen – eine von mir dem Lohe anvertraute Mission, Dir hierüber noch etwas mehr Klarheit zu geben. Er schrieb gestern von einem Colloquium mit Dir; – hat es im obigen Sinne etwas geleistet? – Es berührt mich merkwürdig, nun aus seinem Munde gewisse Beobachtungen über Dich (und sich selbst vor Dir) zu hören, die ich früher schon angestellt hatte.

Es ist doch eigentlich fast Deine Sendung, einer gewissen Menschenart (zu der Wende, Ritter, er, ich und wer weiß wer noch gehören) zur Erkennungsmöglichkeit ihres Zustandes, zur (unleserlich) Scheidung und Kristallisation zu verhelfen. Das ist unersetzbar. L(ohe?) meint er habe zuviel gesagt, Dinge, die nicht gesagt werden sollten.

Dachte ich auch erst, aber ich finde nun, daß eben diese heiklen Chosen für Dich aufbewahrt werden müssen, und daß es Deine Bestimmung ist, sie zu haben.

Immer findet er, man stünde leicht in allzu gutem Lichte vor Dir und hätte Mühe, das zu korrigieren. Das stimmt nun ganz unbedingt; und eben dieser dauernde Zwang zur Korrektur ist es, dem ich über mich so sehr viele Aufschlüsse verdanke.

Soll ich etwas sagen: Vielleicht ist es bei all dem gar nicht vonnöten, daß Du einen völlig verstehst, und es ist viel mehr Dein Beruf, einen zum Verständnis seiner selbst zu bringen. Denn wir sonderbaren Kreaturen, bei allem Spintisieren, – wir verstehen uns doch selbst nicht immer allzu gut, Deine Meinung aber von uns – treffe sie’s, treffe sie’s nicht – sie beleuchtet bisweilen die Szene, wie es nie zuvor der Fall sein konnte.

Das ist es, was uns an Dich fesselt, und dafür (mit-)liebe ich Dich so.

Erstens liegt es in meiner Natur, das Jetzt zu fliehen und immer ein anderer und wo anders sein zu wollen. Mit dieser (unleserlich: Zielsuche?) – nicht mit der des Jetzt! – beginne ich mich allmählich auszusöhnen. So bin ich, hieraus müßte etwas gemacht werden. Es kann sein, daß mir das gelingt. Hoffen tue ich es bisweilen.

An Deinem Satze: Du wirst spät zur Produktion kommen, ist ganz unbedingt viel Wahres.

Ich muß das Ziel viel weiter hinausstrecken. Auf einer gewissen Art von „Knabenschicksal“ kann ich immerhin zurückblicken, aber es war keine Erfüllung. Ein „Jünglingsschicksal“, das ist mir wohl sicherlich versagt, wie Du zugeben mußt. Wie ich das Bücherwurm! Hier sitzt ein dickes Wurzelende meiner Melancholie.

Bliebe also die Erfüllung eines „Männerschicksals“. Männerschicksal! Vorerst bekomme ich ein wahres Grauen vor diesem Wort; das wird man mir verzeihen. Aber es kann darauf hinauskommen; und besser wie Nichtigkeit ist’s ja; (Dir kann’s aber auch kommen; den stärksten Männern ist das schon passiert!) – Mithin, warten wir’s ab. Erst mal gibt’s noch viel zu beißen, z.B. morgen, wo der Dienst neu beginnt. Der Finger ist geheilt zum Glück; aber diese geschenkten Ferien waren doch recht hübsch. Ich habe viel gelesen, freilich wenig bis zu Ende: Spengler II, Maupassant, Manzoni, Th(omas) Mann, Justi, Carl Spitteler. Von all dem wird noch zu reden sein.

Ich bin recht im Schreibeschwung, aber man ruft schon zum Abendessen, darum Schluß.

Ich verspüre viel Lust, Italienisch zu lernen. Welchen Weg rätst Du mir dazu und besitzt Du irgendwelche Hilfsmittel? Kommst Du etwa zur Pädagogischen Woche? Wenn doch sogar der Minister kommt, zur Knabengeleitsleute-Tagung!

Leb recht wohl! Grüße W(ende?) und die Familie, auch Gragger(?); Lohe schrieb ich selbst schon heute. Immer Dein Harro.

Zeichnung von Harro Siegel an C.H.B. Kassel, Juli 1922

Barbier von Bagdad. Dir zu Füßen liegen/Lippe an Lippe schmiegen

Orer Marzianaaa!! (schlecht leserlich)

Verzeihung; dies war ein früher begonnener Brief an Dich, dessen Inhalt mir heute aber zu ungewiß erscheint, als daß ich Dich Obiges (9 Zeilen unleserlich gemacht) lesen lassen möchte. – Jedoch, ich wollte Dir das Bild nicht vorenthalten.

H.S.22


1 Padua, Hauptstadt (211 000 Einwohner) der Provinz Padova. Universität von 1222! Kunstakademie, wissenschaftliche Institute, Observatorium; ältester botanischer Garten Europas von 1545. (Brockhaus medial 2004)

2 Salone, die Piazza della Erbe vor dem Palazzo della Regione, früher Justizpalast, unten mit Marktbuden versehen , oben ein einziger durchgehender Saal, der heute für Ausstellungen genutzt wird und daher fast immer zugänglich ist

3 Giovanni Battista Tiepolo *1696 Venedig + 1770 Madrid. Bedeutender Vertreter der venezianischen Malerschule. Ich füge hinzu: Würzburger Residenz! BB

4 Dogenplast, Venedigs prachtvollster Profanbau, 71 m lang, mit der Sala del Maggior Consiglio (54×24 m; 15,5 m hoch, mit Bildern aller Dogen von 804-1559 und dem größten Ölgemälde der Welt , Tintorettos Paradies. Paradies (griechisch, aus dem altpersischen) bedeutet Vorhof früher christlicher Basiliken, mit Reinigungsbrunnen, gleichbedeutend mit Atrium. (Dumont, Oberitalien S.280)

5 Venedig gehörte von 1815 bis 1866 zu Österreich…Aufstand 1848 niedergeschlagen.

6 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1923 Berlin. Evangelischer Theologe, Philosoph und Historiker, Professor in Bonn, Heidelberg (Max Weber!), seit 1914 Berlin

7 Muckel ist bei Becker ein familiäres Kosewort, das er und andere auch für den jüngsten Sohn, Hellmut, verwandten. Hier jedoch auf den Freund bezogen.

8 Freundin Harros in Kassel.

9 Hier wohl seine Freundin Lola.

10 Hervorhebung des Herausgebers.

11 Randbemerkung Beckers mit den Abfahrtszeiten der Züge.

12 Hessischer Dialekt…

13 Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft? Kein Hinweis auf den Ort, und daß da ein Restaurant sei.

Harro Siegel, I.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1921/1922

120. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 18.1.1921

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Siegel,

Damit Sie sich wundern, von Herrn Professor Waetzoldt nicht geladen zu werden, teile ich Ihnen mit, daß Herr Waetzoldt, wie ich erst nachträglich feststellen konnte, diese ganze Woche von Berlin abwesend ist. Ich werde aber sofort nach seiner Rückkehr mit ihm über Sie Rücksprache nehmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (gez.) Becker

 

121. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 21.2.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Lieber Herr Siegel.

Es freut mich sehr, Ihnen anbei 1000 M(ark) zur Beschaffung Ihres Handwerkzeuges überreichen zu können. Der Stifter ist der bekannte Privatgelehrte Dr. Heinrich Braun, Berlin-Zehlendorf-M(itte), Am Erlenweg, der Herausgeber der Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Das Geld stammt aus dem Erlös der Lebenserinnerungen und Briefe seines im Felde gefallenen Sohnes Otto Braun, der ein ungewöhnlich vielseitig begabter und vor allem unendlich frühgereifter junger Mann gewesen ist. Mit ihm hat die Nation einen ihrer Besten verloren. Obwohl selbst nicht gerade reich, verwendet Herr Dr. Braun den Reingewinn, den er aus diesem Werk erzielt hat, zur Unterstützung talentvoller junger Gelehrter und Künstler. Ich würde es für richtig halten, daß Sie ihm einmal einen Besuch machen und sich bedanken, vielleicht bei der Gelegenheit ihm auch etwas von Ihren Arbeiten zeigen. Im Augenblick verreist er allerdings, um das Grab seines Sohnes in Frankreich zu besuchen. Er wird also Ihren Besuch erst nach seiner Rückkehr erwarten; vielleicht fragen Sie in 8-10 Tagen einmal telephonisch bei ihm an: Zehlendorf 25. Jedenfalls bitte ich Sie, ihm gleich jetzt ein paar Worte des Dankes zu schreiben.

