sonstige Briefe, 1924-30

 

116. C.H.B. an seinen Pariser Freund (vgl. Jugendbriefe). Bonn, Drachenfelsstr.12, o.D.

(Entwurf)

Cher ami,

Mon amitié a survécu la guerre et il y avait pendant ces longues années de silence pas de semaine, pas même de jour où je n’ai pas pensé à vous avec la même tendresse paternelle, qui régnait entre nous, et j’ai détesté le sort qui nous séparait.

Votre bonne lettre m’a révoqué les temps inoubliables passés ensemble au soleil de la Grèce et aux dunes des Pays-Bas. Je vous serre la main, qui vous êtes entrés dans la première ligne des générations par la mort de feu votre père et des Eslagat, par la mort de notre maître (illisible). Restons fidèles au double lien, qui nous unit, à l’amitié qui nous soit chère sans nous faire survoir les divergences de nos patries, et à la sienne commence qui dans sa véritable intellectualité exige la collaboration de tous dans l’intérêt du progrès de l’humanité.

Ma santé ne permet pas une activité (illisible, scientifique?), je me suis mis à la disposition de mon gouvernement dans le service civil. Je suis entré au ministère dans le département des universités. La révolution m’a trouvé le seul membre du ministre qui n’était pas issu de la majorité monarchique. Comme tel la confiance des autorités nouvelles, j’ai réussi à sauver les bonnes traditions académiques à tous les orages de la débâcle générale. Je me trouve maintenant à la tête de l’administration de l’industrie publique en Prusse.

Pendant le court espace de six mois j’étais chargé des fonctions d’un ministre dans un cabinet de transition.

Je sui resté un homme académique sans prétention politique. Mon devoir appartient à la reconstruction des formes morales et intellectuelles de ma pauvre patrie. Le peu de temps qui me reste est voué aux études islamiques et à mes cours à l’université.

Recevez mes meilleurs remercîments pour le chef d’œuvre que vous avez bien voulu m’envoyer. Votre essai est un livre de la plus haute importance, digne à être comparé avec les meilleures publications de nos (?illisible). Un de mes amis islamisant venait de faire une thèse sur Hassan Bassi (?). Il était bouleversé mais en même temps plein d’admiration en lisant votre livre.

Dans ma famille, j’ai subi une grosse perte. J’ai perdu à l’âge de 76 ans ma mère à qui me liait un attachement unique. Mon fils aîné a seize ans, le cadet neuf. A l’âge de quatorze une fille possède le cœur de son père. Tous sont grâce à Dieu malgré les difficultés alimentaires dans un état de santé satisfaisant.

Votre dernier mot parvenu à moi via Schenck m’a accompagné dans ces années, pleines de gloire et de déception comme vademecum boni augurii. Je vous remercie de l’avoir repris maintenant. Rien ne pouvait mieux exprimer mes propres sentiments. (CHB)

 

117. C.H.B. an die Verlobte von F.B. Berlin, 30.5.1924

(Maschinenkopie)

Hochverehrte gnädige Frau!

Ihre freundlichen Zeilen geben mir die gewünschte Gelegenheit, Ihnen wieder einmal etwas Mut zuzusprechen; denn ich weiß von F.B. und sehe es ihm an, wie sehr er und Sie unter der Vorstellung einer ungeklärten Lage leiden. Erlauben Sie mir, die Verhältnisse einmal mit voller Objektivität und Nüchternheit zu betrachten.

Zunächst kann ich nicht zugeben, daß sich die äußeren Lebensverhältnisse seit unserer Korrespondenz so gar nicht geändert hätten Materiell ist F.B. besser gestellt wie ein junger Studienrat. Gewiß ist seine Stellung nicht pensionsfähig, aber seine Bezüge sind doch nur in der Theorie kündbar; soweit ich die Geschichte des Ministeriums kenne, ist ein solcher Lehrauftrag noch nie gekündigt worden. Die Stelle ist mindestens so sicher wie irgendeine, die er im Wirtschaftsleben finden könnte, ganz abgesehen davon, daß Bezüge wie die seinigen auch dort nicht mehr ganz so leicht zu haben sind und man auch dort nicht von heut auf morgen Prokurist oder Direktor wird.

Gewiß, Schätze verdient man in der akademischen Laufbahn überhaupt nicht, aber im Kreise der Beamten, auch der höheren, nimmt der Professor mit seinen großen Ferien, seiner Freiheit, seinen immerhin erheblichen Bezügen eine bevorzugte Stellung ein. Entsprechend schwierig und langwierig ist dafür der Zugang. Wer aber in jungen Jahren schon so viel Anerkennung und materiellen Erfolg gefunden hat wie F.B., braucht sich wirklich um 1-2 Jahre früher oder später erreichter Pensionsfähigkeit nicht zu sorgen. F.B. würde sich wohl auch kaum grämen, wenn ihm nicht von außen her das Leben immer wieder schwer gemacht würde. Mir und anderen mit den Verhältnissen und seinen Zukunftsaussichten Vertrauten ist es schlechterdings unerfindlich, warum Sie nicht heiraten, sondern sich in immer neuen Quälereien verzehren, bis die Pensionsfähigkeit oder die Anstellung erreicht ist. In akademischen Kreisen wird ganz allgemein auf einen solchen Lehrauftrag hin geheiratet, namentlich wenn er so gut bezahlt ist wie der F.B.’s, d.h. sich in der Höhe von einer Anfangsprofessur kaum unterscheidet. Was nun eine Berufung betrifft, so war es längst mein Wunsch, F.B. eine Stelle für Islamkunde am Orientalischen Seminar zu geben. Durch Intrigen, die aber nicht gegen ihn, sondern gegen mich gerichtet waren, ist der Reformplan für den Augenblick zurückgestellt und dadurch auch seine Ernennung hinausgeschoben. Für F.B. besteht meines Erachtens aber gar keine Sorge, da die Pläne meiner Gegner einen noch weiteren Ausbau fordern als die meinigen, unter allen Umständen also für sein Fach eine Besetzung stattfinden wird, und da ist er der gegebene Kandidat. Nur wird nun noch etwas verhandelt werden müssen, worüber ½ -1 Jahr vergehen kann.

Unabhängig davon steht die Frage seiner Ernennung zum A.O. Professor. In Bayern wird jeder junge Privatdozent in der Ochsentour zum a.o. Professor ernannt. Das ist ein reiner Titel, den wir gar nicht bewerten. Solche Leute sind für uns doch nichts anderes als Privatdozenten. Der preußische a.o. Professor wird nur nach frühestens 6 Jahren Lehrtätigkeit und auch dann nur an Leute verliehen, die nach Ansicht ihrer Fakultät die Qualität zum Ordinarius besitzen. Obwohl F.B. noch lange nicht das übliche Dienstalter besitzt, wird doch seine vorzeitige Ernennung ernstlich von der Fakultät erwogen. Hierbei ist nun erschwerend, daß seine wissenschaftliche Produktion etwas aus dem Rahmen der üblichen Anwärter hinausfällt, da er sich bemüht hat, neue Wege zu gehen. Nun verlangen aber die Fakultäten ein gewisses Ausgewiesensein nicht nur in der Wissenschaft schlechthin, sondern in den Fächern, für die bestimmte Professuren bestehen. Vielleicht ist da F.B.’s Beschränkung auf Türkisch und Persisch eine gewisse Hemmung, seine Beförderung allzufrüh vor der Regelzeit zu voll-ziehen. All das sind aber nur Schwierigkeiten des Anfangs. Später wird das alles vergessen sein.

Eine letzte Frage ist seine Berufung auf ein Ordinariat. Dafür muß zunächst eine Stelle freiwerden und da kommen ja auch außerpreußische Universitäten in Frage. Ich beurteile seine Chancen sehr günstig, eine feste Gewähr kann dafür kein Mensch übernehmen. Jedenfalls sind seinen Chancen in jedem anderen Beruf ungleich geringere und von sehr viel mehr Glücksfällen abhängig, als wenn er bei der Stange bleibt, wo ja auch seine innere Ein-stellung ihn hält. Aufhören muß aber meines Erachtens, und zwar schleunigst, der unerträgliche Zustand, daß die mangelnde Sachkenntnis Ihrer Angehörigen auf Sie drückt und dadurch die Nerven F.B.’s in Grund und Boden gewirtschaftet werden. Ich bin der Meinung: Heiraten Sie und richten Sie sich bescheiden ein. Bescheiden und entbehrungsreich wird es sein – so haben die Ehen aller großen Gelehrten begonnen, die jetzt die Welt mit ihrem Ruhm erfüllen. Ich weiß, was das auch von der Frau verlangt. Trauen Sie sich die Kraft zu, dann machen Sie schleunigst dem jetzigen unerträglichen Zustand ein Ende. Anstellungsdekrete und Professorentitel machen nicht das Glück der Ehe. Die Chancen sind da – greifen Sie vertrauensvoll zu – oder trennen Sie Ihre Wege, wenn Ihnen dies Vertrauen fehlt, aber der jetzige Zustand führt zur Katastrophe. Das sollten sich die sehr genau überlegen, die Ihrer Ehe widerstreben. Das Mißtrauen gegen F.B. ist menschlich wie beruflich völlig abwegig.

Mit herzlichen Wünschen Ihr ganz ergebener CHB.

 

118. C.H.B an seine Ministerkollegen. Berlin-Steglitz, 10.8.1926

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident. (Kollege)

Anliegend erlaube ich mir Ihnen zu Ihrer persönlichen Kenntnisnahme eine Aufzeichnung zu überreichen, die ich über meine ungarische Reise gemacht habe. Sie ist nicht zur Veröffent-lichung bestimmt.

Mit verbindlichen Empfehlungen Ihr sehr ergebener C.H.B

Vorstehendes Schreiben erhalten:

  • Preußischer Min.Präs. Braun
  • Finanzminister Dr. Höpker-Aschoff
  • Min.für Handel u. Gewerbe Dr. Schreiber
  • Justizminister Dr.am Zehnhoff
  • Min.f.Landwirtschaft u.Forsten Steiger
  • Min. für Volkswohlfahrt Hirtsiefer
  • Min. des Innern Severing
  • Reichsmin. des Innern Dr.Külz
  • Reichmin.des Äußeren Dr.Stresemann
  • Gesandten und bevollm. Min. Freiherr von Schoen, Budapest, Gesandtschaft

(Leider liegt der Bericht nicht bei. BB)

Minister C. H. Becker mit seinem Gast Rabindranaht Tagore
Minister C. H. Becker mit seinem Gast Rabindranaht Tagore 1 Rabindranath Tagore, Bengali, *1871 Kalkutta +1951 Kalkutta

 

119. Rudolf Wischnewsky an C.H.B. Berlin, 29.1.1929

Sehr geehrter Herr Minister!

Die Weihnachtsferien, die mit dem Tanzfest im Ministerium so schön eingeleitet wurden, sind nun leider auch vorüber. Ich hatte die Unverfrorenheit jetzt vor dem Examen volle drei Wochen Ferien zu machen, die chemisch mir waren wie Medizin, fast sogar an jeden Gedanken an Medizin.

Ich hoffe, daß es Ihnen gelungen ist, wenigstens für wenige Tage die geplante Fiktion auf-recht zu erhalten, als läge Steglitz ganz weit weg von Berlin und dem Kultusministerium. Ich war in den Ferien zuerst ein paar Tage in Breslau, dann in Neiße bei meinen Schwestern und schließlich noch 10 wundervolle Tage in Oberschreiberhau bei meinem Bruder, der dort Kaplan ist.

Diese 10 Tage waren die eigentlichen Ferien, denn ich konnte beinahe alles tun, was ich in Berlin, also „im Dienst“ nicht tun kann und so gern tun möchte. Es war herrlich. Konnte ich nicht skiern, so konnte ich doch rodeln und als dann sogar der Schnee fast ganz wegtaute, war auch gleich richtiges Frühlingswetter. Ich kam auch wieder einmal dazu, in Ruhe zu lesen. Mein Bruder ist wie ich ein Büchernarr und da hatte ich reichlich Auswahl. Ich las 2 Bände wundervolle „Römische Briefe“ von Konrad von Schlözer. Ich bin überrascht und beschämt von der unglaublichen umfassenden Bildung dieses Mannes Und die billige Ausrede, das wäre doch alles nur formale Bildung will hier gar nicht verfangen. Alles ist mit so viel Anmut und Wärme geschildert, daß man als ganz sicher empfindet, daß all die Liebe und Begeiste-rung Schlözers für Roms Kultur ein Bestandteil seiner Persönlichkeit waren, nicht nur so ein formales „Bescheidwissen“. Glauben Sie nicht auch, daß diese Leute aussterben? Dann las ich Lettenbauers „Friedrich der Große“. Ich habe ihm aus ganzer Seele zugestimmt. Ich glaube auch, um zu sehen, daß Friedrich der Große ein großer Mensch war, braucht man nur seine Totenmaske anzusehen. Für mich ist das Buch „Das ewige Antlitz“ und besonders die Masken Friedrichs und Beethovens geradezu eine Apologie der Menschheit. Ich finde diese Gesichter sind Schranken für den modernen Relativismus. Wenn es auch nur zwei wirklich Große gab, dann reden die Literaten mit aller subtilen Analyse am Wesentlichen vorbei. Verzeihen Sie bitte diese Ihnen vielleicht etwas hitzig erscheinenden Sätze. Aber es ist eines der Themen, über das ich mich immer errege und – nicht mehr –es ist die Frage überhaupt, ob Friedrich der Große nur ein etwas weniger ausgesprochener Teufel (?) war als Herr Hugenberg, und Christus nur ein eben ein etwas begabterer Phantast als Lenin, oder ob nicht da doch Unterschiede qualitativer Natur bestehen.

Jetzt komme ich natürlich wieder kaum noch zum Lesen. Denn obwohl ich bis jetzt mit gänzlich unberechtigter Gelassenheit dem Examen entgegensehe, muß ich doch arbeiten. Man liest jetzt wieder einmal in der Zeitung viel vom Kultusministerium und so weiß ich, daß es auch Ihnen an Arbeit nicht fehlen wird, die wahrscheinlich zum Teil noch weniger erfreulich ist, als Arbeit für ein Examen.

Ich bitte Sie, mich Ihrem ganzen Hause zu empfehlen und bleibe Ihr, Ihnen, sehr verehrter Herr Minister, sehr ergebener Rudolf Wischnewsky

 

120. Handschriftlicher Entwurf eines Briefes an Herrn Rahmann von C.H.B

Besprechung des Buches von Höhn „Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front“. Marienbad, Hotel Weimar, 25.7.1929

Hochverehrter Herr Rahmann!

Als ich Ihnen am 11. Juli kurz vor meiner Abreise eine kurze Empfangsbestätigung des mir mit einigen handschriftlichen Zeilen übersandten Buches von Höhn „Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front“ zugehen ließ, hatte ich gleich die Absicht, Ihnen nach der Lektüre des Buches ausführlicher zu schreiben. Wenn ich das heute aus der Stille meines Kuraufenthaltes heraus tue, so geschieht dies nicht nur, weil mich das Buch sehr lebendig interessiert und mich zum ersten Mal systematisch mit Ihrem politischen Wollen bekannt gemacht hat, sondern auch weil ich bei unserer ersten Begegnung aus Ihren Ausführungen und der Schnelligkeit Ihres Verstehens einer von Ihnen vorher vielleicht anders beurteilten Lage die Überzeugung genommen habe, daß die Sache wie (unleserlich? Führen) eine ernste Auseinandersetzung verdienen. Ich brauche wohl nicht besonders betonen, daß dieser Brief kein amtlicher, sondern ein persönlicher ist und sich auch nicht an den Großmeister des preußischen Ordens, sondern an den Schöpfer einer neuen politischen Idee wendet.

Vorausschicken möchte ich, daß ich keiner politischen Partei angehöre, mich persönlich zur Demokratie, aber nicht zur Demokratischen Partei bekenne; daß ich früher überzeugter Monarchist war, nach den Erfahrungen der letzten 15 Jahre aber ebenso überzeugter Republikaner geworden bin. Meine Arbeit war immer kulturpolitisch. Ich vertrete die Überpartei-lichkeit der Kulturpolitik, weil alle Teile unseres Volkes an der Erhaltung und Erhöhung unseres kulturellen Wissens gleichmäßig interessiert sind Die sachliche Einstellung muß natürlich, um wirken zu können, mit den politischen Machtverhältnissen (Einvernehmen her-stellen). Die Schule ist nun einmal ein Politicum. Die Auffassung von meinem Amt ist die des Treuhänders. Die polit(ischen) Einflüsse können nicht ausgeschaltet werden, deshalb müssen sie paritätisch ausgeglichen werden. Die Verfassungsmäßigkeit der Republik steht außer Frage, ihr muß auch die Schule dienen. Die Schule darf aber nicht das Instrument des polit(ischen) Machthungers einzelner Parteien werden. Im Unterrichtsministerium müssen alle nicht 2staatsfeindlichen Kräfte zu Gehör und Auswirkung kommen. Das wird von den Linksparteien gelegentlich mißverstanden. Die Stimmenthaltung einiger Sozialdemokraten bei dem jüngsten Mißtrauensvotum gegen mich wird durch den Vorwärts damit begründet, daß ich einen Reaktionär auf einen leitenden Posten gesetzt hätte. Richtig ist, daß ich neben Vertretern der SPD, des Z(entrums) und der liberalen Kreise auch einen bewußten Vertreter der evang(elischen) Konfessionsschule, der zufällig d(eutsch)nat(ional) ist, in den Kreis meiner schulischen Berater aufgenommen habe. Es war der klare Ausdruck meines politi-schen Wollens. Diese Treuhänderrolle ist aber nur so lange möglich, als die Eigensucht der Parteien keinem ausgesprochenen Parteivertreter das wichtige Kultusministerium gönnt; kommt auf irgend einer Basis ein alle Reg(ierungs)parteien befriedigender Ausgleich zustande, ist die Politik des Treuhändertums und der Sachlichkeit zu Ende und auch das Bildungsministerium wird zum Objekt der parteipolitischen Machtverteilung. Ich habe das gleich eingangs ausgeführt, weil es meine Stellungnahme zu Ihren Vorschlägen verständlich machen wird.

Weiter möchte ich vorausschicken, daß ich viele Voraussetzungen des Höhn’schen Buches bejahe:

    1. die Unmöglichkeit unserer parlamentarischen Zustände, begründet durch die Übertragung für das individualistische liberale Zeitalter geschaffenen Formen auf den modernen Massenstaat,
    2. die Idee des Staates als lebendig sich erneuernden Organismus mit weitgehender Anerkennung der Smend’schen Integrationslehre, zu der ich mich auch schon in einem Aufsatz bekannt habe. Die Gleichheit unserer Auffassung geht hier so weit, daß ich die Formel „Der Staat sind wir“ mit all seinen Konsequenzen in zahlreichen Reden variiert habe, immer vom Dienst, nicht vom Nutzen aus gesehen.
    3. Auch ich anerkenne die Gemeinschaft als das Höhere, wenn ich auch das Schöpferische nur dem Individuum zusprechen kann, bis zum Volkslied hinab.
    4. Den Gedanken des Zellenaufbaus des Staates halte ich auch für richtig, auch ich glaube, daß nicht die Zweckmäßigkeit respektive die rationale Vernunft, sondern der irrationale Mythos aufbauende Kraft besitzen.3

Aber hier setzt, im Kern Ihrer Lehre, auch meine Kritik ein. Ihre Lehre kontrastiert wunder-voll Interesse und Mythos. Dem Mythos der „Nachbarschaft“ steht das Interesse der Parteibildung gegenüber. Ich bin mein ganzes vorministerielles Leben Religionsforscher gewesen und verstehe etwas vom Mythos und ethnischem Kollektivismus. Für mich liegt die Schwie-rigkeit darin, daß in der primitiven Zeit Mythos und Interesse noch nicht geschieden waren, daß vielmehr auch das materielle Interesse nur in der Form des Mythos Gestalt gewinnen konnte. Auch die altgermanische „Nachbarschaft“ von Sippe oder Sen (?) oder Genossenschaft waren eben nichts anderes als Interessenverbände, die noch als myth(ische) Gemeinschaft empfunden werden konnten, weil die Interessen noch nicht wirtschaftlich oder weltanschaulich differenziert, sondern identisch waren. In jedem solchen Mythos steht aber zugleich ein Interesse. Nun bin ich ganz Ihrer Meinung, daß die differenzierten Interessen nur durch einen mythischen oder wie sonst immer zu benennenden, aber jedenfalls irrational begründete Gemeinschaftlichkeit überwunden werden können, ja müssen, aber so einfach ist die Sache denn doch nicht., daß man nur den neuen Mythos der Nation zu proklamieren brauchte, um alle Parteien und Klassen ihre Interessen vergessen zu lassen.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Ihre Zellentheorie mit der sich daraus ergebenden Fritzermanslex (?), dem seit langem praktizierten Ausleseprinzip der SPD zum Verwechseln ähnlich ist. Es ist das Prinzip der sog. „Zahlabende“. Zahlabende sind nichts anderes als ihre „Nachbarschaften“. Da kennt man sich, da spricht man sich über alle Tagesfragen aus. Nur wer sich hier bewährt, hat Aussicht emporzusteigen und ein Mandat zu erlangen. Das ist der Grund, warum Akademiker es so schwer haben in der SPD aufzusteigen, weil nur auf den Zahlabenden, die für Gebildete manchmal mordslangweilig sein sollen, das nötige Vertrauen erworben werden kann.4 Einer meiner jüngeren Freunde ist diesen Weg gegangen und wird dann auch nach etwa 2jähriger Tätigkeit als Vertrauensmann seiner „Nachbarschaft“ bestimmt, die Parteileitung des Ortes bei der Aufstellung der Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zu beraten. Sie sehen genau Ihr System, nur mit dem Unterschied, daß eben die „Nachbarschaft“ wohl einen beschränkten örtlichen Bezirk, aber unter der Voraussetzung der Zugehörigkeit zur SPD, d.h. also einer Interessengemeinschaft darstellt.

Halten Sie die beiden letzten Gedankengänge zusammen, so ergibt sich die angenehme Schwierigkeit, örtliche Zellen zu schaffen und zwar tragfähige Zellen, denn auf ihnen ruht ja das ganze Gebäude Ihres Staates, während beider ersten Ansprache innerhalb einer Zelle, die ja wohl durch Staatsgesetz als für alle Interessenten und Parteien verpflichtend mit lokalen Grenzen stabilisiert sein müßte, das ganze Wesenshafte(?) unserer differenzierten Kultur zum Ausbruch kommen würde. Lassen Sie aber die Zellen wie bisher in Ihren Reden unter lokalen Führungspersönlichkeiten entstehen, wie alle „Bünde (?), so haben Sie darin doch immer nur einen Teil des Volkes organisiert, d.h. Sie schaffen eine neue Partei. Es wird also alles von der suggestiven Kraft Ihrer Lehre abhängen – denn Gewalt wollen Sie ja offenbar nicht anwenden -, aber gerade wenn es ein freier Kampf der Geister wird, unterschätzen Sie nicht die angenehme Macht der letzthin in den Parteien organisierten großen Interessenverbände. Gerade meine persönlichen Erlebnisse – damit komme ich aufmeine Eingangsvoraussetzungen zurück – haben mich belehrt, daß die Macht der Parteien5 nicht absondern zunimmt und daß gerade das allgemeine Geschimpfe über sie nur ein Beweis dafür ist, wie allmächtig sie geworden sind. Ich bin bestimmt der letzte parteilose Kultusminister und nur möglich, weil ich in der Übergangszeit gerade da war und die Beuteverteilung vorübergehend nicht glatt ging. Wäre ich Marxist, so könnte ich das Parteiregiment mit der kapitalistischen Wirtschaft vergleichen: es muß erst seinen Höhepunkt erreichen, ehe es durch die neue Ordnung der Dinge ersetzt werden kann. Aber gibt es nicht zu denken, daß Marx6 ein falscher Prophet ist?

Bitte nehme diese Zeilen als Ausdruck meines großen persönlichen Interesses an Ihrem politischen Wollen und zugleich als Dank für das wertvolle Höhn’sche Buch. Ich würde mich sehr freuen wenn ich nach meiner Rückkehr einmal Gelegenheit hätte, Ihre Ideen mündlich mit Ihnen zu erörtern. Ich ringe auf dem Gebiet der Schule mit ähnlichen Ideen, aber gerade deshalb sehe ich auch so scharf. Und fest (auf) die schicksalhaften Grenzen, die der größten Gläubigkeit gezeigt sind.

 

121. Ulrich Nyack an C.H.B. o.O. 30.1.1930

Mein lieber Carl!

Wenn es Grimme7 würde, so wäre das wenigstens ein gewisser Trost. Ich sah ihn vor zwei Jahren, als er auf Deinem Presse-Tee das beste Referat über die Verfassungsfeiern in den Schulen hielt, und er machte ja wirklich einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Dir wird es den Abbruch Deiner Arbeit erleichtern, wenn Du sie den Händen eines solchen Mannes, eines solchen Menschen anvertrauen kannst.- Aber vielleicht ist auch dies wieder nur falscher Alarm. Wenn ich doch jetzt bei Dir wäre und Du nur die Kungler fünf Minuten vor Beginn der Tagesarbeit erzählen könntest, wie in den beiden unvergeßlichen Wochen, die ich im Ministerium verbrachte. So ahne ich ja nicht, welche besonderen Momente mitspielen, und vielleicht den Ausschlag geben. Gern wüßte ich, ob die Kandidatur Grimme nicht vielleicht sogar Deine Idee ist, als menschlich-politisch beste Lösung für den Fall, daß Dein Rücktritt doch unvermeidlich würde. Ich trauere ja doch um „unseren“ Kultusminister und mit mir wird es der ganze Kreis tun und gewiß nicht minder!

Aber ob es Dir nicht sogar zu wünschen wäre, wenn Du etwas zur Ruhe und Freiheit kommst, das ist eine andere Frage. Was wohl für Pläne über Deine künftige Position bestehen? Ob von etwas Anderem die rede ist, als von wissenschaftlicher Heimkehr? Eigentlich wäre es ja unsinnig, Deine Erfahrung brach liegen zu lassen. Aber das brauchtest Du ja in keinem Falle zu tun. Ein politisches Buch von Dir – vielleicht doch eine Autobiographie im Rahmen zehnjähriger preußischer Kulturpolitik – wäre wahrhaft zu wünschendes Ereignis.

Erst 14 Tage sind es her, seit Du hier warst, und längst wollte ich Dir noch einmal von Herzen für Deinen Besuch danken, der einzigartig schön und erquickend für den von der Berliner Zentralsonne abgeschleuderten „Privatgelehrten“ war. Wie lange ich diese Rolle noch spielen darf, die ein wahrer Segen für mich in diesen Jahren wäre, wird sich bald entscheiden. Moltke schrieb mir vorgestern, daß Stowser (?) jetzt ein Kabel mit Antwort an Deinen amerikanischen Becker senden wird, um zu wissen, was er finanziell erreicht hat. Wird es nichts, so muß ich aber am 1. Mai die Assistentenstelle antreten, und ich hoffe nur das eine, daß Richter dann auch das Privatdozentenstipendium, wie stets bisher, erneuern wird, denn von den 300 Mark des Assistenten könnten wir gar nicht hier existieren. Aber man soll nicht Sorgen vorwegnehmen, die vielleicht gar nicht eintreten; unwillkürlich zerbricht man sich aber als Familienvater den Kopf darüber, was kommen könnte und was dann gemacht werden müßte.

Vorläufig plane ich noch, zum Historikertag nach Halle zu gehen, da ich ja dort voraussichtlich bei Pallots wohnen kann. Überhaupt komme ich von Mitte März bis Mitte April nach Berlin bzw. vom 20. März an. Dann bist Du doch jedenfalls noch da? Sonst versuche ich, wenn es geht, früher zu reisen! (Ich will bei Farkas(?) meine Vorlesung vorbereiten!)

Kürzlich hatten wir einen sehr interessanten Abend bei Heinrich Simon, der uns auf Empfehlung von Schairer zu einem Abendessen im kleinen Kreise einlud, darunter der recht langweilig aufgedrahtete Kasimir Edschmid. Simon selbst aber war reizend und begeistert, in mir einen Neffen Otto Erich Hartlebens zu treffen; er erzählte mir und zeigte mir sehr Interessantes von Hartleben, z.B. einen Brief von ihm an seine Gardasee-Frau über Steiner, der so betrunken nach Hause gekommen sei, daß er einen Brief an Hartleben von dieser Frau, den er weiterbefördern sollte, nicht einmal liegen gesehen habe, daher die verspätete Antwort! Usw. Simon hatte den Brief schalkhafterweise veröffentlichen wollen, als Steiner noch lebte – aber in dem Augenblick starb er, und da fand er es zu häßlich.

Im übrigen steht alles gut bei uns. Wenn ich nur bald auch von Dir hörte. Ich denke mir, Du wirst jetzt vor allem Gewißheit wünschen. Sobald auch ich sie habe, werde ich Dir wieder schreiben. Ich bin so sehr mit allen Gedanken bei Dir. Bitte grüße auch die Deinen allerbestens von uns.

„Mit Willen und für immer Dein Schuldner“. Ulrich

 

122. C.H.B. an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Berlin, 7.7.1930

(Herrn Minister Grimme?) (Maschinenkopie)

Am 18.August d.J. beabsichtige ich, eine längere Studienreise nach den Vereinigten Staaten anzutreten, wohin mich mehrere Universitäten zu Vorträgen eingeladen haben. Da es mir nicht möglich sein wird, zu Beginn des Wintersemesters zurück zu sein, bitte ich hierdurch, mir einen Urlaub für den Monat November zu bewilligen. Ich rechne damit, Anfang Dezember meine Vorlesungen aufzunehmen.

Ich beabsichtige, die Reise im allgemeinen persönlich zu finanzieren, wäre aber trotzdem dankbar, wenn mir aus dem Fonds des Ministeriums eine Reise-Unterstützung bewilligt werden könnte, da ich – namentlich zur Vorbereitung der Reise und Bestreitung der Reisekosten – ziemlich erhebliche Mittel flüssig machen muß und auch die mir zufließenden Vergütungen im einzelnen noch nicht feststehen.


1 Rabindranath Tagore, Bengali, *1871 Kalkutta +1951 Kalkutta

2 Hervorhebung vom Herausgeber.

3 Strukturierung vom Hersausgeber.

4 Das hat sich bis heute nicht geändert…

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

6 Hier handelt es sich natürlich um Karl Marx.

7 Hans Grimme *1889+1963, SPD-Politiker und als Pädagoge ein entschiedener Schulreformer. Nachfolger Beckers 1930-33

Polterabend von Sophie Andreae und Alexander Becker, 29. Juni 1905

Becker, C.H. Nachlass, Geheimes Staatsarchiv Berlin. Rep 92 Becker 8552
Frida und Alexander
Frida und Alexander
Polterabend
Polterabend-Programm

1. Ihr seht in mir den Telephon

Den Höhepunkt der Zivilisation
Ich will dem Spiegel seinen Rang nicht streiten
Dieweil er ja der Ältere von uns Beiden
Doch halte ich mich für viel interessanter …
Der Spiegel ist ja manches mal pikanter
Doch gebt Ihr mir wohl alle darin recht
Daß oftmals, was der Spiegel zeigt, nicht echt.
Es herrscht ja anderseits auch darin Klarheit
Daß auch das Telephon nicht immer hört die reine Wahrheit
Der Spiegel zeigt Euch aber nur die äußere Gestalt
Ich kenne nur den inneren Gehalt.
Und, daß der Schein trügt, das beweist genau
Der Alex hier und seine kleine Frau! …
Ich kenne dich mein liebes Kind schon lange
Und hoffentlich wird Dir gehörig bange
Denn wenn ich reden wollte, könnt ich ihm und Dir
Verderben noch das ganze Festplaisir
Ich glaube, daß in Dein vergangenes Leben
Wohl keinem größrer Einblick ward gegeben
Wie mir, denn Du hast viel durch mich gesprochen
Und manches hast in Deinem Leben Du verbrochen
Nach jenem Ball in Deiner Vaterstadt
Des Morgens bei mir angeklingelt hat
5007 bitte schnell
Ertönte Deine Stimme glockenhell.
Da wohnt die brave Helly Schmidt,
Der teiltest Du dann Deine Sünden mit.
Das war dann ein Gehetschel und Getratsch
Und ein Geschnatter und Geklatsch.
Herrgott, was hab ich da nicht all vernommen:
Es war um graue Haare zu bekommen.
Na, fürchte nicht, daß indiskret ich werde.
Es ist ja nichts vollkommen auf der Erde.
Dein Alex ist ja auch nicht grad ein Engel,
Er ist sogar ein ganz verflixter Bengel.
Und schließlich muß ich auch gestehn
Daß seit den Engel Du gesehn
Und auch seit er in Dich sich hat verliebt,
Es für Euch Beide wieder Hoffnung gibt.
Drum will auch ich Euch meinen Segen geben:
Ich wünsche Euch ein frohes langes Leben.
Euch Beide brauche ich wohl nicht mehr zu verbinden,
Ihr werdet Euch viel lieber ohne mich zusammen finden.
Und vor der Schwiegermutter in der Niederauen
Da brauch’s Euch gar nicht mehr zu grauen.
Wenn die Euch gar zu oft am Telefon will sprechen,
Dann werde ich ganz ruhig die Leitung unterbrechen.
Da klingelt’s … Ich muß fort! Seid’s immer froh mitsamt
Donnerwetter, ja ich komm ja schon! …
Hier Amt! …

2. Der Spiegel

Der Wahrheit Stempel
Der Bosheit Tempel
Der Eitelkeit Siegel …
Ich bin der Spiegel.

Der Spiegel ist, wie die Sprache sagt
Ein Mann – Gott sei es geklagt,
Und Weiber, seien’s auch noch tolle,
Die passen nicht für diese Rolle.
Der Mann sieht die Dinge tel quel, wie sie sind,
Die Weiber, wie Strauße, sie stellen sich blind
Und finden, daß des Spiegels Konterfei
Unvorteilhaft, zu wenig schmeichelhaft sei.
Was wollt Ihr aber, daß ich mache?
Bei mir ist Indiskretion Ehrensache
Und von dem vielen Umgang mit Frauen
Gewöhnt ich mich, nur auf das Ä u ß e r e zu schauen.
Doch keine Angst, vor der Tür da wartet schon
Was Euer Innres aufdeckt – das Telefon.

Zuerst seh ich natürlich die Toilett’,
Und gern bekenn ich: die ist wirklich ganz nett.
Überhaupt, mit Toiletten und Modesachen
Ist bei Dir mit Kritik nicht viel zu machen.
Denn außer Chic hast Du sogar Mut,
Denk nur an den berühmten „Babyhut“!
Bahnbrechend hast Du die Mode kreiert,
Noch von späten Kritikern wirst Du zitiert.
Seit lange Dich der Babyhut schützt,
Aber sprich: Hat er eigentlich genützt?
Der Augenschein gibt mir bedenken,
Das Weitere will ich mir – und Dir schenken.

Und unter dem Hute, da lodert’s und brennt’s
Wie Flammen des feurigen Elements;
Rötlich schimmert es durch die Nacht
Als Dich einst der Storch gebracht.
Und noch heut, daß man Dir die Wagnerschwärmerei glaubt
Trägst Du den „Feuerzauber“ gleich auf dem Haupt.
Stolz bist Du auf Deiner Schultern Breite,
Auf die 56 cm Taillenweite …
Von Neuem kann ich es froh bekennen:
Man muß Dich gut gewachsen nennen.
Was sind die Duncan, Saharet, Madeleine,
Wenn wir die Sophie Andreae sehn? …
Wenn sich die anderen quälen und schwitzen,
Da wo die Mütter als Drachenburg sitzen,
Schwebt sie, wenn sie der Alex führt,
Ohne daß sie den Boden berührt,
Weich, biegsam und doch wieder keck,
Kurz, mit so ’nem gewissen „avec“:
Die früheren Größen gehören zur Masse
Seit Sophie tanzt; denn sie tanzt „Klasse“.

Als Du, Jüngling, zuerst in mich geschaut,
Warst Du fröhlich noch ohne Braut,
Aber dafür mit sehr viel mehr Haar,
Was entschieden zu Deinem Vorteil war.
Entweder hast Du sehr viel gedacht,
Und nächtelang über den Büchern gewacht;
Oder Du hast bei Austern, Sekt und Kaviar
Verschlemmt und verloren Dein üppig Haar.
Oder wär’s in des Sommers Hitze
Die schwere 17er Husarenmütze?
Oder kommt’s gar vom Cigarettenqualmen
Schon rauscht es in den letzten Schachtelhalmen
Und verdächtig leuchtig das Meer …
Bald gibt es keine Schachtelhalme mehr.
Und hell erglänzt an ihrem Platze
Das unbegrenzte Meer der Glatze.
Bei Herren und Damen
Mit griechischen Namen
Gehört griechisch Profil,
So will es der Styl.
Zuweilen aber zeigt sich auch,
Daß Namen sind bloß Schall und Rauch.
Denn wie Euer edles Beispiel lehrt:
Ein griechisch Profil ward Euch nicht beschert.

Noch manches voll Bosheit wollt‘ ich hier sagen,
Aber die Zensur der Frau Generalkonsul hat’s unterschlagen.
Sie erschrak über die Wahrheit in meinem Munde
Und wollt mich zerschlagen noch in letzter Stunde.
Ich kam davon mit dem bloßen Schreck,
Sie aber hat ein verstauchtes Handgelenk weg.
Und die Moral von der Geschicht‘:
Man ärgere sich über des Spiegels Wahrheit nicht.
Nein, vielmehr wünsch ich Sophie und Alexandern:
Seid ehrliche Spiegel einer dem andern.

3.

Frau Eckert:
Gott verdeppel Frau Hüter, so a Geschicht is mer wer noch gar net vorgekomme obgleich ich bald 20 Jahr in de erste Häuser von Frankfort herumkomme bin un doch schon manches gehört hab wie es sich denke kenne.

Frau Hüter:
Was is denn los Frau Eckart?

Eckert:
Was los is? Mischucke sein se all mitnanner, die Mädercher von ganz Frankfort … Alle wolle se heirate un all uff ein Dag … all uff de erste Juli … stelle se sich so was vor.

Hüter:
Wo haw se dann des her?

Eckert:
Sie wisse doch, ich komm regelmäßig in die Niedenau … zu Andreaes mer heest’s ins klaane Conservatorium, weil früher nie weniger als uff 5 Instrumente Musik gemacht worn is … da haw ich’s gestern von der Köchin gehört.

Hüter:
Hi, in des Haus komm ich ja auch regelmäßig alle Woch 2 mal mit meim Geflügel … es is doch da, wo die klaa wuschlig Rot mit dem Becker verlobt is?

Eckert:
Ganz recht! Also heern se zu. Partu wolle se all uff de erste Juli heirate. Die beste Worte hat mer’n gewe awer kaans läßt sich davon abbringe. Ei, wann der lang Albert … sie wisse ja, der Baron von Königstein sich net mit seiner ganze Läng derzwische gelegt hätt … so hätt es die Lina, sei Dochter, auch noch durchgedrückt, daß se uff de erste Juli ihr Pistörche geheirat hätt.

Hüter:
Ei, krie die Kronk Offebach! So ebbes is ja noch gar net dagewese.

Eckert:
Ich möchte nur wissen, wa se all an dem erste Juli hawe?

Hüter:
Des will ich Ihne sage: Die von Deneufville über der Manbrück die hätt gesagt, der Dag deht ihr so gut gefalle, weil’s grad mitte im Jahr wär … sie meint des deht Glück bringe. Der lange Becker, der alles vom musikalischen Standpunkt aus betracht, läßt sich auch net davon abbringe, weil er behaupt, der Richard Wagner, hätt an dem Tag die Wacht am Rhein, oder sonst e Stück komponirt. Die Sophie oder – wie er sagt – des Zöfche aus dem Conservatorium, die meent widder mer sollt nix aufschiewe … je eher je lieber, denn wenn die Hundstag anfange, da wollte se schon bei de Eisbärn in Norwege sei.

Eckert:
Die Geschicht kennt mer wahrhaftig in die Kreppelzeitung setze. Schad, daß der alt Stolze net mer lebt!

Hüter:
Überhaupt in der Niedenau da haw ich schon was haamlich gelacht, sollte sie es vor möglich halte, daß die klaa Rot noch net emal en Krammetsvogel von ere junge Gans unnerscheide kann … ja … wenn mer uff dene Viecher Klavier spiele kennt, … so wär das schon mehr ihr Fall.

Eckert:
Des is noch gar nix. Von Gemies versteht se so viel wie die Kuh vom Sonntag, se kimmt mer vor wie der Hampelmann. Vom grünen Gemies kennt se nur Rotkraut und Gelberübe, awer auch die kennt se noch net emal von enanner unnerscheide, wenn’s net von weg der Farb wär. Kürzlich hätt se sich so geschämt, daß sich der lange Becker ins Mittel gelegt hätt. Wisse se was er jetz duht? Er fährt Nachmittags in eme große Wage durch die Sachsehäuser Gemüsfelder de Hasepfad eruff un erunner un zeigt er alles aus der Kutsch eraus, damit se wenigstens eh’ se heirat die Spargel vom Spinat unnerscheide kann.

Hüter:
No, begreift se’s dann jetzt?

Eckert:
Beileibe net! An dere is Hoppe und Malz verlorn! … Er hat ihr ausdrücklich gesagt, daß Spargel nur in dene Häufelcher wachse, daß mer se awer oft net sehe kennt. Jetzt meent des dumme Oos, wo se e Häufele sieht, müßte Spargel drin stecke.

Hüter:
Das gibt e Kundschaft, die misse mer uns warm halte, ich habb auch gehört, sie wollte von Andreaes die alt Köchin mit erüber nemme, sie wisse ja, die ich so gut kenn?

Eckert:
Daß err euch nur net verguckt, des Vergnüge für uns wird net lang anhalte. Der lang Becker is ärger, wie e Dutzend Hausfrauen zusammen, der guckt durch en Doppeldiel durch und durch bis hinne widder, – ich fercht, die wern mer net lang roppe kenne. Wisse se , der is in Gelnhause groß worn. Beim nix un beim Bettche dagege läßt sich halt net ankomme. Die Späß hörn für uns von selbst bald uff.Na hoffe mer das beste!

Hüter:
Awer die Affenkomödie mit dene Brautbesuche, die hätte se seh solle. Zweine Wage mit guillotinirte Bediente sin drei Dag lang in der Stadt erum gefahrn. Karte sin in der Luft erumgefloge wie e Kett Hühner. Awer e Brautpaar wa überhaupt net drinn.

Eckert:
Ei wer denn? (Spricht ihr leise ins Ohr)

Hüter:
Ich soll’s ja eigentlich gar net verrate … Während die Lina in Königstein und die Sophieche in Gelnhause sich hawe die Kur schneide lasse, sin die Schwestern, die Wally und Karola mit der Kutsch in Frankfort erum gesegelt (Spricht ihr wieder leise ins Ohr), einmal meint ich sogar, ich hätt die dick Frau Andreae selbst in der Kutsch gesehen, wie se sich mit aller Gewalt ins Eck gedrückt hätt (lacht furchtbar). Beschwörn will ich’s net, ich kann mich auch geirrt hawe.

Eckert:
No jetzt mache se nor, daß se in ihr Kundschaft komme, denn dem viele Gebabbel kimmt doch nix eraus.

4. Was machen wir am Polterabend?

Personen:

H: Fräulein Helly Schmidt – mit natürlicher Anmut

M: Richard Merten – mit angeborener Frechheit

A: Theo Andreae – mit natürlichem Phlegma

B: C.H. Becker – etwas philisterhaft

H.M.A. sitzen zusammen. B., begrüßt alle.

H.
Guten Tag! Das ist ja nett, daß Sie extra aus Heidelberg herkommen, jetzt können wir endlich einmal definitiv über den Polterabend einigen. Nehmen Sie eine Cigarette?

B.
Danke gern. Sehen Sie, der Alex ist ein unglaublicher Frechdachs. Angst davor, daß wir ihm auf dem Polterabend recht mitnehmen hat er gar keine, wohl aber, daß wir’s nicht schön genug machen. Er kann sich’s gar nicht vorstellen, daß so etwas mal ohne seine Mitwirkung von Stapel läuft.