Wie lange denken Sie noch in Berlin zu bleiben? Ich möchte gern noch einmal mich etwas in Ruhe mit Ihnen unterhalten, bin aber während dieser Woche so maßlos in Anspruch genommen, daß ich keine Stunde in Aussicht zu nehmen wage. Vielleicht rufen Sie mich Anfang nächster Woche einmal telephonisch an (Zentrum 11340), im Laufe des Tages außer zwischen 2 und 4 Uhr.- Einstweilen verbleibe ich mit verbindlichen Grüßen und guten Wünschen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (gez.) Becker.

 

122. Harro Siegel an C.H.B. Berlin SW4, Yorckstraße 13a, 22.2.1921

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Vorläufig bin ich noch etwas fassungslos diesem heute morgen unerwartet über mich hereingebrochenem Ereignis gegenüber. Das ist mehr, als ich verdient habe. Ganz begrifflich zu erfassen vermag ich es nicht, aber ich glaube, es ist der Name des Spenders und der Gedanke an seinen unersetzlichen Sohn, was mich dabei so „antut“.

Nun, jedenfalls ist mir jetzt für lange Zeit hinaus geholfen; mit Wonne lasse ich die längst verfaßten Aquarellfarben liegen und gehe zum Öl über.

Herrn Dr. Braun schrieb ich gleich; ich freue mich unendlich darauf, ihn später selbst aufzusuchen, ebenso wie über die Möglichkeit eines baldigen etwas ausgiebigeren Zusammenseins mit Ihnen. Wäre mir Ihre Arbeitsüberlastung nicht bekannt gewesen, so hätte ich vielleicht selbst schon gewagt darum zu bitten. Ich werde also nächste Woche anrufen.

Es grüßt Sie mit großer Hochachtung Ihr dankbarer Harro Siegel.

 

123. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W8, 18.3.1921

Lieber Herr Siegel!

Da ich nicht weiß, ob ich anwesend bin, wenn Sie die Karte abholen, will ich Ihnen nur mitteilen, daß Sie heute Abend in der Ministerloge meinen Freund Geheimrat Wende nebst Frau und drei Gästen antreffen werden. Wende ist mein nächster Freund und weiß über Sie Bescheid. Machen Sie sich mit ihm bekannt. Es ist ein nicht großer sehr jung aussehender Mann, bartlos, Cutaway, dunkelblond mit braunen Augen. Sie haben ihn schon einmal flüchtig in meinem Zimmer getroffen, als Sie mir Ihre Bilder zeigten.

Viel Vergnügen! Bitte geben Sie Wende die Karte zurück.

Herzlichst der Ihrige. Becker

 


Plädoyer für eine handwerkliche Grundausbildung eines Künstlers


 

124. C.H.B. an StR Siegel (Vater Harros). Berlin, 5.4.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Studienrat!

Ihr Sohn Harro, den ich durch Vermittlung meines Freundes, Professor Ritter, kennen gelernt habe, erzählte mir gestern Abend, daß sein Entschluß, seiner künstlerischen Ausbildung eine handwerkliche Grundlage zu geben, bei Ihnen Sorgen und Bedenken ausgelöst hätte. Da ich Ihren Sohn im Einverständnis mit ersten Fachleuten beraten hatte, fühle ich das Bedürfnis, den geplanten Schritt Ihnen noch etwas näher zu begründen. So habe ich ihm spontan angeboten, an Sie zu schreiben. Ich tue das um so lieber, als ich ihn nicht nur für einen werdenden Künstler, von dem noch etwas zu erwarten ist, halte, sondern mich auch seiner wertvollen menschlichen Eigenschaften freue, die ihm hier schon eine recht nette Position geschaffen haben. Ich habe ihn persönlich sehr lieb gewonnen und möchte alles tun, was in meinen Kräften steht, ihm den dornenvollen Weg des künstlerischen Sichdurchsetzens zu erleichtern.

War der Bildungsgang des jungen Künstlers schon vor dem Zusammenbruch ein schwieriger, so haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren so vollständig verschoben, daß man mit ganz neuen Ausbildungsmethoden rechnen muß. Die führenden Sachverständigen sind jetzt ganz einhellig der Meinung, daß jede künstlerische Betätigung auch auf dem Gebiete der sogenannten höheren Kunst handwerksmäßig verankert sein muß, und daß es zugleich darauf ankommt, nicht nur ein einzelnes spezielles künstlerisches Gebiet zu beherrschen, sondern daß eine möglichst breite künstlerische Allgemeinbildung Voraussetzung für eine künstlerische Lebensexistenz ist. Nun liegt das Talent Ihres Harro unbedingt auf graphischem Gebiet. Das zentrale Handwerk, von dem aus man an diese künstlerische Betätigung herankommt, ist die moderne Kunstbinderei. Es gibt hier in Berlin einige wenige ausgezeichnete Firmen, die hierfür besonders in Betracht kommen, und die eine gewisse Schule bedeuten. Wir haben vom Ministerium aus Harro dorthin empfohlen, und es scheint ja auch, als ob er die Möglichkeit bekommt, dort anzukommen. Ich würde das für ein großes Glück halten, denn, worauf es ankommt, ist nicht nur die Fingerfertigkeit, sondern der ganze Geist des Handwerks, das sich ja immer mehr zur Kunst veredelt. Wenn ich auch der Überzeugung bin, daß Harro nach dieser Schulung zu rein künstlerischer Arbeit zurückkehrt, so wird es für ihn doch immer von sehr großer Bedeutung sein, auf einem seine Existenz sichernden Gebiete Fachmann zu sein. Hätte ich einen künstlerisch talentierten Sohn wie Harro, würde ich ihn unbedingt diesen Weg gehen lassen, da ich in Freundeskreisen den großen Vorteil der handwerklichen Schulung von Gebildeten kennen gelernt habe. Verschiedene meiner früheren Universitätskollegen lassen jetzt ihren Sohn nach einigen Semestern Studium ein Handwerk erlernen, sogar ohne künstlerischen Einschlag, rein wegen der wirtschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten. Bei Harro steht mir der pädagogische Gesichtspunkt höher wie der der wirtschaftliche Sicherung, wenn ich ihn auch nicht übersehe.

Die beiden anderen Wege, die möglich wären, das Zeichenlehrerexamen oder ein kunstgeschichtlicher Doktor, sind beide m.E. sowohl in pädagogischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht weniger zu empfehlen. Der Zeichenlehrerberuf ist derartig überfüllt, daß dies Examen keinesfalls eine Sicherstellung bedeuten würde. Übrigens ist er durchgebildet genug, um dieses Examen im Notfall auch später jederzeit zu machen. Pädagogisch würde ich es aber für verkehrt halten, weil die Tätigkeit als Zeichenlehrer, die nun einmal an bestimmte Vorschriften und Formen gebunden ist, keine Entwicklung, sondern eine Hemmung seiner künstlerischen Fähigkeiten bedeuten würde. Als kunstgeschichtlicher Doktor wäre er auf den Zufall eines Unterkommens in der musealen Laufbahn angewiesen und würde durch eine notwendige Hypertrophie geschichtlicher Arbeit und intellektueller Einstellung in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt werden. Nur das Handwerk bietet ihm große pädagogische Wirkung der Zucht und der Arbeit, die er für seine künstlerische Gesamtpersönlichkeit braucht, ohne daß er dadurch in der individuellen Entfaltung seiner Anlagen gehemmt wird. Die materielle Sicherstellung ist dabei ein erfreuliches Nebenprodukt.

So sehe ich, sehr geehrter Herr Studienrat, die Dinge an, und ich weiß mich dabei einig mit den ersten Fachleuten, die Deutschland auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.. Ich fühle durchaus, daß ich eine Verantwortung übernahm, als ich Harro diesen Rat gab, aber er muß in irgend einer Weise jetzt sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat die Jahre seit seinem Abitur weiß Gott nicht verloren und sich eine Summe von Können und Kenntnissen angeeignet, die mich immer wieder erfreut, und die den Durchschnitt seines Alters weit übertrifft. Wenn er jetzt aus innerer Nötigung heraus – von einem suggestiven Zwang meinerseits ist natürlich nicht die Rede – diesen neuartigen, aber zukunftsreichen Weg beschreiten will, so würde es mich für ihn besonders erfreuen, wenn er dabei von dem Bewußtsein getragen würde, das volle Verständnis seines Vaters zu finden. Ich habe selbst erlebt, wie sehr mich dies Bewußtsein gefördert hat, und das ist der letzte Grund meines Schreibens an Sie, daß ich es ihm erleichtern möchte, diese voll und freudige Zustimmung des Elternhauses zu finden. Ich verstehe vollauf, daß es Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vielleicht lieber wäre, Ihren Jungen den Rest seiner Ausbildung in Cassel absolvieren zu sehen; aber ich glaube doch, Ihnen raten zu müssen, ihn diesen so günstigen besonderen Umständen in Berlin nicht zu entziehen. Er hat hier neben der handwerklichen Spezialausbildung eine solche Fülle von Möglichkeiten für künstlerische Allgemeinausbildung wie nirgends sonst. Vor den sogenannten Berliner Gefahren sichert ihn seine solide, so ganz unbohémienhafte Eigenart. Alles, was ich bisher von ihm gesehen habe, gibt mir die Berechtigung zu dem Vertrauen, daß er seinen Lebensweg aus inner Nötigung heraus gehen wird, und daß man ihm möglichste Freiheit der Entwicklung lassen sollte.

Schließen Sie, bitte, aus der Ausführlichkeit dieses Briefes auf das warme Interesse, das ich an Harro als Künstler und als Mensch nehme. Ich glaube wirklich, man kann Sie zu diesem Jungen beglückwünschen.

In hoher Verehrung Ihr sehr ergebener (gez.) Becker, Staatssekretär.

 

125. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin, Unter den Linden 4, 14.4.1921

Mein lieber Siegel!

Nachdem ich 2 Tage lang 5-6 Mal versucht habe, Sie telephonisch zu erreichen, möchte ich nicht länger zögern Ihnen meinen innigen Dank für Ihre große Geburtstagsüberraschung schriftlich auszusprechen. Lieber Freund, Sie haben mir wirklich eine Freude bereitet. Erstens, daß Sie überhaupt den Tag festgestellt hatten und dann, daß Sie aus Eigenstem spendeten. Ihre Gabe hat mich schrecklich beschämt, aber ich nehme sie doch dankbar an, weil ich weiß, daß sie ein Symbol ist – auch in einem andern Sinn expressionistisch. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Gesinnung, daß ich mir sehr gern etwas von Ihnen schenken lasse, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß sich zwischen uns ein so selbstverständliches Verhältnis ent-wickelt hat, wie ich es mir schöner und wohltuender gar nicht vorstellen könnte. Ich habe nur den Eindruck, als ob wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen hätten. Wir müssen telefo-n(isch) recht bald ein Zus(ammen)sein verabreden. Dann sprechen wir auch über Ihr Bild, über das sich meine Familie lebhaft zankt. Es macht allgemein einen starken Eindruck, nur weichen die Deutungen ab. Mir ist es ein Ausdruck Ihres Suchens und Sehnens und ich verstehe es ohne das Verlangen nach intellektueller Deutung.—

Ich denke in diesen Tagen sehr viel an Sie und war so ärgerlich, Sie nicht zu erreichen, da ich ja so gespannt bin zu hören, wie Ihnen Ihre vita nuova gefällt. Von Ihrem Vater habe ich bisher nichts gehört.

Also auf bald und auf immer Ihr Becker

 

126. StR Siegel an C.H.B. Kassel, 16.4.1921

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

Für Ihr freundliches Schreiben und die darin bekundete Teilnahme für meinen Sohn danke ich Ihnen verbindlichst.. Ich erhielt Ihren Brief bei der Rückkehr von meiner Reise, nachdem ich inzwischen bereits Harro unsere Einwilligung zu seinem Vorgehen gegeben hatte. Dennoch war es mir wertvoll, von so berufener Seite über unseren Sohn und seinen Entschluß ein Urteil zu hören, das uns mit Befriedigung über unsere Entscheidung erfüllen konnte.

Nur zur Aufklärung eines scheinbaren Mißverständnisses möchte ich erwähnen, daß ich weit davon entfernt bin, die von Harro bereits zurückgelegten drei Lernjahre für ganz oder halb verloren zu halten. Ich bin nicht so engherzig, in dem ausschließlichen, eng umschriebenen Studium irgend eines Faches oder gar der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung das Heil zu erblicken (? Unleserlich, weggelocht). Im Gegenteil, ich empfinde Freude und Genugtuung darüber, daß mein Sohn gerade auch in seiner Allgemeinbildung sicherlich Anerkennenswertes erreicht hat. Mein Hinweis sollte Harro lediglich darauf aufmerksam machen, daß es an der Zeit sei, ein bestimmtes Ziel in Auge zu fassen, und mein Hauptbedenken war, (?weggelocht: daß) er das, was er jetzt als richtig erkannt hatte, auch durchführen werde.

Darüber haben mich nun ein weiterer Brief meines Sohnes und besonders auch Ihre Ausführungen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, beruhigt. Seien Sie nochmals unseres herzlichen Dankes versichert.

Mit größter Hochachtung. (gez.) Siegel, Studienrat

 

127. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 5.5.1921

Lieber Dr. Becker!

Mir ist etwas eingefallen: Vielleicht finden Sie mal einen kleinen Moment Zeit, daran zu denken, ob Sie mir nicht das nächste Mal irgend eine Aufgabe stellen können – ein Bild oder eine Folge von Bildern, am Ende mit bestimmten Ablieferungstermin. Wir sprachen ja mal über den stimulierenden Wert solcher Verpflichtungen.

Vielleicht bringt mich das aus dieser toten Zeit heraus. Denn, dem beziehungsheischenden Banne Ihrer Augen entzogen, kann ich es leichter sagen, wie sehr mich das Fehlen jeglicher Produktion seit 2 Monaten bedrückt; es muß mal etwas geschehen.

Dem Wiedersehen mit Muck1 sehe ich ruhig entgegen; ich glaube, ich gestehe mir noch nicht einmal ein, wie ruhig.

Immer Ihr Harro Siegel

 

128. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 17.10.1921

Mein lieber Harro!

Ich bin sehr besetzt diese Woche und muß mir’s deshalb in diesen Tagen – sehr zu meinem Leidwesen – versagen, Sie zu sehen. Donnerstag halte ich einen großen polit(ischen) Vortrag im demokrat(ischen) Klub, der mir den Mittwoch Abend kostet wegen der notwendigen Vorbereitung. Den Freitag Abend halte ich für Sie frei (Anmerkung Beckers: Peer Gynt). Ich habe zwar Staatsministerium, komme aber danach ins Schauspielhaus, wo Sie mich erwarten wollen. Billet holen Sie bitte vorher wie immer beim Portier ab. Wir werden allein sein.

Einlage gilt für ca. 10 Tage. Vielleicht interessiert es Sie am Sonntag mal hin zu gehen.

Ich freue mich sehr Sie wiederzusehen.

Wie stets herzlichst Ihr C.H.B.

 

129. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 22.7.1921

Viellieber Dr. Becker!

Wenn Sie nun schon seit nahezu einer Woche fort sind, so ist das für mich eine kleine halbe Ewigkeit. Ich fühle mich sehr zur Erfüllung meines Schreibeversprechens gedrängt (?). Es zeigt sich jetzt, daß Ihr Hiersein eigentlich die einzige wirkliche Rechtfertigung meines Berliner Aufenthaltes ist, daß ich nur um Ihretwillen mich hier, ohne andere Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen, so fest gebunden habe. Dies als Liebeserklärung vorweg. Ich entbehre sehr unser Zusammensein. Die Aussicht darauf war immer Ziel und Mitte während der Wochenarbeit. Von dort bezog ich meine Widerstandskraft gegen das Hineingeducktwerden in die Banalität. Ich will nun versuchen, Ihnen zu sagen, was mich diese ganze Zeit über bedrückt und des öfteren sehr erschreckt hat. Es ist das Gefühl, mit meiner Jugend höchst unhaushälterisch (ist nicht das rechte Wort) umzugehen. Statt der Erweiterung und Vertiefung meines Geistes

zu leben, lebe ich der Erlernung einer stumpfen Handarbeit, deren Vergeistigung mir nicht innerer Zwang, sondern nur theoretisch anerkannte Aufgabe ist.

Und nun etwas sehr abenteuerliches (? Schlecht lesbar), das ich nur Ihnen und nur sehr verstohlen sage: Auch der homo academicus ist doch nur oder vorläufig nur ein Lack, eine Fassade. Zuinnerst sitzt, glaube ich, ganz einfach noch ein Junge, der sich in Wiesen und Wäldern, unter Sonnen und blauem Himmel austoben müßte.

Wie im vorigen Jahre noch nackt impudent2 in der Sonne zu liegen, hat für mich noch immer einen Zustand höchster Euphorie bedeutet, den ich jetzt schmerzlich entbehre. Nicht wahr, Sie wittern da keine Romantik; das Bewußtsein vollendeter Einheit mit der Umwelt, das ich in solchen Momenten habe, entbehrt dann jeder Gefühlsduselei. Wirklich; Sie werden es auch begreifen, daß ich dann mich als Kaldakayersatz (?unleserlich) fühle; ein Gedanke, über den ich in jeder anderen Lage nur lachen kann.

Diesen kleinen Ausbruch mußte ich mir mal gestatten; ich finde, er ist noch recht zahm ausgefallen.

Es ist doch wunderbar, daß ich ihnen das sagen kann, wenngleich ich gestehe, daß ich das eben Gesagte doch lieber schriftlich, als Auge in Auge vorbringe.

Und nun etwas anderes, was ich auch leichter so sage.

In unseren letzten Gesprächen über Ritter hat sich gezeigt, daß wir an einer Stelle nicht denselben Weg wandeln. Ja, ich will es nicht länger geheimhalten: Wenn Sie mir seine Briefe vorlasen, so schrie es oft in mir: „Ja, ja, so ist es; es kann nicht anders sein.“ Und sein Ringen um Ihr Verständnis habe ich bis zum Schmerzlichen miterlebt. Er redete ja doch auch in meiner Sache.