A.
Die Sophie ist übrigens grad so; freilich ist es ja noch nie ohne die Beiden gegangen. Wenn die zwei sich hinstellen, so ist’s von vornherein ein Tingeltangel.

M.
Und was für eins.

B.
Heute morgen sagte mir z.B. der Alex: das machst Du alles ganz unpraktisch. Du bestellst Dir den Ricard und den Theo zur Helly und dann macht Ihr’s zusammen.

H.
Also dem Alex habe ich Ihren Besuch zu verdanken.

B.
Seiner Angst, daß es sonst vielleicht nicht schön genug würde.

A.
Hat er Ihnen nicht gleich ein fertiges Manuskript gegeben, worin er sich über Sophie und sich selbst lustig macht? Das wäre am Ende ein ganz moderner Gedanke. Das Brautpaar gegenein-ander zu hetzen. Da könnten wir unsere Witze sparen.

B.
Ja, die Frau Generalkonsul meinte sogar, eigentlich könnten Sophie und Alex zusammen musizieren, da machte den Gästen doch noch mehr Spaß als alles andere …

M.
Es ist halt ne eitle Frau. Die Frau Generalkonsul. Wie sagte sie noch neulich? Mein ältester Sohn, der „Herr“ Landrat, mein anderer Sohn der Privatdozent, mein dritter Sohn, der singt aber schön.

H.
Aber Richard, wie frech, das sagt man doch nicht!

B.
Bitte, hier wird nicht übel genommen.

M.
Doch, wenn man keine Cigaretten kriegt.

H.
Na, die hättest du dir doch auch selbst nehmen können!. Du bist doch sonst nicht so!

B.
Na bitte zur Sache. Sie sollen schon so etwas schönes vorbereitet haben, sagt mir der Schwiegervater.

H.
Ja, Richard. Morgen um drei sollst Du zur Klinkhammer kommen.

B.
Sie sollen doch nicht etwa die Jungfrau von Orleans aufführen? Das ist doch für ne Hochzeit keine ganz geeignete Sache.

M.
Da wäre der gläserne Pantoffel oder der Kampf mit dem Drachen schon eher am Platze.

H.
Ja, was sollen wir dann sonst? Sie ahnen gar nicht, wie wenig wir schauspielern können.

M.
Helly, ich seh Dich schon mit erhabener Geste:

Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften.
Leb wohl Du grüne Niedenau,
die Sophie geht, sie schwebt schon in den Lüften
und wird jetzt Alexanders Frau.

A.
Au wie mau!

B.
Kullussal, wird die Sophie sagen

A.
Also, die Jungfrau von Orleans und die Klinkhammer sind durch gefallen.

B.
Bitte weiter, andere Vorschläge!

H.
Aber ich bitte Sie, wir haben doch schon alles mit der Klinkhammer ausgemacht, und die Fräulein Fuchs, die spielt doch so schön.

A.
Ja, die ginge sogar am liebsten auf die Bühne.

M.
Aber wir können doch nicht der Frl. Fuchs zu Ehren die Jungfrau von Orleans aufführen.

H.
Aber die Sophie will doch durchaus ein Stück haben und die Mutter Andreae, die gewöhnlich den Nagel auf den Kopf trifft, hat gemeint, man solle den sechsten Sinn von Moser nehmen! Denn etwas passenderes könnte man für den Alex gar nicht finden.

P.
Ach Gott, wenn die Weiber nur nicht immer so verrückte Wünsche hätten. Muß es denn durchaus ein gedrucktes Stück sein.

H.
Sie wollen doch nicht etwa selbst eins machen?

M.
Na, etwas was so gut auf ne Hochzeit paßt, wie die Jungfrau von Orleans, das kriegen wir vielleicht auch noch fertig, namentlich jetzt im Schillerjahr

B.
Wir könnten z.B. einige Weisheiten der Völker über die Frau zusammenstellen. Ich hab mal Kolleg über die Frau im Islam gelesen. Schon Seneca spricht vom animal impudenz. Schopenhauer nennt die Weiber Kühe. Von Nietzsche will ich gar nicht reden. Aber z.B. der Talmud.

H.
Talmud habe ich ja noch gar nicht gehört. Kann man das essen? Ich glaub, das ist das was man hier Glunscher nennt.

M.
Ach so.

B.
Im Talmud steht z.B. wenn die Weiber reden, reden sie nur von der Wirtschaft.

M.
Man denke sich die Sophie 5 Minuten von Wirtschaft reden. Ich glaube eher, daß der Alex den ganzen Tag von dere Wirtschaft reden wird.

A.
Das kann freilich ein netter Betrieb werden. Sie haben schon Einladungskarten drucken lassen: Herr und Frau Privatsekretär, Referendar und Leutnant der Reserve Becker beehren sich zu Handkäs mit Musik einzuladen.

B.
So kommen wir nicht weiter. Seid doch einmal nen Moment still, denken wir nach.

*** Pause ***

M.
Wissen Sie, zu geistreich darf’s auch nicht sein, sonst kapieren es die Frankfurter nicht.

H.
Viel Fremdwörter dürfen auch nicht drin vorkommen.

A.
Das wird nix ausmachen, die nachprüfende Schwiegermutter ist ja nicht da. Könnte mer die Sophie mit dem Brendelsche Schnut vergleiche?

B.
Das wär am End was för die Frankforter.

H.
Aber ich bitt Sie, bei all den Andreaes ihre vornehme Verwandtschaft: Was würde dazu die Comtess Esterhazy mit der blauen Jardinière sage!

M.
Ihr habt ja en echte Korvettenkapitän eingelade. Son großes Tier von der Botschaft in London.

B.
Ja, der kommt auch und bringt sei fashionable Tennis spielende Gattin mit.

H.
… und die Lili (Andreae) kommt auch, die prinzipiell nur mit Kronprinzen verkehrt.

A.
… und auch der Onkel Jean zieht sogar des Band von seim portugiesischen Großkreuz an.
Ja, bei einer so vornehmen Gesellschaft …

H.
Sie haben recht: es geht mit dem Brendelschen Schnut ebenso wenig, wie mit der Jungfrau von Orleans.

B.
Wir wollen lieber mal erst uns darüber klar werden: wer kann mitspielen?

M.
Die Helly gewiß nicht, die hat keine Ahnung.

H.
Richard, was fällt Dir ein?

Kleine Zankszene zwischen den beiden

B.
Bitte Herr Merten, spielen Sie nur so wie Sie sin, das is frech genug. Bitte weiter.

A.
Die Rola …

B.
Ich meine, man läßt die Rola als Bub auftreten – das macht Effekt und zieht immer.

H.
… zum B. als Amor.

M.
Dann muß sie aber hochdeutsch reden.

A.
Da lacht sich alles schief und krumm.

H.
Auch ihre Schwägerin, die Frau Landrat.

B.
Die spielt aber nur kokette Rollen: die aber hat se los.

M.
Was sagt denn der dicke Herr Landrat dazu?

B.
Der wacht als Auge des Gesetzes über ihr.

M.
Der Erfolg scheint mir fraglich.

A.
Der Emmo Crevenna könnte auch mitspielen.

B.
Der ist viel zu würdig. So kindisches Zeug macht DER nicht mit.

A.
Dann noch eher der Bär, der ist immer dabei, wenn geknutscht wird. Denn das ist doch immer en hübscher Anblick. Un Ihr Bruder Alfred.

M.
Um Gotteswillen, der ist Familienvater, der muß sein Baby stillen.

A.
Un der Robert Sommerhoff?

M.
Der redet jetzt nur noch englisch. Un wer kein Frankfurter Mädchen nimmt, der wird von vorneherein nicht zugelasse.

B.
Mit dem Lokalpatriotismus wird man auskommen müssen (handschriftlich, z.T unleserlich). Mir graut überhaupt ein bißchen – verzeihen Sie – vor all den Andreaes.

A.
Einzeln lassen sie sich gefalle, wenn se aber wie die Heuschrecken auftreten …

B.
Wie solle mer so verwöhnte und anspruchsvolle Leut zufriddestelle?

H.
Geben se dene nur gut zu essen und zu trinke, so sin se schon zufrieden.

B.
So sind die wirklich so materiell? Dann paßt Alex ja großartig hinein.

M.
Ich muß immer noch an den Andreaesche Familientag denken – da hat die ganze Fremdenlog nach Alkohol gerochen.

H.
Ja, son bischen materiell ist die Sophie ja auch: Wermut, das liebt sie, es ist köstlich. Und erst Aniset…

A.
Das tollste ist, daß die Sophie gar keinen zugesteckt hat. (handschriftl. Zusatz, unleserlich)

B.
Ich glaube, das liegt in der Familie. Ich war in Losann, wie se in Frankfurt sage, mit dem Knopp zusammen. Das hat den Bär und mich den Tag e Kist englische Biscuit gekost. Der Knopp hat nie was übrig gelasse. Schließlich hat der Bär die gut Idee gehabt, immer nur 5 Biscuit liege zu lasse, und wenn wir den Knopp pfeifen hörten, haben wir den Rest versteckt.

M.
Und wie materiell muß erst der Schwiegervater sein, der bei allem, was auf den Tisch kommt, immer AH ruft.

B.
Der Alex paßt großartig in die Familie, der redet nie von etwas anderem, als vom Essen: Wie war noch das berühmte Menü bei dem Junggesellenessen im Falstaff? Rühreier von Kibitzei mit Nachtigallenzungen, Sauerkraut in Pommery gekocht, Seezungen auf Spinat.. Der Frau Generalkonsul haben jedes mal die Haare zu Berge gestanden.

M.
Muß das aber schön ausgesehen haben.

A.
Und das Stück? …

B.
Mein Gott, wie weit sind wir davon abgekommen. Es ist mir immer klar gewesen: An Stoff wird es uns nicht fehlen, wir ersticken ja darin; an Schauspielern auch nicht, aber an der Leitung.

H.
Die große Klinkhammer haben Sie abgelehnt.

M.
Die große Duse und die große Saharet werden auch schwer zu haben sein. Aber wen nannte Alex noch neulich?

A.
Die große Emma.

Alle
Und wie soll das Stück heißen?

B.
Der Privatsekretär des Herrn Merten.

A.
Das geht nicht, denn sonst fühlt sich die ganze Stadt Frankfurt betroffen.

M.
Und am Ende schnappt der alte Merten ein.

B.
Ja, mit dem Einschnappen ist das überhaupt so ne Sache.

H.
Hört mal! Könnten mer nicht die Pfingsttour hereinbringen? Wo der Alex mit der Sophie erst nachts um 1 Uhr von Gelnhausen zurückgekommen ist? Da war se aber bös, die dicke Mama.

A.
Der Alex hat auch uff den schwiegermütterlichen Rüffel noch 3 Tag gezittert wie Espenlaub.

M.
Und dabei ist der Alex doch selbst so ein Zorngickel, der bei allem das Gegenteil behaupten muß.

B.
Hat die arm Emma Bergmann mit dem was auszustehen gehabt.

M.
Das Temperament stammt offenbar von der Frau Generalkonsul.

B.
Ich finde die Sache bedenklich.

H.
Mir lassens lieber ganz.

M.
Irgendwelche gibt’s ja immer, die ihre Verse nicht bei sich behalten können. Wenn z.B. der Papa Andreae mal aufgezogen ist, dann hört er nicht so bald auf..

B.
Ich hab gehört, gestern Nacht sei er plötzlich um zwei Uhr aufgewacht und hätte sei Frau gefragt, ob sie nicht son Dinge … ein Bleistift hat er nämlich gemeint, bei sich hätt, es wärn em grad so e paar gut Vers für en Polterabend eingefalle.

M.
Na wenn’s gar net langt, da muss halt das Brautpaar selbst herhalten.

B.
An MEINEM Polterabend in Augsburg haben die übrigens auch nichts aufgeführt.

M.
Da haben se aber zwei mal 24 Stund das Augsburger Patriziergesicht gemacht, und das ist ihnen schwerer gefallen wie alle Aufführung.

H.
Also, wir lassens bleiben.
Alles Liebe Gut, lassen wir’s bleiben.

M.
Und geben wir uns das Wort, für alles hier Gesprochene: Diskretion Ehrensache.

Alle:
Gewiß, das kleine Ginnheimer Ehrenwort.

Hellmut Becker

VI.HA Nachl. C. H. Becker. Nr.6292 (Briefe an Sohn Hellmut 1921-32)

171. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut. Berlin, 14.4.1921

(Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn Hellmut,

Über Deinen Geburtstagsbrief habe ich mich sehr gefreut, und ich danke Dir herzlich dafür. Es war der erste Brief, den ich bekam und war deshalb doppelt willkommen. Besonders freute mich, daß Ihr eine so gute Reise gehabt habt und daß es Dir in Salem so gut gefällt. Danke auch Fräulein Köppen vielmals für ihren ausführlichen Brief und ihre freundlichen Glück-wünsche. Er war mir sehr wertvoll, denn nun haben wir doch, wenn wir alle Eure Nachrichten zusammenfassen, ein ziemlich deutliches Bild von Eurem Leben. Am liebsten käme ich selber hingereist und sähe mir die Sache einmal an; aber ich fürchte, gar so bald wird das nicht möglich sein, und es wird wohl Sommer darüber werden. Dann bist Du schon ein alter Salemer und kennst Dich so gut aus, daß Du Deinem Vater alles zeigen kannst. Ich möchte nur gern wissen, was Du morgens früh nach dem Frühstück machst, bis der Unterricht anfängt. Das mußt Du uns einmal erzählen, wenn Du wieder schreibst.

Mein Geburtstag verlief sehr schön. Die Tulpe von Deinem Beet prangte in einer Vase zwischen Torte, Schlafanzug, Bilderrahmen von Walter, Waschlappen von Hertha und einem schönen Gemälde von Herrn Siegel, der sich im übrigen jedesmal nach Dir erkundigt und Dich schönstens grüßen läßt. Ich kam erst zum Abendessen nach Hause, und dann war Herr Richter bei uns eingeladen. Es gab sehr gut zu essen, beinahe so gut wie in Salem, nur Du hast uns gefehlt; aber wir haben Deiner mit Liebe gedacht. Mittags hatten mich Herr und Frau Wende mit der Inge besucht, die mir sogar ein Kränzchen Vergiß-mein-nicht mitbrachte, während mir ihre Mutter einen Kuchen gebacken hatte. Dann tranken wir alle zusammen in meinem Dienstzimmer Schokolade, und die Inge hat mir gesagt, ich solle Dich besonders von ihr grüßen.

Im Garten ist alles sehr schön grün geworden, sonst aber ist alles unverändert. Man berät im-mer noch, ob wir einen neuen Minister bekommen sollen. Wahrscheinlich aber bleibt auch hier alles beim Alten.

(CHB)

 

172. C.H.B. an Sohn Hellmut, z.Z. Hoyern bei Lindau am Bodensee, Verbandskrankenhaus. Berlin, 10.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn!

Da Dir meine mit der Hand geschriebenen Briefe Schwierigkeiten machen, will ich meine herzlichen Grüße an Dein Krankenlager in Maschinenschrift abfassen, damit Du ihn bestimmt ohne fremde Hilfe lesen kannst. Wir sind sehr glücklich, daß alles so gut abgelaufen ist und sind Deinem guten Pflegevater aufrichtig dankbar für die liebevolle Art, mit der er Dich be-treut hat. Ich bin sicher, daß es Dir unendlich wertvoll gewesen ist, daß er und die gütigen Damen Dich geleitet haben und Dich jetzt so nett besuchen. Wir freuen uns besonders, daß die Nieren ruhig geblieben sind. Vielleicht wirst Du nun in Zukunft auch diese Sache los werden. Jedenfalls ist es sehr erfreulich, daß Du Dich nicht mehr um Deinen Blinddarm zu sorgen brauchst. Möchtest Du recht bald wieder frisch und gesund herumspringen können. Ich freue mich schon sehr darauf, wenn Du nach Berlin kommst und wieder einmal die ganze Familie beisammen sein wird.

Bei uns regiert zur Zeit Hertha in der Küche und macht die wundervollsten Gerichte für ihren Vater unter der hohen Assistenz der Mutter. Manchmal muß ich das Menü bestimmen, weil den Damen immer nichts richtiges einfällt; dann gibt es natürlich immer meine Leibgerichte, und die Mutter ist sehr erfreut, wenn sie nicht selbst darüber nachzudenken braucht. Schade, daß Du all die kulinarischen Genüsse nicht miterlebst. Aber Du wirst Dich dann bei Deiner Ankunft davon überzeugen, daß Deine Schwester bereits eine perfekte Köchin geworden ist.

Von Walter haben wir lauter gute Nachrichten. Er schwimmt sozusagen im Völkerbundswas-ser und hat alle möglichen interessanten Leute kennengelernt. Zum Schluß will er noch zu Baums nach Lausanne und dann – denke Dir – noch 1 bis 2 Wochen nach Paris. Jedenfalls wird das seinem Französisch gut bekommen und habe ich es ihm gern erlaubt.

Hier habe ich neulich die Funkausstellung miteröffnet. Wir saßen in der prallen Sonne im Zylinder unter dem großen neuen Sendeturm1 und schwitzten fürchterlich. Gottseidank habe ich keine Rede halten müssen. Dann war ich drei Tage in Dresden bei der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, habe auch Deines Befehls gedacht und die Sixtina besucht. Ich war mit Herr Leist zusammen und mit Dr.Baum, dem Dresdener Kaplan, dessen Du Dich wohl noch entsinnst. Unsere Karte wirst Du erhalten haben. Wir haben auch eine große Auto-fahrt gemacht und sind stellenweise 120 km die Stunde gefahren. Ich war aber schließlich doch ganz froh, als wir wieder in Dresden waren. Wir hatten ein Kinderheim in der Provinz in der Nähe von Mittweida besucht, das die große Wohltäterin der deutschen Kriegsgefangenen, die bekannte Schwedin Elsa Brandström, unterhält.

In den nächsten Tagen werden wir mancherlei Gesellschaften haben. Für morgen abend ist das ganze Ministerium zu einer großen Abendveranstaltung zu Ehren des ausscheidenden Herrn Klotzsch eingeladen.. Du weißt doch, daß Herr Wende der Nachfolger des Herrn Klotzsch geworden ist. Am Dienstag kommt Rabindranath Tagore zu einem Frühstück von 15 Personen, an dem auch die Mutter und vielleicht Hertha teilnehmen werden.

Am 18. gehe ich dann auf Dienstreisen zum Naturforschertag nach Düsseldorf, zum Historikertag nach Breslau und zum Orientalistentag nach Hamburg. Da werde ich Dir wohl manche Karte schicken. Heute abend gehen Mutter, Hertha, Morsbach und ich zusammen in Kleists Amphitryon.

Grüße bitte allerherzlichst die Ottenberger Autoritäten und danke ihnen recht sehr für alles , was sie für Dich tun.

Ich umarme Dich in herzlicher Liebe Dein getreuer

(Vater)

 

173. C.H.B. an Hellmut Becker, z.Z. Haus Ottenberg, Hemigkofen am Bodensee, Württemberg. Berlin,17.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

ich danke Dir sehr für deinen schönen und inhaltsreichen und, wie ich sagen muß, fabelhaft gebildeten Brief. Natürlich hat Hebbel keinen Amphitryon geschrieben, sondern es ist Kleist, und ich habe mich im Diktieren geirrt, ohne es zu ahnen, daß Du mir so auf die Finger passen würdest. Hoffentlich kennst Du die übrige Literaturgeschichte eben so gut; dann wirst Du ein vorzügliches Abitur machen. Oder sollte eine der Damen geholfen haben?

Ich freue mich herzlich, daß es Dir wieder gut geht, und daß ich diesen Brief schon nach Ottenberg richten kann. Wir freuen uns alle schrecklich, wenn Du in absehbarer Zeit wieder zu uns nach Berlin kommst. Hoffentlich hat es Dir nicht zu sehr gefehlt, daß Mutter nicht gleich hingefahren ist, aber wir wußten Dich ja in guten Händen, und Mutter war hier augenblicklich so nötig, daß es besser war, sie blieb hier.. Wir leben weiter still und gemütlich, und es nicht allzuviel Amtliches los. Nur neulich ein Frühstück bei uns im Ministerium zu Ehren des indischen Dichters Rabindranath Tagore, der in langem grauen Gewand erschien, während seine Schwiegertochter in malerischer indischer Tracht ihn begleitete. Wir hatten die Herren Marcks, Meinecke, Einstein, Deissmann und einige andere Celebritäten geladen. Abends war dann großer Empfang durch in Berlin wohnende Inder, wo ich eine Rede auf Tagore halten mußte.

Die ganze Berliner Presse regt sich in diesen Tagen gewaltig auf über die Ernennung Tietjens zum Generalintendanten der staatlichen Opernhäuser. Du gehörst ja zu den wenigen Einge-weihten, die strenges Stillschweigen bewahrten, und es ist wirklich merkwürdig, daß mehrere Monate lang meine Pläne geheim blieben. Jetzt ist alle Welt überrascht, und im Grunde genommen, erfreut, aber man gibt es nur nicht so gern zu, weil man lieber selbst vorher mitgequatscht hätte. Immerhin ist die Aufnahme in der Presse sehr erfreulich, und ich glaube, daß wir nun endlich geordneten Verhältnissen im Berliner Opernwesen entgegen gehen. Heute abend gehen die Mutter , Hertha und ich in die Kroll-Loge in Cavalleria rusticana und Bajazzi. Außer Herrn Schlusnus wird der berühmte neue Tenor Pattiera singen. Wir sind natürlich sehr gespannt. Vorher trinke ich aber noch schnell einen Tee, zu dem ich Oskar Kochertaler erwarte, der mit frischen Nachrichten aus Genf kommt, wo er und Walter sehr vergnügte Tage zusammen verlebt haben.

Herr Benecke hat sich etwas am Fuß verletzt und muß mit hochaufgerichtetem Bein drei Tage still liegen. Er hält mir deshalb den Pressevortrag durchs Telefon.

Morgen abend beginne ich eine Periode der Reisen, und zwar gehe ich zunächst nach Düssel-dorf, wo ich Carola Lexis Blumenstein, vielleicht auch Ernst und Jochen sehen werde. Ich besichtige die Gesolei (?) und eröffne den Naturforscher- und Ärztetag. Dann fahre ich über Nacht via Berlin nach Breslau, wo der Denkmalspflegetag stattfindet, bin aber schon Don-nerstag abend wieder in Berlin, da mich der Herr Reichsverkehrsminister Krohne zu einem Diner zu Ehren von Sven Hedin eingeladen hat. Die folgende Woche gehe ich dann nach Hamburg und dann wieder nach Breslau; aber das ist noch Zeit bis dahin, und dann wirst Du ja auch schon beinahe wieder hier sein.

Nun muß ich schleunigst zum Tee. Leb wohl, mein lieber Jung, werde bald wieder ganz gesund. Ich grüße Dich von ganzem Herzen und bitte um freundliche Empfehlung an die Ottenburger Autoritäten.

Dein Vater

 

174. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut in Mer/Dep. Loir&Cher, chez M. Sémézies (Berlin?), 23.6.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Du hast den Wunsch geäußert, daß ich Dir einmal einen politischen Brief schreiben möchte. Ich bin aber nicht so sehr politisch, daß ich Dir wie früher immer das Neueste liefern könnte. Deshalb wirst Du Dich auch mit einigen anderen Nachrichten begnügen müssen. Wir haben Deinen Brief mit Freude zur Kenntnis genommen, zumal die Mutter ihn uns vorlas, die zur Interpretation schwieriger Handschriften offenbar eine natürliche Veranlagung besitzt. Sie ist übrigens soeben ins Krankenhaus abgefahren, nachdem sie glücklich den heißesten Tag abge-wartet hatte, den wir diesen Sommer erlebt haben. Ich sitze auf der Veranda, während ich dies diktiere, aber schon das bloße Diktieren bringt einen beinahe ins Schwitzen. Ich bin froh, daß Mutter jetzt in richtige Behandlung kommt, denn sie hatte doch immer wieder bis zur letzten Stunde gesundheitliche Schwierigkeiten.

Ehe ich es vergesse, zunächst die geschäftliche Mitteilung, daß ich soeben die Deutsche Bank angewiesen habe, Herrn Sémézies nochmals 600 Frans zu schicken. Den Überschuß nach Abzug seiner Spesen möge er Dir dann aushändigen. Ich bedauere sehr, daß Du es dort auch so heiß hast. Wir müssen bei den Bildern immer an Liebenwalde denken, nur etwas ins Südliche und Heißere übersetzt. Hoffentlich hast Du es dann an der See um so schöner. Wir sind der Meinung, daß Du Dich dort ja auch ganz gut einmal acht Tage aufhalten kannst.. An Bekanntschaften wird es Dir ja gewiß nicht fehlen.

Seit meiner Rückkehr von meinen fabelhaften Ehrungen in Ungarn habe ich eine ziemlich arbeitsreiche Zeit gehabt, da ich Kolleg nachholen mußte und es sich auch gerade so traf, daß ich für die betreffenden Stunden noch viel der Vorbereitung bedurfte. Diese Woche wird es besser, und nächste Woche ist es schon ganz gut, denn dann hören die Attaché-Kurse auf. Dafür beginnt dann die Vorbereitung auf Amerika. Einstweilen haben wir noch keine Kabinen, da alle Schiffe besetzt sind. Wir werden uns mit der Abreise ziemlich danach richten müssen, wo es noch Platz gibt. Vielleicht reisen wir schon am 13. August. Aber ich vermute, daß Dir das Walter geschrieben hat. Ich bin Samstag und Sonntag in Frankfurt(?Oder, unleserlich), wo es nicht nur ein Mozartmusikfest gab mit ausgezeichneten Vortrag von Frl. Trautmann, sondern wo dann auch in der Pause zu Ehren des Sonnenwendfestes ein Lampionumzug – man kann sagen Lampionreigen – der Studenten der Pädagogischen Akademie stattfand. Er gipfelte in einer allgemeinen Huldigung und Senkung der Lampions vor mir, wie ich überhaupt innerhalb 24 Stunden drei Reden halten mußte, obwohl ich doch eigentlich nur als Privatmann da war. Beim Abendessen hielt plötzlich der Sprecher des gerade stattfindenden Lehrer-Fortbildungskurses eine Ansprache auf mich, die ich beantworten mußte. Nach dem Konzert wurde um 12 Uhr eine köstliche Figur, darstellend den alten Typus des schlechten Lehrers auf einem großen Holzstoß verbrannt. Dem Scherz folgte dann aber der Ernst, und es war ein künstliches Johannisfeuer mit Gesängen und einem großen Ring von Hunderten von Menschen. Plötzlich mußte ich sprechen. Ich variierte dann das Thema „Wer die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant.“ Angestiftet hatte das natürlich Adolfus Reichwein, der mit einer Panne in Berlin doch noch zu diesem Fest eingetroffen war. Gestern, am Sonntag früh, machte der Kursus eine Morgenfeier, bei der sie mich am Abend gebeten hatten, einen Vortrag zu halten. So habe ich denn ¾ Stunden ohne Vorbereitung ihnen etwas über die Kulturkrise erzählt, und dann folgte ein wundervolles vormozartliches Cembalo-Konzert mit Orchesterbegleitung. Trotzdem war ich zum Mittagessen wohlbehalten zuhause, schwer ausge-lacht von der ganzen Familie, weil ich hatte sparen wollen und eine Sonntags-Fahrkarte genommen hatte, nun aber mit dem FD-Zug zurückgefahren war, weil die Fahrkarte keine Geltung mehr hatte.

Von der Innenpolitik kann ich Dir nicht viel erzählen, außer daß Hoepker-Aschoff offenbar definitiv abgelehnt hat. Er wird seinen guten Posten erst aufgeben, wenn er wirklich die Möglichkeit sieht, auch mit der Reichsreform vorwärts zu kommen. Danach sieht es aber im Augenblick noch nicht aus. Ich will sehen, daß ich ihn in den nächsten Tagen wieder einmal spreche.

Außenpolitisch habe ich Ungarn manches Interessante gehört. Von Königsmacherei ist die nüchterne derzeitige Regierung weit entfernt. Das falsche Bild in der Öffentlichkeit entsteht durch die Agitation der kleinen legitimistischen Gruppe im Zusammenhang mit gewissen kirchlichen Kreisen und mit greller Hintermalung durch die Todesangst der demokratischen Presse. Immerhin will Klebelsberg Bethlen veranlassen, einmal in einer öffentlichen Rede von den Königsmachern abzurücken. Man weiß in Ungarn viel zu genau, daß die Rückkehr Ottos 2den sofortigen Einmarsch der kleinen Entente zur Folge haben würde. Mein Besuch hat insofern günstig gewirkt, als er ein Gegengewicht geboten hat zu der wachsenden Mißstimmung gegen Deutschland3, das politisch und wirtschaftspolitisch Ungarn vollkommen in Stich läßt, während Italien4 – dazu ja auch besser in der Lage als wir – den Ungarn etwa 1/5 ihrer ganzen Ernte abkauft (allerdings zu Weltmarktpreisen; die Differenz muß durch Steuern bezahlt werden). Der Revanche-Gedanke ist in Ungarn ungeheuer stark. Kinder in den kleinsten Dörfern rufen einem als Gruß zu: „Hofft auf eine bessere Zukunft!“ Die ganze Jugend ist militärisch ausgebildet. Mit Stolz wurden mir die Holzgewehre gezeigt, die genau das Gewicht und die Größe richtiger Karabiner haben. Trotzdem weiß man genau, daß auch lokaler Krieg nur zu Ungunsten Ungarns ausschlagen könnte. Man rechnet aber mit der weiteren Isolierung Frankreichs, das dann nicht mehr in der Lage sein wird, die kleine Entente zu stützen. Dadurch werde eines schönen Tages eine politische Situation entstehen, die es den ungarfreund- lichen Mächten möglich machen würde, ohne Krieg durch einen politischen Druck eine Revision des Trianon-Vertrages herbeizuführen. In diesem diplomatischen Spiel rechnet man natürlich auch mit Deutschland, obwohl man genau weiß, daß Deutschland gar nicht in der Lage ist, einen Krieg zu führen. Immerhin kann man verstehen, daß unsere deutschen Politiker sich allen diesen Plänen gegenüber außerordentlich reserviert verhalten (im Original: verhält) und lieber eine Verständigung mit Frankreich erstrebt. Frankreich wird ja in den nächsten Jahren zeigen müssen, ob es wirklich eine europäische Politik zu machen bereit ist, die diesen Namen verdient. Bisher sieht es nicht danach aus. Jedenfalls wäre es mir sehr interessant, einmal meine italienischen Eindrücke mit den ungarischen zu vergleichen. Man bekommt dadurch etwas mehr Abstand von der einheimischen Politik.

Nun aber Schluß für heute, mein lieber Jung’! Ich grüße Dich von Herzen. (CHB)

 

175. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut, z. Z. Les Sables d’Olonne, Vendée. (Berlin?), 10.7.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Ich muß Dir doch einmal davon erzählen, daß ich mich mit Deinem Freunde Billie so vorzüg-lich verstanden habe. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte ich ihm gesagt, der dürfte mich auch einmal besuchen, und so kam er denn einmal zum Tee, von dem wir Dir eine Karte schickten. Wir waren aber beide sehr verhetzt, und da er mir ausgezeichnet gefiel, lud ich ihn für ein paar Tage später zum Abendessen ein. So kam er dann. Wir aßen auf der Veranda zu Nacht.. Walter zog sich nachher zurück, und dann haben wir beide bis gegen ½ 12 Uhr eine wirklich wundervolle Unterhaltung miteinander gehabt. Ich kann Dir nur von Herzen zu diesem Freun-de gratulieren. Er ist nicht nur äußerlich, er ist auch innerlich älter als Du und von einer er-staunlichen Reife und Besonnenheit des Urteils. Seine Frühreife ist natürlich auf seine jüdi-sche Herkunft zurückzuführen. Aber er hat gerade diesen Grad jüdischer Intellektualität und Wachheit, der noch angenehm ist, ja einen besonderen Reiz verleiht. Seine Intellektualität wird gebändigt durch sein starkes künstlerisches Gefühl. Aber er lebt nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Sphären des emotionalen Lebens, im Religiösen und im Menschli-chen. Die Art, wie das alles bei ihm harmonisch neben einander steht, wie Selbstbewußtsein und Reife sich neben Bescheidenheit und Jugendlichkeit paaren, ist wirklich erstaunlich. Er ist ein höchst erfreuliches Geschöpf, und ich habe meine helle Freude an ihm gehabt. Er war fabelhaft aufgeschlossen, charakterisierte Salem und besonders Hahn mit Worten, die fast ich hätte gebraucht haben können.. Weißt Du, er hat etwas so Wissendes bei aller Diskretion und etwas Herzliches bei aller Zurückhaltung. Ich merkte sehr bald, daß irgend ein älterer Freund auf ihn eingewirkt haben müsse, und dann erzählte er mir von Herrn Frommel. Beim Ab-schied meinte er, ob ich nicht mal Herrn Frommel empfangen wolle. Ich hielt mich etwas zurück, weil ich mich nicht in diese Beziehung einmischen wollte. Hernn Frommel ging es ebenso; doch habe ich schließlich Billies Wunsch erfüllt und Herrn F. gestern in der Deutschen Gesellschaft empfangen. Das war nun eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Herr F war auf mich geladen wie noch selten einer von der Jugend. Er hatte ungefähr alles von mir gelesen, und es hatte ihn entscheidend beeinflußt. Wir haben uns gleich ganz fabelhaft ver-standen, so gut, daß ich beschloß, ihm einen meiner jetzt sehr kostbaren Abende zu opfern und ihn für heute Abend zum Abendessen eingeladen habe. Er reist dann allerdings ebenso wie Billie in den nächsten Tagen fort, und wenn wir uns noch sprechen wollten vor Amerika, so mußte es in diesen Tagen sein. Du kennst ihn ja auch und hast ihm offenbar sehr gut gefal-len. Ich finde ihn einen hochbegabten, ungewöhnlich sympathischen Menschen, der nur mit seinen 28 Jahren endlich ein Examen machen sollte. Ich habe ihm das gleich sehr gründlich gesagt, und ich glaube, daß dieser Appell etwas nutzen wird. Ich nehme an, daß Dich das alles interessiert. Deshalb erzähle ich es Dir so ausführlich.

Mutter geht es Gottlob etwas besser. Sie ist gestern sogar im Plesch’schen Garten spazieren gegangen und hat auch heute Morgen sehr vergnügt telefoniert. Sie scheint jetzt über den Berg. Sehr schwierig ist es nur, eine genügende Ferienreise für sie mit den verschiedenen Terminen unserer Heimkehr rep. Abreise in Übereinstimmung zu bringen. So meinte sie, unter allen Umständen hier sein zu müssen, wenn Du zurückkämst. Ich hielt das für total überflüssig, da ich der Meinung bin, daß Du auch noch 8 Tage später alles genau so gut erzählen kannst. Dann müßte sie gleich nach dem Verlassen des Krankenhauses abreisen.

Ich habe viel zu tun und komme nur schwer an meine amerikanischen Vorträge. Viermal die Woche spiele ich Tennis mit Werner früh von 8 bis 9 Uhr. Er steht mir ungefähr gleich, wenn ich ihn auch bisher geschlagen habe. Aber er macht eigentlich immer nur lange Bälle, und er hat einen höchst anständigen Schlag und ist schnell und gewandt. Er ist ein lieber Kerl, und ich mag ihn wirklich gern. Aber es ist manchmal schwer, Funken aus ihm zu schlagen. Er hat so eine merkwürdige Mischung von Unsicherheit und knabenhaftem Hochmut. Er ist skep-tisch und es fehlt ihm die richtige Gläubigkeit, ohne die aber nun einmal im Leben nichts Großes zu leisten ist. Ich gebe mir sehr viel Mühe mit ihm, trinke jeden Montag nach meiner Vorlesung mit ihm Tee, kurz wir sind ganz befreundet, nur sorge ich mich manchmal, ob ein starker Mensch aus ihm wird. Vorgestern Abend hatte ich die ganzen Attachés zu einer Bowle eingeladen. Hertha und Walter unterstützten mich. Es war sehr nett und dauerte bis nach 12 Uhr. Der bei uns zwei Nächte wohnende Albrecht Dieterich, der ältere Bruder von Hermann Dieterich, Salem, der Sohn unseres alten Heidelberger Nachbarn und Kollegen, nahm auch daran teil.

In Sachen K.W.G5. wird furchtbar viel hinter den Kulissen geredet und intrigiert. Ich halte mich von allem fern und stehe der Sache außerordentlich kühl gegenüber. Wenn es das Schicksal will, werde ich schon Präsident werden, und wenn nicht, ist es gewiß besser für mich, ich werde es nicht. Da ist die Gläubigkeit, von der ich vorhin sprach und die nichts mit Indolenz und Apathie zu tun hat. Glum und Schmidt-Ott haben seit Jahr und Tag die rheinische Industrie so gegen mich aufgehetzt, daß dieser Samen natürlich jetzt aufgeht und diese Kreise unbedingt gegen mich sind. In einer halben Stunde der Unterhaltung ließe sich so etwas natürlich beseitigen., aber ich kann eben nicht herumreisen und die Leute aufsuchen. Braun, Grimme und Richter haben sich sehr anständig benommen. Auch Landé gibt sich rie-sige Mühe. Höpker läuft herum; kurz und gut, es geschieht schon einiges. Trotzdem ist wahr-scheinlich, daß zunächst Herr Planck gewählt wird, der als Nobelpreisträger und Sekretär der Akademie und als Naturwissenschaftler ja eigentlich der Gegebene wäre. Aber er ist 72, und sein Präsidium bedeutet natürlich die Allmacht Glums. Leider ist Harnack zu früh gestorben, und das Ressentiment gegen mich als Vertrauensmann der Sozialdemokratie noch zu stark. Auf der anderen Seite kann ich es auch der Regierung wieder nicht übelnehmen, daß sie mich wohl vorschlägt, aber nicht so auf mir besteht, daß sie politische Schwierigkeiten davon hat. Schließlich weiß ich selber nicht, ob ich es mir wünschen soll. Die Freiheit vom Verwaltungs-betrieb, die ich augenblicklich genieße, ist so herrlich, daß ich sie gern noch einige Jahre genießen möchte. Auf der anderen Seite kann ich eine auf mich fallende Wahl auch nicht gut ablehnen. Wie die Sache also auch ausgeht, ich stehe ihr ohne Enttäuschung, aber auch ohne Begeisterng gegenüber. Wenn ich sie übernehme, dann entscheidet sich allerdings für mich der Weg, den ich weiterhin zu gehen habe. Dann möchte ich von diesem Punkt aus allmählich ein Reichskulturamt, möglichst als nichtpolitische Behörde schaffen, um ein späteres Reichs-Kultur-Ministerium6 vorzubereiten. Aber diesen Plan Deines Vaters bitte ich, in der Stille Deines Busens zu bewahren.

Es ist sehr nett, daß Walter jetzt wieder da ist. Dadurch bin ich nicht so allein, wenn wir uns auch nicht allzu häufig sehen. Er steht unheimlich früh auf, frühstückt schon um 7 Uhr, jeden-falls ist er immer schon fertig, wenn ich zum Tennis weggehe. Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder, und dann sage noch jemand etwas gegen den sittlich hebenden Einfluß des Landes.

Nun aber will ich diese endlose Epistel beschließen. Aber ich mußte Dir unbedingt die Ge-schichte mit Billie erzählen. Ich bin sehr neugierig, was er Dir darüber geschrieben hat. Er ist zwar, wie Herr Frommel sagt, weniger mitteilsam, aber ich fand das eigentlich persönlich nicht bestätigt. Jedenfalls freue ich mich herzlich, daß Du einen so netten Freund hast. (CHB)

 

176. C.H.B an Sohn Hellmut, Freiburg /Br.,  Johannisberg 25. (Berlin?), 25.4.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Zunächst begrüße ich Dich herzlich auf Deiner ersten Universität und wünsche Dir ein in jeder Hinsicht reiches und beglückendes Semester. Dann danke ich Dir für Deinen nachträg-lichen Geburtstagsbrief. Wir haben uns nicht weiter gewundert, daß Du den 12.April im Drange der Geschäfte vergessen hast. Bei der notorischen Unsentimentalität Deiner Eltern kommt es ja auf Termine und Daten nicht allzu genau an, wenigstens nicht bei Geburtstagen, wohl aber bei Verabredungen, wie ich sie jetzt mit Dir treffen möchte. Ich bin neugierig, ob Du ein ebenso guter Reisemarschall für Deinen alten Herrn sein wirst wie es Walter in Ame-rika war. Nur ist Deine Aufgabe erheblich einfacher. Meine Pläne stehen jetzt in sofern fest, als ich Freitag, den 8. Mai vormittags 10.21 Uhr mit dem Nachtzug von Berlin in Freiburg eintreffen werde. Sonnabend den 9. um die Mittagszeit möchte ich mit Dir nach Zürich fahren. Wir sind dort bei Frau Dr. Carola Escher-Prince, Rütistr.55, eingeladen. Ich nehme an, daß wir so etwa zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags dort sein werden. Am Sonntag dem 10. vormittags um 11 Uhr ist mein Vortrag und an ihn anschließend werden wir im Auto zu einem Lunch in die Umgegend auf eine andere Privatbesitzung fahren. Abends fahre ich dann mit dem Nachtzug nach München und Du nach Freiburg zurück. Da es Dich nur den Sonn-abend und Sonntag kostet, trage ich keine Bedenken, Dich für diese Zeit Deinem Freiburger Milieu, Freunden und Freundinnen zu entreißen.

Die schwierigste Aufgabe bei dieser Reise fällt Dir zu, nämlich meine Zeit in Freiburg so zu disponieren, daß ich nicht nur von Dir etwas habe, sondern auch mit Wolf Kühn, Dr. Baumgarten und Prof. Schacht zusammenkommen kann. Vielleicht gehst zu zunächst zu Dr. Baum-garten, der Dich bereits erwartet und der Dir sicher gut gefallen wird. Vielleicht könnte ich Prof. Schacht am Sonnabend Vormittag besuchen und den Freitag Nachmittag oder Abend bei Dr. Baumgarten sein. Dann würdest Du mich am Zug abholen, Wolf vielleicht zum Mittag-essen zu uns stoßen und dann das Programm so weiterlaufen, wie ich es eben entwickelte. Wie die besten Züge nach Basel-Zürich fahren, wirst Du dort auch leicht feststellen können. Prof. Schacht ist vielleicht jetzt noch nicht da, da er in Marokko war. Aber am 8. oder 9. ist er sicher in Freiburg. Die Adressen der beteiligten Herren sind:

  • Wolfgang Kühn, Zähringerstr. 3,
  • Dr. Baumgarten, Freiburg-Zähringen, Rötebuckweg 37,
  • Prof. Schacht, Stadtstraße 7

Wir haben mit großem Interesse und viel Mitleid von Deinem Dulderweg bis zum Finden einer konvenablen Wohnung Kenntnis genommen, und ich brenne darauf, Dein erstes selb-ständig gewähltes Heim genau zu besichtigen. Wir sehnen uns alle nach der Ankunft der Schreibmaschine, denn es war wirklich nicht leicht, Deine Briefe zu entziffern, wenn ich auch anerkennen muß, daß Du treu und redlich geschrieben hast.

Ich habe ja seit Deinem Abschied hier auch allerlei erlebt. In Davos war es ganz entzückend, und der Besuch bei Ulrich Noack in Zuoz, hoch über dem Ort, hatte einen unleugbaren Charme. Dann begann ich mein Kolleg mit über 40 Leuten im Kalifen-Kolleg und einem Dutzend Arabisten in den Übungen. Das letzte Wochenende war ich in Holland, wo ich in Rotterdam, im Haag und in Amsterdam Vorträge hielt, überall auf das reizendste von den deutschen Vertretern und den holländischen Wirten willkommen geheißen. In Amsterdam wohnte ich bei Rehbocks. Aber auch die Schöffer’schen Kusinen waren in meinen Vorträgen. Ich besuchte das Grab der Tante Emma und mein Geburtshaus. Auf der Rückfahrt machte ich ein paar Stunden in Dortmund Station, um den Schulrat Ernst Müller zu besuchen.

Hier haben wir seit gestern endlich etwas besseres Wetter, und langsam und scheu zeigt sich das erste Grün. Heute erwarten wir Hertha zu Tisch, die ich noch gar nicht gesehen habe, und Dienstag wird uns dann Mutter für einige Zeit verlassen. Ich finde diesen Ausflug sehr vernünftig, da ich gerade während des Monats Mai ja nicht nur in die Schweiz, sondern über Pfingsten auch noch nach England fahre, so daß die Mutter hier doch ziemlich einsam sitzen würde.

Ich fürchte, dieser Brief wird nicht mehr richtig zum Sonntag kommen. Aber er kann ja auch am Montag noch einen sonntäglichen Gruß übermitteln. (CHB)

 

177. C.H.B. an Sohn Hellmut in Freiburg. (Berlin?), 10.6.1931

(Maschinenkopie) (Eilbrief!)

Lieber Hellmut,

Auf der Fahrt nach Genf komme ich Freitag mit dem gleichen Zug durch Freiburg, mit dem wir damals nach Basel gefahren sind. Richte Dich so ein, daß Du mit einem Billet II. Klasse zu mir in den Zug steigst und mich nach Basel begleitest, wo wir ja zusammen zu Mittag essen könnten. Nach meiner Abreise könntest Du dann zurückfahren. Auf diese Weise hätten wir vielleicht 2 ½ Stunden zusammen, was doch sehr nett wäre. Ich könnte Dir dann alles erzählen und auch vor allem Deine englischen Pläne mit Dir besprechen. Ich habe nämlich heute Morgen einen Brief von Rolf bekommen, aus dem ich Dir den entsprechenden Passus abschriftlich beilege. Ich habe ihn auch an Mutter geschickt und bin der Meinung, daß wir es so machen sollten, wie Rolf vorschlägt. Was Dir evtl. auf Rolfs Farm in Gore bevorsteht,

darüber werde ich Dir Näheres mitteilen. Jedenfalls wäre es ganz anders als Dein bisheriges Dasein. Aber Englisch würdest Du fabelhaft lernen, und Ralph ist ein ganz entzückender Kerl. Über all das mündlich. – Hier alles wohl.

Mit herzlichem Gruß (CHB)

Anlage: C.H.B. an seine Frau Hedwig. (Berlin?), 3.6.1931

(Maschinenkopie)

Liebe Hedwig,

eben telefoniert mich der Vertreter des Temps, ein M. Lauret, an im Namen von Mme Keller-son (Foyer de la Nouvelle Europe, nicht zu verwechseln mit der Europe Nouvelle). Diese Dame, wohnhaft 2 Rue de Chézy in Paris–Neuilly, hat zwei Söhne von 16 und 18 Jahren. Sie behauptet, im vorigen Jahre mit uns in Verbindung gestanden zu haben zwecks Aufnahme von Hellmut. Ich kann mich der Sache nicht erinnern. In diesem Jahre hätte sie eine kleine Villa gemietet in der französischen Schweiz, 1400 m hoch, und möchte dort gern Hellmut für 6 Wochen haben unter der Voraussetzung, daß dann einer der Jungen einmal 6 Wochen mit Hellmut in Berlin sein könnte. Ich habe sofort gefragt, ob nicht vielleicht auch ein junges Mädchen in Frage käme und habe dabei an Maria Michaelis7 gedacht. Da ich die Vorge-schichte nicht kenne und auch nicht weiß, wie weit es mit Hellmuts englischen Plänen steht, schicke ich Dir in aller Eile diese Notiz mit der Bitte, jedenfalls der Dame ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Ich würde ja Frida gern den Gefallen tun, etwas für Maria zu erreichen. (CHB)

 

178. Karte von Hellmut Becker an seinen Vater. Heidelberg, 6.7.1931

Lieber Vater!

Heute Morgen langes Ausschlafen, vormittags solo Schloßbesichtigung, mittags mit Georg Kruse, einem Salemer, anschließend herrliches feines Baden im Neckar. Nachmittags Kolleg von Jaspers, spätnachmittags Spaziergang mit Bergsträsser. Heute abend wahrscheinlich Philosophenweg. Morgen will ich, wenn’s schön ist, nach Neckarsteinach mit der Bahn, zurück mit Motorboot. Morgens noch Kolleg von Radbruch8, abends eines mit Gundolf. Dann nach Hause.

Herzlichst Hellmut

 

179. C.H.B. an Sohn Hellmut. Berlin, 15.7.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

herzlichen Dank für Deine verschiedenen Karten aus Heidelberg. Ich freue mich sehr, daß Du es dort so schön gehabt hast.

Ich fahre Freitag Morgen wieder durch Freiburg und zwar um 10.07 Uhr. Es wäre nett, wenn Du mich wieder bis Basel begleiten könntest, da es wohl das letzte Mal vor China ist, daß wir uns sehen können. Einstweilen habe ich wenigstens noch die Hoffnung, daß die gegenwärtige Verwirrung nicht zu einer Zurückstellung Deiner wie meiner Auslandspläne führen wird.

Falls Du aus irgend einem Grunde nicht mitfahren kannst, komm jedenfalls an die Bahn, damit wir uns noch einmal sehen.

Hier alles wohl. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

180. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 25.7.1931

(Maschinenkopie) (Einschreiben!)

Lieber Hellmut,

Du wirst Dich gewundert haben, daß Du noch kein Geld erhieltest. Aber erst wollte es Mutter besorgen, und dann hat sie mich doch wieder darum gebeten. Ich schicke Dir deshalb einlie-gend 150 RM. Wenn das nicht genügt, schreibe mir sofort, damit ich Dir noch etwas schicke. Es ist nur im Augenblick nicht anhängig, Geld über den Bedarf hinaus abzuheben. Walter war ganz außerstande, sich stundenlang für Dich an die Sparkasse anzustellen, um schließlich 20 RM herauszubekommen. Es wird eben noch einige Zeit dauern, bis hier wieder alles in Ord-nung kommt. Da man aber auf der Bank über sein Gehalt disponieren kann, ist vorläufig alles gut, solange man wenigstens sein Gehalt bekommt.

Gestern waren wir alle sehr glücklich über Walters schönes Examen. Er hat mit sehr gut, also magna cum laude abgeschnitten, was bei einem Juristen schon eine ungewöhnliche Note ist. Seine Mitkandidaten kamen auch durch, und das Examen selbst war sehr angenehm. Der un-angenehmste Prüfer ist erkrankt und durch einen ihm genehmeren ersetzt gewesen. „Meine Generäle müssen Fortune haben!“

Hier ist göttliches Wetter. Ich diktiere das morgens auf der Veranda. Eben hat Hertha aus Werder9 telefoniert. Heute nachmittag wird sie hier sein. Morgen geht sie zu Sarres. Ich war gestern ganz allein, da der angesagte Frommel seine Ankunft auf heute verschob. Zum Rind-fleisch in der Suppe kommen heute außer Frommel noch Farkas, der auch Strohwitwer ist, und mein Schüler Hellige, der jetzt endlich die Bibliothek in Angriff nimmt und während meiner Abwesenheit Ordnung schaffen soll. Zum Abendessen erwarte ich Harro zum Ab-schied und Billie für Frommel. Alle Leute hängen jetzt fest mit ihren Auslandsreisen. Es ist zum Verzweifeln, und ich hoffe, daß die Notverordnung bald aufgehoben wird. Walter ist von Halle direkt nach Dresden zu Oskar gefahren, will aber Sonntag Abend wieder hier sein.

Am Morgen nach unserer Trennung habe ich hier einen englischen Vortrag gehalten, den nächsten Tag ein Doktorexamen gehabt, 6 Stunden Kolleg gelesen und eine sehr gut Rede von Grimme10 zur Verfassungsfeier des Studentenverbandes im Reichswirtschaftsrat gehört. Er hat es doch recht gut gelernt, und man hört ihm gern zu.

Mutter rief gestern an. Ich bin neugierig, ob Ihr nun zusammen zurückreist, oder ob sie doch noch einige Tage in Augsburg bleibt. Ich nehme jedenfalls an, daß Du Dich rechtzeitig ansagst. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

181. Hellmut Becker an seinen Vater. Hemmenhofen, 11.8.(1931?)

Lieber Vater!

Vielen Dank für Deine beiden freundlichen Karten. Es freute mich sehr durch sie zu hören und auch durch Mutter, daß es Dir wieder besser geht. Hoffentlich wird es Dir bald wieder ganz gut gehen. Vielleicht wirst Du ja auch noch mal zu uns runterkommen. Du scheinst es ja in Dresden sehr schön zu haben; denn wenn Du auch keine großen Ausflüge wirst machen dürfen, so gibt es in Dresden doch viel anzuschauen. Hast Du schon die Sixtinische Madonna gesehen? Deine Autofahrt in die Sächsische (Schweiz) muß wundervoll gewesen sein.

Gestern war ich in Friedrichshafen; deshalb mußte ich Deinen Brief unterbrechen. Es hat gestern in Strömen gegossen, aber es war trotzdem sehr nett. Großmutter ist seit vorgestern in Friedrichshafen; es gefällt ihr dort sehr gut.

Du wirst jetzt also noch eine Woche in Dresden bleiben. Das ist ja sehr schade.—

Als ich neulich mal in Friedrichshafen war, war ich im Zeppelin-Museum. Es war sehr schön und sehr interessant.

Meiner Gesundheit geht es ausgezeichnet. Ich hoffe sehr, daß Du auch bald wieder ganz gesund sein wirst.

Dein treuer Sohn Hellmut.

 

182. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 21.8.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

die zwei gewünschten Adressen sind.

  • Dr.jur. Ernst Deissmann, The Anglo-German Academic Bureau, 58 Gordon Square, London W.C.1.

  • George Trevelyan, 14 Ct. College Street, Westminster, London SW 1.

Uns geht es weiter gut. Allerlei wichtige Beschlüsse für den Winter sind gefaßt; doch will ich ihre Publikation der zuständigen Stelle überlassen. Jedenfalls löst sich alles sehr erfreulich bis incl. Quick. Ich lasse Dich mit Absicht etwas zappeln, weil Du uns auch so schrecklich hast zappeln lassen, und auch auf Deiner erst heute eingetroffenen Karte nur von Deiner heroischen Haltung der Größe des Meeres gegenüber Kenntnis gegeben hast.

Zar und Zimmermann war eine mäßige Aufführung, fand aber ein begeistertes Publikum. Es spielte auf Capri statt in Zandam.

Sonnabend Morgen kommt Walter von seiner offenbar trotz schlechten Wetters sehr geglück-ten Reise zurück. Am Abend trifft dann Irmgard11 ein.

Herzliche Grüße (DeinVater)

 

183. Hellmut Becker an seinen Vater. (Hemmenhofen, Bodensee?), 27.12.1931

Lieber Vater!

Mit der letzten Flugpost habe ich leider nicht schreiben können, da ich viel zu spät in Inns-bruck ankam und keine Zeit mehr dazu fand. Hoffentlich erhältst Du vor Deiner Abreise nach China noch meinen ausführlichen Bericht, denn der Weihnachtsgruß nach (unleserlich) ist ja ziemlich kurz ausgefallen.

Für Dein fabelhaft großzügiges Weihnachtsgeschenk vielen Dank. Du kannst Dir denken, daß ich Geld stets glänzend brauchen kann. Wir haben uns, da wir ja zu Weihnachten stark (?) auseinander sind, das Geld geholt. Ich werde meinen Teil wahrscheinlich in erster Linie für Bücher verwenden, eventuell mit einem Teil als höchst erfreulichen Beitrag zu den Freiburger wochenendlichen Skiunternehmungen. Ich danke Dir auf jeden Fall vielmals und fand es fabelhaft, daß Du aus weiter Ferne12 uns zu Weihnachten so rührend bedacht hast.

Ich las mit größtem Interesse die weiteren Berichte, vor allem auch den letzten über den Inhalt eines Berichtes; es war sehr nötig und interessant, daß Du mal etwas darüber schriebst.- So interessant Deine Briefe aber auch sind, so bin ich doch schon jetzt sehr gespannt, was Du mündlich alles erzählen wirst und was eben schriftlich einfach nicht wiederzugeben ist. Fragen schriftlich zu stellen, würde wenig Zweck haben, da Du, bis Du den Brief erhältst, schon wieder weiter in Deinem Studium des so fernen China sein wirst, daß Deine Konzentrationskraft davon voll in Anspruch genommen wird. Also das alles (wollen) wir bis zur mündlichen Unterhaltung aufschieben.

In Freiburg hatte ich auch für eine sehr nette Gesellschaft Zeit. Du hast ja über meinen Frei-burger Kreis in meinem letzten Brief nach China schon einiges gehört. Gesellschaftlich hinzuzufügen wäre vielleicht zumal (?) einige nette Abende bei Lanzmanns, einem Verleger, der eines der schönsten Häuser auf dem Lorettoberg besitzt und in dessen Verlag u.a. Bücher von Kayserling und Klages erschienen sind, sowie einige Abende bei Pringsheims. Unter meinen jungen Bekanntschaften ist die netteste wohl Gerry Picht (?), mit dem ich ziemlich viel zusammen war; ich war auch ziemlich oft bei Pichts draußen. Herr Dr. Baumgarten läßt Dich vielmals grüßen; ich schreibe nächstens mehr über ihn.

Hier ist es ganz entzückend. Mutter und ich verlebten einen reizenden Weihnachtsabend, der gar nicht geschmacklos, sondern stilvoll veranstaltet war. Beide erholen wir uns hier glänzend, Mutter schläft sehr viel, ich laufe ziemlich viel Ski.- Die Ilmau (?) als ganzes gefällt mir glänzend. Weder Burgen noch Vorträge erschüttern mich sonderlich; das Haus, die Menschen, die Form zu leben und vor allem die Umgegend finde ich restlos befriedigend. Mutter tut die Sache sehr gut und sie erholt sich sichtlich. Sie hat aber die Kunst des Ausspannens jetzt auch ganz nötig. Das Nette hier eben ist, daß alles so viel Stil hat und im Grunde so positiv und einheitlich in sich ist.

Mutter fährt am 2.1.(1932) nach Augsburg, am 9.1. nach Freiburg.

Dir alles Gute! Hoffentlich erhalten wir jetzt noch weitere Adressen.

Herzlichst Dein Hellmut.

P.S. Walter und ich schenkten Mutter den neuen Albert Schweizer zu Weihnachten. Ich kann meinen glücklicherweise noch umtauschen.- Entschuldige meine Schrift, sie ist noch furcht-barer als sonst, da ich auf Mutters Briefpapier schreiben muß, da mein eigenes zu schwer ist und der Brief sonst 1 Mark mehr kosten würde.

 

184. C.H.B an Hellmut in Freiburg-Ebnet bei Dr. Baumgarten. (Berlin?), 21.11.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Mutter meint, daß Dich die beiden Anlagen interessieren werden, weshalb ich sie mit der Bitte um Rücksendung zuschicke. Was die neueste politische Entwicklung betrifft, so glaube ich nicht, daß die Hitler-Herrschaft zu Stande kommt13. Es sieht mir so aus, als ob man ihm die letzte Chance nehmen, nicht als ob man sie ihm geben wollte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er als Reichskanzler die nötige Majorität aufbrächte, und ein Präsidial-Kabinett braucht einen parteipolitisch unabhängigeren Mann.

Sonst im Augenblick nicht viel zu berichten. Gestern war Herr Picht bei uns zum Mittag-essen, dem ich nachher den Aufsatz für die New York Times vorlas, dem er Wort für Wort zustimmte. Die englische Übersetzung habe ich mit Rolf vorbereitet, wir sind aber leider nicht fertig geworden. Daß bei Devrient-Michaelis Zwillinge14 angekommen sind, wirst Du wohl gehört haben.

Ich diktiere diesen Brief in aller Eile. Die Mutter wartet schon mit dem Auto, wir kombinieren Zahnarzt und Kolleg; deshalb unterschreibe ich dieses auch nicht persönlich. Den Amerika-Aufsatz könntest Du auch einmal Baumgarten lesen lassen; ich bin sehr neugierig, was er dagegen sagen wird. Ich freue mich sehr, daß Du Dich dort im Hause wohl fühlst. Während ich dies schreibe, schaue ich zu meinem Fenster hinaus und freue mich meiner Aussicht und denke daran, wieviel schöner Du es noch hast. Möge es immer so sein!

In Liebe von Herzen Dein Vater

 

185. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 8.12.1932

(Maschinenkopie)

Mein lieber Hellmut!

Dein improvisierter und doch wohl durchdachter Brief hat mich sehr gefreut und beschäftigt. Es fehlt ihm ja nicht das nötige Selbstbewußtsein – auch in diesem Punkte hast Du mehr von Deinem Onkel Alex als von Deinem Vater geerbt – aber schließlich gibt es ja ein nicht ganz unrichtiges Wort „nur die Lumpen sind bescheiden“. Immerhin würde ich mich sehr freuen, wenn Deine Begabung etwas mehr in den Dienst der Allgemeinheit gestellt würde, als das bei Onkel Alex der Fall war., dem aber dieser Wille zum Politischen abging. Meine eigene Stel-lung zur Politik hast Du ganz richtig charakterisiert, mir kommt es mehr auf persönliche Lebensgestaltung und auf Dienst am Menschen an, als gerade auf breite politische Wirkung, obwohl ich zu dieser auch fähig bin und, so lange ich im Amt war, auch mit letztem Einsatz mich gewidmet habe. Zur Zeit aber befriedigt mich vollkommen die Wirkung im engeren Rahmen, und man ersetzt durch Intensität, was einem an Expansion versagt ist. Ich bin zwar nicht mehr der stille Gelehrte, als den ich mich in Deinem Alter als Zukunftsbild gesehen habe, aber ich glaube, jetzt das Arbeitsfeld gefunden zu haben, auf dem ich die Synthese zwischen meinen zwei Lebensberufen und Ausbildungen vollziehen kann.15

Doch nun zu Deinen Plänen. Sie sind gut durchdacht, nur rechnen sie mit zwei Unbekannten. Die erste Unbekannte ist das Assessorexamen. Ich habe selbst einmal als Minister verfügt, daß die juristischen Fakultäten grundsätzlich niemanden ohne Assessor-Examen zulassen sollten, da sonst bei Nicht-Erfolg der arme Kandidat nur noch Gerichtsschreiber werden könnte. Ausnahmefälle gibt es allerdings beim Staatsrecht, aber auch hier wird es ungern gesehen, wie ich neulich bei Bruns feststellte, der allerdings meinte, eine freie Arbeit auf seinem Institut wäre nach dem Referendar für einen künftigen Gelehrten eine mindestens ebenso gute Aus-bildung wie eine Assessorzeit. Immerhin wird alles davon abhängen, ob die Fakultät, bei der Du Dich habilitieren willst, sich auf das Risiko eines assessorlosen Privatdozenten einläßt.

Die zweite noch größere Unbekannte ist eine Berufung in jungen Jahren. Im Augenblick war die Chance nicht schlecht, aber wenn jetzt alles mit jungen Leuten besetzt wird, ist es natür-lich schwierig, in den Jahren, während deren Du auf eine Berufung rechnest. Gegen den gan-zen Plan bleibt eines zu sagen, das ist die ausschließlich theoretische Ausbildung für den künftigen Politiker. Die Reibung oder, um mich technisch auszudrücken, die Funktion des politischen Lebens kann man niemals aus Büchern lernen, und es geht mit der Erfahrung der Praxis wie mit der Erfahrung des Liebeslebens: man kann alles wissen und hat es doch nicht erlebt.16 Darin habe ich immer den großen Vorteil der Referendarausbildung gesehen, daß man in den Jahren bis zum Assessor doch mit den verschiedenartigsten praktischen Lebens-verhältnissen in unmittelbare Berührung gelangt. Ich habe ja selbst einen rein theoretischen Ausbildungsgang durchlaufen, habe allerdings durch meine großen Reisen frühzeitig eine gewisse Weltläufigkeit bekommen, die durch internationale Erfahrungen ersetzte, was mir an heimischer Schulung fehlte. Immerhin war es doch auch für mich eine neue und fremde Welt, als ich in Hamburg zum ersten Mal mit dem politischen Leben in Fühlung kam und als Senatskommissar vor dem Parlament auftrat. Was die Reibungen des praktischen Lebens aber wirklich bedeuten, habe ich eigentlich erst in meiner ministeriellen Praxis gelernt.

Diese Ausführungen sollen nicht gegen Deinen Plan sprechen, aber sie sollen Dich klären helfen. Jedenfalls freue ich mich über den bewußten Einsatz Deiner Energie auf das akade-mische Studium, der sich in diesen Plänen dokumentiert, denn ich zweifle nicht, daß Du Dir darüber klar bist, daß selbst bei einem gescheiten Menschen die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben; namentlich im akademischen Leben, wo selbst ein so gescheiter und feingeistiger Mensch wie Sment Ruf und Ansehen weniger seiner Geistreichheit und seiner Integration als seinem dicken Buch über den Reichsdeputationshaupt(be)schluß verdankt. Immerhin kommt es auf juristischem Gebiet, und das mag Dich trösten, vielleicht stärker als auf irgendeinem anderen Gebiet der Geisteswissenschaften auf Qualitätsleistung im rein Gedanklichen an. Man kann also mit einer gewissen Dosis von Faulheit bei der nötigen Aufwendung von Grips nicht nur etwas leisten, sondern auch anerkannt werden. Unter allen Umständen aber werden diese Zukunftspläne bei Dir zu einem Einsatz von Arbeitskraft füh-ren, der einem für alle Fälle wichtigen günstigen Ausgang der ersten Examina nur förderlich sein kann.

Am meisten hat mich aber an dem Brief gefreut, daß Du ein engeres Verhältnis zu einer Arbeit im Rahmen Deiner Zukunftswünsche gefunden hast. Für den Mann ist ein solcher Halt in sich selber die beste Garantie für ein sinnerfülltes Leben. Man hat sein Fatum in sich, aber seine Fortuna kann man machen.17

Sag doch Herrn Baumgarten, wie herzlich ich mich über seinen guten Erfolg in Göttingen gefreut habe. Neulich telefonierte mich Windelband an, um mir aus einem Brief von Prof. Hecht die volle Anerkennung für Person und Leistung Baumgartens vorzulesen. Die Fakultät würde sich demnächst äußern. Hoffentlich geschieht das bald. Auch Hertha schrieb sehr begeistert, besonders über die Formvollendetheit des Vortrags. Im übrigen bin ich sehr neugierig, was B(aumgarten) zu meinem Amerika-Aufsatz gesagt hat, den ich mir übrigens gelegentlich ebenso zurück erbitte, wie den Durchschlag meines Briefes an Onkel Ernst. Die Redaktion der New York Times war von dem Artikel sehr begeistert; die Frankfurter Zeitung bemüht sich zur Zeit um ein gleichzeitiges Erscheinen des deutschen Originals.

Du wirst gehört haben, daß das Brautpaar nicht nach Amerika fährt und Frau Schroeder erst nach Weihnachten allein kommt. So werden wir alle hier gemeinsam Weihnachten feiern. Daß der teure Max geflogen ist, hat Mutter Dir ja wohl auch berichtet. Da wir alle, incl. Helene, auf diesen fixen und außerordentlich charmanten Kerl hineingefallen waren, wagten wir nicht zu gestehen, daß uns der sich meldende Ersatz auch wieder sehr gut gefiel. Er erin-nert physisch an Deinen Tutor Beck, ist weniger charmant, aber dafür solider als sein Vor-gänger, stammt aus Pommern, hat keine Dienerschule, aber ist in erster Linie Diener, und zwar meist in Saisonstellen an der See. Wir haben ihn einen ganzen Tag allein mitarbeiten und fahren lassen, ehe wir ihn engagierten. Morgen soll er antreten. Quod deus bene vertat.

Von mir selbst kann ich nur Gutes berichten. Zur Zeit sind Frommel und Bertaux hier, die ich neulich als zwei Kampfhähne aufeinander losgelassen habe, was höchst amüsant war. Bertaux war entsetzt über Frommels irrationalen Nationalismus und Frommel über Bertaux’ kühlen Nationalismus. In einer dramatischen Aussprache bei Lutter&Wegener zwischen drei Franzo-sen und drei Deutschen haben wir uns schließlich auf die Formel geeinigt, daß der französi-sche Nationalismus eine der Irrationalismen der französischen Mentalität sei. Ich selbst habe vorgestern in der Deutschen Gesellschaft über Bali gesprochen. Der Vortrag war gut besucht und ein echter Balinese anwesend. Gestern Abend war ich mit Mutter bei Dietrichs, wo jeder zweite Mann ein Minister war: außer dem Gastgeber und mir Brüning, Stegerwald, (unleserli-cher Zusatz), Koch-Weser, Graf Schwerin usw. Mutter saß zwischen Rumbold und einem schönen jungen Philosophen, ich zwischen Frau Koch-Weser und Breitscheid. Mutter fuhr glänzend durch Verkehr, Wind, Wetter und Finsternis.

Auf frohes Wiedersehen Weihnachten! Grüße Baumgarten. (CHB)


Tod Carl Heinrich Beckers am 10. Februar 1933


(Beileidsschreiben ab 12.2.)

 

186. Beileidskarte von Trude Becker an Hellmut Becker. O.O. 13.2.1933

Lieber Hellmut!

Ich liege hier mit einer Grippe im Bett und möchte Dir so gern etwas Liebes sagen, bringe es aber nicht fertig. Der Verlust Deines Vaters hat uns so plötzlich und unerwartet getroffen, daß man sich immer noch keine rechte Vorstellung davon machen kann. Ich denke viel an Dich, Deine liebe Mutter und Geschwister.

Viele Grüße Deine Trude

 

187. Beileidsbrief des Volkskonservativen Asuen(?) an Hellmut Becker. O.O., 12.2.1933

(Auszug)

Lieber Hellmut!

(…)

Beim Tode Deines Vaters mischt sich das Mittrauern mit Euch Angehörigen mit der eigenen Trauer um den Verlust, den das öffentliche Leben – um nicht pathetischer zu sagen -, den Deutschland erlitten hat.

(…) Mein Wunschtraum, ihn einmal an der Spitze eines Reichskultusministeriums, als Führer des Kulturlebens der ganzen Nation zu sehen, ist nun unerfüllt geblieben.


1 Der Berliner Funkturm hat den 2. Weltkrieg überdauert und ist heute noch ein Wahrzeichen der Stadt.

2 Otto von Habsburg

3 Hervorhebungen vom Herausgeber. In Ungarn herrschte Nikolaus von Horthy als Reichsverweser 1920-1944

4 In Italien herrschte der „Duce“ Benito Mussolini 1922 bis zu seinem Tode 1945, beides sog. Monarchien mit autokratisch-faschistischen Regimen.

5 Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, heute Max-Planck-Gesellschaft für Forschung und Wissenschaft

6 Hervorhebung vom Herausgeber.

7 Es handelt sich um Mia Michaelis, Tochter von Frida und Otto Michaelis, die später Theologie studierte, den Göttinger Theologieprofessor Trillhaas heiratete und 5 Kinder mit ihm hatte. Mein Bruder Uwe studierte während der Berliner Blockade 1 Semester dort 1948 und wohnte in einer noch freien Besenkammer – Wohnraum war eben knapp.

8 Das war sozusagen die Crême de la crême von Heidelberg für einen jungen Juristen: Karl Jaspers (Philosoph), Bergsträsser (Jurist und Politologe, den ich noch nach dem Kriege in Freiburg erlebte), und Gustav Radbruch, vor allem als Vater der Weimarer Verfassung bekannt.

9 Werder ist der Obstgarten von Berlin und sehr schön im Westen Berlins gelegen (für die Nicht-Berliner)

10Adolf Grimme, Pädagoge und SPD-Politiker, war als Minister Nachfolger Beckers im Preußischen Kultusministerium 1930-33

11 Irmgard war die Frau von Walther Becker und Mutter von Zwillingsmädchen

12 Chinareise Beckers. Evtl. war Becker aber schon (Dezember 1931) auf dem Weg nach Java

13 Hervorhebung vom Herausgeber.

14 Es handelt sich um Emma und Walther Devrient, mit den Zwillingen Ursula und Hanna *17.11.32; später kam noch ein Sohn Joachim; Emma ist die Tochter von Frida und Otto Michaelis, Schwester von Otfried und Mia…

15 Hervorhebung des Herausgebers.

16 Hervorhebung des Herausgebers.

17 Hervorhebung vom Herausgeber.

Harro Siegel, II.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1922

146. Harro Siegel an C.H.B. (Berlin?) 18.5.1922

Lieber Carl!

Das scheint nun freilich eine recht unruhige Zeit für Dich gewesen zu sein (schönen Dank für Deine Karte); als Schauobjekt denke ich mir das ungeheuer anziehend; ich möchte Dir aber wünschen, daß Du rein äußerlich immer die nötige Distanz hattest. Innerlich – das brauche ich Dir ja nicht zu wünschen. Du wirst schon die rechte Klappe zugemacht haben. Hoffentlich lerne ich das auch noch mal. Pompöse Festlichkeiten pflegen mich zu langweilen oder zu dégoûtieren. Freilich, – in Italien wird alles anders sein. Sicherlich verstehen die Leute dort so was besser.

Vielleicht ist es Dir nun nicht ganz unwillkommen, nach diesem Wirbel in Deiner stilleren Zeit in Venedig nochmals einen Brief von mir zu bekommen. Welch angenehmer Zeitvertreib für mich, während meiner stupiden Tagesarbeit mir diese Deine Reise einzuinhalieren.

Du hast sicherlich am letzten Sonntag mal darüber nachgedacht, was W(endé?). und was ich zur selben Stunde wohl unternehmen möchten. Ob Du aber auf das geraten hast, was Dir unsere Karte verriet? – Dieser Spaziergang war wirklich wundervoll. Weißt Du, -in der Erfüllung von Realitäten haben W. und ich uns dank gleicher schwerflüssiger Anlage wenig zu sagen gewußt. Aber dies unter allem mitschwingende Gefühl unbedingten gegenseitigen Verstehens und Vertrauens ist mir so wohltuend. Ich bezweifle übrigens nicht, daß es ihm ebenso geht. Ich weiß nicht, ob Schicksalsgemeinschaft nun immer (weggelocht: so?) mehr pflichtmäßige Bindung mit sich bringen muß, – aber ich glaube hier von beiden nur zu spüren. Auch um dieses Menschen willen tut es mir weh, jetzt hier fortzugehn. Trotzdem glaube ich, daß auch unserem stillschweigenden Verhältnis Jahre der Trennung im Grunde nichts anhaben können.

Ich vergleiche Dein Urteil über Frau W. mit der Realität, verstehe es, mache es aber nicht mit, sondern finde, daß Du ein wenig ungerecht bist.

Mit den Kindern bin ich sehr gut Freund, besonders mit dem Bübchen. Der immer von neuem aufflammende hitzige Strauß um die Plätze an meiner Seite hat mich fröhlich ergötzt. Diese meinen Kindern zugewandte Komponente scheint mir wichtig.

Oberleutnant Hasse (?), der mich frühmorgens vom Lager (weggelocht: juchzte?) ist wirklich ein durch und durch anständiger Kerl, aber ich weiß nicht, ob noch viel mehr. Er scheint mir nicht problemlos, aber auf alle Fälle unproblematisch. (Aber er stand ja auch glänzend mit seinem Vater.)

Das Wetter ist wundervoll, infolgedessen die Stubenhockerei kam noch zu ertragen.

Nun, Schluß! Es ist spät. Viel Geist habe ich nicht mehr zu verschwitzen. Nimm aber zur Kenntnis, daß ich eben meiner Mutter (die ich doch wirklich von Herzen liebe) zum Geburtstag nur drei weitgeschriebene Seiten schrieb, – und nun dieses!

Ich bin Dein Harro.

 

147. C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18./19.5.1922

Ganz persönlich

Mein liebster Harro!

Das war ein guter Brief, den Du mir da geschrieben hast. Aus der ganzen Schwere Deines Herzens heraus konzipiert trug er den Stempel eines ernsten Ringens, Unaussprechliches in verständliche Worte zu kleiden. Ich glaube Dich verstanden zu haben. Auch den ersten stammelnden Versuch, Dich auszudrücken, hatte ich richtig erfaßt. Ebenso eine zweite Äußerung einmal in meinem Vorzimmer und jetzt dieser Brief. Ich weiß, daß ich Dich nicht ganz habe, aber nicht, weil Du Dich nicht hast, sondern wohl aus anderen Gründen. Ich kann so etwas nicht schreiben. Letzte Dinge kann man nicht durch Niederschreiben objektivieren. Man kann sie wohl aussprechen. Aber dadurch geht ein letzter Hauch verloren, aber es bleibt dafür eine starke Gewißheit. Die Gewißheit der Niederschrift ist so brutal, weil sie übertragbar wird. Der Brief kann in andere Hände fallen und so etwas darf und soll nur zwischen Dir und mir sein. Ich bin nur frei im Gefühl und im Erleben. Schon das Wort wird zur Hemmung, die Schrift zur Schranke. Denke an den schönen arab(ischen) Vers, den Ritter Dir schrieb und den ich Dir übersetzte. Wir müssen noch einmal eine stille Stunde miteinander haben, wo wir beide bereit und offen sind über uns zu reden. Hier wäre ich’s . Wie oft sehe ich Dich hier an meiner Seite stehen. Was ich in diesen letzten Tagen an schönen und eigenartigen Eindrücken aufgenommen habe, ist einfach unerhört.

In Padua1

Erst das Erlebnis der Piazza. Der Student beherrscht die Stadt, die Straße. Dabei ein Frohsinn, eine Leichtigkeit und bei aller Tollheit eine Disziplin und letzte Liebenswürdigkeit, die mit allem versöhnt. Dabei spielt der Alkohol keine Rolle.

Dann die gewaltige internationale Demonstration im Salon2e. Man erlebt eine Nation und

eine res publica gentium. Die Masse tost und die Masse schweigt, in Stille und Ehrfurcht. König, Kardinal, Militär, 100te und Aberhunderte von Akademikern in schillernder Farbenpracht. Eviva il Ré.

Ein alter köstlicher Palast größten Styls. Der noch heute reiche Graf gibt ein Abendfest. In den prächtigen alten Räumen eine riesige Gesellschaft, alle Paduaner in Tracht des (Sette) Cento. Köstlicher Garten mit herrlichen alten Zedern und Platanen. Diskrete grüne Beleuchtung und kunstvolle Ornamentik mit roten Öllampen entsprechend der Architektur der Galerien und Balkone und Pavillons. Ich liebe die italien(ischen) Nächte im allgem(einen) nicht. Aber das war ein Traum, den man nicht vergißt.

Herrlicher alter Park, Styl Schwetzingen oder Belvedere. Alte Kastanien, entzückende Durchblicke. 430 Personen werden an langen Tischen gespeist und dann wandelt man in diesen Alleen. Mittags zwischen 1 und 3 (Uhr) sonnig und doch kühl. Köstliche Weine. Lauschige Gänge und Lauben, blühende Rosen und Glyzinien. Fresken von Tiepolo.3

In Venedig

Canal della Linderra(?), das Boot kommt in die Lagune. Man biegt um die Ecke. Rechts die graziöse Santa Marie Maggiore, links der Marcusplatz und der Palazzo Ducale4 weiß und glänzend, fast rosarot in der Sonne, das Wasser und der Himmel blau – alles ganz unwahrscheinlich und doch wahr.

Marcusplatz, Abends, Dunkelheit, eine angenehme Menschenmenge wogt hin und her, eine Musikkapelle spielt, wie nun Italiener spielen, eine Kette von Studenten mit bunten bengalischen Fackeln stürzt in die Menge, sie umkreisend, das Licht reflektiert auf dem von einem kurzen Gewitterregen feuchten Boden, erhellt die umstehenden Gebäude, aus rosaroten

Wolkennebeln dämmert der Marcusdom hervor.

Im Restaurant, man sucht seine alten Lieblingsspeisen heraus, eine Zuppa, von der man satt wird, oder Risotto oder Spaghetti, Artischocken, gebratene Fische oder gebackenes Allerlei, Käse, getrocknete Südfrüchte, dazu Rotwein und nochmals Rotwein, Cafè nero. Am selben Tisch sitzen Italiener. Ob man will oder nicht, in fünf Minuten ist man mitten in der Politik. Alle Italiener versichern, daß sie ja eigentlich nur mit Österr(eich)5 Krieg geführt hätten und daß sie uns nach wie vor lieben. Das ist keine Phrase. Ehe man sich’s versieht hat man eine Zigarette geschenkt bekommen und man bedauert nur, daß man das Italienisch so barbarisiert.

Draußen am Lido liege ich in den Dünen. Das Meer bricht sich in langen weißen Wellen. Blau wie der Himmel. Ziemlich Einsam. Majestätisch zieht am Horizont die italien(ische) Flotte.

Überall, mein lieber, lieber Harro, habe ich Deiner gedacht und Dich an meine Seite gewünscht. Ich hoffe und weiß, daß auch Du mit mir lebst. Nimm heute mit diesen kurzen Andeutungen vorlieb. Sie sind der Nacht abgerungen. Ich bleibe wohl bis Montag hier und bin wahrscheinlich schon Dienstag Abend in Augsburg, Maximilianstraße 26, bei Geheimrat von Schmid. Vielleicht gehe ich dann noch zu Wende in den Taunus. Eure gemeinsame Karte freute mich sehr.

Ich erhole mich sehr und kann sogar allein sein. Schöner wär’s mit einem Menschen, den man lieb hat, aber sehr lieb. Je lieber man ihn hat, desto schöner wär’s.

Von Herzen Dein Carl.

 

148. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 20.5.1922

Lieber Harro!

Es ist noch immer so schön hier und wir genießen (das) freundliche Wetter herrlich. Heute Murano, die Glasbläserinsel und Mittags San Lazzaro, das armen(ische) Mechitaristen (?) Kloster besucht. Aus Versehen stiegen wir auf einer falschen Insel, dem Irrenhaus, aus und mußten dort 1 Stunde sitzen. Herzl(ichen) Gruß Dein Carl.

PS. Von anderer Hand:

Herr Professor sagte mir eben, daß Sie Verständnis hätten für unser eigentümliches Zusammensein. Am Ende würden Sie gar eifersüchtig sein, wie lieb der Herr Professor mit mir ist.

Recht herzliche Grüße Hans Gladinas (unleserlich).

 

149. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 21.5.1922

Mein lieber Harro!

Hans Gladinas (?) (mitgesendete?) Bemerkung auf der gestrigen Karte habe ich passieren lassen in der Überzeugung, daß Du keinen Mißbrauch damit treibst. Es war ein netter schlichter Jung, der sich mir in rührender Weise anschloß. Obwohl Student in Padua, war er noch nie hier gewesen. So lud ich ihn ein, mit mir zu gehen. Wir waren drei Tage zusammen. Er war gerade das was ich brauchte. Still und behaglich, alles genießend, gesprächig wenn mir’s um Unterhaltung zu tun war – stets eine angenehme Gesellschaft. Jesuitenschüler und auch in

Padua noch in einer Art freiem Pensionat. Es war zu nett zu sehen, wie es ihm immer mehr gefiel und als er eben abfuhr, war ihm ordentlich schwer ums Herz. Du weißt wie ungern ich so etwas unerhört Schönes wie Venedig allein genieße. So hatte ich doppelte Freude davon. Er war gerade in seiner Harmlosigkeit so unendlich ausruhend. Ja, mein Lieber, wenn Du es gewesen wärst! Ich mußte oft daran denken. Das wäre eben ein Märchen gewesen.. Ja, mein Armer. So was im Intimen (wegelocht 2Mal). Bitte dies nicht so liegen lassen.

Dienstag beginnt Rückreise über Gardasee. Von Herzen Dein Carl.

 

150. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 23.5.1922

Lieber Carl!

Ich möchte Dir nur ganz rasch von Herzen für Deinen Brief aus Venedig danken, denn ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme. Er hat mich ungemein erfreut, aber in der Freude verstärkte er auch wieder die Unbefriedigung über Dein Fernsein, und die Begierde, Dich bald selbst wieder zu sehn. Da dies bald der Fall sein wird,, gehe ich nicht weiter darauf ein. Du hast ja Fabelhaftes erlebt und ich bewundere die Kraft Deiner Schilderung.

Wende ist gestern abgereist; besuch ihn doch ja im Taunus und grüß ihn sehr von Herzen von mir. Ich war Sonntag noch mal draußen; es war sehr nett. Für Ende der Woche plane ich zur Zeit noch eine Spritztour nach Hamburg, weiß aber noch nicht, ob ich kann. Im übrigen ist es hier seit Tagen übermäßig heiß, so daß der von der Tagesarbeit schon immer höchst mitgenommene Geist aufs Äußerste reduziert scheint. Deshalb Schluß.

Ich gehöre Dir, soweit ich kann! Dein Harro

P.S. Den Aufsatz von Troeltsch 6(Auf der .<unleserlich> der Wissenschaft) finde ich famos.

 

151. C.H.B. an Harro Siegel, Goslar(?). (Berlin)Steglitz, 1.6.1922

Mein lieber Harro!

Eben kam Deine Karte aus Michendorf (?). Ich freute mich gestern und heute des guten Willens im Gedenken an Dich. Auch in mir klang unser letztes Beisammensein noch lange nach, wenn ich auch ziemlich jäh durch einen Professor herausgerissen wurde, der sein Gehalt erhöht haben wollte und mir eine halbe Stunde etwas vorjammerte. Abends hatte ich dann eine

Aussprache mit Landé, der Dein Buch bis heute noch nicht ausgewickelt hat und es am liebsten so zurückschicken möchte, ohne zu wissen, was es ist. Seit gestern trägt er auch Deinen Brief uneröffnet in seiner Tasche. Er will sich die Illusion nicht nehmen lassen, daß etwas Nettes drinstünde. Hätte er ihn gelesen, dann wäre es mit der Illusion zu Ende. Dabei habe ich ihm bei der Aussprache, als er wieder so den Gekränkten spielte, der von Dir mißhandelt sei, zart aber deutlich angedeutet, worum es sich handelt. Ich fragte ihn zunächst, ob er nicht auch Dich vielleicht „mißhandelt“ habe. Der Gedanke war ihm neu: Noch schöner! Dann aber fand er die Umdrehung köstlich. Erst wurde er mißhandelt und dann solle er noch der Schuldige sein. Natürlich sei er der Schuldige usw. usw. Dann sprach ich ganz allgemein von der Toleranzgrenze, die in solchen menschlichen Beziehungen jeder dem anderen gegenüber habe und fragte ihn, ob er sie Dir gegenüber nie überschritten zu haben glaube. Langsam wurde er hellhörig und dann sehr schmerzhaft. Die naheliegendste Verkettung war diesem Kind und Anfänger in menschlichen Beziehungen nie in den Sinn gekommen. Dann kam der Schmerz in ihm hoch. Das sei ja noch viel schlimmer, nun sei alles kaputt, ich hätte ihm das Letzte zerstört, nun könne er nie wieder einem Menschen näher treten. Er war nüchtern genug zu sagen, ich täte ihm vielleicht damit einen großen Dienst, aber im Augenblick verfluche er ihn. Er kämpfte schwer mit den Thränen und war sehr erschüttert. Er werde den Brief nie aufmachen. Du brauchst das ja nicht zu wissen usw. Gestern und heute war ich dann sehr nett mit ihm. Er ist wieder ruhiger, war heute sogar glückstrahlend über einige Freundlichkeiten des Ministers, und erzählte mir unaufgefordert, daß der Brief eingetroffen. Ich riet ihm, ihn bald zu lesen, er sei sicher zwar hart aber gut und wohltuend. Ich möchte, daß er mit der Sache fertig wird und sich nicht wochenlang mit dem uneröffneten Brief beschäftigt. Ich glaube durch meine übrigens sehr zarte Vorbereitung auch Dir einen Dienst getan zu haben.

Heute las ich mein letztes Colleg. Frau Benecke war allein da und hatte zu arbeiten, zu Tisch hatte ich Gragger, es war sehr nett, friedlich und unaufregend. Zum Schluß kam Richter, der in guter Form ist. Um 5 (Uhr) war dann ein Thee beim Minister mit Damen. Die Kinder spielten gleichzeitig noch einmal die Kindersymphonie für die Studentenhilfe und dann fuhren wir alle fidel im Auto heim.

Wende kommt nun doch heute oder Morgen heim und dann werde ich aller Theorie zum Trotz mit ihm zusammentreffen.