Selbstverständlich halte ich seine Ausbrüche gegen Sie für unberechtigt und aus Überreizung geboren. Fragten Sie mich aber um meine Meinung, so kam ich oft in einen Konflikt zwischen dem, was ich glaubte sagen zu müssen, und dem, was ich unterdrückt habe aus Furcht, von Ihnen nicht verstanden zu werden.

Relativistisch könnte man es ja bei der Anerkennung beider Standpunkte lassen; ich glaube aber an eine Einigungsmöglichkeit, besser sogar Einheit. Nur will ich es hier noch einmal für mich so aussprechen. Würde ich forensisch befragt, so würde ich mich mit Haut und Haaren der Ritter’schen Theorie verschreiben, mag gleich die Gesellschaft sich auf den Kopf stellen.

Entschuldigen Sie, dies wirkt jungenhaft. Überhaupt ist mein Brief nicht, wie ich ihn wünschte. Ich möchte mehr sagen, und ich möchte es besser sagen. Nun, wenn Sie ihn in Gnaden annehmen, so hoffe ich das nächste Mal noch einen besseren Ton zu treffen.

Geht es Ihnen gut?- Es grüßt Sie sehr

Ihr Ihrer viel und gern gedenkender Harro Siegel.

 

130. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Villa Becker, 24.7.1921

Mein lieber Harro!

Ihr Brief hat mich erschreckt und erfreut. Erfreut durch den warmen und offenen Ton, der allzeit zwischen uns bestehen soll, erschreckt durch die Erkenntnis, wie viel unbewußte Verantwortlichkeit ich an Ihrem derzeitigen Dasein trage. Ich habe mich immer bemüht, keine Suggestion auf Sie auszuüben; denn Sie sollen ein freier, autonomer Mensch werden. Jeder Widerspruch war mir willkommen, namentlich in der Wahl Ihrer Arbeit nur Ihrem inneren Bedürfnis entgegengekommen zu sein. Nun meinen Sie Ihr Leben nicht richtig zu erfüllen. Wären die quälenden Stunden künstlerischer Produktionsunfähigkeit eine Ihnen genehme Erfüllung gewesen? Sind Sie nicht erst 21? Und liegt somit der fruchtbarere Teil Ihrer Jugend nicht noch vor Ihnen? Fassen Sie jedenfalls keine übereilten Beschlüsse!

Daß Sie sich noch als großen Jungen fühlen, der am liebsten nackt im durchsonnten Grase läge und mit der Natur wunschlos in Eins verwüchse – das war mir keine Offenbarung. So habe ich Sie immer angesehen. Das ist aber nur eine Ihrer Seiten, wenn auch vielleicht Ihre wertvollste. Das ist nämlich kein Infantilismus sondern echtester Humanismus, von dem auch ich gottlob noch ein gut Stück besitze. Erhalten Sie sich dies seelisch-körperliche Bedürfnis. Ich habe es mir erst nach langen Irrfahrten wiedererworben. Es ist das beste Gegengift gegen den Zweifel am Ich, gegen das Mitleid mit sich und gegen die Kleinbürgerlichkeit – lauter Eigenschaften oder sagen wir seelische Unarten, mit denen Sie auch zu kämpfen haben. Ihr Künstlertum liegt in Ihrer Jungenhaftigkeit in diesem Sinn. Bisher haftet Ihren Werken auch zu viel Schmerzgebrochenes an. Ich sehe darin noch Ihre Hemmungen, über die Sie nur der Humanismus, wie ich ihn eben umschrieb, hinwegbringen wird.

Daß Sie sich menschlich-persönlich bei mir etwas in Behandlung gegeben hatten, ist mir auch nicht verborgen geblieben. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut. Daß Sie auch mir viel, sogar sehr viel gewesen sind, haben Sie bemerkt. Auch ich habe mich von einem Zus(am-men)sein auf das nächste gefreut. Für mich waren das seelische Ruhepunkte in einem tiefbewegten, inhaltsübervollen Leben. Ich rechne bestimmt damit, daß unsere Beziehungen ein Lebenswert für uns beide bleiben werden, aber schließlich muß der werdende Mann den Weg zum Ich finden. Hoffentlich haben Sie empfunden, daß ich Ihnen dazu helfen wollte. In Ihnen steckt viel Harmonie, viel was nur Harro Siegel ist, aber es ist doch noch von manchen Eierschalen überdeckt, die manchmal Licht und Luft nehmen. Nichts ist umsonst unternommen was direkt oder durch Protest gegen mich oder Ihre Arbeit Sie sich selbst entdecken läßt. Ich predige weder Stolz noch Wehmut, sondern nur schlichte Selbsterkenntnis. Und nur nichts verdrängen, sondern bewußt sublimieren auf Grund der Erkenntnis in das Wesen des eigenen Selbst. Sie werden als Künstler und Mensch nicht durch Sturm, sondern auch bei Ihnen naht sich der Herr wie bei Elias in leisen Säuseln. Verstehen Sie mich ganz?

Über den Fall Ritter kann ich nicht ganz so sprechen wie ich möchte, weil es zu weit führen würde. Auch habe ich deshalb noch immer nicht an Ritter geschrieben. Mir ist nichts Menschliches fremd – das kann ich offen und ehrlich aussprechen. Mir ist auch Ritters Denkweise nicht fremd, aber ich verstehe auch die des alten Heiß (?). Ritter ist genauso einseitig eingestellt wie E’s Vater (??). Als Dritter kann man nur dann richtig urteilen, wenn man nach beiden Seiten hin menschlich mitfühlt. Schalten wir den Vater aus, so liegt der Fall schon anders. Dann halte ich es mit Plato, aber nicht mit dem was Plato ebenso menschlich verzeiht, sondern ich fordere mit Plato das Höchste was Plato selbst fordert. Ritter und Sie übersehen immer, daß über aller Duldung bei Plato eine sittliche Forderung steht. Das mag sehr unbequem sein, aber dieser Forderung liegt eben eine Vernunfterkenntnis zu Grunde, die auch mir unabweisbar erscheint, und ein Menschenverständnis, das allen Seiten gerecht wird. Und noch ein Drittes und Höchstes: Ein Erlebnis und eine Segnung durch dies Erlebnis. Mit 21 hat auch Plato vielleicht gedacht wie Sie, mit 45 schrieb er was er schrieb. Und Ritter ist keine 21 mehr. Gerade dieser Umstand, den er immerbetont, sollte ihn zwingen wie Plato zu handeln.—

Mir geht es gut. Ich erlebte im großen Geschwisterkreis mit meiner Frau (meist noch ohne Kinder) sehr stille Tage, mit einsamen Wanderungen auch mit meiner Frau, langem Liegen unter durchleuchteten Buchen, nachts auf weiter Terrasse mit unbegrenztem Blick in die weite, schlafende Ebene mit einem großen Himmel darüber. Manchmal denke ich auch an Sie, Ihre Sorgen und Nöte, Ihr Können und Ihr Sein. Dann trage ich auch Ihr Schicksal auf liebendem Herzen. Ihr Becker

 

131. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 26.7.1921

Lieber Dr. Becker!

Über Ihren Brief habe ich mich nur gefreut und danke Ihnen von Herzen dafür. Ich sehe, daß ich schwärzer gemalt habe, als richtig war. Zu erschrecken brauchten Sie nicht. Ich glaube, – hören Sie: ich glaube auch an die Fruchtbarkeit meines jetzigen Daseins, mit allen Licht- und Schattenseiten. Mir lag daran Ihnen auszudrücken, daß Sie auf der allerhellsten Lichtseite

stehn. Und dann hatte ich etwas Großstadtüberdruß, der sich ja in Staub und Hitze dieser Tage unbedingt einstellen mußte.

Ich bekämpfe ihn dadurch, daß ich jeden Abend schwimmen gehe, und mit bestem Erfolge. Ausgesaugt und ermüdet komme ich nach Haus und schlafe traumlos.

Verzeihen Sie es mir, wenn ich noch einmal „zum Thema“ spreche. Sie schreiben, daß bei Plato über aller Duldung eine sittliche Forderung stehe. Gut. Dabei fällt mir als Gegenbeispiel Tolstoj ein. Genau dasselbe läßt sich von ihm sagen in Bezug auf das mann-weibliche Verhältnis. Nur wird hier merkwürdigerweise jeder zugeben, daß das zu weit gegangen sei, und man führt rationalisierend das Gattungsinteresse ins Gefecht. Einen Fortpflanzungstrieb gibt es aber bestimmt nicht.