Gestern hätte ich Dich gern da gehabt. Walter war von dem Vater seines Freundes Kuchenthaler (?) eingeladen worden, allein mit s(einem) Freund eine große Reise in die bayer(ischen) Alpen und nach München zu machen. Nach langem Kampf habe ich Nein gesagt. Ich habe Walter ganz offen an meinen Gedankengängen teilnehmen lassen, die Sache kommt mir zu früh, er solle Ruhe haben, solange er auf der Schule ist, bei uns bleiben, Intensivierung statt immer neuer Eindrücke, der Freund will dünn werden, er soll Fett ansetzen, er soll nicht nur von gebratenen Tauben leben usw. Es war Walter natürlich schmerzlich, was ich ihm nicht verdenke, aber er hat es sehr nett getragen. Ich glaube sogar, daß er mir innerlich recht geben mußte. Ich mag diesen reichen Judenmuckel7 nicht, obwohl der Freund selbst ganz famos ist. Mich ärgerte es, daß ich meinen Jungen gegenüber als der versagende Vater erscheinen mußte, nur weil Herrn Kuchenthaler eine Geschäftsreise machen muß, seine Frau nicht allein mit den Kindern sein will und diese deshalb untergebracht werden müssen. Geld spielt keine Rolle, also wird ohne Rücksicht in die Dispositionen anderer Leute eingegriffen. Nun erlaube ich den beiden im Herbst eine bescheidene Fußtour. Dies Herumkutschieren in der Welt mit 16 Jahren mit vollem Portemonnaie, ohne Aufsicht und ohne Zwang zum Sparen, das paßte mir nicht. Ich habe mich dabei wirklich über Walter gefreut und ich will ihm nun auch ein besonderes Bene antun.

Morgen sehe ich auch Wolf Kühn, Montag wickle ich im Ministerium ab, gehe Abends noch mit den Kindern in die „Lustigen Weiber“ in der Hochschule und fahre Dienstag nach Marburg. Nachm(ittags) 3 Uhr werde ich auf der Durchreise in Cassel Deine Geige abgeben. Ich habe Deinem Vater geschrieben, daß er sie abholt oder abholen läßt. So kommt sie noch vor Dir hin.

Alles Gute für Lola8 und Dich. Wie stets von Herzen Dein getreuer Carl.

 

152. C.H.B. an Harro Siegel Im Zug Gießen-Fulda, 6.6.1922

Mein lieber Harro!

Ich will mit dem Ausdruck meiner Anteilnahme bis Gelnh(ausen) warten, zumal ich nun weiß, daß mein ausführlicher Brief nach Goslar auch erst verspätet in Deine Hände kommt. Das Mißgeschick tat mir aufrichtig leid. Es paßte so gar nicht zu Dir und weniger in den harmonischen Abschluß der Berliner Zeit. Ich bin brennend neugierig zu erfahren, was nun eigentlich passiert ist. Dein Vater schien etwas ängstlich. Es war sehr nett, daß die Strecken-panne gerade nach Cassel fiel, so daß wir über eine halbe Stunde sehr nett plaudern konnten. Auch über Deinen kleinen Bruder habe ich mich recht gefreut. Wie wird’s denn wohl zu Hause gehen? Ich denke viel, sehr viel an Dich. Doch das weißt Du ja, auch ohne daß ich es sage.

Der Abschied von Wende war sehr, sehr wohltuend. Wir hatten noch das letzte Mittagessen am Montag zusammen. Es war viel zu berichten – gegenseitig. Und es war alles klar. Abends in der „Lustigen Witwe“ wurde ich noch von Benecke herausgeholt, um mit dem Vorsitzer der Studentenschaft eine wichtige, aber auch menschlich wertvolle Besprechung zu halten.. Die Abreise dann ruhig nach dem Programm.

Vom Aufenthalt in Cassel wirst Du alle Details gehört haben. Ich fuhr mit einem netten jungen Schauspieler aus Berlin allein im Coupé. Er gab sich alle erdenkliche Mühe herauszubekommen, was sein in Theatersachen so fabelhaft versiertes Gegenüber eigentlich wäre. Ich hab’s ihm aber nicht gesagt.

In Marburg wurde ich beim Kurator von Hülsen, einem ganz famosen Menschen, der früher im Ministerium war, reizend aufgenommen. Und überhaupt Marburg! Ist das entzückend! Ich wohnte prachtvoll, das weite Tal unter mir. Gleich nach der Ankunft den Rest des Abends Mannhards Brenson (?), ein ganz neuer Typ von Studenteninternat mit ganz einheitlichem Charakter – eine ganz (unleserlich) Sache. Den nächsten Tag von früh bis Abends Besichtigungen. Diner beim Kurator, Bierabend beim Rektor – Reden usw. wie üblich.

Auch hin und wieder ein starkes persönliches Erlebnis. Habe ich Dir von dem kleinen Wilatzky erzählt? Er erreicht mich, um seinem vollen Herzen Luft zu machen. Eine ganz abenteuerliche Ehegeschichte, nämlich zu Dritt, mit allen nur denkbaren seelischen Feinheiten, in fabelhafter Höhenlage, aber erschütternd. Heute früh fuhr er noch bis Gießen mit, um mich noch etwas auszunutzen. In 2 Stunden bin ich in Bieberstein; Freitag Abend oder Sonnabend früh in Gelnhausen. Eben kommen wir in Fulda an. Leb wohl, mein Lieber! Du wirst wohl auch manchmal an mich denken. Wie stets von Herzen Dein Carl.

 

153. Postkarte von Erich Wende an Harro Siegel. Langeoog, 22.6.1922

Lieber Herr Siegel!

Das Kinderreich, zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, dankt Ihnen durch seinen Vater sehr für Ihre Grüße, Ihre Kunst, Ihre fabelhafte Mäusegeschichte. Sehr interessant! Nur beide Eltern mit den Drei sehen Sie mit herzlichem Bedauern auch von uns gehen, ohne daß wir Sie noch einmal sehen konnten. Denn nun hänge ich natürlich hier an dieser Herrlichkeit fest. Es ist fast so schön wie damals an der Havel. Wie an jenem Tag denken wir an Sie immer in aufrichtiger Anteilnahme. Für Sie das Gleiche. Vielmals Ihr getreuer Wende.

 

154. Postkarte von Harro Siegel an C.H.B. Michendorf/Mark, 30.6.1922

L(ieber) C(arl)!

Es wurde doch mittags 1 Uhr bis wir endlich auf die Wendendorffest (?) kamen. Programmgemäß sind wir bis hierher gelangt und warten nun auf unser Nachtlager. Der Marsch aus Berlin heraus über den Hohenzollerndamm in den Grunewald (?) war sehr merkwürdig. L. läßt grüßen; Ich denke an gestern mittag. Herzlichst Dein Harro.

 

155. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 2.7.1922

Lieber Carl!

Zwar hoffe ich Dich doch morgen noch zu sehen, – aber ich finde gerade mal einen Moment Zeit inmitten dieses turbulenten Daseins, das ganz im Zeichen des (unleserlich)-starken Überfalls aus Holland steht. Wir genießen hier Familien in allen Formen, aber von mir aus könnte nun bald Schluß sein. Ich schreie wieder mal nach Alleinsein.

Gesundheitlich bin ich völlig wieder in Form. Ohne daß es aller ärztlichen Kunst gelungen wäre, dem Übel einen Namen zu geben; lediglich von der Kokkentheorie ist man wieder abgekommen.

Die 14 Tage Sommerfrische in unserem kleinen Waldhäuschen waren wundervoll. Sie bilden ein Kapitel für sich, über das weniger zu reden und noch weniger zu schreiben ist. Wald, Wiese und Sonne und ein großes gegenseitiges Sichverstehen, was braucht es mehr?

Weißt Du, es steht ganz fest bei mir, daß wir beide irgend was dergleichen in nicht zu ferner Zeit auch mal tun müssen. Wieviel näher rücken sich die Seelen, wenn man alles gemeinsam tun muß.

L(andé?). ist jetzt in Elberfeld und wird Dir über Schwöber (?unleserlich, da weggelocht) schreiben. Meine Arbeit beginnt am 7. (Juli?). Der neue Meister – ein Vierziger etwa – macht einen sehr offenen, sympathischen Eindruck; freilich scheinen Grenzschranken etwas überdeutlich die Christentum und nationale Gesinnung zu stehen. Aber was tut das? Ich weiß nichtssagend zu schweigen. Die Werkstatt liegt in der Casseler Altstadt an einem von Fachwerkbauten umgebenen Platz, ist sehr eng und niedrig und starrt – für meine durch Sinnesnerven geschützten und verwöhnten Begriffe – vor Dreck. Auch ist die Arbeit natürlich eine ganz andere, aber sicher von sehr erheblichem praktischen Nutzen.

Etwas, worüber ich immer wieder nachdenken muß, ist die Geschichte mit Landé. Offen

bekannt, – das Schuldgefühl auf meiner Seite steigert (teilweise unleserlich, da weggelocht) sich. Aber es ist ihm mit ratio nicht beizukommen. Daß er dies Erlebnis ausradieren möchte, – es wäre meine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Es hätte sich doch ermöglichen lassen müssen. Die Loslösung so zu gestalten, daß ich ihm nicht dadurch die ganze Erinnerung an unser gemeinsames Wegstück vergiftet wurde. Aber ich war mir – wie meistens – zu schade zu persönlichen Opfern und bin mir nun böse, daß ich ihn zum Beispiel 4 Wochen stillschweigend ohne Gewissensbisse meiden konnte. Schreibe mir bitte immer, wie es ihm geht, und ob er wieder vergnügter wird. Ihm selbst natürlich kein Wort von all diesem.

Ein gezeichneter Briefkopf für Wendes liegt schon seit Tagen hier herum, aber ich komme nicht dazu, ihm ein Wort dazu zu schreiben. Bitte grüße ihn doch sehr von mir.

Auf Spengler bin ich ja wirklich sehr gespannt. Ich hoffe auf eine gute Zeit für H.R (?)bei Dir. Grüße auch ihn. Kommt er denn hierher?

Herzlichst Dein Harro.

 

156. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 9.7.1922

Lieber Carl!

Vorgestern Dein Brief aus Fulda, gestern der Goslarer! Ich danke Dir sehr von Herzen.-

Wenigstens stehe ich jetzt wieder auf, aber in Ordnung ist die Sache noch nicht. Man scheint etwas ratlos und vermutet – wie ich wohl schon schrieb – Streptokokken, die von meinen Stirn- und Kiefergeschichten abgewandert sind. Ich hoffe eigentlich, es kommt an irgend einer erreichbaren Stelle (meinem Kiefer) zu einem akuten Ausbruch, auf daß dann kräftig geschnitten werden kann. Ich glaube schon so etwas zu spüren. Jedenfalls ist an eine Reise mit L9. vorläufig nicht zu denken. Auch muß ich ja sehen, wann der neue Meister meinen Eintritt wünscht. Ich hoffe aber sehr, Dich diesen Sommer noch hier zu sehen, wenn Du R. (?) besuchst.

Außer der Tatsache, daß Ihr Euch ¾ Stunden lang unterhalten hättet, hat mir mein Vater nichts über Euer Zusammentreffen erzählt. Das ist ja seine Gewohnheit so. Dagegen verriet mir Rolf, Ihr hättet Euch „über meine Zukunft beraten!“

Was Du über L(andé) schreibst, geht mir nahe genug. Ich enthalte mich eines Urteils darüber; ob es richtig war, ihn so deutlich gewisse Dinge verstehen zu lassen; er sieht das ja alles anders als wir. Aber es ist ja nun geschehen, und mir ist es deshalb lieb, weil er jetzt vielleicht etwas von seinen Anklagen gegen mich zurücknimmt.

Bei der Briefgeschichte ist mir etwas unklar. Ich hatte nämlich doch noch einen neuen geschrieben, der die ganze Sache nur leichthin streifte. Den hat er sicher bekommen. Aber ich habe jenen ersten vierseitigen nicht vernichtet und finde ihn jetzt unter meinen Sachen nicht mehr. Du erwähnst einmal, in Eurer Aussprache sei von einem uneröffneten Brief von mir die Rede gewesen, – nachher schreibst Du, L(andé) sei ruhiger geworden und „heute erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen.“ Ich könnte daraus entnehmen, er hätte sie beide bekommen. Das wäre mir sehr unangenehm. Kannst Du diese Befürchtung zerstreuen?

Die Kunstausstellung beschäftigt hier die Gemüter enorm. Dieses Entsetzen über die „moderne Kunst“ hat etwas Groteskes, nachdem die eigentliche Woge schon vor 5 Jahren vorübergebraust ist. Was „moderne Kunst“ ist, werden wir in 40-50 Jahren wissen. Ich war nur in der Akademie; Herrgott, ich bin wirklich froh, da heraus zu sein. Diese Sterilität, Krankhaftigkeit, Selbstbeweihräucherung ist widerwärtig. Aber sie meinen, die Augen der Welt ruhten auf ihnen.—10

Professor Witte freute sich über Dein Kommen. Aber geht mit viel zu viel Elan in diese erneute Freundschaft hinein. Ich kenne das schon: Um so schneller kommt der Zwickpunkt, wo ich nicht mehr mit kann.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder. In treuer Anhänglichkeit Dein Harro.

 

157. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 11.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief hat mich etwas mit Sorge erfüllt. Bitte nimm die Kokkensache nicht auf die leichte Schulter. Gewiß kann die Hüftsache rein toxisch, also eine Vergiftungserscheinung sein, ich habe aber bei Bekannten auch ein Überspringen der Streptokokken gerade auf das Becken erlebt und das war eine endlose Geschichte, die zwar schließlich gut ausging, aber eine jahrelange Quälerei mit sich brachte. Also nur nichts vernachlässigen und nur nicht mit einem Feld-Wald-Wiesendoktor sich begnügen, sondern eine wirkliche Autorität rechtzeitig fragen! Demgegenüber tritt die Enttäuschung ganz zurück, Dich jetzt nicht hier zu sehen. Es wäre zu nett gewesen. Vielleicht wird aber mal ein Besuch von Dir (mit der Eisenbahn11) möglich, ehe Du Deine Arbeit aufnimmst. Dann natürlich ohne Lola als reiner Privatbesuch auf meine Kosten. Überleg Dir’s mal.

Rolf hat Dir sachlich richtig, formal nicht ganz korrekt berichtet. Es war keine „Beratung“ über Deine Zukunft“, wohl aber ein Erwähnen Deiner Zukunftsmöglichkeiten, bei dem wir einig waren, daß die Entscheidung ausschließlich bei Dir liegen könne. Alles käme auf Deine Schöpferkraft im Künstlerischen an.

Es tut mir leid, daß Du meine Aussprache mit Landé nur teilweise billigst. Ich glaubte, ihm und Dir einen Dienst zu tun. Du hattest mich ja auch ausdrücklich ermächtigt, daß ich sehr zart und andeutungsweise vorging, versteht sich von selbst.

Was den Brief betrifft, so weiß ich nur von einem, der nach Deiner Abreise eintraf. Ich wußte ja selbst von dem zweiten nichts. Ich hatte mit ihm davon gesprochen, daß er einen Brief erhalten würde, ehe er ihn hatte.; da sagte er, er würde ihn doch nicht öffnen; tags darauf erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen, aber noch uneröffnet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern habe ich ihm herzlich geschrieben. Vielleicht daß er darauf mal reagiert. Wende habe ich gebeten sich ein bißchen um ihn zu kümmern.

Ob ich mir die Kunstausstellung in Cassel besehe? Sie schließt am 1.8.. Vorher komme ich sicher nicht hin. Auch bleibe ich lieber möglichst lang hier. Auf den 3.8. habe ich mir Ritter für 8 Tage nach Steglitz eingeladen, wo ich dann allein mit ihm hausen werde, 2 Tage noch dienstfrei. Das könnte sehr, sehr nett werden.

Hier lebe ich sehr ruhig von Mahlzeit zu Mahlzeit. Morgen reist meine Frau für 8-10 Tage nach Neuwied. Ich lese mancherlei; Brandi über Geschichtswissenschaft, Ritters Picatrix, eine schöne perspektivenreiche Arbeit, und vor allem Spengler II. Das Buch fesselt mich doch sehr, aber es ist eine richtige Arbeit. Einstweilen war noch viel Unruhe, ein Kommen und Gehen, holländischer und englischer Besuch, man verliert noch viel Zeit mit Gesprächen, da sich die Geschwister meist ein Jahr nicht gesehen haben! Gestern machte ich einen schönen Waldgang allein mit meinen zwei Buben; das war ganz besonders nett. Die Landschaft ist doch immer wieder entzückend. Hellmut schwelgt im Spiel mit den Babies, Walter hat Altersgenossen, jeder lebt nach seiner Facon, nur die Mahlzeiten zwingen alle zur Konsumptionsgemeinschaft.

Aus Berlin hatte ich bisher nur eine Karte von Wende. Doch habe ich ihm von unterwegs schon dreimal, und zwar einmal besonders intensiv geschrieben.

Mir geht’s zur Zeit harmonisch; ich lasse schmoren, was schmoren will und soll und freue mich dessen, was ich besitze. Oft und immer wieder wenden sich da meine Gedanken auch zu Dir. Zur Zeit sorge ich mich um Dich. Sieh’, daß ich’s bald nicht mehr brauche.. Grüße Deine Eltern und Rolf, die Meinigen grüßen Dich. Von Herzen Dein Carl.

 

158. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.7.1922

Mein lieber Carl!

Zu Besorgnissen um mich liegt kein Grund mehr vor. Es kann als erwiesen gelten, daß es sich um irgendwelche Kokken gar nicht handelt. Auch geht es mir für gewöhnlich ausgezeichnet, von merkwürdigen plötzlichen Rückfällen abgesehen, deren Unberechenbarkeit mich allerdings leider in meiner Bewegungsfreiheit behindert. Ich hatte beschlossen, mich als Ersatz für die Tour mit L(ola?) noch ein wenig in unser Gartenhäuschen in Wilhelmshöhe zurückzuzie-

hen. Wir wollten dort auf Feldbetten schlafen, selbst das Essen machen, Sonnenbäder nehmen: L. wollte Landschaften malen und ich den Garten bewirtschaften. Aber ausgerechnet auf dem Rückweg von der Inspektion des Grundstücks bekam ich wieder solche Schmerze, daß wir die Idee vorläufig Idee bleiben ließen. Fast bin ich geneigt, an Hysterie zu denken, denn seit diesem tage habe ich wieder nichts mehr gespürt. Auf die nächste Diagnose bin ich gespannt.

Meine Eltern und Geschwister sind sämtlich verreist; ich bin Herr des Schlachtfeldes. Es gelingt mir ohne Mühe, 9-10 Stunden durchzuschlafen; das ist aber auch das Wertvollste, was ich zur Zeit leiste. Zum Lesen fehlt mir die Sammlung; ich gehe spazieren und mache wohlerzogene Antrittsbesuche.

Brief Harro Siegel
Brief Harro Siegel

Für Deine Einladung danke ich Dir sehr, aber ich möchte eine Reise vorläufig nicht wagen. Nächste Woche habe ich noch frei; vielleicht sage ich mich dann noch plötzlich an – die Ausstellung hier bleibt bis zum 28.8. geöffnet; mir scheint sie freilich des Besuchs des Staatssekretärs kaum wert. Um zu einigen wundervollen Thomas und Steinhausens zu gelangen, muß man sich durch mehrere Misthaufen von Manifestationen der Modernisten (unleserlich) durchfressen. Das ist gute, ehrliche Arbeit – wirklich schon sehr selten. Aber, ich habe nichts gesagt,- ich bin nicht Maler – Dein Wort von meiner Schöpferkraft im Künstlerischen tut mir eigentlich weh. Eine Art Künstlertum will ich mir nicht einmal absprechen, – aber Schöpferkraft? Keine Spur.

Wenn ich mir jetzt so meine alten Mappen besehe, so belächle ich einerseits mit leiser Rührung die Unbefangenheit, mit der ich diese Dinge einst bitterernst machte, und andererseits fühle ich mich mehrfach befreit, weil ich das jetzt nicht mehr nötig habe. Herr Witte freilich erzählt den Leuten, dies sei bloß die neuste Koketterie des Grafen. –

Also, ich mißbillige Deine Aussprache mit L(andé) nicht – hinter meinen diesbezüglichen Äußerungen stecken andere Affekte, die sich ungern zeigen wollten; ich weiß nicht, ob ich mit der Konstatierung von Mitleid bei der letzten Staffel angelangt bin. Im Gegenteil danke ich Dir aufrichtig für alles, was Du unternimmst, ihm Klarheit und damit hoffentlich Beruhigung zu geben.

Ich bemerke, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Dir zu schreiben. Ich könnte Dir noch von allem Möglichen erzählen; doch sei’s zum nächsten Mal verschoben.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder, insbesondere den Muckel. Herzlichst Dein Harro.

PS. Ist nun das Hochgefühlsäußerung hier?

 

159. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 18.7.1922

Lieber Carl!

Leider ist dieser Akt nicht von mir, sondern von Michelangelo. Hab vielen Dank für Deine Einladung; leider kann ich ihr vorläufig noch nicht folgen. Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber es ist noch große Vorsicht geboten.

Da aber die Aussicht, Dich hier zu sehen, durch Eure Wanderpläne so nahe rückt, bin ich ganz getröstet.

Wenigstens aber haben wir jetzt unsere alte Absicht wahr gemacht und bewohnen unser Waldhäuschen. Es ist weniger ein Tusculum, als viel mehr ein „our rustic“, aber es gefällt uns ausnehmend. Nächstens bekommst Du eine Schilderung unseres Tuns und Treibens hier.

L(andé?). (er läßt sehr grüßen) sitzt und verschlingt Spengler II. Ich lauere nur darauf, daß er damit zu Ende kommt, um mich insgleichen darauf zu stürzen.

Herzlichst Dein Harro

 

160. Postkarte von C.H.B an Harro Siegel. Gelnhausen, 19.7.1922

Lieber Harro!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Freue mich sehr, daß Du bald wieder so weit bist, eine Wanderung anzutreten. Schone Dich nur gar! Hier bist Du natürlich sehr willkommen, wenn wir Dich im Augenblick auch nicht logieren können, da wir allein am Herrschaftstisch 17 Personen sind. Aber es wird sich trotz bestehenden Schützenfestes schon ein Quartier finden lassen. Bitte nur rechtzeitig um Nachricht. Lola braucht sich gar nicht in die Büsche zu schlagen. Toilette macht hier niemand. – Die Meinen sind seit gestern auch hier. In Bieberstein war’s ganz famos. Näheres mündlich. Herzlichst Carl

 

161. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Sonntag Abend, (Juli 1922)

Mein lieber Harro!

Nur rasch mit bestem Dank für Deinen lieben Brief die Mitteilung, daß ein Besuch hier diese Woche gut paßt, auch zum Logieren, nur nicht am Samstag (Geburtstag meiner Frau, die Freitag aus Neuwied zurückkommt) und Sonntag. Da ich auch sonst noch mal fort will und wir bei gutem Wetter Ausflüge machen, schreib gleich, ob und wann Du kommst. Mittwoch bis Freitag wäre z. B. sehr schön. Aber ich dränge nicht – Du weißt ja.

Meines Bruders Else will gern mit mir und den Buben einen Ausflug nach Cassel machen. Vielleicht wird was draus.

Walter schrieb an meine Frau: „Vati liest Tag und Nacht Spengler.“ Das ist richtig. Der 2.te Band ist einfach fabelhaft. Lies ihn, wenn Du kannst, sonst will ich ihn Dir später mal schicken. Ein unerhört anregendes Buch.

In Eile, aber von Herzen Dein Carl.

 

162. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 27.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief an mich war mir eine Enttäuschung, Dein Gruß an meine Frau eine sympathische Überraschung. Ich hatte so fest auf Dein Kommen gerechnet, daß ich sogar den Walter an die Bahn geschickt hatte – für alle Fälle. Nunmehr werden wir uns also so bald nicht sehen; denn aus der Ausflugsfahrt nach Cassel wird nichts; obendrein geht mein Urlaub zu Ende. Ich reise am 3.ten , am 4.ten kommt Ritter zu mir, am 7.ten beginnt mein Dienst. Ich finde den Plan sehr nett. Auch Ritter scheint sich drauf zu freuen. Wir zwei sind dann ganz allein in der Schillerstraße 2, was bei Ritters seelischem Zustand gewiß seine Vorzüge hat. Er schrieb mir dieser Tage wieder mal einen trübsinnigen Brief. Wie immer war gerade einer von mir unterwegs.

Die gleiche Kreuzung erlebte ich dieser Tage mit einem Brief von Landé. Ich hatte ihm bald nach meiner Ankunft hier sehr herzlich geschrieben. Als ich 14 Tage ohne Antwort blieb, schrieb ich ihm nochmals herzlich, ohne ihn aufzuziehen, sagte ihm sein Schweigen verriete mehr Styl als ein abgequälter Brief. Er solle mir lieber nicht schreiben, ich wollte nur, daß er sich nicht auch noch mit dem Gedanken des Nichtschreibenkönnens herumquälen. Sein Brief war ruhig, herzlich, glatt und sympathisch. Dein Name kam nicht drin vor, so daß ich nicht weiß, ob er Deinen Brief inzwischen eröffnet hat. Nur an einer Stelle schwingt Vergangenes an, wo er einen starken persönlichen Dank mir gegenüber mit den Worten abschließt: „Ich möchte das um so mehr in dieser Zeit, wo ich – auch das andere Sie wie alles in mir verstehen – leicht geneigt bin, vieles aus meinem Leben fortzuwünschen, auszuradieren, wenn es ginge.“

Der Brief ist sehr beherrscht und so einwandfrei und sympathisch, daß ich ihn meine Frau lesen ließ, der Landé nicht sympathisch ist, um ihn ihr etwas näher zu bringen, was auch gelang. Ich glaube, daß er die Krise überwunden hat. Von Dir werde ich nicht mehr mit ihm empfangen.

Ich habe inzwischen Spengler zu Ende gelesen. Einige meiner Lieblingstheorien sind darin stark bekämpft respektive mit großer Geste als unmöglich abgelehnt. Andere Theorien von mir sind verstärkt und vertieft gesehen. Deshalb habe ich ein besonderes Verhältnis zu diesem Buch. Als Ganzes ist die Konzeption bewundernswert, mit der Schärfe eines Dogmatikers hat er seine Summa theologiae Spenglerianae aufgebaut. Je schwächer seine Argumente, desto größer die Selbstverständlichkeit und die Geste. Der Kernpunkt, eine gewisse Parallelität

historischer Entwicklung, Frühkultur, Zivilisationsepochen ist zweifellos richtig, aber nicht ganz neu. Die dionysische, magische, faustische Seelenlage ist glänzend herausgearbeitet. Der bis in die Einzelheiten gehende Parallelismus ist sicher falsch. Wenn man a oder b bei einem Schluß durch ein beliebiges X ersetzen kann, entstehen Parallelitäten, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Überhaupt redet er immer von Wirklichkeit, er ist aber ganz ein Mensch der Wahrheit d.h. er vergewaltigt die Wirklichkeit. Immerhin ist’s ein kühner, großer Wurf. Ich will ihn nicht bemänteln – trotz einiger Entgleisungen in die Tagespolitik im deutschnationalen Sinn. Solche Leute müssen Aristokraten sein oder werden, wenn es ihnen glückt eine solche Moles (??) einheitlich zu bedecken und zu gestalten. Als Wurf bleibt es ein Kunstwerk und es bleibt erstaunlich, daß trotzdem auch der Historiker soviel davon lernt.. ich habe Ritter gebeten, es auch in Berlin zu lesen, damit wir’s einmal durchdiskutieren können.

Im Übrigen schreibe ich Briefe, gehe jeden Sonnenaugenblick in den Wald, spiele sogar nach 9jähriger Pause mit einigem Erfolg wieder Tennis, habe aber noch nichts Gescheites gearbeitet. Ich denke wie immer oft an Dich und bin sehr neugierig, bald Erfreuliches von Deiner

Gesundheit und Deiner Arbeit zu hören.

Lohe’s Brief über Schröter hat inzwischen Wätzold bearbeitet und Gutachten von Witte und Bantzer eingezogen. Witte versagt dem Künstler die Hochachtung nicht, diskreditiert aber den Menschen. Bantzer äußert sich sehr freundlich. Wätzold will gern etwas tun. Die paar 1000 Mark, die wir aus unserem Fonds geben können, helfen nicht weiter, eine Stelle ist nicht frei und würde sich auch nicht empfehlen. Bleibt nur der Ausweg, den Kunsthandel oder wieder Private zu interessieren. Dafür brauchen wir wenigstens einige photographische Nachbildungen seiner Arbeiten. Können die beschafft werden oder welchen Weg der Unterstützung hat sich Lohe sonst gedacht? Bantzer hat geschrieben, Lohe kenne Schr(öter?) am besten, man solle lieber ihn fragen. Das hatten wir natürlich nicht mehr nötig.

Grüße Lohe und laß bald Gutes von Dir hören.

Ich denke dankbar Deiner. Von Herzen Dein Carl.

 

163. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 30.7.1922

Mein liebster Carl!

Was magst Du von mir denken? Längst hätte ich Dir geschrieben, auch schon vor der Ankunft Deines letzten Briefes, für den ich Dir sehr von Herzen danke. Wir sind aber in letzter Zeit bedeutend mit Besuch gesegnet (allein 8 Menschen aus Holland), so daß ich wirklich keine Zeit zum Schreiben finde. Ein langer Brief in den nächsten Tagen ist Dir gewiß (ich habe Dir sehr viel zu berichten). Jetzt nur diesen kurzen Wisch, damit Du doch was hast. Morgen ziehe ich wieder in die Stadt. L. reist nach Hause, in wenigen Tagen beginnt die Arbeit.

Es geht mir jetzt ausgezeichnet, ich habe sehr zugenommen, und was ich treibe, ist eigentlich die rechte ars semper gaudendi. Ich Esel hätte seinerzeit telegraphieren sollen; Dein Brief kam stark verspätet hier oben an, natürlich erreichte Dich da der meine nicht rechtzeitig. Könnte ich Dich nicht am 3. (August) in Bebra treffen und bis Eichenberg mitfahren? Dann gib mir bitte Nachricht, – und wann.

Deinen Brief habe ich nicht hier, – beantworte ich das nächste Mal. Über Schw. wird Dir L(andé?) schreiben.

Nun lebe wohl. Und sei mir nicht böse ob dieses Wischs, der so wenig Deinem lieben ausführlichen Brief entspricht.

Immer der Deine! Harro

Bitte grüße Deine gesamte Familie.

 

164. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 2.8.1922

L(ieber) H(arro)!

Deinen freundlicher Brief fand ich gestern Abend an, als ich mit Muckel von unser wohl gelungenen Fußtour heimkam. Nachricht würde Dich kaum mehr erreichen, und ich bin auch dafür, ein Wiedersehen zu verschieben. Nach den schönen Stunden in Berlin würden wir von einer kurzen Eisenbahnstunde doch wenig haben. Ich komme übrigens im September und im Oktober wieder nach Hannover-Hessen, einmal zu einer Hochzeit, das andere Mal zu einem Vortrag. Vielleicht fügt es sich es sich dann einmal. Inzwischen hoffe ich mal auf einen richtigen Brief.

Zwischen Packen und Räumen grüßt Dich Dein alter C.

 

165. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 4.8.1922

Mein lieber Harro!

Veranda – herrlicher (unleserlich). Sonntag Nachm(ittag) 6 Uhr, nach dem Café, seit Tisch sitze respektive liege ich mit Ritter hier herum. Zwei Tage sind wir jetzt beisammen. Wir haben entsetzlich viel miteinander geredet, gestern ununterbrochen 14 Stunden hintereinander – von Gott und der Welt, Alfred und Ghazali, Politik und Studentenschaft und immer wieder von dem alten unerschöpflichen Thema, auf das unwillkürlich die meisten Gespräche wieder hinauslaufen. Es ist friedlich und behaglich. Ritter ist der Alte. Er hat immer seine schweren, seine schweigsamen und seine lustigen (?) Stunden gehabt. Auch ich fand ihn genau so wie Du ihn geschildert.

Morgen fängt nun für mich der Ernst des Lebens wieder an. In Gelnh(ausen) sah ich ihm mit Freuden entgegen, hier mit Entschlossenheit. Ich will die Passivität des letzten Jahres überwinden. Ich will es tun und doch gleichzeitig mehr Zeit für Haus und Familie gewinnen. Die Harrostunden sind ja jetzt frei – und ihrer waren nicht wenige. Die Phantasie darf auch nicht mehr so viel Freistunden haben. Auch andere Gäste meiner Freistunden werden knapper gehalten werden. Ich bin neugierig, ob ich dies schöne Programm verwirklichen werde.

Hab Dank für Deinen Brief. Du wirst verstanden haben, daß ich Dich jetzt auf einer kurzen ungemütlichen Eisenbahnstrecke nicht sehen mochte. Du kannst das als Aktivum, nicht als Passivum buchen.

Ich freue mich, daß Du wieder gesund bist. Hoffentlich hält es an. Dein Zus(ammen)leben und Dich Zus(ammen)finden mit Lola hat mich für Dich gefreut. Den Altersgenossen ersetzt einem kein älterer Freund. Daß auch ich gern einmal so ganz mit Dir zus(ammen)leben möchte, weißt Du, doch es ist wenig Aussicht. Vielleicht ist es gut so; denn es wäre vielleicht eine Enttäuschung. Der feste Glaube ist immer mehr als eine enttäuschende Realität.

Fall Landé – ich schreibe Dir darüber, sobald ich klar sehe, was nicht ganz schnell der Fall sein wird, da ich ihn nach nichts fragen werde. Er gibt sich heiter, diensteifrig, beginnt (morgen? Weggelocht) seinen sogenannten Urlaub, den er auf seinem Dienstzimmer verbringt. Ich sprach ihn bisher nur durchs Telefon. Daß Du Reue empfindest, ist nur berechtigt. Der Jugend Alfreds kann man verzeihen, was man der Erfahrenheit eines Hans nicht ganz so leicht vergibt, so klar mir psychologisch der Fall liegt. Du wirst mehr über Landé von mir hören.

Wendes waren sehr beglückt über Deine Zeichnung. Erich war das (unleserlich) und aufrichtig bewundernd.

Ritter tobt über Spengler, der marktschreierisch Wahrheiten verkünde, die andere gefunden hätten. Der Rest sei Phantasie und Unsinn. Als ich ihm diese Formulierung vorlas, erhob er Protest. Tatsächlich ist’s aber so. Dabei ist sein psychoanalytisches Weltbild etwas morphologisch!– Leb wohl! Ich denke Deiner in Treue. Carl.

PS. Brief von H. Ritter an Harro Siegel.

Warum hast Du mir nie von Lohe erzählt? Wie ist das. Ich komme nach Cassel nur dann, wenn ich dort Menschen finde, die ich brauche. Zus(ammen)sitzen und trauern, kann ich nicht. (Verschmierte Passage) Also ist es wohl besser ich komme nicht. Ich will auch zu Schaade. Vielleicht sind dort Menschen, die einen ablenken und eine Freude machen. Schreib mir mal. Dein HR.

 

166. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 15.8.1922

Mein lieber Carl!

Was verstehst Du nun eigentlich unter Passivität? Das möchte ich in der Tat wissen, nachdem Du Dein letztes Jahr als unter diesem Zeichen stehend siehst. Ich für meine Person habe Dich immer so aktiv gefunden – auch in der Contemplation -, daß ich mich von meiner Passivität oft geradezu umschnürt gefühlt habe. Aus dem Willen es Dir (formal wenigstens) irgendwie gleichzutun, ist schließlich der Entschluß zur Werktätigkeit mit erwachsen.

So wünsche ich Dir das beste Gelingen Deiner Pläne; aber nicht wahr, Du gehst nicht ans Kapital!—

Für Deinen Brief danke ich Dir sehr. Wie war es nur mit Ritter? Dauert seine taten- und träumelose Lethargie immer noch fort? Freilich, – er schrieb neulich recht viel froher, er habe dort in B. einen alten Freund wieder aufgetan. Das ist ja sehr schön; glaubst Du nun, daß er aufpaßt und nicht aus lauter Liebe auch diese Freundschaft erstickt?— Seine Mutter lechzt nach einem Lebenszeichen, es kommt aber keins. Was muß es für einen Eindruck auf diese (pracht-volle) Frau machen, wenn ich sie in seinem Auftrag besuche, um ihr Grüße und alles mögliche sonst von ihm zu bestellen? Ich werde das nicht wieder tun.

Was mir bei Landé leid tut, ist dieser starke Wille, alles ungeschehen zu machen. So kann ihm doch unmöglich Erlösung werden. Man kann wohl Arme und Beine amputieren, aber nicht das Wissen, daß man sie mal hatte. Wie traurig, daß er nun seinen Urlaub so verbringt. Chronischer Selbstmord.

Seit anderthalb Wochen bin ich nun wieder an der Arbeit. Die Werkstätte liegt unten in der Altstadt an einem malerisch-mittelalterlichen Platz (aber ich sehe ihn nicht, denn unsere Scheiben sind geätzt) und bildet die Ergänzung zu einem Papierladen, in dem es auch Schul- und Gesangbücher und christliche Wandsprüche zu kaufen gibt. Betrieben wird es von zwei Meistern, die im Schwiegervater-Sohn-Verhältnis stehn. Sehr christliche, ehrbare, monarchistische Menschen, mild und verträglich von Charakter, der Alte etwas mürrisch, aber gut geartet, der jüngere etwa 45, sehr blauäugig-blond mit einer Hensige(?)-Ecke, ist gebildet, besucht die Münchener Ausstellung und schwärmt für Garmisch. Zwei Casselaner (unleserlich) sind meine Kollegen. Die Arbeit ist nach Art und Gegenstand völlig anders als in B(erlin?). Schlechtes Material, die Maschinen in einem skandalösen Zustand, Umstände werden nicht die geringsten gemacht, Herr Linnemeyer (Berlin?) würde verzweifeln. Ich sehe jetzt, wie mich der mit guter Zucht verwöhnt hat, muß mich an vieles sehr gewöhnen und bin vorläufig noch etwas deprimiert, weil ich schlechter arbeiten muß, als ich könnte. Es heißt immer: „Gottsgemicke, disse Umstände, (unleserlich) würen wir aus derg nit uffheben!“12

Aber man scheint zufrieden; auch werde ich ein kleines Gehalt bekommen. Sehr viel Neues übrigens, wozu ich sonst niemals gekommen wäre, lerne ich auch dazu. – Denkbar unpraktisch ist die Arbeitszeit gelegt, nämlich von 8-12 und von 2 bis ½ 7 (Uhr). Da kommt man zu wenigen Dingen sonst.

Ich lebe erstaunlich regelmäßig; fast hasse ich mich ob meines Hasses gegen das Extraordinäre. Ich bekomme aber Verstimmungszustände, wenn ich das Weltkind Lohe sehe, der mit Zeit und Kraft so gar nicht zu zeigen braucht, Gottweißwas anstellt und dabei doch fleißig kleinen Bilder in Lumpen (?) und eine moderne zimtfarbige Dogge lebensgroß in Öl malt. Wobei übrigens die immer und nur allzugern assistierende Besitzerin dieses Tieres sehr überlegt und fein behandelt sein will, was dem guten L(ohe) nicht stets gelingt. Der schliddert immer in die heiklen Situationen hinein und weiß selbst nicht wie und wie wieder heraus.

Kunstausstellung und Akademie erhitzen hier die Gemüter sehr. Cassel verteidigt sich heftig gegen den Überfall der Modernen, (die lange von vorgestern sind). Vielleicht haben sie recht; man soll uns ruhig unsere lieblich-romantische „Gassenkunst“ lassen (und welche Blüten sie treibt!); was an Neuerem sich hier versucht, ist längst wieder ganz (?) akademisch geworden und kann nicht erwärmen (Dülberg nicht ausgenommen, der mir übrigens persönlich absolut nicht liegt; ich würde ihm nie trauen).

Nun, endlich genug des Lokalen.. Ich lese sehr gefesselt den mir noch unbekannten Hyperion und noch manches andere. Sonntags gehe ich mit Rolf und unserem kleinen Pensionär in die Berge; ich höre ihnen auch die Arbeiten ab und schneide ihnen die Haare.. Sie haben mich sehr gerne.

Mit meinem Vater geht’s gut, sehr gut sogar, bis jetzt. Grüß Deine Angehörigen und besonders Wende. Herzlichst Dein getreuer Harro.

 

167. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 18.8.1922

Mein lieber Harro!

Auf Deinen lieben Brief sollst Du einen kurzen Gruß haben, in später Abendstunde, vor dem Schlafengehen. Zu langen Briefen reicht es nicht mehr. Du bist überhaupt der Einzige, dem ich noch mit der Hand schreibe.

Die Tage mit Ritter waren nett. An einem Tage habe wir uns ohne Unterbrechung 14 Stunden lang unterhalten. Das war der Record. Er war erst sehr nervös (?), fahrig, zerstreut, schweigend, nur gelegentlich sich im Reden äußernd (?).Alfred, immer wieder Alfred. Ich brauchte viel Liebe und Geduld. Dann tauchte plötzlich ein „Freund“ auf, erst etwas verschwommen, offenbar war er ihm eingefallen und er wußte nicht wie alles laufen würde. Er besuchte ihn Nachm(ittags), während ich im Ministerium war. R(itter) telefonierte an, ob er ihn zum Abendessen behalten dürfe. Als ich kam, saß er am Flügel, wozu er bisher ganz unlustig gewesen war. Weiter brauchte er mir nichts zu erzählen. Es ist ein netter junger Theologe, 4. Semester, heißt Reichmut, Pfarrerssohn aus Potsdam, Kriegsbekanntschaft aus der Türkei, er damals noch ein Knabe, schloß sich an, nie ganz vergessen, briefliche Initiative zur Wiederanknüpfung von dem Jungen ausgehend. Selbstverständlich, natürlich sehr selbstverständlich, was Ritter natürlich beglückte. Als ich kam, war die gemeinsame Bootsfahrt im Herbst bereits verabredet. Sie waren damals täglich zus(ammen), einen ganzen Tag auch ganz hier im Hause, ich war leider dienstlich verhindert (Verfassungstag).

Von Stund an war Ritter ein anderer Mensch, frisch, interessiert für alles, heiter, arbeitslustig. Nun brauche er nicht mehr im Lande herum Zerstreuung zu suchen. Nun wolle er nach Hamburg zurück, jetzt könne er arbeiten. Also geschah’s.

Wir haben über vieles geredet. Auch lange über den Punkt, den Du nicht mir gegenüber formulieren konntest. Er tat’s, bezog sich auch auf Dich. Es war ganz lehrreich für mich und ich werde die Konsequenzen daraus ziehen.

Seit 8 Tagen sind auch die Meinigen zurück. Ich bin sehr froh darüber. Allabendlich bin ich jetzt um 7 (Uhr) zum Essen daheim, obwohl das Auto immer noch in Reparatur, und Morgens stehe ich Punkt 7 (Uhr) auf und bin bereits 8 ½ (Uhr) in Dienst. Ziemlich ruhige Zeit, wenn auch abends immer noch Akten. Mit Landé spreche ich oft, Dein Name ist noch nie gefallen. Er hat sich heute unter einem Vorwand vom Referat Hessen-Nassau entbinden lassen. Überhaupt gab’s wieder mal viel Ressentiment. Auch das Disziplinarreferat legte er nieder wegen der Haltung des Ministers in einem bestimmten Fall. In beiden Fällen erwartete er meinen Widerspruch, der aber nicht erfolgte. Ich wende die Sache anders, so ist jetzt aus lauter Ressentiment eine geradezu glänzende neue Referateinteilung geworden. Er wir frei für große Sache, wird wirklich Generalreferent und hört auf Mädchen für alles zu sein. Dieser unerwartete

Ausgang einer Unterhaltung, die er mit Herzklopfen begonnen, bewegte ihn sehr und er schied wirklich befriedigt und entspannt.

Wende macht mir Sorgen. Sein Zustand ist unerfreulich. Er ist überlastet, stumpf und reaktionslos. Unser Mittagstisch ist noch in der Schwebe. In der DMG13 –meist mit anderen – ist kein Ort zur ruhigen Fühlungnahme.—

Von Deinem Brief habe ich ein gewisses Bild Deines Lebens bekommen. Ich freue mich, daß es auch erträglich ist und besonders , daß es zu Hause gut geht.

Jetzt muß ich schlafen gehen. Leb wohl! Die Meinigen grüßen. Herzlichst Dein Carl.

 

168. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 29.8.1922

Mein lieber Carl!

Hab vielen Dank für Deinen Brief; weißt Du, er wäre längst beantwortet, aber ich hatte tiefen Barometerstand in letzter Zeit, mußte sehr bedauern, nicht in Berlin zu sein um mir mit Deiner Unterstützung einige Steine vom Herzen zu wälzen; – brachte es aber nicht fertig, darüber zu schreiben. Ich finde mein Dasei im höchsten Maße ungeeignet, mir zu genügen, was nicht viel zu bedeuten hätte, wenn ich in ihm ein asperum und dahinter irgendwelche astra sehen könnte. Dieses ist aber nicht der Fall. Ich überlege mir dann Zeichenlehrer hin und her, und komme immer mehr davon ab. Von immanenten Gründen abgesehen geht es unter den gerade letzthin eingetretenen Verhältnissen nicht an; noch 2-3 Jahre ans Studium zu hängen, nachdem – realpolitisch genommen – schon so viel Zeit verloren ist. Man wird energisch Geld verdienen müssen wie alle anderen. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht überhand nimmt, wird ein Buchbindergehülfe ja auch Platz finden; in Holland steht mir übrigens eine solche Stelle in schwacher Aussicht.

Hiervon abgesehen habe ich aufgehört Pädagogik und –philie (??) in einen Topf zu werfen und muß für mich Fähigkeiten auf dem Gebiet der ersteren in Abrede stellen. Ich sehe das deutlich an meiner Art, mit Jungens und Jüngeren zu verkehren. Ein gewisses Interesse für einzelne ist da, aber es fehlt die Fähigkeit, dies zur „Liebe zur Jugend“ zu sublimieren; man findet es beiderseits nett, zusammen zu sein, aber von der Übermittlung irgendwelcher Güter, ethischer oder Bildungs-, ist keine Rede. Eine solche Aufgabe würde an meiner Selbstkritik

scheitern, glaube ich.

Was künstlerische Betätigung anlangt, so weißt Du ja, wie’s da steht. Was bei mir nicht so aussah, war doch wohl Selbstbetrug (wiewohl ein nicht uninteressanter und meiner durchaus würdiger), aber ich bringe es nicht mehr dazu.

Was andere Leute dazu bringt, Bilder zu malen, diese und sich selbst ernst zu nehmen, begreife ich nicht mehr; ich sehe es interessiert, verwundert in den guten Fällen, und zornig oder höhnisch in den überwiegenden üblen. Für mich kommt so was nur noch als nettes Spiel für Feierstunden in Betracht. Moderne Kunstausstellungen langweilen ich unendlich und erkälten mich. Warringer hat doch nicht so unrecht, wenn er in „Künstlerische Zeitfragen“ die These aufstellt, der Kunstgeist habe sich seit dem XIX. Jahrhundert mehr und mehr ins Denken, in die Wissenschaft geflüchtet; die Husserl’sche Schule, die Georgejünger, Gundolf, Kayserlink und Spengler belegten das. Jeder Ehrliche muß doch auch zugeben, daß ihm aus diesen Büchern mehr Geist natürlich, aber auch mehr Sinnlichkeit anströmt, als aus aller modernen Malerei und Graphik. Revertor ad meas res: Ich bleibe also beim Leisten und nun verüble mir nicht, wenn mich das malerpolitisch (?) erregt. Meine Tätigkeit wird mir ungelogen oft zur Fron, von morgens ½ 8 bis abends ½ 7 (Uhr, es bleibt mir so gar keine Zeit für mich. Gewiß, Du zum Beispiel hast davon noch weniger, aber darfst Du doch im Dienst Du selbst sein, und Du weißt, was und wofür Du arbeitest. Diese neue Depression wird doch nur hie und da erhellt, durch eine Arbeit, die Talent und Initiative erfordert, durch ein gelungenes Stück. Immerhin, ich arbeite jetzt sehr viel selbständiger und verdiene wöchentlich 50 Mark. Mir will übrigens scheinen, als seien die Zeichen einer Aufwärtsentwicklung des Handwerks nicht eben günstig. Sich heute neu etablieren kann nur ein Großkapitalist; und die bestehenden Geschäfte geraten durch das billigere Angebot der Fabriken sehr in die Enge. An Selbständigkeit ist für mich kaum zu denken.

Na, überhaupt, – aber ich verliere den Kopf mitsamt der Objektivität; sehe den bisherigen Studiengang als nutzlose Zeitvergeudung und blicke düsteren, tränenlosen Auges in die Zukunft. Warum, warum? Auch meine Familie findet mich nachgrade etwas reichlich mit mir selbst beschäftigt; mit Recht, – Gott besser’s!

Lohe reist morgen fort; mir tut es sehr leid; ihm auch. Für ihn ist’s aber gut; meine Zweifelsucht war keine Kost für ihn. Und noch aus anderen Gründen; ich muß jetzt ein bißchen allein sein, Ruhe haben. Gut, daß Ritter den jungen R. mit herbringt; so braucht er mich nicht; ich hätte nichts zu bieten.

Der arme Wende! Man soll nichts sagen, es gibt immer noch Leute, die es viel schwerer haben, als man selbst. Ihm sehe ich’s an der Nasenspitze an, daß dies der Fall ist, – zugleich mit einer gewissen Unentrinnbarkeit; ob ihm zu helfen ist, ob er sich selbst helfe kann? Grüße ihn bitte sehr.

Von Benecke erhielt ich kürzlich einen netten, wiewohl nicht eben inhaltsreichen Brief. Er schreibt übrigens, L(andé?) habe sich die letzte Zeit sehr zu seinem Vorteil gewandelt, sei ruhiger und zielbewußter geworden. Bestätigst Du das? Das wäre schön.

Was macht Deine Familie? Bitte grüße doch alle und empfehle (unleserlich, weggelocht) mich Deiner Frau. Und was ist mit Dir? Bekommt Dir die Mehrarbeit gut?

Herrgott, was ist dies nun wieder für ein Brief! Ich möchte solche nicht bekommen; wann wird es mir gelingen, den mir zuteil gewordenen sportiven Geist vom Ich zu lösen und für mich und andere erbaulich an objektives Gut zu wenden.

Letzten Freitag habe ich mir an der Beschneidemaschine den linken Zeigefinger bis zur Knochenmitte durchgesäbelt und muß nun in unfreiwilliger Muße warten bis er wieder festwächst, was noch eine Woche dauern wird. Das sind solche Freuden.

Für Dich bleibt meine Gesinnung unwandelbar – Dein Harro.

 

169. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 1.9.1922

Mein lieber Harro!

Das war ein trüber Brief. Und Du hast ihn selbst gleich wieder Lügen gestraft. Wer so eine Zeichnung wie die des Bärleins hinhauen kann der ist wirklich nicht zum Buchbinder geboren. Und doch liegt eine gewisse melancholische Symbolik in dem Bilde. Deine (unleserlich) Margiana (?) ist wirklich noch nicht gestorben. Du hast alles Recht an sie zu glauben. Mensch, Mensch! Wie gern hätte ich Dir den Kopf gewaschen. Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben. Hoffentlich hast Du Dich wenigstens durch den Brief an mich befreit. Gefreut hat’s mich natürlich doch, daß Du ein so unverfälschtest Stimmungsbild gabst; denn der Brief war echt in jeder Zeile. Ich mußte mich davon befreien; denn er bedrückt mich; und so habe ich ihn in sicherer Voraussetzung Deiner inneren Zustimmung dem Wende vorgelesen. Schreib mir, wenn’s Unrecht war; dann tu ich’s nie wieder. Aber an der Wirkung sah ich daß es richtig war. Namentlich der Passus über ihn (weggelocht) berührte ihn stark und tat ihm wohl. Auch er freute sich riesig über die künstlerische Einlage und meinte, ein Künstler wie Du würde sich schon durchringen – durch alle Skepsis. Du siehst, an Vertrauen bei Deinen Freunden fehlt es nicht. Du bist einer, der schwer und spät zur Produktion heranreift, aber Du wirst produzieren.

Ich gehe deshalb auch gar nicht weiter auf Deinen Brief ein. Schweren Herzens nahm ich ihn auf, und es war als säßen wir unter der roten Lampe. Laß Dir dies Echo genügen. Diskutieren kann man solche Briefe nicht. Hoffentlich fühltest Du etwas von dem, was mich bewegt.

Jedenfalls mußte ich Dir heute gleich schreiben, so kurz wie’s auch heute nur sein kann.

Zur Zeit ist Schauder (?) hier. Wir hatten gestern einen feinen stillen Abend. Er ist ruhiger, dicker und besser aussehend als je. Seine Habilitation ist in ihrem kritischen Teil erledigt. Vor dem Schluß muß erst seine Arbeit gedruckt sein

Von Landé kann ich auch nur Gutes melden. Er hat 14 Tage seines Urlaubs zu einer großen dienstl(ichen) Arbeit benutzt (Fragenkomplex des numerus clausus), die er heute früh in der Abteilung vortrug, wo ihn niemand recht verstand und würdigte, und die er Nachm(ittags) in einem langen Vortrag mir auseinandersetzte. Natürlich verstand ich ihn besser als die Abteilung. Es ist ein unerhört schwieriges Problem scharf und sauber durchdacht und taktisch klug verhüllend aufgebaut. Ich glaube, es tat ihm sehr wohl, daß ich ihn nicht nur anerkannte, sondern auch sachlich die Tragweite übersah, während Jahnke nur am Styl genörgelt hatte. Er ist ruhig und markiert heitere Resignation. Er wird immer misogyner. Mit Fräulein Zotze macht er gelegentlich Spaziergänge. Er ist weich und wie Wachs mir gegenüber. Deinen Namen habe ich noch nicht wieder ausgesprochen. Er kommt nur, wenn ich ihn rufe, ist dann aber immer freundlich und sympathisch.

Mir geht es gut; körperlich wechselnd. Ich habe noch nicht einen Morgen um 8.10 (Uhr) nicht am Potsdamer Bahnhof gestanden, obwohl das Auto immer noch nicht aus der Fabrik ist. Ich bin jeden Tag spätestens um 7 (Uhr) daheim und gehe um 11 (Uhr) schlafen. Eben kommt Walter tief ergriffen aus dem Hannele heim, Muckel ist zum ersten Mal im Heidehaus (trotz schlechten Wetters) und Hertha ist lieb und häuslich wie immer; ein sonniges Kind, wie sie’s einst in der Wiege war. Mein Frau hat mit einem Mädchen und ohne Köchin viel Arbeit, dazu Zahnarzt fast alle Tage und diese gräßliche Teuerung – eine Qual für alle Hausfrauen. Aber sonst ist alles gut. Seit Anfang dieser Woche bereitet uns Frau Höndel (?)wieder das Mittagessen in vereinfachter Form (wie unser Abendessen), worüber Walter und ich sehr glücklich sind.

Gelegentlich gibt’s eine stille Stunde mit Gragger.

Ich merke erst, wie viel Zeit ich habe, seitdem Du nicht mehr da bist. Dafür kann ich schon manchmal schreiben. Es tritt hier ja doch niemand an Deine Stelle. Die bleibt offen – oder besser gesagt, sie bleibt besetzt.

Halte den Kopf hoch, Du Lieber! Laß Dich etwas stützen durch meinen Glauben an Dich. Leb wohl! Dein Carl.

P.S. Es schlägt 11 (Uhr). Die Meinen und Wende grüßen besonders.

 

170. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 10.9.1022

Mein lieber Carl!

Im Grunde schreibt man ja Briefe wie einen letzten nur, um solche dafür wieder zu bekommen, wie der Deine es war. Man behält das schlechte Gewissen, läßt es toben, wie es möchte, nach allen Regeln der Kunst, und das Gute überantwortet man seinem Freunde, auf daß es von dort her um so tönender und wirksamer – weil doch unverdächtiger – erschalle. Das ist gar nicht dumm und man fährt wohl dabei.

Ich danke Dir für Deine Rückenstärkung von Herzen; gewiß, es ist wahr, daß es mir wohltut, ein paar der schlimmsten meiner schwarzen Nachtvögel zu Dir gejagt zu haben, und ich war erfreut, sie so weiß gewaschen wieder zu erblicken. Doch ist dies nicht das Entscheidende. Nicht eine Widerlegung meiner Thesen galt es, sondern – um in Maik Ritters rauh-treffenden Worten zu reden – eine Art von „Liebeserpressung“, die unsereiner ja immer nötig hat. So ist man nur!

Wenn Du dem Wende meine Briefe vorliest, so ist mir das recht, ja, eigentlich nicht unlieb. Freilich, es kann auch mal ein Brief kommen, der nur Dich angeht, was Du dann zur gegebenen Zeit wohl wittern wirst.

Sonst aber – ich weiß soviel von ihm (wiewohl es wenig ist) durch ihn, durch Dich, mehr noch mich selbst, – daß schon mein Gerechtigkeitsgefühl solcherlei Einblicke für ihn fordert.

Einiges von dem, was im letzten Briefe stand, muß ich aber doch als tatsächlich gelten und stehen lassen. Und es war – halbausgesprochen – eine von mir dem Lohe anvertraute Mission, Dir hierüber noch etwas mehr Klarheit zu geben. Er schrieb gestern von einem Colloquium mit Dir; – hat es im obigen Sinne etwas geleistet? – Es berührt mich merkwürdig, nun aus seinem Munde gewisse Beobachtungen über Dich (und sich selbst vor Dir) zu hören, die ich früher schon angestellt hatte.

Es ist doch eigentlich fast Deine Sendung, einer gewissen Menschenart (zu der Wende, Ritter, er, ich und wer weiß wer noch gehören) zur Erkennungsmöglichkeit ihres Zustandes, zur (unleserlich) Scheidung und Kristallisation zu verhelfen. Das ist unersetzbar. L(ohe?) meint er habe zuviel gesagt, Dinge, die nicht gesagt werden sollten.

Dachte ich auch erst, aber ich finde nun, daß eben diese heiklen Chosen für Dich aufbewahrt werden müssen, und daß es Deine Bestimmung ist, sie zu haben.

Immer findet er, man stünde leicht in allzu gutem Lichte vor Dir und hätte Mühe, das zu korrigieren. Das stimmt nun ganz unbedingt; und eben dieser dauernde Zwang zur Korrektur ist es, dem ich über mich so sehr viele Aufschlüsse verdanke.

Soll ich etwas sagen: Vielleicht ist es bei all dem gar nicht vonnöten, daß Du einen völlig verstehst, und es ist viel mehr Dein Beruf, einen zum Verständnis seiner selbst zu bringen. Denn wir sonderbaren Kreaturen, bei allem Spintisieren, – wir verstehen uns doch selbst nicht immer allzu gut, Deine Meinung aber von uns – treffe sie’s, treffe sie’s nicht – sie beleuchtet bisweilen die Szene, wie es nie zuvor der Fall sein konnte.

Das ist es, was uns an Dich fesselt, und dafür (mit-)liebe ich Dich so.

Erstens liegt es in meiner Natur, das Jetzt zu fliehen und immer ein anderer und wo anders sein zu wollen. Mit dieser (unleserlich: Zielsuche?) – nicht mit der des Jetzt! – beginne ich mich allmählich auszusöhnen. So bin ich, hieraus müßte etwas gemacht werden. Es kann sein, daß mir das gelingt. Hoffen tue ich es bisweilen.

An Deinem Satze: Du wirst spät zur Produktion kommen, ist ganz unbedingt viel Wahres.

Ich muß das Ziel viel weiter hinausstrecken. Auf einer gewissen Art von „Knabenschicksal“ kann ich immerhin zurückblicken, aber es war keine Erfüllung. Ein „Jünglingsschicksal“, das ist mir wohl sicherlich versagt, wie Du zugeben mußt. Wie ich das Bücherwurm! Hier sitzt ein dickes Wurzelende meiner Melancholie.

Bliebe also die Erfüllung eines „Männerschicksals“. Männerschicksal! Vorerst bekomme ich ein wahres Grauen vor diesem Wort; das wird man mir verzeihen. Aber es kann darauf hinauskommen; und besser wie Nichtigkeit ist’s ja; (Dir kann’s aber auch kommen; den stärksten Männern ist das schon passiert!) – Mithin, warten wir’s ab. Erst mal gibt’s noch viel zu beißen, z.B. morgen, wo der Dienst neu beginnt. Der Finger ist geheilt zum Glück; aber diese geschenkten Ferien waren doch recht hübsch. Ich habe viel gelesen, freilich wenig bis zu Ende: Spengler II, Maupassant, Manzoni, Th(omas) Mann, Justi, Carl Spitteler. Von all dem wird noch zu reden sein.

Ich bin recht im Schreibeschwung, aber man ruft schon zum Abendessen, darum Schluß.

Ich verspüre viel Lust, Italienisch zu lernen. Welchen Weg rätst Du mir dazu und besitzt Du irgendwelche Hilfsmittel? Kommst Du etwa zur Pädagogischen Woche? Wenn doch sogar der Minister kommt, zur Knabengeleitsleute-Tagung!

Leb recht wohl! Grüße W(ende?) und die Familie, auch Gragger(?); Lohe schrieb ich selbst schon heute. Immer Dein Harro.

Zeichnung von Harro Siegel an C.H.B. Kassel, Juli 1922

Barbier von Bagdad. Dir zu Füßen liegen/Lippe an Lippe schmiegen

Orer Marzianaaa!! (schlecht leserlich)

Verzeihung; dies war ein früher begonnener Brief an Dich, dessen Inhalt mir heute aber zu ungewiß erscheint, als daß ich Dich Obiges (9 Zeilen unleserlich gemacht) lesen lassen möchte. – Jedoch, ich wollte Dir das Bild nicht vorenthalten.

H.S.22


1 Padua, Hauptstadt (211 000 Einwohner) der Provinz Padova. Universität von 1222! Kunstakademie, wissenschaftliche Institute, Observatorium; ältester botanischer Garten Europas von 1545. (Brockhaus medial 2004)

2 Salone, die Piazza della Erbe vor dem Palazzo della Regione, früher Justizpalast, unten mit Marktbuden versehen , oben ein einziger durchgehender Saal, der heute für Ausstellungen genutzt wird und daher fast immer zugänglich ist

3 Giovanni Battista Tiepolo *1696 Venedig + 1770 Madrid. Bedeutender Vertreter der venezianischen Malerschule. Ich füge hinzu: Würzburger Residenz! BB

4 Dogenplast, Venedigs prachtvollster Profanbau, 71 m lang, mit der Sala del Maggior Consiglio (54×24 m; 15,5 m hoch, mit Bildern aller Dogen von 804-1559 und dem größten Ölgemälde der Welt , Tintorettos Paradies. Paradies (griechisch, aus dem altpersischen) bedeutet Vorhof früher christlicher Basiliken, mit Reinigungsbrunnen, gleichbedeutend mit Atrium. (Dumont, Oberitalien S.280)

5 Venedig gehörte von 1815 bis 1866 zu Österreich…Aufstand 1848 niedergeschlagen.

6 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1923 Berlin. Evangelischer Theologe, Philosoph und Historiker, Professor in Bonn, Heidelberg (Max Weber!), seit 1914 Berlin

7 Muckel ist bei Becker ein familiäres Kosewort, das er und andere auch für den jüngsten Sohn, Hellmut, verwandten. Hier jedoch auf den Freund bezogen.

8 Freundin Harros in Kassel.

9 Hier wohl seine Freundin Lola.

10 Hervorhebung des Herausgebers.

11 Randbemerkung Beckers mit den Abfahrtszeiten der Züge.

12 Hessischer Dialekt…

13 Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft? Kein Hinweis auf den Ort, und daß da ein Restaurant sei.

Harro Siegel, I.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1921/1922

120. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 18.1.1921

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Siegel,

Damit Sie sich wundern, von Herrn Professor Waetzoldt nicht geladen zu werden, teile ich Ihnen mit, daß Herr Waetzoldt, wie ich erst nachträglich feststellen konnte, diese ganze Woche von Berlin abwesend ist. Ich werde aber sofort nach seiner Rückkehr mit ihm über Sie Rücksprache nehmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (gez.) Becker

 

121. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 21.2.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Lieber Herr Siegel.

Es freut mich sehr, Ihnen anbei 1000 M(ark) zur Beschaffung Ihres Handwerkzeuges überreichen zu können. Der Stifter ist der bekannte Privatgelehrte Dr. Heinrich Braun, Berlin-Zehlendorf-M(itte), Am Erlenweg, der Herausgeber der Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Das Geld stammt aus dem Erlös der Lebenserinnerungen und Briefe seines im Felde gefallenen Sohnes Otto Braun, der ein ungewöhnlich vielseitig begabter und vor allem unendlich frühgereifter junger Mann gewesen ist. Mit ihm hat die Nation einen ihrer Besten verloren. Obwohl selbst nicht gerade reich, verwendet Herr Dr. Braun den Reingewinn, den er aus diesem Werk erzielt hat, zur Unterstützung talentvoller junger Gelehrter und Künstler. Ich würde es für richtig halten, daß Sie ihm einmal einen Besuch machen und sich bedanken, vielleicht bei der Gelegenheit ihm auch etwas von Ihren Arbeiten zeigen. Im Augenblick verreist er allerdings, um das Grab seines Sohnes in Frankreich zu besuchen. Er wird also Ihren Besuch erst nach seiner Rückkehr erwarten; vielleicht fragen Sie in 8-10 Tagen einmal telephonisch bei ihm an: Zehlendorf 25. Jedenfalls bitte ich Sie, ihm gleich jetzt ein paar Worte des Dankes zu schreiben.

Wie lange denken Sie noch in Berlin zu bleiben? Ich möchte gern noch einmal mich etwas in Ruhe mit Ihnen unterhalten, bin aber während dieser Woche so maßlos in Anspruch genommen, daß ich keine Stunde in Aussicht zu nehmen wage. Vielleicht rufen Sie mich Anfang nächster Woche einmal telephonisch an (Zentrum 11340), im Laufe des Tages außer zwischen 2 und 4 Uhr.- Einstweilen verbleibe ich mit verbindlichen Grüßen und guten Wünschen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (gez.) Becker.

 

122. Harro Siegel an C.H.B. Berlin SW4, Yorckstraße 13a, 22.2.1921

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Vorläufig bin ich noch etwas fassungslos diesem heute morgen unerwartet über mich hereingebrochenem Ereignis gegenüber. Das ist mehr, als ich verdient habe. Ganz begrifflich zu erfassen vermag ich es nicht, aber ich glaube, es ist der Name des Spenders und der Gedanke an seinen unersetzlichen Sohn, was mich dabei so „antut“.

Nun, jedenfalls ist mir jetzt für lange Zeit hinaus geholfen; mit Wonne lasse ich die längst verfaßten Aquarellfarben liegen und gehe zum Öl über.

Herrn Dr. Braun schrieb ich gleich; ich freue mich unendlich darauf, ihn später selbst aufzusuchen, ebenso wie über die Möglichkeit eines baldigen etwas ausgiebigeren Zusammenseins mit Ihnen. Wäre mir Ihre Arbeitsüberlastung nicht bekannt gewesen, so hätte ich vielleicht selbst schon gewagt darum zu bitten. Ich werde also nächste Woche anrufen.

Es grüßt Sie mit großer Hochachtung Ihr dankbarer Harro Siegel.

 

123. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W8, 18.3.1921

Lieber Herr Siegel!

Da ich nicht weiß, ob ich anwesend bin, wenn Sie die Karte abholen, will ich Ihnen nur mitteilen, daß Sie heute Abend in der Ministerloge meinen Freund Geheimrat Wende nebst Frau und drei Gästen antreffen werden. Wende ist mein nächster Freund und weiß über Sie Bescheid. Machen Sie sich mit ihm bekannt. Es ist ein nicht großer sehr jung aussehender Mann, bartlos, Cutaway, dunkelblond mit braunen Augen. Sie haben ihn schon einmal flüchtig in meinem Zimmer getroffen, als Sie mir Ihre Bilder zeigten.

Viel Vergnügen! Bitte geben Sie Wende die Karte zurück.

Herzlichst der Ihrige. Becker

 


Plädoyer für eine handwerkliche Grundausbildung eines Künstlers


 

124. C.H.B. an StR Siegel (Vater Harros). Berlin, 5.4.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Studienrat!

Ihr Sohn Harro, den ich durch Vermittlung meines Freundes, Professor Ritter, kennen gelernt habe, erzählte mir gestern Abend, daß sein Entschluß, seiner künstlerischen Ausbildung eine handwerkliche Grundlage zu geben, bei Ihnen Sorgen und Bedenken ausgelöst hätte. Da ich Ihren Sohn im Einverständnis mit ersten Fachleuten beraten hatte, fühle ich das Bedürfnis, den geplanten Schritt Ihnen noch etwas näher zu begründen. So habe ich ihm spontan angeboten, an Sie zu schreiben. Ich tue das um so lieber, als ich ihn nicht nur für einen werdenden Künstler, von dem noch etwas zu erwarten ist, halte, sondern mich auch seiner wertvollen menschlichen Eigenschaften freue, die ihm hier schon eine recht nette Position geschaffen haben. Ich habe ihn persönlich sehr lieb gewonnen und möchte alles tun, was in meinen Kräften steht, ihm den dornenvollen Weg des künstlerischen Sichdurchsetzens zu erleichtern.

War der Bildungsgang des jungen Künstlers schon vor dem Zusammenbruch ein schwieriger, so haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren so vollständig verschoben, daß man mit ganz neuen Ausbildungsmethoden rechnen muß. Die führenden Sachverständigen sind jetzt ganz einhellig der Meinung, daß jede künstlerische Betätigung auch auf dem Gebiete der sogenannten höheren Kunst handwerksmäßig verankert sein muß, und daß es zugleich darauf ankommt, nicht nur ein einzelnes spezielles künstlerisches Gebiet zu beherrschen, sondern daß eine möglichst breite künstlerische Allgemeinbildung Voraussetzung für eine künstlerische Lebensexistenz ist. Nun liegt das Talent Ihres Harro unbedingt auf graphischem Gebiet. Das zentrale Handwerk, von dem aus man an diese künstlerische Betätigung herankommt, ist die moderne Kunstbinderei. Es gibt hier in Berlin einige wenige ausgezeichnete Firmen, die hierfür besonders in Betracht kommen, und die eine gewisse Schule bedeuten. Wir haben vom Ministerium aus Harro dorthin empfohlen, und es scheint ja auch, als ob er die Möglichkeit bekommt, dort anzukommen. Ich würde das für ein großes Glück halten, denn, worauf es ankommt, ist nicht nur die Fingerfertigkeit, sondern der ganze Geist des Handwerks, das sich ja immer mehr zur Kunst veredelt. Wenn ich auch der Überzeugung bin, daß Harro nach dieser Schulung zu rein künstlerischer Arbeit zurückkehrt, so wird es für ihn doch immer von sehr großer Bedeutung sein, auf einem seine Existenz sichernden Gebiete Fachmann zu sein. Hätte ich einen künstlerisch talentierten Sohn wie Harro, würde ich ihn unbedingt diesen Weg gehen lassen, da ich in Freundeskreisen den großen Vorteil der handwerklichen Schulung von Gebildeten kennen gelernt habe. Verschiedene meiner früheren Universitätskollegen lassen jetzt ihren Sohn nach einigen Semestern Studium ein Handwerk erlernen, sogar ohne künstlerischen Einschlag, rein wegen der wirtschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten. Bei Harro steht mir der pädagogische Gesichtspunkt höher wie der der wirtschaftliche Sicherung, wenn ich ihn auch nicht übersehe.

Die beiden anderen Wege, die möglich wären, das Zeichenlehrerexamen oder ein kunstgeschichtlicher Doktor, sind beide m.E. sowohl in pädagogischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht weniger zu empfehlen. Der Zeichenlehrerberuf ist derartig überfüllt, daß dies Examen keinesfalls eine Sicherstellung bedeuten würde. Übrigens ist er durchgebildet genug, um dieses Examen im Notfall auch später jederzeit zu machen. Pädagogisch würde ich es aber für verkehrt halten, weil die Tätigkeit als Zeichenlehrer, die nun einmal an bestimmte Vorschriften und Formen gebunden ist, keine Entwicklung, sondern eine Hemmung seiner künstlerischen Fähigkeiten bedeuten würde. Als kunstgeschichtlicher Doktor wäre er auf den Zufall eines Unterkommens in der musealen Laufbahn angewiesen und würde durch eine notwendige Hypertrophie geschichtlicher Arbeit und intellektueller Einstellung in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt werden. Nur das Handwerk bietet ihm große pädagogische Wirkung der Zucht und der Arbeit, die er für seine künstlerische Gesamtpersönlichkeit braucht, ohne daß er dadurch in der individuellen Entfaltung seiner Anlagen gehemmt wird. Die materielle Sicherstellung ist dabei ein erfreuliches Nebenprodukt.

So sehe ich, sehr geehrter Herr Studienrat, die Dinge an, und ich weiß mich dabei einig mit den ersten Fachleuten, die Deutschland auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.. Ich fühle durchaus, daß ich eine Verantwortung übernahm, als ich Harro diesen Rat gab, aber er muß in irgend einer Weise jetzt sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat die Jahre seit seinem Abitur weiß Gott nicht verloren und sich eine Summe von Können und Kenntnissen angeeignet, die mich immer wieder erfreut, und die den Durchschnitt seines Alters weit übertrifft. Wenn er jetzt aus innerer Nötigung heraus – von einem suggestiven Zwang meinerseits ist natürlich nicht die Rede – diesen neuartigen, aber zukunftsreichen Weg beschreiten will, so würde es mich für ihn besonders erfreuen, wenn er dabei von dem Bewußtsein getragen würde, das volle Verständnis seines Vaters zu finden. Ich habe selbst erlebt, wie sehr mich dies Bewußtsein gefördert hat, und das ist der letzte Grund meines Schreibens an Sie, daß ich es ihm erleichtern möchte, diese voll und freudige Zustimmung des Elternhauses zu finden. Ich verstehe vollauf, daß es Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vielleicht lieber wäre, Ihren Jungen den Rest seiner Ausbildung in Cassel absolvieren zu sehen; aber ich glaube doch, Ihnen raten zu müssen, ihn diesen so günstigen besonderen Umständen in Berlin nicht zu entziehen. Er hat hier neben der handwerklichen Spezialausbildung eine solche Fülle von Möglichkeiten für künstlerische Allgemeinausbildung wie nirgends sonst. Vor den sogenannten Berliner Gefahren sichert ihn seine solide, so ganz unbohémienhafte Eigenart. Alles, was ich bisher von ihm gesehen habe, gibt mir die Berechtigung zu dem Vertrauen, daß er seinen Lebensweg aus inner Nötigung heraus gehen wird, und daß man ihm möglichste Freiheit der Entwicklung lassen sollte.

Schließen Sie, bitte, aus der Ausführlichkeit dieses Briefes auf das warme Interesse, das ich an Harro als Künstler und als Mensch nehme. Ich glaube wirklich, man kann Sie zu diesem Jungen beglückwünschen.

In hoher Verehrung Ihr sehr ergebener (gez.) Becker, Staatssekretär.

 

125. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin, Unter den Linden 4, 14.4.1921

Mein lieber Siegel!

Nachdem ich 2 Tage lang 5-6 Mal versucht habe, Sie telephonisch zu erreichen, möchte ich nicht länger zögern Ihnen meinen innigen Dank für Ihre große Geburtstagsüberraschung schriftlich auszusprechen. Lieber Freund, Sie haben mir wirklich eine Freude bereitet. Erstens, daß Sie überhaupt den Tag festgestellt hatten und dann, daß Sie aus Eigenstem spendeten. Ihre Gabe hat mich schrecklich beschämt, aber ich nehme sie doch dankbar an, weil ich weiß, daß sie ein Symbol ist – auch in einem andern Sinn expressionistisch. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Gesinnung, daß ich mir sehr gern etwas von Ihnen schenken lasse, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß sich zwischen uns ein so selbstverständliches Verhältnis ent-wickelt hat, wie ich es mir schöner und wohltuender gar nicht vorstellen könnte. Ich habe nur den Eindruck, als ob wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen hätten. Wir müssen telefo-n(isch) recht bald ein Zus(ammen)sein verabreden. Dann sprechen wir auch über Ihr Bild, über das sich meine Familie lebhaft zankt. Es macht allgemein einen starken Eindruck, nur weichen die Deutungen ab. Mir ist es ein Ausdruck Ihres Suchens und Sehnens und ich verstehe es ohne das Verlangen nach intellektueller Deutung.—

Ich denke in diesen Tagen sehr viel an Sie und war so ärgerlich, Sie nicht zu erreichen, da ich ja so gespannt bin zu hören, wie Ihnen Ihre vita nuova gefällt. Von Ihrem Vater habe ich bisher nichts gehört.

Also auf bald und auf immer Ihr Becker

 

126. StR Siegel an C.H.B. Kassel, 16.4.1921

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

Für Ihr freundliches Schreiben und die darin bekundete Teilnahme für meinen Sohn danke ich Ihnen verbindlichst.. Ich erhielt Ihren Brief bei der Rückkehr von meiner Reise, nachdem ich inzwischen bereits Harro unsere Einwilligung zu seinem Vorgehen gegeben hatte. Dennoch war es mir wertvoll, von so berufener Seite über unseren Sohn und seinen Entschluß ein Urteil zu hören, das uns mit Befriedigung über unsere Entscheidung erfüllen konnte.

Nur zur Aufklärung eines scheinbaren Mißverständnisses möchte ich erwähnen, daß ich weit davon entfernt bin, die von Harro bereits zurückgelegten drei Lernjahre für ganz oder halb verloren zu halten. Ich bin nicht so engherzig, in dem ausschließlichen, eng umschriebenen Studium irgend eines Faches oder gar der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung das Heil zu erblicken (? Unleserlich, weggelocht). Im Gegenteil, ich empfinde Freude und Genugtuung darüber, daß mein Sohn gerade auch in seiner Allgemeinbildung sicherlich Anerkennenswertes erreicht hat. Mein Hinweis sollte Harro lediglich darauf aufmerksam machen, daß es an der Zeit sei, ein bestimmtes Ziel in Auge zu fassen, und mein Hauptbedenken war, (?weggelocht: daß) er das, was er jetzt als richtig erkannt hatte, auch durchführen werde.

Darüber haben mich nun ein weiterer Brief meines Sohnes und besonders auch Ihre Ausführungen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, beruhigt. Seien Sie nochmals unseres herzlichen Dankes versichert.

Mit größter Hochachtung. (gez.) Siegel, Studienrat

 

127. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 5.5.1921

Lieber Dr. Becker!

Mir ist etwas eingefallen: Vielleicht finden Sie mal einen kleinen Moment Zeit, daran zu denken, ob Sie mir nicht das nächste Mal irgend eine Aufgabe stellen können – ein Bild oder eine Folge von Bildern, am Ende mit bestimmten Ablieferungstermin. Wir sprachen ja mal über den stimulierenden Wert solcher Verpflichtungen.

Vielleicht bringt mich das aus dieser toten Zeit heraus. Denn, dem beziehungsheischenden Banne Ihrer Augen entzogen, kann ich es leichter sagen, wie sehr mich das Fehlen jeglicher Produktion seit 2 Monaten bedrückt; es muß mal etwas geschehen.

Dem Wiedersehen mit Muck1 sehe ich ruhig entgegen; ich glaube, ich gestehe mir noch nicht einmal ein, wie ruhig.

Immer Ihr Harro Siegel

 

128. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 17.10.1921

Mein lieber Harro!

Ich bin sehr besetzt diese Woche und muß mir’s deshalb in diesen Tagen – sehr zu meinem Leidwesen – versagen, Sie zu sehen. Donnerstag halte ich einen großen polit(ischen) Vortrag im demokrat(ischen) Klub, der mir den Mittwoch Abend kostet wegen der notwendigen Vorbereitung. Den Freitag Abend halte ich für Sie frei (Anmerkung Beckers: Peer Gynt). Ich habe zwar Staatsministerium, komme aber danach ins Schauspielhaus, wo Sie mich erwarten wollen. Billet holen Sie bitte vorher wie immer beim Portier ab. Wir werden allein sein.

Einlage gilt für ca. 10 Tage. Vielleicht interessiert es Sie am Sonntag mal hin zu gehen.

Ich freue mich sehr Sie wiederzusehen.

Wie stets herzlichst Ihr C.H.B.

 

129. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 22.7.1921

Viellieber Dr. Becker!

Wenn Sie nun schon seit nahezu einer Woche fort sind, so ist das für mich eine kleine halbe Ewigkeit. Ich fühle mich sehr zur Erfüllung meines Schreibeversprechens gedrängt (?). Es zeigt sich jetzt, daß Ihr Hiersein eigentlich die einzige wirkliche Rechtfertigung meines Berliner Aufenthaltes ist, daß ich nur um Ihretwillen mich hier, ohne andere Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen, so fest gebunden habe. Dies als Liebeserklärung vorweg. Ich entbehre sehr unser Zusammensein. Die Aussicht darauf war immer Ziel und Mitte während der Wochenarbeit. Von dort bezog ich meine Widerstandskraft gegen das Hineingeducktwerden in die Banalität. Ich will nun versuchen, Ihnen zu sagen, was mich diese ganze Zeit über bedrückt und des öfteren sehr erschreckt hat. Es ist das Gefühl, mit meiner Jugend höchst unhaushälterisch (ist nicht das rechte Wort) umzugehen. Statt der Erweiterung und Vertiefung meines Geistes

zu leben, lebe ich der Erlernung einer stumpfen Handarbeit, deren Vergeistigung mir nicht innerer Zwang, sondern nur theoretisch anerkannte Aufgabe ist.

Und nun etwas sehr abenteuerliches (? Schlecht lesbar), das ich nur Ihnen und nur sehr verstohlen sage: Auch der homo academicus ist doch nur oder vorläufig nur ein Lack, eine Fassade. Zuinnerst sitzt, glaube ich, ganz einfach noch ein Junge, der sich in Wiesen und Wäldern, unter Sonnen und blauem Himmel austoben müßte.

Wie im vorigen Jahre noch nackt impudent2 in der Sonne zu liegen, hat für mich noch immer einen Zustand höchster Euphorie bedeutet, den ich jetzt schmerzlich entbehre. Nicht wahr, Sie wittern da keine Romantik; das Bewußtsein vollendeter Einheit mit der Umwelt, das ich in solchen Momenten habe, entbehrt dann jeder Gefühlsduselei. Wirklich; Sie werden es auch begreifen, daß ich dann mich als Kaldakayersatz (?unleserlich) fühle; ein Gedanke, über den ich in jeder anderen Lage nur lachen kann.

Diesen kleinen Ausbruch mußte ich mir mal gestatten; ich finde, er ist noch recht zahm ausgefallen.

Es ist doch wunderbar, daß ich ihnen das sagen kann, wenngleich ich gestehe, daß ich das eben Gesagte doch lieber schriftlich, als Auge in Auge vorbringe.

Und nun etwas anderes, was ich auch leichter so sage.

In unseren letzten Gesprächen über Ritter hat sich gezeigt, daß wir an einer Stelle nicht denselben Weg wandeln. Ja, ich will es nicht länger geheimhalten: Wenn Sie mir seine Briefe vorlasen, so schrie es oft in mir: „Ja, ja, so ist es; es kann nicht anders sein.“ Und sein Ringen um Ihr Verständnis habe ich bis zum Schmerzlichen miterlebt. Er redete ja doch auch in meiner Sache.

Selbstverständlich halte ich seine Ausbrüche gegen Sie für unberechtigt und aus Überreizung geboren. Fragten Sie mich aber um meine Meinung, so kam ich oft in einen Konflikt zwischen dem, was ich glaubte sagen zu müssen, und dem, was ich unterdrückt habe aus Furcht, von Ihnen nicht verstanden zu werden.

Relativistisch könnte man es ja bei der Anerkennung beider Standpunkte lassen; ich glaube aber an eine Einigungsmöglichkeit, besser sogar Einheit. Nur will ich es hier noch einmal für mich so aussprechen. Würde ich forensisch befragt, so würde ich mich mit Haut und Haaren der Ritter’schen Theorie verschreiben, mag gleich die Gesellschaft sich auf den Kopf stellen.

Entschuldigen Sie, dies wirkt jungenhaft. Überhaupt ist mein Brief nicht, wie ich ihn wünschte. Ich möchte mehr sagen, und ich möchte es besser sagen. Nun, wenn Sie ihn in Gnaden annehmen, so hoffe ich das nächste Mal noch einen besseren Ton zu treffen.

Geht es Ihnen gut?- Es grüßt Sie sehr

Ihr Ihrer viel und gern gedenkender Harro Siegel.

 

130. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Villa Becker, 24.7.1921

Mein lieber Harro!

Ihr Brief hat mich erschreckt und erfreut. Erfreut durch den warmen und offenen Ton, der allzeit zwischen uns bestehen soll, erschreckt durch die Erkenntnis, wie viel unbewußte Verantwortlichkeit ich an Ihrem derzeitigen Dasein trage. Ich habe mich immer bemüht, keine Suggestion auf Sie auszuüben; denn Sie sollen ein freier, autonomer Mensch werden. Jeder Widerspruch war mir willkommen, namentlich in der Wahl Ihrer Arbeit nur Ihrem inneren Bedürfnis entgegengekommen zu sein. Nun meinen Sie Ihr Leben nicht richtig zu erfüllen. Wären die quälenden Stunden künstlerischer Produktionsunfähigkeit eine Ihnen genehme Erfüllung gewesen? Sind Sie nicht erst 21? Und liegt somit der fruchtbarere Teil Ihrer Jugend nicht noch vor Ihnen? Fassen Sie jedenfalls keine übereilten Beschlüsse!

Daß Sie sich noch als großen Jungen fühlen, der am liebsten nackt im durchsonnten Grase läge und mit der Natur wunschlos in Eins verwüchse – das war mir keine Offenbarung. So habe ich Sie immer angesehen. Das ist aber nur eine Ihrer Seiten, wenn auch vielleicht Ihre wertvollste. Das ist nämlich kein Infantilismus sondern echtester Humanismus, von dem auch ich gottlob noch ein gut Stück besitze. Erhalten Sie sich dies seelisch-körperliche Bedürfnis. Ich habe es mir erst nach langen Irrfahrten wiedererworben. Es ist das beste Gegengift gegen den Zweifel am Ich, gegen das Mitleid mit sich und gegen die Kleinbürgerlichkeit – lauter Eigenschaften oder sagen wir seelische Unarten, mit denen Sie auch zu kämpfen haben. Ihr Künstlertum liegt in Ihrer Jungenhaftigkeit in diesem Sinn. Bisher haftet Ihren Werken auch zu viel Schmerzgebrochenes an. Ich sehe darin noch Ihre Hemmungen, über die Sie nur der Humanismus, wie ich ihn eben umschrieb, hinwegbringen wird.

Daß Sie sich menschlich-persönlich bei mir etwas in Behandlung gegeben hatten, ist mir auch nicht verborgen geblieben. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut. Daß Sie auch mir viel, sogar sehr viel gewesen sind, haben Sie bemerkt. Auch ich habe mich von einem Zus(am-men)sein auf das nächste gefreut. Für mich waren das seelische Ruhepunkte in einem tiefbewegten, inhaltsübervollen Leben. Ich rechne bestimmt damit, daß unsere Beziehungen ein Lebenswert für uns beide bleiben werden, aber schließlich muß der werdende Mann den Weg zum Ich finden. Hoffentlich haben Sie empfunden, daß ich Ihnen dazu helfen wollte. In Ihnen steckt viel Harmonie, viel was nur Harro Siegel ist, aber es ist doch noch von manchen Eierschalen überdeckt, die manchmal Licht und Luft nehmen. Nichts ist umsonst unternommen was direkt oder durch Protest gegen mich oder Ihre Arbeit Sie sich selbst entdecken läßt. Ich predige weder Stolz noch Wehmut, sondern nur schlichte Selbsterkenntnis. Und nur nichts verdrängen, sondern bewußt sublimieren auf Grund der Erkenntnis in das Wesen des eigenen Selbst. Sie werden als Künstler und Mensch nicht durch Sturm, sondern auch bei Ihnen naht sich der Herr wie bei Elias in leisen Säuseln. Verstehen Sie mich ganz?