Weiter. Nehmen wir Goethe. Es würde eine Lücke in der Sphäre Goethe entstehen, wollte man seine Liebeserlebnisse als ungeschehen annehmen. Wer fragt hier danach, ob es dabei bis zum Letzten kam? Mit Selbstverständlichkeit wird das zur Nebensache. Hier sieht man die Versittlichung und Vergeistigung…

(Schluß fehlt)

 

132. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Fulda/Frankfurt/Main, 1.10.1921

Lieber Freund!

Hatte sehr schöne Tage in Leipzig. Alles verlief glänzend. Und Ritter erschien unerwartet. Ich hatte langes Gespräch mit ihm: seitdem ganz beruhigt. Er ist jetzt wirklich auf dem richtigen Wege. Ich schreibe dies im Zug zwischen Bebra und Frankfurt. Viel Vergnügen mit den „Meistersingern“ und gute Enrfolg bei den Beratungen mit Gericke und Sell.

Herzlichst Ihr B.

 

133. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin?), 18.11.1921

Lieber Harro!

Ich habe mich im Tage geirrt. Die Pfitzner-Première ist erst Morgen (Sonnabend). Also dann auf Wiedersehen. Herzlichst. Ihr Becker

 

134. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 26.12.1921

Mein lieber Becker

Zeichnung Harro Siegel
Zeichnung Harro Siegel

Bei dieser Anrede überläuft mich ein schöner Schauder, wie bei einem eigentlich unerhörten Wagnis.– Und den genieße ich (-wie schon immer!).—Ich stelle es aber gleich voran: Du mußt Dich mit der Immanenz dieses Briefes begnügen, denn über Dich und mich kann ich trotz vieler Fülle eigentlich nur schweigen.; und sonst habe ich wenig zu leiden, also wenig zu sagen.

Etwas psychoanalytisch geredet: Von meinen beiden Carmiliumimagines lebe ich fast ausschließlich in der guten, was jedoch durch eine leise Regression in die böse einen gewissen spannenden Nebenzweig bekommt.

Ich sehe es ein, daß mit heftigem Ringen um Loslösung von der Familie schließlich doch eine ebenso heftige Bindung an sie parallel laufen muß. Man bleibt zu einem Teil ein ewiger Junge, der verwöhnt und gehätschelt wird und manchmal etwas „hochgenommen“ werden muß. Aber ich will es ja gar nicht anders.

Laß mich Dir ein etwas abwegiges Geständnis machen: Vorläufig in noch sehr tiefen und dunklen Gründen meiner Psyche regt sich ein leise nagendes Gefühl, – ein sehr häßliches und auch undankbares, dem ich vorläufig noch scheue, die Laterne gerade ins Gesicht zu halten. Ich kennzeichne es vielleicht halbwegs treffend als Ressentiment gegen mein Berliner Wohlergehen. Dies „im Sturm erobern“ doch nur zumeist unterschiedlicher Leute ist mir irgendwie unheimlich. Ich habe Angst um den Bestand meines „An-sich“ erwartet. Hinein gehst auch Du mit den anderen in eins: Du siehst mich, wie Du mich wünschst (und ich bin Dir gegenüber unbeabsichtigt so). Aber wie nahe liegt hier die Verführung zur Vita contemplativa, zum Pflanzen daheim: „Ist es nicht genug, wertvollen Menschen ein Lebenswert zu sein?“- Aber hier darf ich nicht stehen bleiben, – denn ich habe doch Schaffensdrang.

Nun, im Grunde ist meine letztjährige (im Zeichen Deiner Mentorschaft stehende) Entwicklung so unendlich weit, daß man wohl einige anrufbare Früchte daraus erwarten kann.

Ein etwas konfuser Weihnachtsbrief, wie? Es geht mir aber sehr gut!! Und das hoffe ich auch von Dir.

Geheimrat(?) R. sehe ich öfters. Davon mündlich Jedenfalls ist mein Verhältnis zu ihm nun auch so stabil, daß ich keinen Sturm mehr fürchte. Übrigens klagt er, daß Du überhaupt nicht mehr schriebest.

Nun wünsche ich Dir und den Deinen alles erreichbare Gute zum Neuen Jahre und bin

Dein Harro

 

135. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 28.12.1921

Mein lieber Harro!

Ich dachte mir gleich, daß Du etwas zögern würdest, ehe Du die Anrede an mich schriebst. Um so selbstverständlicher fließt mir das Harro und das Du, das ich ja innerlich schon lange zu Dir sagte. Daß man über Vieles, oft das Beste und Letzte, lieber schweigt, ist auch ganz nach meinem Sinn, und ich glaube auch, daß wir uns über das Ich und das Du nichts mehr zu sagen brauchen. Das so schrecklich objektive und prosaische Papier kann nur schaden, wo Lebendiges wirkt, so subjektiv es sein mag. Und neugierige Dritte geht es schon gar nichts an. Trotz allem hast Du in Deinem Brief schließlich mehr gesagt, als Du eingangs zu wollen schienst. Auch das habe ich verstanden und schon gewußt, ehe Du abreistest. Du erinnerst Dich vielleicht meiner mehrfach gestellten Frage an unserem letzten Abend. Damals schlummerte die Formel vielleicht noch in Deinem Unterbewußtsein, jedenfalls verstand ich die Unklaglichkeit ihrer bevorstehenden oder schon erfolgten, aber noch verschleierten Geburt mit einer Stärke, die mir fast physisch weh tat. Ich empfinde es nicht als Undankbarkeit, ich freue mich dieser Deiner Reaktion gegen das seelische Sybaritentum der letzten Monate. Sieh, seit langem hoffe ich auf dies Ressentiment bei Dir und wenn Du mich auch – sicher mit Unrecht – mit den anderen in einen Topf wirfst, so will ich Dir doch sagen, daß Du mich schon zu meiner Reaktion auf den Chinaplan hättest erkennen können. Ich sehe Dich nicht nur, wie ich mir Dir wünsche. Ich sehe Dich mit doppeltem Gesicht. Das eine ist sehr nüchtern und sehr kritisch. Aber ich weiß, daß Kritik oder pädagogisch angewandte Kritik bei Menschen Deines Schlages doch nicht verfängt. Umstände und Erfahrungen müssen den Antrieb bringen. Man kann sie massieren helfen und auf die Wirkung warten. Das ist die einzige Pädagogik, die ich bei Dir angewandt habe. Ich habe Liebe auf Liebe gehäuft in der stillen aber sicheren Hoffnung, daß daraus die Tat geboren werden müsse, die künstlerische Tat, auf die ich von Anfang an bei Dir hoffte. Ich ging mit Dir einen doppelten Weg: durch die Härte und Öde der Werkstatt und durch die Weichheit und den Reichtum persönlicher Wertung, die wenn etwas in Dir steckte, die verschlackte Flamme zum leuchtenden Durchbruch bringen mußte. Ich merke jetzt, daß eine erste, noch scheue Flamme durchschlägt. Laß ein starkes Feuer daraus werden! Ich will kräftig blasen helfen, daß die Schlacken Deiner Passivität, Deiner Besinnlichkeit, Deiner Skepsis und Deiner Bequemlichkeit vom heiligen Eros zu Deiner Kunst und vom Glauben an Dich selber verzehrt werden. Das ist mein inniger Wunsch zum Neuen Jahr.

Und das andre Gesicht, mit dem ich Dich sehe? Das ist allerdings unbedingt, das geht nicht auf Experimente aus und will nicht erziehen. Das geht von Mensch zu Mensch, das sieht den „ewigen Jungen“ wie den werdenden Mann, die doch im Grunde eins sind. Das sieht die Zusammengehörigkeit, ohne den Zwang übersteigerte Bindung, ohne „Vergottung“, ohne Schwüle – kurz, ohne allen Un-Sinn, weil eben Sinn und Sein alles ist. Und wo dieser letzte Sinn herrscht, da braucht er keinen Namen, wie auch der Vater im Hause nur der Vater und der König im Lande nur der König heißt. Und so läuft das Wissen um den Sinn eben auf Schweigen hinaus.

Du siehst, ich habe Deinen Neujahrsbrief nicht so konfus gefunden wie Du selber ihn fragendst bezeichnest. Mögest Du Dir bewußt werden, daß ich Dich auch diesmal besser verstanden habe, als Du glaubtest. Und Du bist ja gewohnt, schon einiges vorauszusetzen.—

Wir hatten ein sehr schönes Fest – selten harmonisch und warm. Die Kinder waren köstlich und innerlich. Es wurde viel Liebe geschenkt und empfangen. Am 2.ten Feiertag waren Wendes mir ihren drei Kleinen bei uns. Er schien sich über die Bildersammlung sehr zu freuen.. Er schenkte mir Sa’di und ein lang gehegter Wunsch! – sein Bild. Dann begann wieder der Alltag, aber durch einige Sonntagsunterhaltungen mit Landé und anderen verschönt. Morgen nacht fahre ich auf einen Tag nach Cöln zum Kardinal, wenn nicht der Streik uns daran verhindert.