Über den Fall Ritter kann ich nicht ganz so sprechen wie ich möchte, weil es zu weit führen würde. Auch habe ich deshalb noch immer nicht an Ritter geschrieben. Mir ist nichts Menschliches fremd – das kann ich offen und ehrlich aussprechen. Mir ist auch Ritters Denkweise nicht fremd, aber ich verstehe auch die des alten Heiß (?). Ritter ist genauso einseitig eingestellt wie E’s Vater (??). Als Dritter kann man nur dann richtig urteilen, wenn man nach beiden Seiten hin menschlich mitfühlt. Schalten wir den Vater aus, so liegt der Fall schon anders. Dann halte ich es mit Plato, aber nicht mit dem was Plato ebenso menschlich verzeiht, sondern ich fordere mit Plato das Höchste was Plato selbst fordert. Ritter und Sie übersehen immer, daß über aller Duldung bei Plato eine sittliche Forderung steht. Das mag sehr unbequem sein, aber dieser Forderung liegt eben eine Vernunfterkenntnis zu Grunde, die auch mir unabweisbar erscheint, und ein Menschenverständnis, das allen Seiten gerecht wird. Und noch ein Drittes und Höchstes: Ein Erlebnis und eine Segnung durch dies Erlebnis. Mit 21 hat auch Plato vielleicht gedacht wie Sie, mit 45 schrieb er was er schrieb. Und Ritter ist keine 21 mehr. Gerade dieser Umstand, den er immerbetont, sollte ihn zwingen wie Plato zu handeln.—

Mir geht es gut. Ich erlebte im großen Geschwisterkreis mit meiner Frau (meist noch ohne Kinder) sehr stille Tage, mit einsamen Wanderungen auch mit meiner Frau, langem Liegen unter durchleuchteten Buchen, nachts auf weiter Terrasse mit unbegrenztem Blick in die weite, schlafende Ebene mit einem großen Himmel darüber. Manchmal denke ich auch an Sie, Ihre Sorgen und Nöte, Ihr Können und Ihr Sein. Dann trage ich auch Ihr Schicksal auf liebendem Herzen. Ihr Becker

 

131. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 26.7.1921

Lieber Dr. Becker!

Über Ihren Brief habe ich mich nur gefreut und danke Ihnen von Herzen dafür. Ich sehe, daß ich schwärzer gemalt habe, als richtig war. Zu erschrecken brauchten Sie nicht. Ich glaube, – hören Sie: ich glaube auch an die Fruchtbarkeit meines jetzigen Daseins, mit allen Licht- und Schattenseiten. Mir lag daran Ihnen auszudrücken, daß Sie auf der allerhellsten Lichtseite

stehn. Und dann hatte ich etwas Großstadtüberdruß, der sich ja in Staub und Hitze dieser Tage unbedingt einstellen mußte.

Ich bekämpfe ihn dadurch, daß ich jeden Abend schwimmen gehe, und mit bestem Erfolge. Ausgesaugt und ermüdet komme ich nach Haus und schlafe traumlos.

Verzeihen Sie es mir, wenn ich noch einmal „zum Thema“ spreche. Sie schreiben, daß bei Plato über aller Duldung eine sittliche Forderung stehe. Gut. Dabei fällt mir als Gegenbeispiel Tolstoj ein. Genau dasselbe läßt sich von ihm sagen in Bezug auf das mann-weibliche Verhältnis. Nur wird hier merkwürdigerweise jeder zugeben, daß das zu weit gegangen sei, und man führt rationalisierend das Gattungsinteresse ins Gefecht. Einen Fortpflanzungstrieb gibt es aber bestimmt nicht.

Weiter. Nehmen wir Goethe. Es würde eine Lücke in der Sphäre Goethe entstehen, wollte man seine Liebeserlebnisse als ungeschehen annehmen. Wer fragt hier danach, ob es dabei bis zum Letzten kam? Mit Selbstverständlichkeit wird das zur Nebensache. Hier sieht man die Versittlichung und Vergeistigung…

(Schluß fehlt)

 

132. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Fulda/Frankfurt/Main, 1.10.1921

Lieber Freund!

Hatte sehr schöne Tage in Leipzig. Alles verlief glänzend. Und Ritter erschien unerwartet. Ich hatte langes Gespräch mit ihm: seitdem ganz beruhigt. Er ist jetzt wirklich auf dem richtigen Wege. Ich schreibe dies im Zug zwischen Bebra und Frankfurt. Viel Vergnügen mit den „Meistersingern“ und gute Enrfolg bei den Beratungen mit Gericke und Sell.

Herzlichst Ihr B.

 

133. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin?), 18.11.1921

Lieber Harro!

Ich habe mich im Tage geirrt. Die Pfitzner-Première ist erst Morgen (Sonnabend). Also dann auf Wiedersehen. Herzlichst. Ihr Becker

 

134. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 26.12.1921

Mein lieber Becker

Zeichnung Harro Siegel
Zeichnung Harro Siegel

Bei dieser Anrede überläuft mich ein schöner Schauder, wie bei einem eigentlich unerhörten Wagnis.– Und den genieße ich (-wie schon immer!).—Ich stelle es aber gleich voran: Du mußt Dich mit der Immanenz dieses Briefes begnügen, denn über Dich und mich kann ich trotz vieler Fülle eigentlich nur schweigen.; und sonst habe ich wenig zu leiden, also wenig zu sagen.

Etwas psychoanalytisch geredet: Von meinen beiden Carmiliumimagines lebe ich fast ausschließlich in der guten, was jedoch durch eine leise Regression in die böse einen gewissen spannenden Nebenzweig bekommt.

Ich sehe es ein, daß mit heftigem Ringen um Loslösung von der Familie schließlich doch eine ebenso heftige Bindung an sie parallel laufen muß. Man bleibt zu einem Teil ein ewiger Junge, der verwöhnt und gehätschelt wird und manchmal etwas „hochgenommen“ werden muß. Aber ich will es ja gar nicht anders.

Laß mich Dir ein etwas abwegiges Geständnis machen: Vorläufig in noch sehr tiefen und dunklen Gründen meiner Psyche regt sich ein leise nagendes Gefühl, – ein sehr häßliches und auch undankbares, dem ich vorläufig noch scheue, die Laterne gerade ins Gesicht zu halten. Ich kennzeichne es vielleicht halbwegs treffend als Ressentiment gegen mein Berliner Wohlergehen. Dies „im Sturm erobern“ doch nur zumeist unterschiedlicher Leute ist mir irgendwie unheimlich. Ich habe Angst um den Bestand meines „An-sich“ erwartet. Hinein gehst auch Du mit den anderen in eins: Du siehst mich, wie Du mich wünschst (und ich bin Dir gegenüber unbeabsichtigt so). Aber wie nahe liegt hier die Verführung zur Vita contemplativa, zum Pflanzen daheim: „Ist es nicht genug, wertvollen Menschen ein Lebenswert zu sein?“- Aber hier darf ich nicht stehen bleiben, – denn ich habe doch Schaffensdrang.

Nun, im Grunde ist meine letztjährige (im Zeichen Deiner Mentorschaft stehende) Entwicklung so unendlich weit, daß man wohl einige anrufbare Früchte daraus erwarten kann.

Ein etwas konfuser Weihnachtsbrief, wie? Es geht mir aber sehr gut!! Und das hoffe ich auch von Dir.

Geheimrat(?) R. sehe ich öfters. Davon mündlich Jedenfalls ist mein Verhältnis zu ihm nun auch so stabil, daß ich keinen Sturm mehr fürchte. Übrigens klagt er, daß Du überhaupt nicht mehr schriebest.

Nun wünsche ich Dir und den Deinen alles erreichbare Gute zum Neuen Jahre und bin

Dein Harro

 

135. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 28.12.1921

Mein lieber Harro!

Ich dachte mir gleich, daß Du etwas zögern würdest, ehe Du die Anrede an mich schriebst. Um so selbstverständlicher fließt mir das Harro und das Du, das ich ja innerlich schon lange zu Dir sagte. Daß man über Vieles, oft das Beste und Letzte, lieber schweigt, ist auch ganz nach meinem Sinn, und ich glaube auch, daß wir uns über das Ich und das Du nichts mehr zu sagen brauchen. Das so schrecklich objektive und prosaische Papier kann nur schaden, wo Lebendiges wirkt, so subjektiv es sein mag. Und neugierige Dritte geht es schon gar nichts an. Trotz allem hast Du in Deinem Brief schließlich mehr gesagt, als Du eingangs zu wollen schienst. Auch das habe ich verstanden und schon gewußt, ehe Du abreistest. Du erinnerst Dich vielleicht meiner mehrfach gestellten Frage an unserem letzten Abend. Damals schlummerte die Formel vielleicht noch in Deinem Unterbewußtsein, jedenfalls verstand ich die Unklaglichkeit ihrer bevorstehenden oder schon erfolgten, aber noch verschleierten Geburt mit einer Stärke, die mir fast physisch weh tat. Ich empfinde es nicht als Undankbarkeit, ich freue mich dieser Deiner Reaktion gegen das seelische Sybaritentum der letzten Monate. Sieh, seit langem hoffe ich auf dies Ressentiment bei Dir und wenn Du mich auch – sicher mit Unrecht – mit den anderen in einen Topf wirfst, so will ich Dir doch sagen, daß Du mich schon zu meiner Reaktion auf den Chinaplan hättest erkennen können. Ich sehe Dich nicht nur, wie ich mir Dir wünsche. Ich sehe Dich mit doppeltem Gesicht. Das eine ist sehr nüchtern und sehr kritisch. Aber ich weiß, daß Kritik oder pädagogisch angewandte Kritik bei Menschen Deines Schlages doch nicht verfängt. Umstände und Erfahrungen müssen den Antrieb bringen. Man kann sie massieren helfen und auf die Wirkung warten. Das ist die einzige Pädagogik, die ich bei Dir angewandt habe. Ich habe Liebe auf Liebe gehäuft in der stillen aber sicheren Hoffnung, daß daraus die Tat geboren werden müsse, die künstlerische Tat, auf die ich von Anfang an bei Dir hoffte. Ich ging mit Dir einen doppelten Weg: durch die Härte und Öde der Werkstatt und durch die Weichheit und den Reichtum persönlicher Wertung, die wenn etwas in Dir steckte, die verschlackte Flamme zum leuchtenden Durchbruch bringen mußte. Ich merke jetzt, daß eine erste, noch scheue Flamme durchschlägt. Laß ein starkes Feuer daraus werden! Ich will kräftig blasen helfen, daß die Schlacken Deiner Passivität, Deiner Besinnlichkeit, Deiner Skepsis und Deiner Bequemlichkeit vom heiligen Eros zu Deiner Kunst und vom Glauben an Dich selber verzehrt werden. Das ist mein inniger Wunsch zum Neuen Jahr.

Und das andre Gesicht, mit dem ich Dich sehe? Das ist allerdings unbedingt, das geht nicht auf Experimente aus und will nicht erziehen. Das geht von Mensch zu Mensch, das sieht den „ewigen Jungen“ wie den werdenden Mann, die doch im Grunde eins sind. Das sieht die Zusammengehörigkeit, ohne den Zwang übersteigerte Bindung, ohne „Vergottung“, ohne Schwüle – kurz, ohne allen Un-Sinn, weil eben Sinn und Sein alles ist. Und wo dieser letzte Sinn herrscht, da braucht er keinen Namen, wie auch der Vater im Hause nur der Vater und der König im Lande nur der König heißt. Und so läuft das Wissen um den Sinn eben auf Schweigen hinaus.

Du siehst, ich habe Deinen Neujahrsbrief nicht so konfus gefunden wie Du selber ihn fragendst bezeichnest. Mögest Du Dir bewußt werden, daß ich Dich auch diesmal besser verstanden habe, als Du glaubtest. Und Du bist ja gewohnt, schon einiges vorauszusetzen.—

Wir hatten ein sehr schönes Fest – selten harmonisch und warm. Die Kinder waren köstlich und innerlich. Es wurde viel Liebe geschenkt und empfangen. Am 2.ten Feiertag waren Wendes mir ihren drei Kleinen bei uns. Er schien sich über die Bildersammlung sehr zu freuen.. Er schenkte mir Sa’di und ein lang gehegter Wunsch! – sein Bild. Dann begann wieder der Alltag, aber durch einige Sonntagsunterhaltungen mit Landé und anderen verschönt. Morgen nacht fahre ich auf einen Tag nach Cöln zum Kardinal, wenn nicht der Streik uns daran verhindert.

Dein schönes Bild hängt jetzt als Pendant zu Deinem ersten und interessiert und gefällt sehr. Auf Deine innere Vorbereitung für China schließe ich aus Deiner hübschen Skizze. Hab Dank dafür. Grüße die Deinen und Ritter, aber behalte bitte diesen Brief für Dich. Er ist ein persönliches Neujahrsgeschenk.

Dein CHB.

 

136. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.1.1922

Lieber Carl!

Wende hat doch wirklich recht: Menschen untereinander dürfen nicht restlos offen sein. Es ist nicht ethisch.- Ich mußte neulich restlos offen sein; jetzt ist mir das sehr übel bekommen.- Ich schrieb von einem Brief, den m(ein?) V(ater?) das Unglück hatte zu lesen. Diese Indiskretion hat für uns beide die grauenhaftesten Folgen gehabt..-

Er drang vorgestern Abend auf Erklärung und volle Wahrheit. Da ich eine hart im Raum stehende Äußerung (ich hatte ihn als Fremdkörper in der Familie bezeichnet) zu rechtfertigen hatte, so sah ich keinen Ausweg, als dem zu folgen. Es war über jedes Maß hinaus entsetzlich, trotzdem ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis ausstellen darf, mich durchaus anständig benommen zu haben.- Aber was für mich seit langem unverbrüchliche Tatsache war, – das traf ihn in dieser Absolutheit offenbar als ein völlig Neues (?) mit erheblicher Wucht: unser völliges inneres Fremdsein nämlich; da dies auch für meinen Bruder gilt, so hatte der arme Mann wohl recht mit den Worten, „ich zerstöre sein Leben“. –

Ich kam mir vor wie ein Henkersknecht, alle Zorn- und Rachegefühle schwanden im Lauf der Auseinandersetzung, trotzdem er vorläufig noch nicht das Maß seiner und des Schicksals Schuld einsehen will und mich zum Sündenbock machen zu wollen scheint.

Aber es tut mir weh, ihn zu sehen; ich finde wieder, daß ich ihn doch lieb habe. Woher die Kraft nehmen und wie den Weg finden, ihm das zu zeigen?. Jetzt wird er mir’s schon gar nicht mehr glauben. Vielleicht tust Du’s mal für mich.

Wir leben äußerlich so weiter wie bisher, und die Atmosphäre ist wenigstens nicht mehr so geladen wie bis dato.

Auf alle Fälle ist es gut, daß ich jetzt fortkomme. Obwohl – der Zwiespalt ist grausam – mich eine ebenso starke Kraft hier hält: das ist meine Liebe, wie Du denken kannst. Sie hat allerlei Stöße auszuhalten, aber sie wird stetig tiefer.

Ich klage nicht mehr über Mangel an Urerlebnissen; wenn ich noch hinzufüge, daß ich außer zum Buchbinden (gestern freilich mußten wir 55 Zentner Braunkohlen ins Kellergewölbe schaffen) zu nichts komme, als zu sehr oberflächlicher Lektüre freilich sehr rechtschaffner Bücher und zu sehr wenig Schlaf (erstens komme ich zu wenig an die Luft und zweitens bin ich zu verliebt),- so hast Du alles, was Du brauchst, Dir ein Bild meiner Tage zu machen. Aber ich halte aufrecht, was ich das letztemal schrieb: Es geht bergauf: – Ich habe mein Gesuch an die Handwerkskammer losgelassen. Findest Du es richtig, wenn Gericht gleich von sich aus ein befürwortendes Schreiben dazutut? Dann würde ich ihn sofort darum bitten.

In Berlin – bei meinem ausgezeichneten Meister – hätte ich es vielleicht zu einer 1 in der Prüfung bringen können; hier muß ich froh sein, so durchzukommen.—

Grüß bitte Hedwig (?) und alle anderen. Herzlichst Dein Harro.

 

137. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 20.1.1922

Mein lieber Harro!

Es geht mir etwas gegen den Strich, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag schreiben soll. Ich hätte ihn gern mit Dir verlebt und Dir etwas Ersatz geboten für fehlendes Vaterhaus; denn mag sich auch noch so vornehm über Zeiten und Termine erheben, gerade „große Jungen“ lassen sich an solchen Tagen doch gern auch einmal streicheln und das Gefühl gefeiert zu werden macht warm, tut wohl und gibt Kraft. Außerdem ist das Leben so kurz und man macht sich’s

meist durch lauter Bedenklichkeiten so schwer, daß man die Feste feiern soll, wie sie fallen; dann darf man sich sagen, daß man sich lieb hat, ohne daß es gleich sentimental wirkt, dann darf man sich versöhnen, ohne daß man sich selbst den Krampf der mangelnden Pädagogik machen müßte – und schließlich gibt’s doch nichts Schöneres, als wenn man einmal selbst im Rahmen des Herkommens wahr sein darf, wenn die Form zum Sinn wird und die Festtagsfeiern doch nur den Ausdruck der Alltagsstimmung zwischen Mensch und Mensch wiedergibt. So wenigstens empfinde ich an Deinem Geburtstag und so hätte ich ihn gern gefeiert.

Feiern, mein lieber Harro, will ich ihn aber auch so. Den Plutarch habe ich Dir schicken lassen, wenn möglich gebunden. Ich war die letzten Tage vor der Abreise wenig wohl und habe mich nur sehr schwer zur Abfahrt am Dienstag entschlossen – noch Abends vorher mußte ich den Arzt kommen lassen -, sodaß ich nichts mehr selbst besorgen konnte. Wenn die Bücher deshalb wenig geburtstäglich ankommen, so schieb’s auf die leidigen Umstände. Einige materielle Dinge, die Dir sonst noch zugedacht waren, gebe ich Dir erst nach der Heimkehr; dann unterteilt sich’s besser, da doch sicher zum 24.ten auch in Cassel einiges eingeht.

Unser letzter Abend, so schön er war, bleibt für mich etwas unbefriedigend. Es ist etwas nicht zu Ende beredet worden. Das für mich ganz überraschende Problem L. (??3) mit seinen Auswirkungen hat die Besprechung der Dinge verhindert, von denen ich eigentlich erwartet hatte, daß sie zum Sprechen kommen würden. Ich denke an Deine eigene nicht menschliche, sondern berufliche Zukunft. Die aufrüttelnde China-Episode hat doch auch Dich veranlaßt, Deine berufliche Ausbildung nochmals zu durchdenken. Du wirst natürlich Deine jetzige Ausbildung zu einem gewissen Abschluß bringen – also allzu eilend ist die Sache nicht, aber wenn Du mir von dem Haufen schriebst, den Du abzuladen hättest, so dacht ich immer zuerst an die Entwicklung Deiner Berufsstellung. Seitdem ich Deine Zeichnungen gesehen habe, habe ich doch auch eine andere Anschauung von Deinem Können erhalten und möchte Dir sogern helfen, das wirklich künstlerisch Wertvolle in Dir zur Entfaltung zu bringen. Darüber müssen wir reden.

Inzwischen beschäftigt mich die Angelegenheit L. natürlich auch sehr. Ich werde ihn nächste Woche hier oder in Cassel treffen und das wird zu mancher Aussprache Anlaß geben. Ich werde ihm natürlich völlig die Initiative überlassen. Er muß mit Göttingen wieder anknüpfen. In solchen Fällen darf man nicht entweder –oder sagen. Ob Du schon Gelegenheit hattest mit ihm zu sprechen?

Wenn alles nach Wunsch läuft, bin ich am 26.ten Abends bis 29.ten Abends 8 (Uhr) in

Richerts Hotel, Cassel. Ich werde wohl mal nach Zwehren (?) hinausfahren, sicher aber nach Humboldtstraße 30. Was meinst Du, wenn ich mich Sonntag Nachmittag zwischen 4 und 5 (Uhr) bei Euch ansagte? Oder gibt es irgend welche h(eiligen) Gesetze über den Sonntag Nachm(ittag) wie Club, Familiencafé oder Spaziergang übers Land? Eigentlich ginge ich lieber ohne Landé hin; wenn er aber da ist, werde ich ihn kaum nicht mitnehmen können. Die Nacht von Sonntag auf Montag fahre ich zurück und erwarte dann daß Du Montag Nachmittag mal nach mir schaust. Bis zum 26.ten Nachmittags bin ich hier.

Und nun, leb wohl, mein lieber Harro! Was man als Vater, Bruder und Freund für einen geliebten Menschen auf dem Herzen haben kannst, das setze ich bei mir für Dich voraus. Laß es auch in Deinem neuen Lebensjahr – übrigens das erste, das ich bewußt mit Dir antrete – zwischen uns so bleiben, wie’s geworden ist. Und m(u)st (weggelocht!) Du wachsen vor den Menschen, vor mir und – vor Dir.

Dein C.H.B.

138. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 24.1.1922

Mein lieber Becker!

Es traf sich merkwürdig gut, daß ich gerade heute morgen Deinen Islam in die Hände bekam und den ganzen Tag daran zu tun hatte. Dieser Mittelsgegenstand ließ mein Tagträumen sich immer wieder um Deine Person verdichten. Und so war ich die ganze Arbeitszeit über in stiller und angenehmer Feierstimmung (trotz allerübelster Gegenströmungen meisterlicherseits)! Ich fand es dann auch nicht mehr nötig, zu noch größerem Schwung auszuholen; habe meine Pakete ausgepackt und gedenke mich nach Absendung dieses Briefs in mein Bett zu verkriechen. (Denn es ist allem Feuern zum Trotz erbärmlich kalt.)

Für Deinen Brief, den ich schon Sonntag erhielt, danke ich Dir von ganzem Herzen. Ich bin ja so dankbar, daß ich Dich habe. (Dankbar nicht irgendwem, – aber man umschreibt mit diesem Wort doch gut den Gefühlsinhalt, über den ich mich hier wohl nicht weiter zu äußern brauche.)

Der Plutarch kam gestern in einem vorläufigen (weil beschädigten) Exemplar; man hofft bald ein besseres zu besorgen. Ich freue mich wirklich sehr über diesen Besitz.

L(andé) habe ich inzwischen noch gesprochen. Ich glaube zu sehen, daß sein Verhalten zu mir jetzt von selbst eine Richtung nimmt, der ich Gegengewicht geben kann. Auch nach seinem heutigen Geburtstagsbrief scheint es mir so.- Wenn sich das in Zukunft bestätigte,- ich wäre ungeheuer befreit! Es sei wie es sei – er wird mich nie völlig verstehen können. Wieso, weiß ich natürlich auch nur zum Teil. Es ist eben nicht anders.

Übrigens gedenkt er nächsten Sonntag nach Göttingen zu fahren. (Zeige es ihm nur nicht zu sehr, daß Du Dich darüber freust.)- Doch müssen wir über all dieses noch mehr als ein Wort sprechen, auch über das Entweder-Oder– Du hättest dann auch die Möglichkeit, Sonntag nachmittag ohne ihn zu meinen Eltern zu gehen (was mir natürlich auch lieber ist). Von meiner Mutter bekam ich einen Brief, der mir sehr nahe ging.- Ich konnte Weihnachten zu keiner wahrhaften Aussprache mit ihr kommen; sie leidet offenbar auch sehr unter dem Gefühl, ich sei unzufrieden, zwiespältig. (Sie hat auch recht; es ist doch noch oft so.)- Nun kam hinzu, daß G.R in Kassel war, der mich auch in der Zeit dort, wo ich nicht mit ihm zusammen war, sehr in Anspruch nahm; ganz naturgemäß fühlte ich mich in die letzten qualvollen Jahre, die ich zu Haus verlebte, zurückversetzt; kurz, mich quält jetzt der Gedanke, sehr viel Liebe, die man mir entgegenbrachte, nicht beachtet zu haben, allzu sehr verkapselt in mich selbst.- Ich sehe doch selbst noch so sehr wenig klar: was hilft es auch, wenn ich die (unleserlich: Aura?) meiner Zwiespaltenheit bald so, bald so benenne? Ich habe noch soviel dumpf-chaotisches in mir, daß ich zwar hoffe, daß daraus noch mal irgendwas (unleserlich: Brauchbares?) hervorgehen kann, daß aber Angst und Melancholie mich jetzt meistens an solchem Darüberstehen hindern.- Die gelassene Ruhe, in der Du mich für gewöhnlich kennst kommt eben nur in Deiner Gegenwart über mich;- umso wohltuender ist sie, – aber sie ist noch völlig die Ausnahme.- Sollte es sich ergeben, daß Du mit meiner Mutter allein sprechen kannst (was ich kaum glaube), so sage ihr bitte, daß ich alles, was an guten und zukunftsvollen Kräften etwa in mir ist, als von ihr allein kommend betrachte, und daß es vielleicht der Kampf um die Durchsetzung dieser Kräfte ist, der mich so unerträglich an mich selbst fesselt. (Es ist vielleicht gut, wenn Du gleich nach Deiner Ankunft anrufst, dann richtet man sich auf alle Fälle auf Dich ein.)- Wenn Du irgend Zeit hast, besuch doch die L(andés?) in Galwin (?). Sie ist wundervoll.-

Du hast schon durchaus recht; daß L(andé?)-Problem mußte seiner Zeit heraus, weil die Zeit dazu drängte. An innerer Wichtigkeit kann es sich mit der Berufsfrage (die aber das Gegenteil

von äußerlich maßgebend ist) nicht messen.

Hier stehe ich erst an der Wurzel meiner derzeitigen Nöte. Und noch völlig im Dunkeln.- Ich wünschte wirklich, Du besuchtest meinen Freund Hermann Cohn. Durch einen plötzlich einsetzenden zweimaligen Briefwechsel mit ihm ist mir mein sog. „Künstlertum“ so fragwürdig geworden, wie noch nie. Denn ich sehe bei ihm, was es heißt Künstler von schicksalswegen zu sein. Aber schließlich brauche ich nur ein Museum zu besuchen oder etwas von Goethes Briefen zu lesen, -und ich erlebe dieselbe (unleserlich: Quelle?) des Vergnügens, das Ausbleiben einer Ruhe von literarischem (kunsthistorisch wertvollem!) Dilettantismus. (Frage Landé auf Ehre und Gewissen: Er muß Dir dies bestätigen; und hierin kann man ihm schon glauben; denn er ist nur Künstler, nur Maler, – alles andere ist unwichtig).

Alle diese Dinge wühlen aber noch so in mir, daß ich lieber nicht weiterschreibe. Entschuldige überhaupt, daß dieser so behaglich (unleserlich) beginnender Brief sich auf einmal so wandelte. Es sollte eigentlich nicht sein. (Aber da ja Du es bist, mag’s stehen bleiben.) Ob ich bald oder erst später mit Dir davon sprechen werde, weiß ich nicht. Aber es kommt!

Grüße Landé; vielleicht schreibe ich ihm nach C(assel).

Es hat Dich sehr lieb Dein Harro.

 

139. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Cassel, 27./28.1.1922

Wir haben keinen Moment Ruhe, kommen auch nicht ins Fried(rich?)Gymnasium, da es zu schlecht ist. Morgen Samstag gehe ich um 5 Uhr zu Deinen Eltern. Dank für Deinen Brief nach Gelnhausen, über das weitere mündlich! CHB.

Nachtrag einer 2. Person:

Die Reise ist schön, Cassel zeigt sich frisch im Sonnenschein. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, der mich ganz froh begrüßte. Sehen wir uns Montag, da Dienstag abwesend? Herzlichst Ihr Walter L(andé?)

 

140. C.H.B an Harro Siegel. (Berlin?), 8.2.1922

Lieber Harro!

Mein Vortrag fällt aus.

Wir erwarten Dich Sonntag 1 Uhr zum Mittagessen. Keine Antwort = Zusage.

Beiliegende Unterstützung Deiner Junggesellenwirtschaft nimm freundlich auf – ohne weiteren Dank. Habe sie selbst für Dich erstanden.

Brief von Ritter erhalten; wenig erfreulich. Näheres Sonntag.

Herzlichst Dein CHB.

 

141. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 25.2.1922

Mein lieber Carl!

Du behältst recht: zu Besorgnissen ist kein Grund.- Aber ich wollte es vermeiden, noch mal so zu schreiben wie neulich. Ich wollte alles hinter mir haben.- Ich schrieb damals etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das soll heißen: Mein Brief beansprucht keine objektive Geltung, er ist nur ein Mittel zur Gemütserleichterung. Wäre es anders, dann wäre es freilich schlimm. Ich habe meistens immer noch so trübe Stunden, daß auch weitere Briefe so ausfallen würden. Aber das Ende zieht sich hin und zieht sich hin, und ich lasse Dich zu lange warten.

Ich war ganz gerührt heute morgen, als ich die Briefe von Dir und Cohn fand.- Hab vielen Dank für Deine Sorge.- Die Prüfung sollte Ende (?) des Monats sein; aber trotzdem ich seit 1 ½ Wochen täglich ununterbrochen 10-12 Stunden arbeite, kam ich mit meinen Probearbeiten nicht zu Rande. Ich muß eben immer wieder Werkstattarbeit dazwischen tun. Auch heut, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Morgen hoffe ich, zum Abschluß zu gelangen, und dann, denke ich, wird in einer Woche die Prüfung steigen.

Übrigens, falls Ihr etwa hochgespannte Erwartungen habt, – es ist nicht anzunehmen, daß ich hervorragend abschneiden werde. Rite, mehr nicht- Vor einem halben Jahr wär’s besser geworden; ich habe zuviel grobe Arbeit getan inzwischen.

Ich möchte gerne 1 Woche vor Ostern nach dort kommen, aber m(ein?) V(ater?) wird die Notwendigkeit dazu nicht einsehen. Und er muß jetzt wie ein rohes Ei behandelt werden. Wenn Du denkst, mit der Zulagensache hätte ich ihn mißverstanden, so ist dem leider nicht so. Es ist ja so fürchterlich, aber hier streckt er eben seine Wurzeln ins Irrationale. Das gibt’s eben auch. Ha, er hat ja nun seinen Willen.

Ich fühle mich allmählich etwas abgekämpft, aber die Nähe der Erlösung, Deine liebende Sorge und meine immer tiefer werdenden Gefühle für den süßen Jungen (ich darf das doch schreiben?) tragen mich über alles hinweg. Körperlich geht mir’s gut.—

Leb wohl, mein lieber Carl! Stets Dein Harro.

 

142. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel, Berlin Frankfurt/M, 26.2.1922

Hoffentlich hast Du bei Deiner heutigen Wanderung so schönes Wetter wie wir hier. Dies als Zeichen treuen Gedenkens im Festtrubel der Goethewoche. Dein CHB

Nachtrag 2. Person:

Wenn Sie wüßten, wie Sie B(ecker) fehlen! Grüße von –au! – Erich Siegelersatz.

 

143. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 13.5.1922

Mein lieber Carl!

Wenn Du Dich auf Deiner Münchener Karte, für die ich herzlich danke, so mit C.H. unterschreibst, so ist es wohl (griechischer Ausdruck), wenn ich obenstehende Anrede hinschreibende Sie hat eine ganze Weile allein dagestanden und kam mir merkwürdig genug vor. Ich erinnere mich noch jenes freudig-beklommenen Schauders, mit dem ich nicht in einem Brief nach Gelnhausen den Dr. vor Deinem Namen fortließ. Auch diesmal empfinde ich Schauder, aber er geht tiefer und ist heiß. Es ist das Gefühl, Dir verfallen zu sein, was über mich gekommen ist, deucht mich. Wie unendlich schön ist es deshalb, daß diese Bindung so klar ist. Es gibt andere, die sind dumpf und verworren, – sie drücken nieder. So ist es bei uns nicht! Aber damit will ich nicht sagen, daß mir unsere Bindung nicht auch schmerzlich wäre. Wieso, das ist nur in Aufsätzen zu „verworten“. Ich vermute, es ist im Grunde das tief-beunruhigende Gefühl des Auseinanderklaffens von Ich und Ich-Ideal, das ich nie verliere. Ich bin imstande, mir einen Harro zu träumen, den ich unbedingt für wert erklären würde, von Dir geliebt zu werden, und den ich selbst auch sehr liebe.

Aber der andere Harro ist eben nicht so, und jetzt weniger als je. Du hast ja selbst bemerkt, wie eigentümlich stumpf ich in letzter Zeit geworden bin; stumpf, innerlich allzu nachgiebig, irgendwie – es sei gesagt – würdelos!

Ich muß wiederholen: fern von Dir ist mein Zustand in der Regel ein gewaltsames Augen-zu-drücken vor der eigenen Umwelt und fernzuhalten vor inneren Pflichtgeboten. Oder (?weggelocht) er ist Verzweiflung (aber das ist zu hochtrabend gesprochen und kommt mir kaum zu!)- Nun ist es ja so, daß all dies (es ist ein Riesengebiet, – wozu Einzelheiten geben?) vor Dir verschwindet, der Spalt beginnt sich zu schließen, ich komme zur Ruhe, schlafe sozusagen ein. (Peinlicherweise drängt sich mir hier der Vergleich mit einem Kinde auf, das in den Schlaf gewiegt wird. Geschmacklos, wie?)

Nur, ich schlafe nicht genug ein, es bleibt hartnäckig ein leiser, dumpfer Schmerz; worüber? Ich will mal sagen, über meine Unehrlichkeit. Ich weiß ja, daß Du mich kritisch siehst, ich habe Dir ja auch oft genug von meinen kleinen und größeren Schmerzen gesprochen. Aber jenes Gefühl bleibt. Wie soll ich dahinter kommen, was es ist? Ich meine manchmal, es gibt Stücke von mir, von denen Du vielleicht weiß, die Du aber dennoch nicht kennst, nicht „erlebtest“ (nur sozusagen). Es sind böse Stücke, glaube ich, und doch nicht wertlose, an meinem Kern unleugbar wesentlich beteiligt. Nun, ich gebe es (vorläufig) auf, dahinter zu kommen.

Wenn Du mich (wie neulich) auf Ehre und Gewissen fragst, ob ich Dich wirklich liebhabe, so erwidere ich ehrlichen Herzens und ohne Anstrengung: Ja. Aber dabei weiß ich (und es tut mir weh): Du hast mich nicht ganz. Denn ich habe mich ja selbst nicht. Sich ganz geben und sich ganz haben ist ja wohl ein -; was soll ich es leugnen, ich habe mich noch keinem Menschen und keiner Sache „ganz“ gegeben. Wenn ich anders wäre, so würde ich das nicht wissen, ich würde Dich und mich glauben machen, ich gehörte Dir völlig und in diesem Rausch selig sein. Aber ich bin nun mal so und kann keinen Schaum schlagen. Aber dies ganze Geständnis ist (vielleicht) das Letzte und Höchste, was ich einem geliebten Menschen geben kann. (Skepsis beiseite.)

Mein erster Versuch, Dir dies zu sagen (sin of selflove…) war täppisch genug, – ich möchte ihn Dir immer wieder abbitten. Ob es diesmal besser gelungen ist?—

Du kennst meinen Haß gegen alles Literatentum. Und doch ist aus dieser Brief ein Zeugnis wider mich selbst hierin. Es sind gar keine Wörter, es sind immer bloß Benennungen, was ich schreibe: Aber ich glaube, Du spürst doch den echten Herzschlag hindurch. Kannst Du erfassen, wie ich Dich auf Deiner Reise begleite? Soll ich Dir sagen, wie mit jedem Gedanken an Dich Dein Bild realiter in meinem Auge entsteht, und wie ich es realiter in Herz und Zwerchfell spüre, daß hier etwas einigermaßen anderes vorgeht, al wenn an Herrn oder Frau XYZ denken? – (Ein bißchen bin ich ja auch stolz, von Dir geliebt zu sein.)

Äußerlich-beruflich geht es mir nicht schön. Gottseidank ist morgen Sonntag. Es ist gut, daß Du bald wiederkommst; ich habe allerlei noch zu sagen. – Wie ist Deine Reise? Ich wünsche Dir das Beste dafür.

Es grüßt Dich Dein Harro.

 

144. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Padua, 15.5.1922

Mein lieber Harro!

Also es ging alles gut. Die Stimmung ist glänzend. Es war ein ganz eigenartiges Fest. Namentlich der Festakt mit König, Kardinal Maffi (?), 100ten fremder Professoren in bunter akadem(ischer) Tracht und von 8000 Personen in dem riesigen 86 x 28 m großen „Salone“ war ein ganz einzigartiger Eindruck. Fabelhafte Disziplin der Massen, obwohl von vornherein 9/10 der Anwesenden kein Wort verstehen konnten. Meine Rede (deutsch, mit italien(ischem) Schluß wurde einfach glänzend aufgenommen und fast mehr applaudiert wie die der anderen fremden Redner. Es war ein kitzlicher Moment, aber es war ordre gegeben, alles Politische zu vermeiden. Der Franzose sprach direkt versöhnlich gegen den Völkerhaß und für die Gemeinsamkeit der Zus(ammen)arbeit aller Nationen sans exception. Man schwimmt mal wieder ständig in vier Sprachen und genießt Italien. Es ist einfach herrlich. Heute Abend ist Schlußbankett, dann Exkursion nach Venedig, wo noch Empfänge stattfinden. Ich nehme mir einen Studenten mit für 1-2 Tage (einen Südtiroler (jetzt Italien), der uns am Bahnhof betreute. Dann bleibe ich noch ein paar Tage allein. Der Betrieb hier ist fabelhaft. Du würdest Augen machen. Ich denke oft und stark an Dich. Dein CHB

 

145. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18.5.1922

Ponte dei Sospiri

Mein lieber Harro!

Dein guter Brief hat mich im Augenblick meiner Abreise aus Padua mit den ersten Nachrichten aus der Schillerstraße und von Wende erreicht. Also warst Du in der erwarteten Gesellschaft. Ich schreibe Dir heute oder Morgen, noch bin ich nicht allein und ziemlich bewegt. Es ist über alle Begriffe schön hier. Gewiß hat man nicht mehr den frommen Schauder des ersten Sehens, aber um so intensiver wird der Genuß, wenn man sich wissend hingibt.

Das Wetter ist strahlend. Ich wohne in echt ital(ienischer) Kneipe, aber sauber. Nun habe ich noch 4 Tage hier vor mir. Ich werde wohl bis Montag bleiben und dann in einem Rutsch durchfahren bis Augsburg und Frankfurt.

Also bis bald. Dein Carl.


1 Spitzname für Beckers Jüngsten, Hellmut. BB

2 franz. schamlos

3 Wohl der weiter unten genannte Landé, Beckers Mitarbeiter im Ministerium, MR in der Abteilung U II (Höheres Schulwesen) 1926

Willy Bornemann

HA.VI. Rep.92. Becker B. Nr.7920 (Willy Bornemann 1910-1930)

104. C.H.B. an Dr. Willy Bornemann, Frankfurt, Zeil 72 Hamburg (?), 22.10.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Du bist zwar ein hartnäckiger Schweiger, aber wenn man etwas von Dir will, muß man Dir trotzdem wieder schreiben. Bitte sei so freundlich und bestelle mir denselben schönen Turnapparat, den Du unserem Walter geschenkt hast, für mein Patenkind Joachim Becker, Arndt-str.25. Veranlasse bitte, daß er in meinem Auftrage dorthin geschickt wird und daß mir gleichzeitig hierher die Rechnung zugeht. Ein kleines Briefchen lege ich bei.

Hoffentlich geht es Allen so gut wie bei uns; die Photographien wirst Du wohl erhalten haben.

Herzlichst Dein alter (C.H.B.)

 

105. C.H.B. an Willy Bornemann. Hamburg, 29.12.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Zu Weihnachten haben wir gegenseitig ohne viel Worte unserer beiden Söhne gedacht, und ich hoffe, daß der Trambahnwagen Carl soviel Freude gemacht hat, wie Walter das Pilzbuch, mit dem Du gerade eine Liebhaberei von ihm getroffen hast. Stinkpilz ist seitdem ein Lieb-lingswort bei uns geworden. Nimm jedenfalls vielen Dank für die beiden Geschenke.

Punkt 2 meines Briefes betrifft den Jahreswechsel, zu dem Hedwig und ich Duttan und Dir alles Gute wünschen. Möge Euch Euer Kleiner auch im folgenden Jahre so viel Freude bereiten und Ihr selbst so glücklich und befriedigt Euer Leben genießen, wie bisher.

Ich freue mich, Dich in wenigen Wochen wiederzusehen. Am 25. Januar halte ich in Frankfurt und zwar im Verein für Geographie und Statistik einen Vortrag über die Araber in Spanien. Es wäre nett, wenn Du hinkommen könntest. Ich glaube, Du hast mich noch nie sprechen hören. Es wird allerdings diesmal eine milde Plauderei, da das gebildete Frankfurt nicht ohne Lichtbilder auskommen konnte. Ich fahre dann von Frankfurt weiter nach Metz, Saarbrücken und Neunkirchen, wo ich über sympathischere Dinge Vorträge halten werde. Dann gehe ich für 14 Tage nach Hamburg zurück, um hier am 20. Februar über Marseille nach Ägypten zu fahren, wo ich ohne Frau zwei Monate verbringen will.

Alles Nähere mündlich und damit Prosit Neujahr!

Von Herzen Dein alter (C.H.B.)

 

106. Willy Bornemann an C.H.B. o.O. (Frankfurt/M?), 31.12.1910

Lieber Carl!

Herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilen und auch in Carlchens Namen für den prächtigen Trompetenwagen (? Schlecht leserlich) , mit dem Du ihm eine riesige Freude gemacht hast. Für alles was fährt, ist er begeistert, und so konntest Du ihm gar nichts Erwählteres schenken, als jetzt einen Wagen.

Wir hatten recht unruhige Weihnachten und zwar infolge der Verlobung meiner Schwester. Es kam sehr plötzlich 10 Tage vor Weihnachten, wird erst in den nächsten Tagen öffentlich. Der Bräutigam Carl Barthet ist ein sehr netter Mensch, Inhaber der Ferien-Lampen, aber eigentlich ein besserer Schneider, was man ihm aber durchaus nicht anmerkt. Vielleicht er-innerst Du Dich seiner von der alten Schule her, obwohl er 5 Jahre jünger war als wir. In

pekuniärer Beziehung ist die Partie eine sehr gute, und da Emmy durch ihre reichen Freundin-nen recht verwöhnt war, wird sie den vielen Mammon schon anzuwenden wissen. Vielleicht noch besser als der Bräutigam gefällt mir dessen noch ledige Schwester, so gut, daß ich Tutten schon eifersüchtig gemacht habe. Auch der Vater (die Mutter ist tot) macht einen gemütlichen guten Eindruck.

Meine Mutter ist natürlich froh darüber, daß sie Emmy glücklich versorgt weiß. Ich hoffe, sie wird sich nun selbst etwas mehr (Ruhe? Weggelocht) gönnen, nachdem sie eingesehen, daß sie mit all ihrer Plackerei es doch nicht zu Ergebnissen hat bringen können, die im Vergleich zu den Lampen respektive Barthet’schen Mammon irgend in Betracht käme.

Uns in der Fürstenhofstraße geht es gut.- Wir freuen uns sehr auf Dein Herkommen am 25.1. Ich wünschte, ich könnte auch mal aus meiner Tretmühle heraus. Alle Tage immer mehr Krankheit mit ansehen müssen, ist ein bißchen reichlich viel. Man gewöhnt sich aber auch daran.

Mit den herzlichsten Neujahrswünschen von Haus zu Haus Dein aller Willy.

 

107. C.H.B. an Willy Bornemann. O.O. (Hamburg?), 11.1.1911

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich habe Dir schon geschrieben, daß ich am 25. Januar in Frankfurt einen Vortrag halte. Da ich annehme, daß Du nicht Mitglied des Vereins für Geographie und Statistik bist und da Einzel-karten nicht ausgegeben werden, schicke ich Dir anbei zwei Karten, die Du im Verhinderungsfalle weitergeben kannst.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

108. C.H.B. an Frau Bornemann, Frankfurt. Bonn, 8.12.1914

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Diesmal habe ich wirklich den 4.Dezember vergessen, obwohl er doch in meinem Kalender wie jedes Jahr rot angestrichen war. Was werden Sie von mir gedacht haben? Ich hoffe, Sie haben es auf Konto des Krieges gesetzt, der uns ja allerdings etwas aus dem normalen Leben herausreißt. Ich hatte den Kopf so voll und reiste außerdem gerade in diesen Tagen zum Besuch meiner Schwester Riedel nach Magdeburg, daß ich es wirklich vergaß, Ihnen zu gratulieren. Lassen Sie es mich es heute nachholen und Ihnen in dankbarer Treue meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche aussprechen. Meine Frau schließt sich mir natürlich aufs Herzlichste an.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes berichten. Zwar ist unsere Hertha zur Zeit an Mumms erkrankt; aber dafür geht es den Anderen gut. Sorge hatten wir eigentlich nur wegen meiner Mutter, die plötzlich fiebrige Verdauungsstörung bekam und stark abfiel, was in ihrem Alter doch immerhin bedenklich ist. Jetzt scheint sie es wieder überwunden zu haben.