Dein schönes Bild hängt jetzt als Pendant zu Deinem ersten und interessiert und gefällt sehr. Auf Deine innere Vorbereitung für China schließe ich aus Deiner hübschen Skizze. Hab Dank dafür. Grüße die Deinen und Ritter, aber behalte bitte diesen Brief für Dich. Er ist ein persönliches Neujahrsgeschenk.

Dein CHB.

 

136. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.1.1922

Lieber Carl!

Wende hat doch wirklich recht: Menschen untereinander dürfen nicht restlos offen sein. Es ist nicht ethisch.- Ich mußte neulich restlos offen sein; jetzt ist mir das sehr übel bekommen.- Ich schrieb von einem Brief, den m(ein?) V(ater?) das Unglück hatte zu lesen. Diese Indiskretion hat für uns beide die grauenhaftesten Folgen gehabt..-

Er drang vorgestern Abend auf Erklärung und volle Wahrheit. Da ich eine hart im Raum stehende Äußerung (ich hatte ihn als Fremdkörper in der Familie bezeichnet) zu rechtfertigen hatte, so sah ich keinen Ausweg, als dem zu folgen. Es war über jedes Maß hinaus entsetzlich, trotzdem ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis ausstellen darf, mich durchaus anständig benommen zu haben.- Aber was für mich seit langem unverbrüchliche Tatsache war, – das traf ihn in dieser Absolutheit offenbar als ein völlig Neues (?) mit erheblicher Wucht: unser völliges inneres Fremdsein nämlich; da dies auch für meinen Bruder gilt, so hatte der arme Mann wohl recht mit den Worten, „ich zerstöre sein Leben“. –

Ich kam mir vor wie ein Henkersknecht, alle Zorn- und Rachegefühle schwanden im Lauf der Auseinandersetzung, trotzdem er vorläufig noch nicht das Maß seiner und des Schicksals Schuld einsehen will und mich zum Sündenbock machen zu wollen scheint.

Aber es tut mir weh, ihn zu sehen; ich finde wieder, daß ich ihn doch lieb habe. Woher die Kraft nehmen und wie den Weg finden, ihm das zu zeigen?. Jetzt wird er mir’s schon gar nicht mehr glauben. Vielleicht tust Du’s mal für mich.

Wir leben äußerlich so weiter wie bisher, und die Atmosphäre ist wenigstens nicht mehr so geladen wie bis dato.

Auf alle Fälle ist es gut, daß ich jetzt fortkomme. Obwohl – der Zwiespalt ist grausam – mich eine ebenso starke Kraft hier hält: das ist meine Liebe, wie Du denken kannst. Sie hat allerlei Stöße auszuhalten, aber sie wird stetig tiefer.

Ich klage nicht mehr über Mangel an Urerlebnissen; wenn ich noch hinzufüge, daß ich außer zum Buchbinden (gestern freilich mußten wir 55 Zentner Braunkohlen ins Kellergewölbe schaffen) zu nichts komme, als zu sehr oberflächlicher Lektüre freilich sehr rechtschaffner Bücher und zu sehr wenig Schlaf (erstens komme ich zu wenig an die Luft und zweitens bin ich zu verliebt),- so hast Du alles, was Du brauchst, Dir ein Bild meiner Tage zu machen. Aber ich halte aufrecht, was ich das letztemal schrieb: Es geht bergauf: – Ich habe mein Gesuch an die Handwerkskammer losgelassen. Findest Du es richtig, wenn Gericht gleich von sich aus ein befürwortendes Schreiben dazutut? Dann würde ich ihn sofort darum bitten.

In Berlin – bei meinem ausgezeichneten Meister – hätte ich es vielleicht zu einer 1 in der Prüfung bringen können; hier muß ich froh sein, so durchzukommen.—

Grüß bitte Hedwig (?) und alle anderen. Herzlichst Dein Harro.

 

137. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 20.1.1922

Mein lieber Harro!

Es geht mir etwas gegen den Strich, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag schreiben soll. Ich hätte ihn gern mit Dir verlebt und Dir etwas Ersatz geboten für fehlendes Vaterhaus; denn mag sich auch noch so vornehm über Zeiten und Termine erheben, gerade „große Jungen“ lassen sich an solchen Tagen doch gern auch einmal streicheln und das Gefühl gefeiert zu werden macht warm, tut wohl und gibt Kraft. Außerdem ist das Leben so kurz und man macht sich’s

meist durch lauter Bedenklichkeiten so schwer, daß man die Feste feiern soll, wie sie fallen; dann darf man sich sagen, daß man sich lieb hat, ohne daß es gleich sentimental wirkt, dann darf man sich versöhnen, ohne daß man sich selbst den Krampf der mangelnden Pädagogik machen müßte – und schließlich gibt’s doch nichts Schöneres, als wenn man einmal selbst im Rahmen des Herkommens wahr sein darf, wenn die Form zum Sinn wird und die Festtagsfeiern doch nur den Ausdruck der Alltagsstimmung zwischen Mensch und Mensch wiedergibt. So wenigstens empfinde ich an Deinem Geburtstag und so hätte ich ihn gern gefeiert.

Feiern, mein lieber Harro, will ich ihn aber auch so. Den Plutarch habe ich Dir schicken lassen, wenn möglich gebunden. Ich war die letzten Tage vor der Abreise wenig wohl und habe mich nur sehr schwer zur Abfahrt am Dienstag entschlossen – noch Abends vorher mußte ich den Arzt kommen lassen -, sodaß ich nichts mehr selbst besorgen konnte. Wenn die Bücher deshalb wenig geburtstäglich ankommen, so schieb’s auf die leidigen Umstände. Einige materielle Dinge, die Dir sonst noch zugedacht waren, gebe ich Dir erst nach der Heimkehr; dann unterteilt sich’s besser, da doch sicher zum 24.ten auch in Cassel einiges eingeht.

Unser letzter Abend, so schön er war, bleibt für mich etwas unbefriedigend. Es ist etwas nicht zu Ende beredet worden. Das für mich ganz überraschende Problem L. (??3) mit seinen Auswirkungen hat die Besprechung der Dinge verhindert, von denen ich eigentlich erwartet hatte, daß sie zum Sprechen kommen würden. Ich denke an Deine eigene nicht menschliche, sondern berufliche Zukunft. Die aufrüttelnde China-Episode hat doch auch Dich veranlaßt, Deine berufliche Ausbildung nochmals zu durchdenken. Du wirst natürlich Deine jetzige Ausbildung zu einem gewissen Abschluß bringen – also allzu eilend ist die Sache nicht, aber wenn Du mir von dem Haufen schriebst, den Du abzuladen hättest, so dacht ich immer zuerst an die Entwicklung Deiner Berufsstellung. Seitdem ich Deine Zeichnungen gesehen habe, habe ich doch auch eine andere Anschauung von Deinem Können erhalten und möchte Dir sogern helfen, das wirklich künstlerisch Wertvolle in Dir zur Entfaltung zu bringen. Darüber müssen wir reden.

Inzwischen beschäftigt mich die Angelegenheit L. natürlich auch sehr. Ich werde ihn nächste Woche hier oder in Cassel treffen und das wird zu mancher Aussprache Anlaß geben. Ich werde ihm natürlich völlig die Initiative überlassen. Er muß mit Göttingen wieder anknüpfen. In solchen Fällen darf man nicht entweder –oder sagen. Ob Du schon Gelegenheit hattest mit ihm zu sprechen?

Wenn alles nach Wunsch läuft, bin ich am 26.ten Abends bis 29.ten Abends 8 (Uhr) in

Richerts Hotel, Cassel. Ich werde wohl mal nach Zwehren (?) hinausfahren, sicher aber nach Humboldtstraße 30. Was meinst Du, wenn ich mich Sonntag Nachmittag zwischen 4 und 5 (Uhr) bei Euch ansagte? Oder gibt es irgend welche h(eiligen) Gesetze über den Sonntag Nachm(ittag) wie Club, Familiencafé oder Spaziergang übers Land? Eigentlich ginge ich lieber ohne Landé hin; wenn er aber da ist, werde ich ihn kaum nicht mitnehmen können. Die Nacht von Sonntag auf Montag fahre ich zurück und erwarte dann daß Du Montag Nachmittag mal nach mir schaust. Bis zum 26.ten Nachmittags bin ich hier.

Und nun, leb wohl, mein lieber Harro! Was man als Vater, Bruder und Freund für einen geliebten Menschen auf dem Herzen haben kannst, das setze ich bei mir für Dich voraus. Laß es auch in Deinem neuen Lebensjahr – übrigens das erste, das ich bewußt mit Dir antrete – zwischen uns so bleiben, wie’s geworden ist. Und m(u)st (weggelocht!) Du wachsen vor den Menschen, vor mir und – vor Dir.

Dein C.H.B.

138. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 24.1.1922

Mein lieber Becker!

Es traf sich merkwürdig gut, daß ich gerade heute morgen Deinen Islam in die Hände bekam und den ganzen Tag daran zu tun hatte. Dieser Mittelsgegenstand ließ mein Tagträumen sich immer wieder um Deine Person verdichten. Und so war ich die ganze Arbeitszeit über in stiller und angenehmer Feierstimmung (trotz allerübelster Gegenströmungen meisterlicherseits)! Ich fand es dann auch nicht mehr nötig, zu noch größerem Schwung auszuholen; habe meine Pakete ausgepackt und gedenke mich nach Absendung dieses Briefs in mein Bett zu verkriechen. (Denn es ist allem Feuern zum Trotz erbärmlich kalt.)

Für Deinen Brief, den ich schon Sonntag erhielt, danke ich Dir von ganzem Herzen. Ich bin ja so dankbar, daß ich Dich habe. (Dankbar nicht irgendwem, – aber man umschreibt mit diesem Wort doch gut den Gefühlsinhalt, über den ich mich hier wohl nicht weiter zu äußern brauche.)

Der Plutarch kam gestern in einem vorläufigen (weil beschädigten) Exemplar; man hofft bald ein besseres zu besorgen. Ich freue mich wirklich sehr über diesen Besitz.

L(andé) habe ich inzwischen noch gesprochen. Ich glaube zu sehen, daß sein Verhalten zu mir jetzt von selbst eine Richtung nimmt, der ich Gegengewicht geben kann. Auch nach seinem heutigen Geburtstagsbrief scheint es mir so.- Wenn sich das in Zukunft bestätigte,- ich wäre ungeheuer befreit! Es sei wie es sei – er wird mich nie völlig verstehen können. Wieso, weiß ich natürlich auch nur zum Teil. Es ist eben nicht anders.

Übrigens gedenkt er nächsten Sonntag nach Göttingen zu fahren. (Zeige es ihm nur nicht zu sehr, daß Du Dich darüber freust.)- Doch müssen wir über all dieses noch mehr als ein Wort sprechen, auch über das Entweder-Oder– Du hättest dann auch die Möglichkeit, Sonntag nachmittag ohne ihn zu meinen Eltern zu gehen (was mir natürlich auch lieber ist). Von meiner Mutter bekam ich einen Brief, der mir sehr nahe ging.- Ich konnte Weihnachten zu keiner wahrhaften Aussprache mit ihr kommen; sie leidet offenbar auch sehr unter dem Gefühl, ich sei unzufrieden, zwiespältig. (Sie hat auch recht; es ist doch noch oft so.)- Nun kam hinzu, daß G.R in Kassel war, der mich auch in der Zeit dort, wo ich nicht mit ihm zusammen war, sehr in Anspruch nahm; ganz naturgemäß fühlte ich mich in die letzten qualvollen Jahre, die ich zu Haus verlebte, zurückversetzt; kurz, mich quält jetzt der Gedanke, sehr viel Liebe, die man mir entgegenbrachte, nicht beachtet zu haben, allzu sehr verkapselt in mich selbst.- Ich sehe doch selbst noch so sehr wenig klar: was hilft es auch, wenn ich die (unleserlich: Aura?) meiner Zwiespaltenheit bald so, bald so benenne? Ich habe noch soviel dumpf-chaotisches in mir, daß ich zwar hoffe, daß daraus noch mal irgendwas (unleserlich: Brauchbares?) hervorgehen kann, daß aber Angst und Melancholie mich jetzt meistens an solchem Darüberstehen hindern.- Die gelassene Ruhe, in der Du mich für gewöhnlich kennst kommt eben nur in Deiner Gegenwart über mich;- umso wohltuender ist sie, – aber sie ist noch völlig die Ausnahme.- Sollte es sich ergeben, daß Du mit meiner Mutter allein sprechen kannst (was ich kaum glaube), so sage ihr bitte, daß ich alles, was an guten und zukunftsvollen Kräften etwa in mir ist, als von ihr allein kommend betrachte, und daß es vielleicht der Kampf um die Durchsetzung dieser Kräfte ist, der mich so unerträglich an mich selbst fesselt. (Es ist vielleicht gut, wenn Du gleich nach Deiner Ankunft anrufst, dann richtet man sich auf alle Fälle auf Dich ein.)- Wenn Du irgend Zeit hast, besuch doch die L(andés?) in Galwin (?). Sie ist wundervoll.-

Du hast schon durchaus recht; daß L(andé?)-Problem mußte seiner Zeit heraus, weil die Zeit dazu drängte. An innerer Wichtigkeit kann es sich mit der Berufsfrage (die aber das Gegenteil

von äußerlich maßgebend ist) nicht messen.

Hier stehe ich erst an der Wurzel meiner derzeitigen Nöte. Und noch völlig im Dunkeln.- Ich wünschte wirklich, Du besuchtest meinen Freund Hermann Cohn. Durch einen plötzlich einsetzenden zweimaligen Briefwechsel mit ihm ist mir mein sog. „Künstlertum“ so fragwürdig geworden, wie noch nie. Denn ich sehe bei ihm, was es heißt Künstler von schicksalswegen zu sein. Aber schließlich brauche ich nur ein Museum zu besuchen oder etwas von Goethes Briefen zu lesen, -und ich erlebe dieselbe (unleserlich: Quelle?) des Vergnügens, das Ausbleiben einer Ruhe von literarischem (kunsthistorisch wertvollem!) Dilettantismus. (Frage Landé auf Ehre und Gewissen: Er muß Dir dies bestätigen; und hierin kann man ihm schon glauben; denn er ist nur Künstler, nur Maler, – alles andere ist unwichtig).

Alle diese Dinge wühlen aber noch so in mir, daß ich lieber nicht weiterschreibe. Entschuldige überhaupt, daß dieser so behaglich (unleserlich) beginnender Brief sich auf einmal so wandelte. Es sollte eigentlich nicht sein. (Aber da ja Du es bist, mag’s stehen bleiben.) Ob ich bald oder erst später mit Dir davon sprechen werde, weiß ich nicht. Aber es kommt!

Grüße Landé; vielleicht schreibe ich ihm nach C(assel).

Es hat Dich sehr lieb Dein Harro.

 

139. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Cassel, 27./28.1.1922

Wir haben keinen Moment Ruhe, kommen auch nicht ins Fried(rich?)Gymnasium, da es zu schlecht ist. Morgen Samstag gehe ich um 5 Uhr zu Deinen Eltern. Dank für Deinen Brief nach Gelnhausen, über das weitere mündlich! CHB.

Nachtrag einer 2. Person:

Die Reise ist schön, Cassel zeigt sich frisch im Sonnenschein. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, der mich ganz froh begrüßte. Sehen wir uns Montag, da Dienstag abwesend? Herzlichst Ihr Walter L(andé?)

 

140. C.H.B an Harro Siegel. (Berlin?), 8.2.1922

Lieber Harro!

Mein Vortrag fällt aus.

Wir erwarten Dich Sonntag 1 Uhr zum Mittagessen. Keine Antwort = Zusage.

Beiliegende Unterstützung Deiner Junggesellenwirtschaft nimm freundlich auf – ohne weiteren Dank. Habe sie selbst für Dich erstanden.

Brief von Ritter erhalten; wenig erfreulich. Näheres Sonntag.

Herzlichst Dein CHB.

 

141. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 25.2.1922

Mein lieber Carl!

Du behältst recht: zu Besorgnissen ist kein Grund.- Aber ich wollte es vermeiden, noch mal so zu schreiben wie neulich. Ich wollte alles hinter mir haben.- Ich schrieb damals etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das soll heißen: Mein Brief beansprucht keine objektive Geltung, er ist nur ein Mittel zur Gemütserleichterung. Wäre es anders, dann wäre es freilich schlimm. Ich habe meistens immer noch so trübe Stunden, daß auch weitere Briefe so ausfallen würden. Aber das Ende zieht sich hin und zieht sich hin, und ich lasse Dich zu lange warten.

Ich war ganz gerührt heute morgen, als ich die Briefe von Dir und Cohn fand.- Hab vielen Dank für Deine Sorge.- Die Prüfung sollte Ende (?) des Monats sein; aber trotzdem ich seit 1 ½ Wochen täglich ununterbrochen 10-12 Stunden arbeite, kam ich mit meinen Probearbeiten nicht zu Rande. Ich muß eben immer wieder Werkstattarbeit dazwischen tun. Auch heut, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Morgen hoffe ich, zum Abschluß zu gelangen, und dann, denke ich, wird in einer Woche die Prüfung steigen.

Übrigens, falls Ihr etwa hochgespannte Erwartungen habt, – es ist nicht anzunehmen, daß ich hervorragend abschneiden werde. Rite, mehr nicht- Vor einem halben Jahr wär’s besser geworden; ich habe zuviel grobe Arbeit getan inzwischen.

Ich möchte gerne 1 Woche vor Ostern nach dort kommen, aber m(ein?) V(ater?) wird die Notwendigkeit dazu nicht einsehen. Und er muß jetzt wie ein rohes Ei behandelt werden. Wenn Du denkst, mit der Zulagensache hätte ich ihn mißverstanden, so ist dem leider nicht so. Es ist ja so fürchterlich, aber hier streckt er eben seine Wurzeln ins Irrationale. Das gibt’s eben auch. Ha, er hat ja nun seinen Willen.