Von unseren Verwandten im Felde haben wir bisher gute Nachricht. Mein Bruder Alex steht sogar noch in Hannover. Der Bruder meiner Frau ist durch einen Zufall bayerischer Nachrichten-Offizier bei meinem Schwager Riedel geworden, der in der Gegend von Arras die preußische Nachbar-Division führt. Zwei Söhne meines Schwester stehen in Rußland, einer ist auf einem Kriegsschiff. Bisher ist alles gut gegangen.

Aber sonst hat sich der Kreis der Freunde doch sehr gelichtet, und auch habe manchen verloren, der mir nahe stand. Leider bin ich selbst verdammt, still zu Hause zu sitzen, doch habe ich mich bemüht, wenigstens mit der Feder mein Teil beizusteuern. Auch hoffe ich, da noch einiges leisten zu können. Es ist eben auch ein geistiger Kampf, der jetzt tobt. Gottlob dürfen wir ja guten Mutes in die Zukunft sehen. Die neuesten Ereignisse in Rußland scheinen ja sehr günstig zu sein.

Mit herzlichen Grüßen an Ihre Kinder – ich denke auch oft daran, wie es Hans ergehen mag – bin ich in alter Freundschaft Ihr getreuer (C.H.B.)

 

109. C.H.B. an Willy Bornemann. Bonn, 24.12.1914

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy!

Zu Weihnachten und dem neuen Jahre möchte ich Deiner Frau und Dir sowie meinem lieben Patenjungen einen herzlichen Gruß senden. Ich habe in diesen ernsten Zeiten von dem üblichen Weihnachtsgeschenk Abstand genommen, da ich nicht etwas kaufen will, was Ihr vielleicht Eurem Jungen von Euch aus schenken wollt. Auch bekommt er vielleicht zu Weihnach-ten schon soviel sonst, daß es richtiger ist, das Geschenk zu kapitalisieren. Ich lege Dir deshalb M(ark) 20,- ein mit der Bitte, sie nach Belieben für Euren Carl zu verwenden. Ich habe gar nichts dagegen, wenn Ihr sie in seine Sparkasse legt.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes melden. Wir sind zwar mit allerlei Krankheiten und Dienstbotenärger reichlich bedacht gewesen, aber was bedeutet das in diesem Jahr, wo rings um einen herum die fallen, die einem nahe stehen. Unseren engeren Familien ist es zwar bisher gut ergangen. So sind sämtliche Riedels seit dem ersten Mobilmachungstag draußen, ebenso mein Schwager Fritz, ohne daß bisher was passiert wäre. Dafür hat sich der Freundes-kreis um so mehr gelichtet, und gestern bekam ich die Nachricht von dem Tode meines treuen Schülers und Assistenten Graefe. Jahrelang habe ich in Hamburg mit ihm zusammen gearbeitet, und nun ist er bereits zwei Monate lang tot, ohne daß Eltern und Braut es wußten. Gleichzeitig starb hier Professor Sell, der uns ein väterlicher Freund geworden war und schon mei-nen Bruder Ferdinand wie dann unseren Jüngsten1 getauft hatte. Gottlob lauten die Nachrichten aus Gelnhausen wieder günstig. Eine Zeit lang hatten wir große Sorge um die Mutter, da sie ganz schwere Verdauungsstörungen mit starkem Kräfteverfall bekam. Nun scheint sie wieder hoch zu sein. Aber immerhin lastet doch all das viele Traurige auf dem diesmaligen Weihnachtsfest, und man muß sich etwas zusammenreißen, um für seine Kinder die nötige Freude zusammen zu bringen. Unser Jüngster wird diesmal den Christbaum zum ersten mal mit einem gewissen Bewußtsein erleben. Er läuft jetzt sehr nett an einer Hand, und man kann schon die Anfänge einer Unterhaltung mit ihm bewerkstelligen.

Von Deiner lieben Mutter hatte ich neulich einen rührenden Brief. Danke ihr bitte vielmals für

ihre freundlichen Berichte. Hoffentlich seid Ihr über Hans beruhigt. Ich wünsche Euch allen ein gutes Fest und ein gutes neues Jahr, das uns hoffentlich einen Frieden in Ehren bringt.

Es wird Dich noch interessieren zu hören, daß Fischler als Zivilarzt den Bonner Universitäts-Lazarettzug führt und vor einigen Wochen mit nach Frankreich abgefahren ist. Die Schwierig-keit seiner Situation wurde durch den Ausbruch des Krieges ungeheuer gesteigert. Die Lösung ist eine vortreffliche. Er ist sehr erholt und war mit wiederbeginnender Arbeit ganz der Alte. Walter Groß sitzt in Antwerpen und hat nichts zu tun, worüber er kräftig schimpft. Sehr ulkig ist auch, daß mein Schwager Fritz als bayerischer Nachrichten-Offizier zum Stabe meines Schwagers Riedel, der die Nachbar-Division führt, kommandiert ist.

Ich will am 1.Januar nach Gelnhausen, dann über Berlin nach Hamburg. Ob ich Dich auf der Durchreise sehe, weiß ich noch nicht. Dann aber wird sich wohl um den 28. Gelegenheit zu einem Wiedersehn bieten.

Herzliche Grüße von Haus zu Haus, ein gesegnetes Fest und ein gutes neues Jahr! (C.H.B.)

 

110. C.H.B. an seinen Patenjungen Karl Bornemann. Bonn, 22.12.1915

(Maschinenkopie)

Mein lieber Karl!

Zu Weihnachten sende ich Dir und Deinen Eltern unsere herzlichsten Grüße. Ich habe mir lange überlegt, was ich Dir Schönes zu Weihnachten schenken könnte; aber ich habe Dir schließlich nichts geschickt, weil ich befürchtete, Du fändest vielleicht das Gleiche unter dem Weihnachtsbaum. So sende ich Dir erliegend 20 M; davon kannst Du Dir irgendeine Freude machen, oder Du kannst sie in Deine Sparkasse tun, wie es Dir Deine Eltern raten. Als Dein Vater und ich noch klein waren, da war es immer eine große Sache, wenn Dein Vater zu Weihnachten von seinem Patenonkel 20 M geschickt bekam, und ich habe mich oft mit ihm gefreut, wie glücklich er über dieses Geld war. Nun bin ich Dein Patenonkel, und da möchte

(Schlußblatt fehlt)

 

111. C.H.B. an Frau Bornemann. Bonn, 29.5.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundlichen Zeilen und weiß, daß Sie mit mütterlicher Teilnahme an der neuen Wendung meines Schicksals2 innerlich beteiligt sind. Es war mir eine große Wohltat, den bedeutungsvollen Schritt, noch ehe er öffentlich wurde, mit Willy besprechen zu können. Mittlerweile wird er ja in der Öffentlichkeit bereits sehr diskutiert, und es freut mich eine gute Presse zu finden. Hoffentlich erfülle ich alle die Wünsche, die man in mich setzt, und hoffentlich hält auch meine Gesundheit durch. Ich hätte mir diese Entwick-lung nie träumen lassen; man soll aber zugreifen, wenn einen das Schicksal vor eine große Aufgabe stellt. Und so wage ich es. Allen denen aber, die wie Sie so herzlichen Anteil nehmen, bin ich aufrichtig dankbar.

In alter Freundschaft Ihr Sie dankbar verehrender (C.H.B.)

 

112. C.H.B. an Willy Bornemann, Frankfurt, Leerbachstraße 18. Berlin, 19.2.1920

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy,

Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir meine innigsten Glückwünsche. Als kleines äußeres Zeichen füge ich ein Exemplar meiner letzten Schrift bei, die ja vielleicht nicht in allen Punkten Deine Zustimmung finden wird, mit der Du aber im großen Ganzen doch einverstanden sein wirst.

Dankbar gedenke ich des herzerquickenden Abends, den ich mit meinem Freunde Wende bei Euch verbringen durfte. Ich bin Dir und Deiner lieben Frau wirklich von ganzem Herzen dafür verpflichtet, daß Ihr mich bei meinen zahlreichen Besuchen immer wieder mit der gleichen Herzlichkeit aufnehmt, obwohl unsere Gastfreundschaft in den letzten Jahren so eine ausschließlich einseitige geworden ist und ich immer nur der empfangende Teil bin. Niemals verlasse ich Eure Wohnung ohne das lebhafte Bedauern, daß uns das Leben örtlich so weit auseinandergebracht hat. Unsere gemeinsam verbrachte Jugend und unsere innere Entwick-lung aneinander bilden für uns beide einen unveräußerlichen Besitz, und wenn ich an Deinem Tische sitze, versinken die 20 Jahre, die zwischen unserm gemeinsamen Leben und der Gegenwart liegen, in einem Meer des Vergessens. Besonders dankbar bin ich auch Deiner lieben Frau, die mit unvergleichlichem Verständnis unser altes Verhältnis vertieft und bereichert hat. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, noch einmal besonders zu Euch zu kommen, um etwas mehr Fühlung mit Carl zu bekommen; aber leider mußte ich meinen Plan ändern. Nach sehr anstrengenden Tagen in Marburg und Frankfurt – beide Veranstaltungen aber von Erfolg begleitet – war ich so müde, daß ich mich 8 Tage in Gelnhausen ganz ruhig verhielt und bei der Rückreise nur wenige Stunden in Frankfurt zur Regelung einiger dienstlicher Angelegenheiten mich aufhielt. Besonders lieb war mir, daß Du bei dieser Gelegenheit auch meinen Freund Wende kennen gelernt hast. Je weniger wir imstande sind, eine tägliche körperliche und geistige Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, um so wichtiger ist es mir, daß Du die Menschen kennst, die jeweils mit mir in dieser Gemeinschaft stehen. Wende ist nicht nur mein Nachfolger und – wenn ich so sagen darf – mein Schüler, sondern er steht mir aus dieser gemeinsamen Arbeit heraus ganz außerordentlich nahe. So haben wir denn die ruhigen 8 Tage in Geln-hausen bei guter Verpflegung, auf wenige heizbare Zimmer beschränkt, sehr genossen. Inzwischen hat die Alltagsarbeit uns wieder überflutet, und Marburg, Frankfurt und Gelnhausen liegen wie ein schöner Traum hinter uns.

Hier schlagen wir uns mit Parlament und Staatsministerium herum und kämpfen mit anderen Ministerien um die neue Besoldungsordnung. Jeder Tag bringt sein Neues. Aber manchmal bäumt es sich in mir auf gegen das Zuviel an Arbeit, das auf mir lastet. Als ich gestern abend nach 3 ½ stündiger ununterbrochener Arbeit den letzten Aktendeckel zuklappte, war ich wirklich etwas ärgerlich. Und doch, wohin soll es führen, wenn wir nicht bis zur letzten Kraft unsere Pflicht tun? Darin allein findet man ja auch einen Trost gegenüber den immer schwie-riger werdenden Verhältnissen. Es ist interessant zu beobachten, daß die Gebildeten zunächst die geistige Spannkraft zur Arbeit wiedererlangt haben. Hoffentlich folgen auch die handar-beitenden Volksgenossen uns nach. In diesem Sinne habe ich mich heute morgen einem sehr interessierten Ausländer gegenüber äußern können. Willy Hepner, dessen Du Dich entsinnen wirst, brachte mir den früheren englischen Minister Trevelyan, der, wie du Dich vielleicht erinnerst, als Mitglied der Labour Party bei Kriegsbeginn mit Jone Burns und Morley aus dem Kabinett austrat. Es ist ein famoser Mann, der nach besten Kräften Deutschland helfen möchte.

Über Willy Hepner, der sich sehr deutschfreundlich benommen hat, fällt mir Wilhelm Trendelenburg ein, für den Du Dich ja früher gelegentlich interessiert hast. Er hat vor nicht ganz einem Jahre plötzlich seine Frau verloren und hat sich jetzt wieder mit einer Schülerin verlobt, da er eine Mutter für seine 7 Kinder braucht. Er hat mindestens 10 Rufe gehabt und ist zur Zeit Ordinarius in Tübingen.

So, nun muß ich aber zu meiner Arbeit zurück. Nimm diese Zeilen als Zeichen treuen freundschaftlichen Gedenkens.

Mit allen guten Wünschen für Dich und die Deinen (C.H.B.)

 

113. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.8.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich bin zum Schuljubiläum in Frankfurt, wohne im Hotel Baseler Hof von Donnerstag früh an, besichtige an diesem Vormittag u.a. die Musterschule, wo es mir Spaß machen würde, zufällig in Karls Klasse zu kommen. Ich muß mich darin allerdings der Führung des Direktors überlassen. Zu Mittag esse ich bei Alex, nachmittags halte ich mir frei. Vielleicht könnte ich Euch einmal kurz begrüßen; ich werde Alexens telegraphieren, im Näheres zu verabreden. Abends möchte ich an dem Begrüßungsabend im Zoologischen Garten teilnehmen. Eventuell könnte ich am Freitag bei Euch zu Tisch sein, nach Schluß des Aktes in der Paulskirche. Nachmittags will ich an dem Kaffee am Forsthaus einnehmen und um 6 Uhr dann wieder nach Gelnhausen fahren.

Wir haben nichts voneinander gehört, und ich würde mich riesig freuen, Euch wiederzusehen. Karls Geburtstag habe ich natürlich schmählich vergessen. Er soll mir das nicht übelnehmen. Ich freue mich dafür um so mehr, ihm meinen Glückwunsch jetzt persönlich bringen zu können.

In alter Freundschaft Dein (C.H.B.)

 

114. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 15.12.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich fand immer keine Zeit zum Schreiben; deshalb telegraphierte ich Dir heute, daß wir am Sonntag sehr auf Euch rechnen. Da nun von Frankfurt neuerdings am Sonntag mehrere Züge

fahren, muß ich wissen, wann und wo Ihr ankommt. Je nach der Menge Eures Gepäcks könnten wir das erst nach dem Hotel besorgen. Jedenfalls fahren wir dann 20 Minuten zu uns heraus und könnten dort noch 1 bis 1 ½ Stunden gemütlich zusammen sein. Ich lasse dann das Auto warten, so daß ihr dann bequem ins Hotel zurückfahren könnt. (C.H.B.)

 

115. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 22.2.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Hoffentlich ist Walters Brief zu Deinem Geburtstag rechtzeitig angekommen. Ich hatte mich auf die Erinnerung beschränkt und auf ein treues Gedenken und komme mit meinem schriftlichen Glückwunsch nun wohl etwas spät. Aber ich möchte Dir doch auch ein direktes Zeichen herzlichen Miterlebens zukommen lassen. Zugleich bitte ich Dich, meinen Freund Carl um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich den versprochenen Historiker von Weihnachten immer noch nicht geschickt habe. Aber die Situation ist buchstäblich die, daß ich niemals um eine Zeit, da die Läden noch oder schon offen sind, in Steglitz anwesend bin, wo ich bei unserm dortigen Buchhändler seiner Zeit das Universum gekauft und dann gleich zum Austausch zurückgegeben habe. Ich möchte aber gern selbst für Carl etwas aussuchen und hatte an Bismarcks ‚Gedanken und Erinnerungen’ oder so etwas Ähnliches gedacht. Leider weiß ich ja aber gar nicht, was er alles schon besitzt. Sollte er also einen diesbezüglichen Wunsch haben, wäre es mir natürlich sehr angenehm, ihn zu erfahren.

Wir stehen hier stark in Spannung, ob uns die Wahlen3 einen neuen Kurs im Ministerium bringen werden. Merkwürdigerweise ist die Entwicklung der extremen Parteien nicht ganz so schlimm wie erwartet. Es würde aber eine ganz andere und zwar viel gesündere Situation geschaffen, wenn die Deutsche Volkspartei doppelt so stark wie die Deutschnationalen wäre. Letztere werden durch ihre radikalen Schreier auch in ihren vernünftigen Mitgliedern aus-geschaltet, während Deutsche Volkspartei, Zentrum und Sozialdemokratie eine sehr trag-fähige Regierung bedeuten würden. Wir müssen uns doch im Augenblick ganz unter den

Primat der auswärtigen Politik beugen, aber leider gibt es wenige Leute in Deutschland, die wirklich politisch denken können. Da Minister Haenisch durch Liebäugeln mit dem Bürgertum sich bei seinen eigenen Genossen sehr stark kompromittiert hat, ist nicht sicher, daß er wieder zum Minister gemacht wird. Das kann dazu führen, daß wir einen noch links stehen-deren Sozialisten als Minister bekommen oder aber, daß das Ministerium überhaupt an einen Bürgerlichen fällt. Beides halte ich im Augenblick noch für einen Fehler. (C.H.B.)

 

116. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 10.3.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich habe Walter versprochen, Dir auf Deine Anfrage wegen des Patengeschenkes zur Konfirmation zu antworten, da ich alle derartigen Anfragen beantwortet habe und mir Mühe gebe, für Walther eine schöne Bibliothek bei dieser Gelegenheit zusammenzubringen. Bücher sind etwas so Teures, daß man seinen Kindern nicht mehr so viel schenken kann wie früher und man deshalb solche Anlässe wie die Konfirmation ausnutzen muß. Trotz aller Vorbe-sprechungen haben natürlich zwei Paten bereits Schillers Werke geschenkt, doch hoffe ich, das noch zu entwirren. Jedenfalls bitte ich von Schiller, Goethe, Keller, Bismarck, Treitschke absehen zu wollen.

Wie schwierig die Auswahl ist, habe ich neulich gesehen, als ich selbst zu dem gleichen Zwecke einen Buchladen aufsuchte. Ich bitte Dich freundlichst ein Werk zu wählen, das wertvoll für’s ganze Leben ist. Viel wird davon abhängen, was Du in Frankfurt bekommst. Hier ist es sehr mangelhaft bestellt. Walther hat z.Zt. stark literarische Neigung, jedenfalls vorwiegend geisteswissenschaftliche, doch liegt es Dir vielleicht mehr etwas Naturwissenschaftliches zu schenken. Ich fände jedenfalls Klassiker hübsch bis zu Storm, Hauptmann und Ibsen; es wird eben einfach davon abhängen, was Du bekommst. Ich würde auch kein Bedenken haben, zu einem gut erhaltenen antiquarischen Werk zu greifen; das wird immer noch länger halten als die modernen, auf schlechtem Papier gedruckten Ausgaben. Sehr willkommene Gaben sind natürlich auch die neueren Memoirenwerke: Nur eines möchte ich Dich bitten: schicke mir möglichst bald eine Postkarte mit der Mitteilung, was Du gewählt hast, da ich auf vielerlei Fragen antworten muß und sich sonst bei der derzeitigen Lage des Büchermarktes Doppelgeschenke nicht vermeiden lassen. Das schönste Geschenk wäre natürlich, wenn Du selber kämst; aber ich fürchte, daß wir damit kaum werden rechnen dürfen.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

117. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.1.1923

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich bin die Nacht vom 29. auf den 30. Januar in Frankfurt und würde gern den Abend des 29. Januar (Montag) bei Euch verbringen. Darf ich kommen? Antwort erbeten bis zum 28. d. M. nach Gelnhausen. Nachdem wir uns in diesem Sommer nur einmal kurz telephonisch gesprochen und ich mich um die Jahreswende durch brutales Schweigen in jeder Richtung hin ausgezeichnet habe, fühle ich das dringende Bedürfnis, einmal wieder ein paar Stunden gemüt-lich mit Dir, Deiner Frau und Karl zu verplaudern. Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr es ein-

richten könntet, mich zu empfangen. Alles nähere mündlich.

Herzlichste Grüße von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

118. Telegramm von C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 21.2.1929

(Maschinenkopie)

Gedenke des heutigen Tages mit innigen Wünschen in alter Freundschaft. Carl

***

Carl Heinrich Becker.

 

119. Nachruf auf Willy Bornemann. Februar 1930

Er war 13 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte. Wir waren Klassenkameraden, dann Verbin-dungsbrüder, vor allem Freunde, vom ersten Tage an. Seine Jugend war auch meine Jugend.

Überschlank, fast zart gebaut, blond, blauäugig, mit frischen Farben, zurückhaltend u(nd) doch zutraulich, klug, aber nie sich vordrängend, besaß er von Natur das Charisma, daß jedermann ihn gerne hatte.

In Kreuznach, wo sein Vater Schulaufsichtsbeamter war, am 21.2.1877 geboren, kam er 1890 durch die Berufung des Vaters zum Stadtschulrat nach Frankfurt/Main, die Stadt, in der sich später auch sein Mannesleben abspielen sollte. Schon auf dem alten städt(ischen) Gymnasium in der Junghopstraße (?Unleserlich) zeigte sich sein Wesen von der gleich sympathischen Seite, wie es nachher im Rupertenkreise und später in der Praxis des Berufes allgemein in Erscheinung trat. Vom Vater, der Westfale war, hatte er die Charakterfestigkeit und die Schweigsamkeit; er war nie der Mann der Worte oder der Formulierungen, aber er besaß eine kritische, ja ironische Art gegenüber jedem Übertriebenem, jedem Gefühlsüberschwang, jedem blinden Optimismus. Er war kritisch und hart gegenüber sich selbst. Nicht als ob ihm Weichheit fremd gewesen wäre. Von seiner temperamentvollen, feinfühligen Mutter, die einer alten rheinischen Familie entstammte, hatte er eine seltene Gefühlslebendigkeit ererbt, die aber bei ihm durch das kritische Erbteil von Vatersseite gebändigt war. So kam es, daß er sich selbst sehr bescheiden, ja zu bescheiden einschätzte, was in Zeiten nervöser Belastung, z.B. vor dem Examen sich bis zu Minderwertigkeitsgefühlen steigern konnte. Dabei war er gewiß kein Hypochonder; niemand konnte, namentlich in jungen Jahren, so ausgelassen, so rheinisch fröhlich sein wie er. Als er im Sommersemester 1895 Ruperte wurde, war er ein geradezu idealer Fuchs und keine leichte Aufgabe für seinen Leitburschen, dem leider allzufrüh heimgegangenen A.H.Weichsel, der ihn auch zur Verbindung gebracht hatte, oder für einen Fuchsmajor bei der damals noch streng geübten Commentpraxis. Obwohl er der Verbindung nur als CK (?)beigetreten war, genoß er eine so große Beliebtheit, schon nach 2 Semestern in den RC (?) berufen wurde und hier jahrelang eine aus Vernunft und früh geborene Vermittlerrolle gespielt hat. Seine Güte ließ ihn alles verstehen, seine Vernunft lehrte ihn Eingreifen oder Laufenlassen, wie es die Umstände erforderten. So konnte er der Freund vieler, allen ein guter Kamerad sein.

Aus dieser Hülfsbereitschaft erklärt sich auch seine Berufswahl. Er studierte Medizin und zwar 5 Semester in Heidelberg, dann 2 Semester in Berlin und dann bis zum Staatsexamen (24.3.1901) wieder in Heidelberg. Es war nicht das Naturwissenschaftlich-Technische, das ihn zur Medizin zog, es war das Menschliche. Nicht durch Worte oder Lehre, sondern durch Handeln helfen, das entsprach seiner Natur. Da er zeitlebens an einem nervösen Herzen litt, konnte er nicht daran denken, praktischer Arzt zu werden, aber auch Neigung trieb ihn zur Spezialisierung; daß er gerade Dermatologe wurde, war mehr eine zufällige Entwicklung, da ihm als Assistenz- und später Oberarzt am Städtischen Krankenhaus (1901-1905) bei Geheimrat Herzheimer eine ungewöhnliche Gelegenheit zu erstklassiger Spezialisierung gerade auf diesem Gebiete geboten wurde. Am 14.1.1905 promovierte er in Leipzig und am 1.4.des gleichen Jahres eröffnete er in Frankfurt seine Fachpraxis.

Es ist unmöglich, im Rahmen eines kurzen Nachrufs ein Leben zuwürdigen, das nicht in wenigen großen Geschehnissen sich auswirkte, sondern in unermüdlicher Kleinarbeit des Alltags bestand. Die Patienten suchten ihn; keiner verließ ihn dem er einmal geholfen. Die Collegen schätzten ihn wegen seines Könnens und seiner versöhnlichen Persönlichkeit, dem äußerer Ehrgeiz, ein Gelten wollen in Vereinen und auf Kongressen fernlag. Er lebte seiner Arbeit, sein Leben war ein Dienst. Die öffentlichen Dinge sah er nur von fern, manchmal mit leidenschaftlicher Kritik, aber ohne Bedürfnis zum aktiven Eingreifen. Er war eben Arzt, der über oder neben dem politischen Leben stand. Im Krieg war es ihm selbstverständlich, daß er sein Können in den Dienst der gr(oßen) vaterländ(ischen) Sache stellte. Erst in Frankfurter Lazaretten tätig, wurde er von 1916-1918 in der Etappe und schließlich auf seinen Wunsch trotz seiner zarten Gesundheit auch an der Westfront verwandt. Kurze Zeit wirkte er dabei an einem von unseren a(Aktiven?) H. Wager geleiteten Lazarett. Das Leben brachte ihn überhaupt immer wieder mit Ruperten zusammen. Eine Schicksalsfügung ließ ihn am gleichen Tage sterben, an dem auch sein Freund a.H. Robert Walde von uns schied. (12.2.1930)

Schwer lasteten auf seiner im Grunde weichen Natur die Nöte des Lebens. Sein Beruf, gerade als Dermatologe, war dazu angetan, keine allzu idealistische Auffassung des Lebens aufkom-men zu lassen. Er zog als Empiriker die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen, war aber in seinem eigenen Leben der lebendige Gegenbeweis gegen manchmal von ihm vertretener pessimistischer Grundsätze. In seinem persönlichen Leben herrschte Reinheit, Sonne und Glück. Er durfte die erste große Liebe seines Lebens als Gattin heimführen und das Schicksal hat diese Ehe in seltener Weise gesegnet. Hier lagen die Quellen seiner Kraft im Kampf mit den dunklen Mächten eines wachsenden Pessimismus.

Und auch zwei Welten gab es, die ihm seine Freude schufen und ohne die man ihn nicht richtig versteht, die Kunst und die Natur.

Schon auf der Schule ist er gern gewandert, später hat er Italien und Sizilien, hat er Dänemark und Schweden, von wo seine Gattin stammte, kennen gelernt, aber über die Größe der ausländ(ischen) Natur hat er nie die Liebe zu Taunus und Spessart verloren. In jungen Jahren war er auch ein leidenschaftlicher Jäger, aber die Natur war ihm bei der Jagd immer das Wesentliche. Und als Spiegel der Natur empfand er die Kunst. Auf einer großen Italienreise 1898 hatte er künstlerisch sehen gelernt, seine Mittel erlaubten ihm keine großen Anschaffungen, aber im kleinen ist er ein Mäzen gewesen, an den mancher junge Künstler, dem er durch Auskünfte geholfen, heute dankbar zurückdenkt.

Als ich ihn das letzte mal sprach, war er schon sehr krank. Ich ahnte, daß es ein Abschied für immer sei. Seine Gedankenwelt war erfüllt von der Liebe zu Frau und Sohn, zu Geschwistern und Freunden und von dem ganzen Ernst strengster Berufsauffassung und tiefer, letzter Bescheidenheit. Den Frohsinn der Jugend hatte die Härte des Lebens gebrochen, aber die Vornehmheit, Güte und Selbstlosigkeit seines Charakters leuchteten durch die schweren Schatten seines nahenden Todes.

Wir wollen ihn in uns lebendig halten, er aber ruhe in Frieden. (C.H.B.)


1 Hellmut

2 Es handelt sich um die Berufung ans Preußische Kultusministerium als Hochschulreferent Frühjahr 1916.

3 Es handelt sich um Wahlen zum Preußischen Landtag.

Walter Becker

HA VI Nr. 6293 (CHB - Walter Becker 1924-1932)

88. C.H.B. an den Reichsminister der Finanzen, Berlin. Berlin, 5.4.1924

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein unmündiger Sohn Walter, der keinerlei eigenes vermögen oder Einkommen besitzt und zu meinem steuerlichen Haushalt gehört, soll in England ein Semester studieren. Die Formalitäten seiner Aufnahme in Birmingham sind erledigt. Der Ankauf englischer Noten und die Überweisung der Pensionskosten sind mit Genehmigung des Finanzamtes in die Wege geleitet. Das englische Einreisevisum ist erteilt. Es fehlt nur noch der Sichtvermerk des zuständigen Finanzamtes.

Es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, welche Bedeutung es auch im vaterländischen Sinn hat, wenn der akademischen Jugend insbesondere den künftigen Staatsbeamten, in ihrer entwicklungsfähigsten Zeit ein Einblick in ausländische, insbesondere angelsächsische Verhältnisse ermöglicht wird. Selbst als höchstbezahlter Staatsbeamter ist man heute nicht mehr in der Lage, die mit schweren persönlichen Opfern erkaufte Bereitstellung von Mitteln zur möglichst besten Ausbildung des Sohnes noch um eine Summe von 500 Mark zu vermehren, deren Erhebung zudem von Erwägungen ausgeht, die auf den vorliegenden Fall ganz gewiß nicht zutreffen. Unter diesen Umständen bitte ich ergebenst, den Härteparagraphen anwenden und die ‚Unbedenklichkeitserklärung’ unter Erlaß der Gebühr von 500 Goldmark1 für den anliegenden Paß meines Sohnes geben zu wollen. Da im Zusammenhang mit dem Beginn des englischen Studiensemesters als Abreisetermin der 15. oder 16. April d.Js. in Aussicht genommen ist, wäre ich für die Herbeiführung einer baldigen Entscheidung besonders dankbar. (C.H.B.)

 

89. C.H.B. an Sohn Walter, Birmingham. (Berlin), 7.7.1924

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Im Anschluß an meinen Brief von gestern will ich Dir nur mitteilen, daß mir die Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, gez. Schairer, u.a. Folgendes geschrieben hat:

Gleichzeitig teilen wir Ihnen mit, daß Dr. Schairer an die Leitung der Swanwik-Konferenz in London geschrieben und sie gebeten hat, als deutschen Gast Ihren Sohn Walter einzuladen. Die anderen deutschen Studenten, die Dr. Schairer für die Konferenz ausgewählt hat, sind:

  • Dr. Hans Harmsen, z. Zt. Stud.rer.pol. Universität Berlin, Berlin-Zehlendorf, Schwerinstraße 10, der einer der bekanntesten Führer der Jugendbewegung in Berlin ist. Ferner
  • Stud.jur. Hans D. von Gemmingen, Heidelberg, Gaisbergstraße 22, der Dr. Schairer von Dr. Bergsträsser sehr warm empfohlen worden ist.

(C.H.B.)

 

90. Hertha Becker an ihren Bruder Walter. Salem, 13.3.1925

Lieber Walter!

Vielen Dank für den ‚unverdienten’ Brief und die Karte von Stöckchen (anbei zurück). Ich fühle mich außerordentlich schuldbewußt, aber in Anbetracht dessen, daß ja bald Ferien sind und ich schrecklich viel zu tun habe, werde ich mich an den glühenden Kohlen verbrennen, die Du auf mein Haupt geladen hast. Erst will ich mal Deine Fragen beantworten. Vera, die seit einigen Tagen krank ist (hohes Fieber) und infolgedessen und aus noch verschiedenen anderen Gründen jetzt kein Examen macht, wird am 29.März eingesegnet , in Konstanz. Habe ich wegen Hellmut irgend etwas vergessen? Ich hoffe nicht. Daß Mutter noch im Bett liegt, ist ja einfach entsetzlich. Hat sie irgend einen Arzt?

Mir geht es wieder ausgezeichnet. Es ist plötzlich eisig hier geworden, es liegt ziemlich Schnee, man kann etwas Schilaufen.

Das schriftliche Abitur ist vorbei und unter allgemeiner Aufregung ganz gut verlaufen. Montag kommt das mündliche. Der Geheimrat regt sich furchtbar auf und traktiert uns, als die Zukünftigen ganz wahnsinnig. Ich arbeite kaum etwas anderes als Realistenmathematik für mich und mit drei anderen, die alle ziemlich am Sitzenbleiben sind, mehr oder weniger. Und dazu muß ich am Mittwoch einen Vortrag halten über ‚Das Wesen des deutschen Volkslieds und Goethes Stellung dazu’, also für Arbeit ist gesorgt. Außerdem bin ich in Abwesenheit der Abiturienten das größte Mädchen usw.. Wir haben jetzt jede Woche einen sehr interessanten Musikgeschichte-Vortrag.

Jetzt muß ich aber Schluß machen, obgleich dieser Brief Dich sicher nicht befriedigt, aber ich habe noch keine Ferien und auch noch kein Abitur gemacht und weiß außerdem, daß mein Bruder auch mal vorlieb nimmt.

Gruß und Kuß, Deine Hertha

 

91. C.H.B. an Sohn Walter, stud.jur., Gelnhausen (Berlin), 8.4.1925

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter,

Einliegend schicke ich Dir den Brief des Amerikaners, den ich eröffnet habe, weil ich es für richtig hielt, erst einmal mit Remme darüber zu sprechen. Remme rät nach wie vor sehr zu, obwohl der Brief Mutter und mir nicht übermäßig gefallen hat. Immerhin ist es ein Zeichen besonderer Liebenswürdigkeit, daß er in Deutsch geschrieben ist. Ich habe mir nun überlegt, daß Du ihm schreiben solltest und zwar in gutem englisch, daß du Dich sehr freuen würdest, ihm zur Verfügung zu stehen, daß es Dir aber wegen Deiner Universitätsstudien unmöglich wäre, vor Sonntag, dem 19., zu ihm zu stoßen. Nach seinem Plan würdest Du dann direkt nach Baden-Baden fahren und ihn dort treffen. Du kannst ihm ja ein paar Worte über Deinen Aufenthalt in England sagen, und daß Du Dich seiner Jungens schon nett annehmen würdest. Remme meint, Du solltest die 15 Dollar die Woche beanspruchen. Schreibe ihm bitte sofort, denn der Brief hat einige Zeit bei mir gelegen, und er möchte natürlich bald etwas Entscheidendes wissen. Remme wird gleichzeitig noch einmal an den Generalkonsul schreiben und darüber aufklären, daß Du mein Sohn bist, was natürlich bei einem Besuche von Berlin für einen Amerikaner auch einen gewissen Reiz haben wird.

Von Herthas Operation wirst Du gehört haben. Ich bin sehr beruhigt, daß sich nachträglich herausgestellt hat, daß die Operation unbedingt notwendig war. Auch heute kam wieder ein erfreuliches Telegramm: ‚Gute Nacht ohne Schlafmittel, Stimmung und Befinden gut.’

Für Deine Karte mit Carl Bornemann danke ich bestens. Auch hat mir Mutter Deinen Brief und Deine Karte aus Heidelberg geschickt. In Sachen Hertha waren wir etwas ungeduldig geworden, da die Nachrichten, die Ihr uns schicktet, außerordentlich unpräzis waren und Mutter sich doch mit allem auf die Reise einstellen mußte. Na, diese Dinge sind nun erledigt, und ich hoffe, daß Mutter mit Hertha eine schöne Erholungszeit erlebt. Zufällig erfuhr ich, daß Götsch gerade ebenfalls in Friedrichshafen bei seinem Bruder weilt; er wird vielleicht Hellmut mitnehmen können und dadurch Mutter entlasten.

Du wirst gelesen haben, daß ich inzwischen wieder zum Minister ernannt bin, und wir hoffen, daß es nun für längere Zeit Ruhe gibt. Aber gewiß ist im politischen Leben ja nichts! Gerade die heutige Nachricht von dem Frevel der Aufstellung Hindenburgs hat mich doch sehr erschüttert. Hoffentlich ist das deutsche Volk politisch reif genug, um auf diesen parteipolitischen Schwindel der Rechten nicht hereinzufallen. Nachdem Ludendorff sich selbst zerstört hat, nun auch noch den alten Nationalheros Hindenburg in den Parteikampf zu ziehen, ist ein so unerhörtes Unternehmen, daß ich gar keine Worte dafür habe, zumal doch bekannt ist, daß Hindenburg schon am Ende des Krieges ein überalterter Mann war und für eine siebenjährige Leitung der gesamten Reichspolitik doch einfach nicht mehr in Frage kommen kann. Und so etwas geschieht unter der Ägide derjenigen Parteien, die mit Inbrunst und Überzeugung immer wieder von dem Primat der auswärtigen Politik sprechen. Für das Ausland konnte die Rechte wahrlich keine dümmere Wahl treffen. Mir tut der arme Hindenburg bis in die Seele leid; denn selbst wenn er mit wenigen Stimmen Majorität gewählt werden sollte, so ist er doch nur ein Schatten und ein Spielball in den Händen einiger Drahtzieher.2 Ich saß gerade neben Simons auf einem Frühstück beim Reichskanzler, als die Nachricht kam. Sie erweckte geradezu eine gewisse Depression. Es war übrigens ein sehr nettes Frühstück, das ich nur leider früh abbrechen mußte, da ich hinterher zur Beisetzung von Partsch, die sehr würdig verlief, fahren mußte.

Ich hatte viel amtliche Repräsentationen in letzter Zeit, und Du wirst meinen Namen öfters in den Zeitungen gelesen haben. Ich war zweimal beim Reichspräsidenten zum Frühstück und gebe heute abend selbst einen Empfang für die klassischen Philologen anläßlich der Tagung über das Gymnasium im Zentralinstitut. Es werden ungefähr 80 Personen kommen, dazu der Reichspräsident und der Reichskanzler.

Die nächsten Tage bleibe ich ruhig zu Hause und will an meinem zweiten Band arbeiten. Ostern werde ich in Ruhe mit Gragger verleben.

Allen Lieben in Gelnhausen herzliche Grüße. (C.H.B.

 

92. C.H.B. an seinen Sohn Walter, Freiburg. (Berlin), 13.3.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Einliegend sende ich Dir 100 Mark für Deine Reise. Du mußt sehen, wie Du damit zurecht kommst. Bitte schreibe recht bald einmal, wie Deine Pläne eigentlich sind, d.h. besonders, wann Du zurückzukommen gedenkst.

Wir haben nach langem hin und her nun alle Reisepläne für Ostern endgültig aufgegeben, da es bei Muckels Gesundheitszustand nicht gut geht und auch Mutter kaum frisch genug dazu ist. Sollte schließlich das Wetter wundervoll werden. so können wir ja von hier doch noch irgendwohin fahren; das aber müssen die Umstände ergeben. Wahrscheinlich wird Eberhard zu Ostern da sein, und dann wird es schon ganz vergnügt werden. Auch mit Deiner Rückkehr bitte ich es so einzurichten, daß Hertha, die am 25. oder 26. kommt, noch ein paar Tage allein hier sein kann, ehe der allgemeine Ostertrubel beginnt. Hellmut ist gestern zum ersten Mal eine halbe Stunde aufgewesen, und wir sind nun sehr neugierig auf den Befund. Die Pflege ist schrecklich langweilig und anstrengend für Mutter, und es wird höchste Zeit, daß sie durch Hertha eine gewisse Entlastung erfährt. Auch wird es recht lange dauern, bis Muckel wieder seine alte Frische hat und vor allem ohne spezielle Rücksichten leben kann.

In Osterholz las ich Deinen Brief an Onkel Ferdi. Ich war als einziger Vertreter der Familie hingefahren und verlebte dort zwei sehr nette Tage, traf auch Ully, besichtigte Schulen im Kreise und fuhr dann zwei Stunden mit Else im Auto nach Stade, wo wir einen Abend lang beim Regierungspräsidenten tanzten; dann in der Nacht durch Sturm und Braus mit Tante Else nach Osterholz zurückgefahren, und von dort aus heim nach Berlin, wo ich sofort einen Bierabend bei Hindenburg mitmachte. Gestern hatte ich selbst ein Frühstück mit einigen Hauptwirtschaftsführern zur Finanzierung des Gragger’schen Instituts, die auch bestens gelang. Abends war ich mit Mutter auf der Sowjetbotschaft zu einem sehr festlichen Dîner mit der ganzen Preußischen Regierung und danach noch allein zur Jahresfeier der Hochschule für Politik. So geht es jetzt tagaus tagein, und ich wundere mich immer, daß Magen und nerven noch Stand halten. Wir hatten neulich ein sehr elegantes Frühstück auch auf er Französischen Botschaft, und am Tage meiner Rückkehr aus Osterholz war Mutter allein wieder dort zu einem großen Empfang. Auch aus diesen Gründen freue ich mich auf die Ruhe der Ostertage.

Zu Herthas Empfang ist schon alles vorbereitet. Muckel ist ins Spielzimmer disloziert und Herthas Zimmer mit aus Augsburg eingetroffenen Korbmöbeln sehr nett dekoriert. Es verdient immerhin Erwähnung, daß uns das unglaubliche Mädchen bis heute außer einem Telegramm noch ohne jede Nachricht über ihr Abitur gelassen hat, obwohl es schon 8 Tage her ist,, und sie erst auf ein Telegramm von uns hin entschloß, uns

(Schluß fehlt) (C.H.B.)

 

93. Kultusministerium (wahrscheinlich RR Duwe) an Walter Becker. Berlin, 7.5.1926

(Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Becker!

Ihr Herr Vater, der augenblicklich durch die Beratung des Etats unseres Ministeriums im Plenum des Landtages besonders stark in Anspruch genommen ist, hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß er am Freitag, dem 14. des Monats in St. Blasien die Eröffnung eines vom Preußischen Lehrerverein dort eingerichteten Kurhauses vornehmen wird. Bei seinen Reisedispositionen hat der Herr Minister auch einen Tag des Zusammenseins mit Ihnen in Aussicht genommen, für den Sie nach Belieben ein Programm vorsehen möchten.

Der Herr Minister wird hier am Mittwoch, dem 12. Mai, abends 9.12 Uhr abfahren und am Himmelfahrtstage mittags 12.34 Uhr in Freiburg eintreffen. Am Freitag, dem 14. Mai, kommt mit dem gleichen Zuge Herr Ministerialdirektor Kaestner nach und werden dann beide Herren vom Bahnhof die Weiterfahrt mit dem Auto, das ihnen von dem Kurhause geschickt wird, fortsetzen. For Sie steht also die Zeit vom 13. Mai 12.34 h bis 14.Mai 12.34 h zur Verfügung. Am Sonnabend, dem 15. Mai, kommen die Herren wieder mit dem Auto nach Freiburg, um von hier mit dem Zuge um 9.30 h vormittags die Fahrt nach Coblenz/Bonn fortzusetzen.

Von Ihrem Herrn Vater Ihnen recht herzliche Grüße übermittelnd, denen ich solche von mir mit verbindlichsten Empfehlungen anschließe, bin ich Ihr sehr ergebener (?Duwe)

 

94. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Genf-Champel, 2.8.1926

Lieber Vater,

nach herrlicher Fahrt über Romanshorn – Zürich – Bern – Fribourg – Lausanne bin ich gestern abend hier wohlbehalten angekommen. Es war der erste August du auf den Bergen zu beiden Seite des Sees loderten die Feuer. Die Stadt selbst war gebadet in einem Meer von licht, als ich ankam.

Hier draußen wurde ich von Mme Gentat (?) reizend aufgenommen und in demselben Zimmer untergebracht, in dem ich voriges Jahr mit Oskar gewohnt habe. Es liegt im ersten Stock und hat einen herrlichen Blick über die alten Bäume des Gartens auf den Lalève. Ich bin wirklich sehr froh, daß ich hier wohne, und habe mich aufs neue überzeugt, daß der Preis im Verhältnis zu dem, was ich dafür bekomme, nicht zu hoch ist.