Ich fühle mich allmählich etwas abgekämpft, aber die Nähe der Erlösung, Deine liebende Sorge und meine immer tiefer werdenden Gefühle für den süßen Jungen (ich darf das doch schreiben?) tragen mich über alles hinweg. Körperlich geht mir’s gut.—

Leb wohl, mein lieber Carl! Stets Dein Harro.

 

142. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel, Berlin Frankfurt/M, 26.2.1922

Hoffentlich hast Du bei Deiner heutigen Wanderung so schönes Wetter wie wir hier. Dies als Zeichen treuen Gedenkens im Festtrubel der Goethewoche. Dein CHB

Nachtrag 2. Person:

Wenn Sie wüßten, wie Sie B(ecker) fehlen! Grüße von –au! – Erich Siegelersatz.

 

143. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 13.5.1922

Mein lieber Carl!

Wenn Du Dich auf Deiner Münchener Karte, für die ich herzlich danke, so mit C.H. unterschreibst, so ist es wohl (griechischer Ausdruck), wenn ich obenstehende Anrede hinschreibende Sie hat eine ganze Weile allein dagestanden und kam mir merkwürdig genug vor. Ich erinnere mich noch jenes freudig-beklommenen Schauders, mit dem ich nicht in einem Brief nach Gelnhausen den Dr. vor Deinem Namen fortließ. Auch diesmal empfinde ich Schauder, aber er geht tiefer und ist heiß. Es ist das Gefühl, Dir verfallen zu sein, was über mich gekommen ist, deucht mich. Wie unendlich schön ist es deshalb, daß diese Bindung so klar ist. Es gibt andere, die sind dumpf und verworren, – sie drücken nieder. So ist es bei uns nicht! Aber damit will ich nicht sagen, daß mir unsere Bindung nicht auch schmerzlich wäre. Wieso, das ist nur in Aufsätzen zu „verworten“. Ich vermute, es ist im Grunde das tief-beunruhigende Gefühl des Auseinanderklaffens von Ich und Ich-Ideal, das ich nie verliere. Ich bin imstande, mir einen Harro zu träumen, den ich unbedingt für wert erklären würde, von Dir geliebt zu werden, und den ich selbst auch sehr liebe.

Aber der andere Harro ist eben nicht so, und jetzt weniger als je. Du hast ja selbst bemerkt, wie eigentümlich stumpf ich in letzter Zeit geworden bin; stumpf, innerlich allzu nachgiebig, irgendwie – es sei gesagt – würdelos!

Ich muß wiederholen: fern von Dir ist mein Zustand in der Regel ein gewaltsames Augen-zu-drücken vor der eigenen Umwelt und fernzuhalten vor inneren Pflichtgeboten. Oder (?weggelocht) er ist Verzweiflung (aber das ist zu hochtrabend gesprochen und kommt mir kaum zu!)- Nun ist es ja so, daß all dies (es ist ein Riesengebiet, – wozu Einzelheiten geben?) vor Dir verschwindet, der Spalt beginnt sich zu schließen, ich komme zur Ruhe, schlafe sozusagen ein. (Peinlicherweise drängt sich mir hier der Vergleich mit einem Kinde auf, das in den Schlaf gewiegt wird. Geschmacklos, wie?)

Nur, ich schlafe nicht genug ein, es bleibt hartnäckig ein leiser, dumpfer Schmerz; worüber? Ich will mal sagen, über meine Unehrlichkeit. Ich weiß ja, daß Du mich kritisch siehst, ich habe Dir ja auch oft genug von meinen kleinen und größeren Schmerzen gesprochen. Aber jenes Gefühl bleibt. Wie soll ich dahinter kommen, was es ist? Ich meine manchmal, es gibt Stücke von mir, von denen Du vielleicht weiß, die Du aber dennoch nicht kennst, nicht „erlebtest“ (nur sozusagen). Es sind böse Stücke, glaube ich, und doch nicht wertlose, an meinem Kern unleugbar wesentlich beteiligt. Nun, ich gebe es (vorläufig) auf, dahinter zu kommen.

Wenn Du mich (wie neulich) auf Ehre und Gewissen fragst, ob ich Dich wirklich liebhabe, so erwidere ich ehrlichen Herzens und ohne Anstrengung: Ja. Aber dabei weiß ich (und es tut mir weh): Du hast mich nicht ganz. Denn ich habe mich ja selbst nicht. Sich ganz geben und sich ganz haben ist ja wohl ein -; was soll ich es leugnen, ich habe mich noch keinem Menschen und keiner Sache „ganz“ gegeben. Wenn ich anders wäre, so würde ich das nicht wissen, ich würde Dich und mich glauben machen, ich gehörte Dir völlig und in diesem Rausch selig sein. Aber ich bin nun mal so und kann keinen Schaum schlagen. Aber dies ganze Geständnis ist (vielleicht) das Letzte und Höchste, was ich einem geliebten Menschen geben kann. (Skepsis beiseite.)

Mein erster Versuch, Dir dies zu sagen (sin of selflove…) war täppisch genug, – ich möchte ihn Dir immer wieder abbitten. Ob es diesmal besser gelungen ist?—

Du kennst meinen Haß gegen alles Literatentum. Und doch ist aus dieser Brief ein Zeugnis wider mich selbst hierin. Es sind gar keine Wörter, es sind immer bloß Benennungen, was ich schreibe: Aber ich glaube, Du spürst doch den echten Herzschlag hindurch. Kannst Du erfassen, wie ich Dich auf Deiner Reise begleite? Soll ich Dir sagen, wie mit jedem Gedanken an Dich Dein Bild realiter in meinem Auge entsteht, und wie ich es realiter in Herz und Zwerchfell spüre, daß hier etwas einigermaßen anderes vorgeht, al wenn an Herrn oder Frau XYZ denken? – (Ein bißchen bin ich ja auch stolz, von Dir geliebt zu sein.)

Äußerlich-beruflich geht es mir nicht schön. Gottseidank ist morgen Sonntag. Es ist gut, daß Du bald wiederkommst; ich habe allerlei noch zu sagen. – Wie ist Deine Reise? Ich wünsche Dir das Beste dafür.

Es grüßt Dich Dein Harro.

 

144. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Padua, 15.5.1922

Mein lieber Harro!

Also es ging alles gut. Die Stimmung ist glänzend. Es war ein ganz eigenartiges Fest. Namentlich der Festakt mit König, Kardinal Maffi (?), 100ten fremder Professoren in bunter akadem(ischer) Tracht und von 8000 Personen in dem riesigen 86 x 28 m großen „Salone“ war ein ganz einzigartiger Eindruck. Fabelhafte Disziplin der Massen, obwohl von vornherein 9/10 der Anwesenden kein Wort verstehen konnten. Meine Rede (deutsch, mit italien(ischem) Schluß wurde einfach glänzend aufgenommen und fast mehr applaudiert wie die der anderen fremden Redner. Es war ein kitzlicher Moment, aber es war ordre gegeben, alles Politische zu vermeiden. Der Franzose sprach direkt versöhnlich gegen den Völkerhaß und für die Gemeinsamkeit der Zus(ammen)arbeit aller Nationen sans exception. Man schwimmt mal wieder ständig in vier Sprachen und genießt Italien. Es ist einfach herrlich. Heute Abend ist Schlußbankett, dann Exkursion nach Venedig, wo noch Empfänge stattfinden. Ich nehme mir einen Studenten mit für 1-2 Tage (einen Südtiroler (jetzt Italien), der uns am Bahnhof betreute. Dann bleibe ich noch ein paar Tage allein. Der Betrieb hier ist fabelhaft. Du würdest Augen machen. Ich denke oft und stark an Dich. Dein CHB

 

145. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18.5.1922

Ponte dei Sospiri

Mein lieber Harro!

Dein guter Brief hat mich im Augenblick meiner Abreise aus Padua mit den ersten Nachrichten aus der Schillerstraße und von Wende erreicht. Also warst Du in der erwarteten Gesellschaft. Ich schreibe Dir heute oder Morgen, noch bin ich nicht allein und ziemlich bewegt. Es ist über alle Begriffe schön hier. Gewiß hat man nicht mehr den frommen Schauder des ersten Sehens, aber um so intensiver wird der Genuß, wenn man sich wissend hingibt.

Das Wetter ist strahlend. Ich wohne in echt ital(ienischer) Kneipe, aber sauber. Nun habe ich noch 4 Tage hier vor mir. Ich werde wohl bis Montag bleiben und dann in einem Rutsch durchfahren bis Augsburg und Frankfurt.

Also bis bald. Dein Carl.


1 Spitzname für Beckers Jüngsten, Hellmut. BB

2 franz. schamlos

3 Wohl der weiter unten genannte Landé, Beckers Mitarbeiter im Ministerium, MR in der Abteilung U II (Höheres Schulwesen) 1926