Der Hauptzweck dieser Zeilen ist begreiflicherweise der, Dich über meine finanzielle Lage zu orientierten. Ich habe zur Zeit noch 350 Franken, also nicht ganz 300 Mark. (Die anderen 100 Mark – 800 hattest Du mir geschickt – sind für Reisekosten etc. draufgegangen. Als Hauptposten wären zu nennen: Mark 16,35 =20 frs, die ich hier als Anzahlung einschicken mußte; Mark 8,80 Franz(ösisches) Lexikon und Grammatik; Mark 33,10 Billet Freiburg Genf; Mark 12,40 Gepäck; sowie Reiseausgaben und Schlußausgaben in Freiburg.) Das Zimmer hier kostet mit voller Pension 9 Franken pro Tag + 5% Bedienung. Das wären für den ganzen August Franken 293, wozu noch 5 Franken für Licht kommen. Der Kurs an der Universität kostet 90 Franken. 20 Franken habe ich schon im Voraus bezahlt, es bleiben also noch 70 Franken zu bezahlen.

  • Pension Frs. 298.-
  • Kurs Frs. 70.-

Frs. 368.-

Ich glaube nicht, daß hierzu noch sehr wesentliche Ausgaben hinzukommen. Ich bitte Dich aber, mir (möglichst sofort noch etwas zu schicken, und vielleicht ein bißchen mehr, als ich unbedingt brauche, damit ich für alle Fälle etwas in der Tasche habe. Ich brauche Dir nicht zu versichern, daß ich alle Extraausgaben möglichst einschränken werde. Ich besitze wie gesagt z.Zt. noch 354 Frs.—

Heute früh war ich auf der Universität. Alles scheint glänzend organisiert zu sein. Die Kurse beginnen heute Nachmittag. Die Stadt ist bezaubernd, das Wetter strahlend. Es kann eine herrliche Zeit werden.

Hier im Haus habe ich viel Gelegenheit zu sprechen, und kein Mensch kann ein Wort Deutsch. Ich bin überzeugt, daß ich sehr schnell hereinkommen werde.

Nun Schluß für heute. Ich wünsche Dir weiter gute Erholung und grüße Dich vielmals,

von Herzen Dein Walter.

 

95. C.H.B. an Sohn Walter in Genf (Berlin?), 18.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Gestern war Oskar bei mir, wir hatten eine gemütliche Teestunde im Rauchzimmer des Ministeriums. Ich will überlegen, ob ich Dir für Paris nicht noch ein paar Einführungen verschaffen kann. Jedenfalls suche meinen Freund Professor Louis Masssignon auf (Paris VII, Rue Monsieur 21). Am besten schreibst Du ihm vorher. Ich betrachte ihn als einen, der zu meinem engeren Freundeskreise gehört. Du wirst in ihm einen ganz hervorragenden Typ feinster französisch-katholischer Geistigkeit kennenlernen. Glänzender Orientalist, aus sehr gutem Hause, vermutlich aber jetzt in bescheideneren Verhältnissen lebend. Er ist etwa 40 Jahre. Ich bin mit ihm in Griechenland und Holland sehr nahe zusammen gewesen. Er ist ein Mystiker, hat ein Erlebnis wie Paulus vor Damaskus gehabt und sein ganzes Leben danach gestaltet. Davon brauchst Du ihm gegenüber natürlich nichts zu wissen. Grüße ihn sehr, sehr herzlich von mir und sage ihm, wie freundschaftlich ich an ihn denke. Hoffentlich ist er in Paris. Ich werde Dich durch ein paar Worte avisieren.

Hellmut geht es wieder gut. Er kommt dieser Tage auf den Ottenberg zurück. – Hier stand alles im Zeichen des neu ernannten Generalintendanten. Die Sache ist ausgezeichnet abgelaufen, und selbst einige Mäkler habe ich durch lange persönliche Besprechungen zu freudig zustimmenden Artikeln gebracht. Damit sind wir eingroßes Stück auf dem Wege der Gesundung der Berliner Opernverhältnisse vorangekommen. – Meine Rede auf Tagore im Kaiserhof lege ich Dir im Auszuge bei.

Heute ist ein herrlicher Tag. Mutter und Hertha sind ans Wasser gegangen. Ich beginne morgen eine längere Reiseperiode, zunächst Naturforschertag in Düsseldorf mit Gesolei, wo ich Lexis’ ens und vielleicht Ernst Blumenstein treffen werde. Dann Breslau. Der Betrieb beginnt wider gründlich. Ich freute mich sehr, von Oskar zu hören, daß Du im Winter viel zu Hause sein und arbeiten willst. Die Botschaft hör’ ich wohl.—Weidmannsheil! Geld werde ich dann wohl nach Paris schicken, sobald Du schreibst, wohin. Wenn’s nicht zu viel kostet, bleibe natürlich möglichst lange dort, damit Du recht viel davon hast.

Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater).

 

96. C.H.B. an Sohn Walter, Lausanne-Ouchy. (Berlin), 25.9.19263

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter.

Ich schicke Dir einliegend 100 Schweizer Franken und 25 Dollar. Es ist für Paris am besten, langsam zu wechseln. Eine weitere Sendung schicke ich Dir dann unmittelbar nach Paris, wenn es nötig ist. Ich bin der Meinung, daß Du möglichst lange in Paris bleiben solltest. Einliegender Brief meines Freundes Massignon (Paris VII, Rue Monsieur 21) wird Dir zeigen, was für ein entzückender Mensch das ist. Schreibe ihm also, bitte, sofort. Ich will ihm Deine Adresse in paris mitteilen, aber ist schon richtig, daß Du ihm auch persönlich schreibst.

Uns allen geht es sehr gut. Heute nur so viel; ich bin in großer Eile und schreibe Dir nach Paris in Ruhe. (C.H.B.)

 

97. C.H.B. an Sohn Walter, Referendar, Chicago, bei Dr. Baum (Berlin), 26.1.1929

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Heute erhielten wir mit der Morgenpost Deinen ersten Brief aus Amerika, der von Deiner Seefahrt berichtet. Schon seit Tagen hatten wir bei jeder Post darauf gelauert, da natürlich unsere Gedanken sehr viel bei Dir sind und es uns so merkwürdig vorkommt, daß immer fast 14 Tage zwischen Deinem Erleben und unserem Nacherleben liegen. Da Du gar nichts von Deiner Gesundheit schreibst, hast Du offenbar die Grippe der ersten Tage schnell überwunden und doch ganz viel Genuß von der Überfahrt gehabt. Mit größter Spannung erwarten wir die ersten Nachrichten aus Chicago. Jeder, mit dem ich spreche, stellt mir Empfehlungen für Dich zur Verfügung, aber ich habe sie bisher alle abzudrängen verstanden, da ich glaube, daß Du zunächst genügende besitzest. Nur Dr. Paul Lempner erklärte sofort, daß er Dir schreiben wolle und daß er so ganz besonders gute Freunde hätte, die Dir gerade auf juristischem Gebiet von Nutzen sein könnten. Deshalb konnte ich sein Angebot nicht ablehnen, und Du wirst ja wohl inzwischen seinen Brief erhalten haben. Bei der ganzen Art Kempners handelt es sich da gewiß um innerlich wertvolle Menschen. Ferner hatte ich neulich ein langes Gespräch mit unserem deutschen Konsul Dr. Ahrens in St.Louis, der zurzeit hier ist und den ich von früher her kenne. Er würde Dir natürlich jeden Gefallen tun, wenn Du hinkämst. Er ist ein frischer, noch jüngerer Mann, der mir auch allerlei Tips über die Chicagoer Gesellschaft gegeben hat. Er meint, Du würdest ja wohl von selbst durch Generalkonsul Simon mit Louis Günzel in Beziehung kommen. Das wäre ein sehrempfehlenswertes Haus. Dagegen sprach er mit sehr viel Reserve von dem Vertreter des Norddeutschen Lloyd, Ludwig Plathe, der sehr reaktionär und zudem sehr indiskret sei. Du möchtest Dich also bei ihm durch etwaige Liebenswürdigkeit nicht täuschen lassen. Endlich erhielt ich einen reizenden Brief von meinem ältesten Schüler Professor Julian Morgenstern (Cincinatti, Ohio, The Hebrew College), von dem ich Dir ja schon gesprochen habe. Ich sende Dir auf besonderem Zettel den Dich betreffenden Auszug seines Briefes.

Von uns ist nur Gutes zu berichten. Ich verbringe meinen Sonnabend nachmittag im Ministerium, nachdem ich vorhin um ½ 3 Uhr mit Mutter und Hellmut, Wende und Kunert zusammen zu Mittag gegessen und mit ihnen beim Kaminfeuer die Korrekturen für unser großes Tischordnungsprogramm nächsten Montag gelesen habe. Wir werden Dir einen Reindruck zugehen lassen, damit Du siehst, wie viel erlauchte Leute an diesem Feste teilgenommen haben. Die ganze vorige Woche waren wir keinen einzigen Abend zu Hause. Ich hatte Hellmut zwischen vorigem Sonntag und heute, Sonnabend, überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Montags beim Reichskanzler, Dienstag beim Reichspräsidenten mit Hertha und hinterher sehr vergnügter Universitätsball, auf dem ich sogar noch getanzt habe, und zwar mit der Frau von Eberhard, während Hertha mit ihm tanzte. Am Mittwoch war ein Dîner bei Guérards, am Donnerstag ein fabelhaft elegantes Essen auf der Niederländischen Gesandtschaft, gestern war das Universitätskonzert unter dem Protektorat der Mutter in der alten Aula mit daran (an)schließendem Tee und guter mittelalterlicher Musik, wobei Sooth und Frau Richter mitwirkten, und heute Abend gehe ich mit der Tante Sophie auf den Presseball. Morgen kommt Professor Fischler aus München, unser alter Freund, zu Tisch und abends Harro und Unruh. Am Montag ist dann die Gesellschaft.

Von den unzähligen Lessing-Feiern habe ich nur am vorigen Sonntag die Rede von Gundolf gehört, die ganz vorzüglich war und die mich so begeisterte, daß ich ihn am nächsten Tag zum Frühstück einlud., wo wir uns famos unterhielten. Ferner hörte ich in der Akademie einen sehr guten Vortrag von Thomas Mann, echt mannisch, eine Parallele zwischen Lessing und ihm selbst mit dem entzückenden Satz:

Lessing wäre dem Schicksal so mancher Dichter verfallen, daß man erst alles Dichterische ihm abstritte und dann zu dem Urteil käme, daß er eben doch nur ein Schriftsteller gewesen sei, und zwar nicht einmal ein patriotischer.

Es gab natürlich ein allgemeines Geschmunzel. Dann habe ich noch die Lessing-Ausstellung in der Staatsbibliothek mit eröffnet, wobei Molo famos sprach. Du siehst also, an Betrieb fehlt es mir nicht. Aber Gottlob habe ich auch dienstlich zur zeit viel Interessantes. Wir machen jetzt einen Endspurt mit dem Konkordat, da ein klarer Text vorliegen muß, auf den die Volkspartei verpflichtet werden kann, wenn sie überhaupt den Wunsch hat, in die Koalition in Preußen einzutreten. Auf unklare Versprechungen wie bei dem Schulgesetz läßt sich das Zentrum zum zweiten Mal nicht ein. Die starke Spannung mit dem Nuntius hat sich etwas behoben, namentlich da wir uns fast allabendlich auf Gesellschaften begegnen, so daß ich jetzt wieder mit einigem Optimismus der Entwicklung entgegensehe. Aber auch auf schulischem Gebiet gehe ich zur Zeit einigen großen Gedanken nach, die aber noch nicht reif sind, in einem Brief skizziert zu werden.

Damit will ich für heute schließen. Hoffentlich bleibst Du gesund und bist durch Deine kleine Grippe geimpft. Das Ministerium bricht nahezu vor Grippeerkrankungen zusammen. Zur Zeit fehlen unter meinen nächsten Mitarbeitern Lammers, Duwe, Richter, Nentwig, Zierold. Letzterer hat sich sogar fluchtartig nach Stettin zurückgezogen.

Viele innige Grüße vom ganzen Hause (C.H.B.)

 

98. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Berlin-Steglitz, Schillerstr.2, 15.2.1930

Lieber Vater,

in Liebenwalde war diese Woche so viel los, daß ich erst in dem stillen Berlin dazu komme, Dir für Deinen lieben Brief, den ich sofort an die Geschwister weitersandte, zu danken. Zur Ergänzung meiner Zeilen vom vorigen Sonntag möchte ich noch sagen, daß ich den Präsidenten Hutchins persönlich nicht kennengelernt habe, da er erst nach meiner Abreise von Chicago zum Präsidenten gewählt worden ist. Damals war der Posten gerade verwaist.

Ich nehme an, daß sie Dich dort als Pädagogen und Universitätsfachmann wollen, die dauernde Stellung wäre sicher eine solche mit der Aufgabe, die Organisation der jungen Universität, von der ich neulich schon schrieb, nach deutschem Vorbild leitend zu beeinflussen.

Hier fand ich heute alles bestens vor. Das Verhältnis zu Mlle. Jacobi scheint äußerst harmo-nisch und für alle Teile befriedigend. Heute Nachmittag werden wir mit Gene Staley und ihr eine Bridge-Party geben, ob auf englisch, französisch oder deutsch, wissen wir noch nicht.

Abends gehen Hertha und Hellmut zu einer Galsworthy-Aufführung ins AGD, ich werde mit Marianne Partsch ins Esplanade Tanzen gehen.

Amtgerichtsrat Hassert ist heute nacht plötzlich an das Sterbebett seines Vaters abberufen worden. Wir haben als Vertreter für 10 Tage einen Assessor Last aus Berlin zum Chef.

Die Arbeit in Liebenwalde ist weiterhin äußerst befriedigend, gestern erhielt ich zum ersten Mal ein Lob für ein Civilurteil, während bisher alle von uns beiden gefertigten Urteile als nicht genügend bezeichnet worden waren.

Eure (bzw. Mutters) Briefe habe ich mit viel Interesse soeben gelesen, leider schreibt die Zeitung heute wieder von einem erneuten Wettersturz an der Riviera. Hoffentlich ist auch dieser nur vorübergehend, so daß Ihr recht auf Eure Kosten kommt. Mutters Kniesache ist ja sehr ärgerlich, aber vielleicht hat sie sich gelegentlich des Wettersturzes etwas ausheilen können.

Alles Liebe Euch beiden, und viele Grüße.

In treuem Gedenken Dein Walter.

 

99. Walter Becker a The Windermere Hotel, Chicago Ingleside, Magnetawan,

Ontario, Canada. 4.9.1930

(Maschinenkopie)

Dear Sirs,

My father, Dr. C.H.Becker of Berlin, Germany, and I intend to spend a week or two in Chicago the coming October. We want to stay at the south-side of the City and should like to stay at your hotel if we can get a really nice double room at a good weekly rate. I called up your office the other night and got the information that you had rooms for a double rate from 35 to 45 Dollars a week at the East Windermere Hotel. Will you please confirm me this information, and if it is correct, will you reserve a double room for us for a week starting the evening of October 6th. Our address from now on up to September 22nd will be c/o Dr.W.O. von Hentig,70 Seacliff Avenue, San Francisco, California, and I should be much obliged if you would let me have your reply as early as possible. We should want to have a room with bath overlooking the lake at a rate of between 40 and 45 Dollars for the two of us.

Will you please also tell me in your letter, if there is a difference in the management of the two Windermere Hotels, so that in order to avoid confusion we had better give a more definite address for our mail than just Windermere Hotel Chicago.

I am enclosing a check for a suit-case checked at La Salle Street Station Chicago and would oblige me very much by having it brought up to the hotel and checked there at our expense.

Hoping to hear from you soon, yours truly (Walter Becker)

100. Hotels Windermere, Chicago an Walter Becker, San Francisco bei Dr.W.O. von Henting. Chicago, 8.9.1930

Dear Mr. Becker,

We are pleased to receive your letter of September 4th advising that you expect to reach Chicago the evening of October 6th to remain one week, ore possibly more.

We have made a definite reservation for a large comfortable room with twin beds and a private bath which will be in readiness for you on your arrival here at that time at a weekly rate of $45 which we trust will meet your approval.

This room is located in Windermere East Hotel which is the larger and newer of the two units. The two hotels are operated under the same management, which will assure you that there will be no delay in mail reaching you promptly. It would be well, possibly, to have your mail addressed to hotel Windermere East however.

The baggage check which was enclosed in your letter we have turned over to our head porter and your bag will be brought from the La Salle Street Station immediately and taken care of here at the hotel without any charge for the care of same at the hotel until you claim it.

Assuring you this matter will have our personal attention and anticipating your arrival with Dr. C.H. Becker, we are cordially yours (signed) Robert Riley Asssistant Manager.

101. Referendar Walter Becker an C.H.B. Berlin, 26.5.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Vater,

Für den Fall, daß ein Dir von mir mit Flugpost nach Eastbourne nachgeschickter Brief des 2.Generalsekretärs des Völkerbundes, Dr. Dufour-Féronce, Dich infolge des Feiertagsbetriebs in England nicht erreicht hat, will ich Dir schnell den Inhalt dieses Briefes wiederholen:

Dr. Dufour fragt bei Dir im Auftrag des Völkerbundsrats vertraulich an, ob Du bereit wärst, die Leitung einer aus 4 Vertretern verschiedener Länder bestehende VölkerbundsKommission zum Studium der Erziehungsverhältnisse in China zu übernehmen und mit dieser Kommission noch in diesem Sommer für3 Monate auf Kosten des Völkerbundes nach China zu fahren. Herr Dr.Bonnet, der Direktor des Instituts für internationale geistige Zusammen-arbeit in Paris, wird in diesen Tagen gelegentlich Deines Vortrages gleichfalls versuchen, Dich zur Übernahme dieses Amtes zu überreden. Die Tätigkeit der Kommission bzw. des Völkerbundes überhaupt in dieser Sache ist auf ein Ersuchen der Nanking-Regierung zurück-zuführen. Bisher sind in ähnlicher Weise vom Völkerbund vor allem Enquêten auf sanitärem Gebiet in China vorgenommen worden, die bereits zu erheblichen praktischen Ergebnissen geführt haben sollen. Einzelheiten wirst Du ja, falls Du den Brief noch nicht hast, später aus ihm entnehmen können, wenn er Dich erreicht. Ich wollte Dir nur die Hauptpunkte mitteilen, damit Du evtl. im Bilde bist, wenn Dr. Bonnet Dich auf die Sache hin anspricht. Dr. Dufour scheint sehr viel daran gelegen zu sein, daß gerade ein Deutscher die Führung dieser

Kommission übernimmt.

Ich hatte herrliche Pfingsttage in Liebenwalde. Gene und einbefreundetes Ehepaar kamen gestern noch heraus. Bei strahlendem Wetter lagen wir die ganzen Tage abwechselnd im Wasser und in der Sonne.

Im Hause ist alles in bester Ordnung. Die leider recht zahlreiche persönliche Post schicke ich Dir in diesem Brief.

Hoffentlich bist Du befriedigt mit der Zeit in Eastbourne. Von Hertha kam heute eine vergnügte Karte vom Zusammensein mit Mutter und Hellmut in Salem.

Viele Grüße und alles Gute für die Pariser Tage. (W.B.)

 

102. C.H.B. an Walter Becker, Berlin. Paris, 22.3.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Walter,

bisher habe ich Dir nur mit einem kurzen Telegramm für alle Deine Mühewaltung danken können. Wenn wir mit Mark 60 Zoll abgekommen sind, so ist das fabelhaft günstig, und ich kann mir nur vorstellen, daß selbst den Argusaugen der Zollbehörde noch einiges entgangen ist. Wenn es Dich auch sehr viel zeit gekostet hat, was ich bedauere, so scheinst Du doch die Sache sehr geschickt gemacht zu haben. Ich finde es einen Unfug, daß man harmlose Reisende so schikaniert. Ich bin doch kein Händler, sondern bringe nur Sachen zu meinem eigenen Gebrauche mit, die ich mir in Deutschland doch nicht gekauft hätte.

Hauptsache dieser Zeilen ist aber nicht nur, Dir zu danken, sondern auch, die Frage der Sekretärin zu beantworten. Ich kann mich zu nichts entschließen, bevor ich weiß, wie weit meine Gehaltskürzung vom 1. April ab geht und ob ich überhaupt noch Mittel für eine Sekretärin vom Ministerium gestellt bekomme. Wenn die Streichungen wirklich so rigoros.

Vorgenommen werden wie verlautet, wird eine ganz neue Regelung greifen müssen und Mutter selbst, mit der ich dies besprach, würde vielleicht die neue Arbeit übernehmen oder aber, wir würden eine Dame für den Haushalt zur Unterstützung der Mutter engagieren, die gleichzeitig einige Stunden für mich arbeitet. Ich kann mich deshalb zur Zeit noch auf niemanden festlegen und vor allem auch auf kein Gehalt. Ich hatte ursprünglich daran gedacht, Hellige ins Haus zu nehmen und ihm noch ein klein wenig draufzuzahlen, um ihm dadurch das Studium zu ermöglichen und als Entgelt jeden tag ein paar Stunden zur Verfügung zu haben. Hellige ist aber Mutter so wenig angenehm, daß sie das sehr ungern tun würde, und ich habe deshalb diesen Gedanken aufgegeben.

Verzeihe die Kürze dieses Briefes. Ich bin stark in der Arbeit und in Paris natürlich auch sonst viel in Anspruch genommen. Es ist herrliches Wetter, und ich genieße diese wunderbare Stadt wie noch nie.

Grüße vor allem auch Hertha. In treuer Liebe (C.H.B.)

 

103. Dr. Walter Becker an Carola (von Blumenstein?). Berlin, 6.3.1933

(Maschinenkopie)

Liebe Carola!

Auf Deinen Brief vom 2.3.33 hin habe ich soeben mit Herrn Ministerialrat von Rottenburg im Preußischen Kultusministerium telefoniert, dem die Technischen Hochschulen in Preußen unterstehen. Er hat mir folgende Auskunft gegeben:

Die Entscheidung über die frage der Anrechnung des Freiwilligen Arbeitsdienstes auf das praktische Jahr der Studenten steht im freien Ermessen der zuständigen Fakultät. Die Fakultäten pflegen im allgemeinen Bau-Ingenieuren die im freiwilligen Arbeitsdienst verbrachte Zeit ganz oder teilweise anzurechnen, da die von diesen Leuten im freiwilligen Arbeitsdienst geleistete Arbeit auf demselben Gebiet liegt, wie diejenige Tätigkeit, die sie während des praktischen Jahres auszuführen haben. Bei Architekten dagegen besteht eine derartige Übung bisher nicht, da nur in den seltensten Fällen eine Beschäftigung auf einem Bau während des Arbeitsdienstes stattfindet.

Da diese Fragen eine grundsätzliche Regelung aber noch nicht gefunden haben, hält Herr v. Rottenburg ein diesbezügliches Gesuch nicht unbedingt für aussichtslos. Er empfiehlt daher Deinem Sohn, sich zunächst bei dem Arbeitslager einen möglichst genauen Bescheid über die von ihm während der Arbeitsdienstzeit auszuführenden Arbeiten zu holen und dann unter Beifügung dieses Bescheides ein Gesuch an die Fakultät für Architektur an der technischen Hochschule Hannover zu richten bzw. zunächst einmal anzufragen, ob ein solches Gesuch bei dieser Fakultät Aussicht auf Erfolg haben würde.

Mehr kann ich Dir leider auch nicht sagen. Das Kultusministerium ist auf jeden Fall nicht zuständig, da es sich um eine selbständige Entscheidung der Fakultät handelt.

Für Deine warmen Worte der Teilnahme danke ich Dir sehr. Ich hatte schon anläßlich des lieben Briefes, den Du mir nach meiner Verlobung geschrieben hast, die Absicht, Dir einmal ausführlicher zu schreiben, kam nur bisher nicht dazu, und jetzt wirst Du verstehen, daß ich noch weniger die Ruhe dazu finden kann. Es wäre schön, wenn man sich nach der langen Zeit einmal wiedersehen könnte. Mit vielen Grüßen auch von den Meinen an Dich, Deinen Mann und Deinen Sohn bin ich Dein Vetter (W.B.)


 

1 Das ist wahrlich eine gewaltige Summe für einen Paß! Hervorhebung vom Herausgeber

2 Hervorhebung vom Herausgeber.

3 Auf der Kopie steht 1925, gewiß ein Tippfehler und von mir in 1926 geändert. Der Herausgeber

Ully Becker

HA VI. Nr. 6319 (Ully Becker)

C.H.B. an Ully Becker, Werneuchen (Mark), Johannaheim Berlin, 11.9.1920

(durch den Provinzialschul-Obersekretär)

(Maschinenkopie)

Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Vor einigen Tagen sind die Offerten bezüglich eines möblierten Zimmers Ihnen durch ein Mißverständnis in einem gewöhnlichen Briefe zugesandt worden. Der Herr Staatssekretär Prof. Dr. Becker ist nun in Sorge, der Brief könnte verloren gegangen sein, und hat mich vor Antritt einer erneuten mehrtägigen Dienstreise gebeten, dieserhalb mich an Sie zu wenden. Würden Sie die Güte haben, dem Herrn Staatssekretär eine diesbezügliche Mitteilung zukommen zu lassen?

In vorzüglicher Hochachtung sehr ergebenst (XY) Provinzialschul-Obersekretär.

Frida Michaelis-Becker und Hellmut Becker

HA.VI. Nr. 8654 (Frida Michaelis-Becker, auch Hellmut Becker)

85. Frida Michaelis an Hedwig Becker, Weimar, 7.12.1930

Liebe Hedwig,

da ich nicht wußte, daß Du Interesse für unsere Hochzeits-Litteratur hättest, habe ich sie noch nicht geschickt, nun schicke ich sie natürlich gern. Lies nur, was Dir Spaß macht. Und dann , – meine Verse zur Hochzeitsreise (?) laßt bitte unter uns Älteren bleiben.- Gelegentlich bekommen wir dann wohl alles zurück.

Es freute mich so daß Otto und Walther einmal bei Euch sein konnten, habt Dank! Mit großer Freude hörte ich Carl am Radio, – die Fühlungnahme tat mir ordentlich wohl! Es hat doch sein Gutes, daß er nun wieder so in seine Wissenschaft hineinsteigt, ich fühlte doch noch seine erste Liebe! Und freue ich mich auf die beiden nächsten Freitage. Danke ihm schön für die Benachrichtigung. Sophie schickte nun auch ‚mit herzl. Gruß’ endlich den letzten zusammenfassenden Brief! Fein! Das Urteil über die Amerikaner will ich mir abschreiben, lasse den Brief dann aber baldmöglichst an Ferdis gehen.- Laß Dir noch herzlich für Deinen lieben Brief danken, Hedwig, und nimm für heute vorlieb,- ich schufte mich mal wieder durch eine schlechte Periode durch. Euch allen viel Liebes

Deine Frida.

 

86. Hellmut Becker an seine Mutter Hedwig Becker. O.O, o.D. (wohl Ende Juli 1930)

Liebe Mutter!

Vielen Dank für Deinen Brief und für den Sonntagsgruß (?) und für die Illustrierten. Ich freue mich immer sehr, wenn Du mir so etwas zum Lesen schickst.

Hertha kam gestern hier an. Sie sieht sehr gut aus. Wir hoffen sehr, daß es Vater bald besser geht. Denn diese plötzliche Sache war ja scheußlich.

Hertha kann bis zum 4. August hier auf dem Ortenberg (?) bleiben. Uns beiden geht es ausgezeichnet. Ich schreibe Dir heute nur kurz, weil ich Dich ja bald sehen werde.

Mit vielen herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn Hellmut.

Alexander Becker

HA VI. Nr. 8705 (Alexander Becker)

80. Alexander Becker an Schwägerin Hedwig Becker. Frankfurt/M., 22.6.1935

(Maschinenmanuskript)

Würdigste aller Amateur-Wehmütter in Kreßbronn und Umgebung!

Ich muß mal wieder meinem bedrängten Herzen Luft machen und ich wüßte nicht, bei wem ich das besser tun sollte als bei Dir.

Ferdi ist im Land und wir verhandeln wegen Gelnhausen und Otfried. Verkrachen werden wir uns nicht, davon sind wir beide fest überzeugt; aber die Differenzen in den Anschauungen gehen ziemlich weit, und wie Du Ferdi kennst, behandelt seinen bösschnäuzigen Bruder immer etwas vorsichtig, um nicht zu sagen ängstlich. Ich habe innerlich mit Gelnhausen abgeschlossen und daneben hängt mir die Verantwortung zum Hals heraus. Ich habe keinerlei Sonderinteressen, aber ich fühle sehr stark meine allgemeine Verantwortung. Ich vertrete nun mal den Standpunkt, daß bei der augenblicklichen Zeit, wo alles in den Grundbesitz drängt, es restlos töricht ist, unnötig (d.h. über den zur Deckung der nötigsten Schulden erforderlichen Betrag hinaus) Grundbesitz zu verkaufen. Ferdi will natürlich Geld haben, um im nächsten Jahr Horsts Studium zu finanzieren, und argumentiert u.a. außer der Verkaufslust der ganzen Familie und mit der Kritik Deiner gescheiten Söhne über Otfried. Mein Standpunkt ist der, daß ich die Berechtigung von Ferdis Wünschen wohl anerkenne und nur immer bedauere, daß ich selbst für Frida und für Jochen Schulden aufgenommen habe, die ich aber hoffentlich im nächsten Jahr stark reduzieren kann.

Wenn aber irgend eine Ausschüttung stattfindet, so ist es mir klar, daß neben der Gefährdung durch Valutasorgen sie ziemlich nutzlos verpuffen wird als ein Tropfen auf verschiedene arg heiße Steine. Nun sehe ich gerade bei Ferdi die Sorge darin, daß er sehr kleine Jungens hat, die also noch für lange Zeit Zuschuß erfordern werden.1 Bei anderen ist es ähnlich. Kurz gesagt: ich sehe eben in Gelnhausen doch noch eine realisierbare Reserve, und die möchte ich erhalten.

Es ist mir ganz klar, daß Otfried in vielen Fällen versagt hat. Ferdi hat dort nicht gut gewirkt, denn Otfried ist ein furchtbar weicher und durch den Tod seiner Mutter2 und die Wieder-verheiratung seines Vaters etwas des inneren Halts beraubter Mensch. Was man mit ihm anfangen kann, weiß ich nicht; aber man wird ihn mal herauswerfen müssen. Nur weiß ich das eine, daß er letzten Endes auch mir wieder zur Lastfallen wird.

Ich halte es für einen Unfug, daß ertragreiche Stücke wie z.B. der Obstgarten, der jetzt die hauptsächlichste Einnahmequelle ist, verkauft werden, und ich suche nach allen möglichen Lösungen, habe aber da mit ganz ulkigen Vorurteilen zu kämpfen: Man, d.h. die Familie, sieht das Verhältnis von Otfried zu Marie mit trüben Augen an. Ich weiß, daß man es mit einem wirklichen Parzival zu tun hat, bei dem also solche trüben Gedanken vollkommen abwegig sind. Leider hat sich Marie zur Faulheit und leichten Schlamperei entwickelt, aber das kommt eben durch die unklaren und schwierigen Verhältnisse, die nicht nur einen sauberen, sondern auch einen starken Charakter erfordern.- Wunderbar ist, daß Ferdi zwar herrlich, und Otfried gegenüber wohl auch grob, kritisiert, aber auf meinen Vorschlag, er soll in den nächsten Wochen, wenn er in Gelnhausen ist, mal Otfried zum richtigen Disponieren zu erziehen versuchen, die Antwort gibt: Dafür verstehe ich nicht genug von der Landwirtschaft.

In meinem Groll bin ich schon auf die verrücktesten Gedanken gekommen, so z.B., ob Du, würdigste Wehmutter, nicht gelegentlich auch mal ein bißchen helfen könntest. Laß es eine Nebenwirkung dieses Briefes sein, daß Du mal darüber nachdenkst. Die Hauptsache ist schon erfüllt dadurch, daß ich mir mal Luft gemacht habe.

Womit ich die Ehe habe, in alter Treue zu bleiben Dein Schwager (gez.) Alex

 

81. Alexander Becker an seine Schwägerin Hedwig Becker. Frankfurt, 5.7.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Ich habe Dir noch für Deinen lieben Brief zu danken und schicke Dir Walters diplomatischen Brief zurück.

Die Verhandlungen mit dem guten Ferdi waren eigentlich immer sehr nett, da wir von vornherein alle beide auf dem Standpunkt standen, daß wir uns unter keinen Umständen verkrachen. Wie Du mich kennst, vertrete ich die Ansicht, daß ich nichts zu verbergen habe, daß mein persönliches Interesse an Gelnhausen überhaupt keinen Einfluß hat, sondern daß ich einfach den beamtenmäßigen Standpunkt vertrete, daß ich das tue, was ich für richtig halte. Daß ich darin mit Ferdi, namentlich über die Person Otfrieds, Meinungsdifferenzen habe, kann zunächst an meinem Entschluß nichts ändern. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß in Grundbesitz angelegtes Geld mir noch lieber ist als ein Bankkonto, auf das Ferdi Wert legt, weil er Studiumsgelder für Horst sicherstellen will. Wenn man selbst durch Verkauf von grund Ferdi RM 10.000 zur Verfügung stellen könnte, so bin ich überzeugt, daß die vor Beginn der mehrjährigen Studienzeit von Horst schon angeknabbert werden, weiter aber, daß die Möglichkeit einer Entwertung sehr groß ist. Und gerade in Ferdis Interesse bin ich für langsame Liquidierung. Der Anfang ist gemacht: wir haben den westlichen teil des oberen Gemüsegartens ganz gut verkauft. Ich nehme an, daß weitere Interessenten sich zeigen werden. Aber die Liquidierung des Grundbesitzes wird bei Gelnhäuser Verhältnissen eben längere Zeit dauern, und solange nicht eine absolute Einschränkung auf Haus und Garten erreicht wird, halte ich die Anwesenheit von Otfried für unbedingt nötig. Außerdem sage ich ganz offen, daß bei den nun mal vorhandenen Gelnhäuser Gewohnheiten, die niemand besser kennt als ich, ich Otfried bei den langwierigen Geländeverkäufen besser geeignet zum Schmusen halte als den exakten Ferdi.

Aber wie Du mich weiter kennen wirst, habe ich nicht das mindeste dagegen, daß Du oder Deine Söhne Euch mit Ferdi aussprecht, selbst auf mich schimpft, soviel Ihr Lust habt, und ich würde es sehr bedauern, wenn Du Deine Anwesenheit in Orb nicht dazu benütztest, mal Fühlung u nehmen und Deine eigenen Augen walten zu lassen. Dich zu beeinflussen, habe ich nicht die geringste Absicht.- Also von Verstimmung zwischen Ferdi und mir ist nicht die Rede; im Gegenteil, wir stehen besser als je.

Jetzt noch eine andere Sache: Wir wollen wieder an den Tegernsee zu meinem Vetter Andreae fahren. Plötzlich kommt mein Freund Kaselowsky aus Bielefeld3 am Telephon auf folgenden Vorschlag: Er will sich – und zwar ursprünglich mal auf meinen Rat – eine, wie er sagt, ‚Butze’ am Bodensee kaufen, in der Gegend von Schachen. Bis jetzt stelle ich mir so ein besseres kleines Schloß darunter vor. Und nun sagte er, er wolle mit seiner Frau Samstag/ Sonntag unten sein und wir sollten Sonntag hinkommen. Dies hat folgenden Plan ausgelöst, der aber erst auf telephonischem Wege heute abend spät bestimmt wird:

  • Abfahrt der Familie Becker morgen, Samstag, nach Baden-Baden; Übernachten bei Rehbocks.
  • Sonntag: Durchfahrt nach Schachen, mit eventuellem Besuch von Frau Hedwig Becker, ohne daß diese im mindesten derangiert wird.
  • Montag: Fahrt nach Tegernsee.

Vielleicht lasse ich auch Günther per Motorrad nach Schachen kommen, denn es wird ganz gut sein, wenn er die Gelegenheit zur Fühlungnahme mit seinem späteren Chef benützt. Ob wir unterkommen können, ist fraglich. Wenn, was ich bei Kaselowskys Einfluß in Schachen nicht erwarte, alle Stricke reißen, dann wende ich mich hilfeflehend an Dich. Du wirst schon irgendwo in Kreßbronn oder bei Deinen sonstigen Entbindlingen eine Stätte finden, wo man eben mal für eine Nacht unterkriechen kann. Aber bitte keinerlei Vorbereitungen, ehe ein telephonischer Notschrei zu Dir kommt.

Im übrigen werden ja wohl noch auf den Äckern des Bodensees die nötigen Felchen wachsen, damit das liebe Alexchen nicht verhungert.

Halleluja! Es wäre witzig, wenn wir eine kurze Stippvisite bei Dir machen könnten.

Herzlich Dein (gez.) Alex.

PS. Soeben höre ich, daß Herr Dr. Kaselowsky nicht nach dem Bodensee fährt. Wir ändern daher unsern Plan und kommen vielleicht mal vom Tegernsee nach dem Bodensee.

 

82. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 10.9.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Da ich durch Deinen Telephonanruf schon tief gerührt war, wurde ich durch Deinen Geburtstagsbrief noch mehr erweicht, was sich darin ausdrückt, daß ich Dir jetzt einen Schrieb hinschreibe.

Also hab schönen Dank, vor allen Dingen aber nimm Du meine besten Wünsche zu Deiner neuen Lebensphase als Hausbesitzerin, in die Du glücklich eingetreten bist.

Offen gestanden, habe ich manches liebe mal an Dich gedacht, und eigentlich stelle ich mir vor, daß, wenn Du glücklich mal allein bist, es sehr hübsch sein muß, bei schönem Wetter im Herbst am Bodensee aufzuwachen und dann über die eigenen Felder, Auen etc. den Blick schweifen zu lassen. Ich stelle mir Deinen park demnächst so vor wie hier einen Lehrgarten im Palmengarten, wo unendlich viel schöne, gute, nette und nützliche Sachen auf kleinem Raum in bester Qualität gezogen werden und wo von fernher die Mütter Deiner Heblinge und die Frauenschaften der weiteren Umgegend antanzen, um sich von Dir belehren zu lassen. Versäume doch nicht, mir gelegentlich mal zu sagen, was Du alles änderst und wann Du glaubst fertig zu sein.

Ich war am Samstag mit Sophie und Günther in Gelnhausen, wo Ferdi minuziös eine Verteilung von mehr oder weniger wertlosen Sachen vornimmt. Ich bin diesmal ziemlich deutlichgeworden und ich glaube, es wird allmählich Ruhe geben. Ich habe Ferdi gesagt, daß er die Geländeverkäufe mal lieber mir überlassen sollte, weil ich verschiedene Interessenten habe, es aber für unrichtig finde, wenn er sich mit lauter kleinen Schmutzfinken abgibt, die nichts hinter sich haben, während ich eigentlich ganz gute Leute auf meine Gelnhäuser Art langsam behandeln möchte.

In der Frage Otfried bin ich steif geblieben. Zum Schluß habe ich ihm gesagt, als er mir in bekannter Weise mit allen möglichen mehr oder weniger bösen Verwandten zu imponieren suchte, daß es schließlich auch andere Leute gäbe und daß mir z.B. von einer Seite gesagt worden sei, (unter uns gesagt: es war Walter), daß man die ihm suggerierte pathologische Haltung gegen Otfried nicht mitmachte. Das hat ihn anscheinend tief gewurmt. Er wollte natürlich wissen, wer es war, was ich abgelehnt habe. Ich habe ihm aber gesagt, daß ich schließlich auch mal Luft machen müsse, denn es wäre mir einfach zu dumm, hintenrum Sachen aufgetischt zu bekommen, die so den Stempel des Gequassels an sich hätten und als Stimmungsmache benutzt würden, wie daß man z.B. sagt, ich hätte Blumensteins bei der Abwicklung von Emmas Erbschaft, na sagen wir mal, nicht gerade schön behandelt. Es kommen wirklich unglaubliche Sachen vor. Und dann soll man nicht mal böse sein dürfen.

Ach Hedwig, man hat es schwer. Das einzig Nette ist, daß wir mit Günther jetzt viel musizieren. Wir haben uns Jochens früheren Lehrer als ersten Geiger engagiert. Zur Zeit verarzten wir eigentlich mit ganz nettem Erfolg ein Reger’sches Streich-Trio und wüsten in dem Garten von Beethovens opus 59. Günther klopft mit Sophie auf zwei Klavieren; das kleine Instrumentchen, von dem wir Dir erzählten, ist ein richtiger großer succès.

So, nun hast Du wieder Einiges gehört. Gehe in Dich und laß mich dasselbe tun, nämlich das Hören, und sei herzlich gegrüßt von Deinem getreuen (gez.) Alex.

Handschriftliche Anmerkung von Alex:

Die Erbteilung der Gelnhäuser Mobilien hat bei Sophie und mir nur die wehmütige Vorstellung wachgerufen, wie anders sich eine solche Sache zwischen Carl, Hedwig, Frida und Alex abgespielt hätte wie jetzt. Freu Dich, daß Du nicht dabei warst. Wir haben nur an den ganzen Habsuchtsorgien desinteressiert und sogar zugesehen, wie von uns Gelnhausen geliehene Tischwäsche in unersättliche Hausfrauenmägen verschwanden!! Ich glaube, ‚man’ hat sich dabei nicht recht wohlgefühlt!? Schwamm drüber!!

 

83. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 14.10.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Ich bin heute vor 8 Tagen nach Paris geflogen, Donnerstag vormittags zurück, und habe mich à tempo mit einer Vergiftung ins Bett legen müssen. Daher die Verzögerung der Antwort auf Deinen Brief.

Ich muß mal über die Sache nachdenken. An und für sich halte ich bei der jetzigen Zeit einen Wechsel nicht für glücklich und rate zu sorgfältiger Überlegung. Verhetzung wird sich wohl durch Gewöhnung allmählich legen. Das machen alle Berliner mit.

Die Sache mit Hellmut ist bedauerlich; aber da kann man wohl nichts machen.

Wir hoffen sehr, daß Du uns besuchst. Wie wir es einrichten, wissen wir nicht, aber gehen wird es schon irgendwie.

In Eile, getreulich Dein (gez.) Alex

 

84. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 10.3.1936

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Klagst Du, so weine ich mich auch an Deinem Busen aus.

Ich habe die letzte Woche viel zu tun gehabt: Am Samstag als Vorsitzender des Schulvereins 50jähriges Jubiläum von Trudes Schule mit großer Rede vor tausend Personen, Ansehen von unendlich vielen und langweiligen Aufführungen, Dauer bis 5 Minuten vor 12, bis 12.30 Uhr Packen und dann im Schlafwagen nach Bremen, Ferdis Geburtstag mit Carl Rehbock, Ernst und Marianne von Blumenstein, 1000 Leuten, stundenlangen Deputationen, unendlich vielen Reden, von denen meine die kürzeste war, dafür aber saß! Schluß ¼ nach 12 Uhr. Montag 8 Uhr Abfahrt nach Hamburg, den ganzen Tag in Hamburg auf den Beinen, abends Abfahrt. Jetzt bin ich wieder im Büro in Frankfurt und weine.

Also zunächst die Diskretion! Anbei Carolas Briefe zurück. Auch ich begrüße es, daß sie wirklich weiblich sachlich ist und lobenswerte Motive hat. Nur in einem irrt sie: daß Alex die Sache nicht richtig sieht. Der sieht sie schon seit Jahren ganz richtig und ihn hat es mehr Kopfzerbrechen gekostet als Carola. Ich werde versuchen, die Sache halbwegs im Sinne der Familie zu ordnen. Ob es gehen wird, weiß ich nicht und habe auch meine Zweifel. Nach bestem Wissen glaube ich, daß ich mit meiner Gelnhäuser Politik bis jetzt Recht behalten habe, und vielleicht wird auch noch mal ein Beweis möglich sein. Aber davon will ich jetzt gar nicht weiter sprechen. Jedenfalls werde ich Carola gelegentlich schreiben, daß Du mir ihre Argumente schriftlich übermittelt hättest. Carolas Briefe sind so nett, daß ich wirklich keinerlei Indiskretion sehen kann, wenn Du sie mir in natura schickst.

Von Deinen Nöten habe ich wehklagend Kenntnis genommen. Ich kann nur wünschen, daß nach der Nacht auch nochmals das Licht folgt. Schließlich hörte ich aus Ritterhude, daß es Hellmut besser geht und daß die Sache mit Herta als zwar peinlich, aber nicht gefährlich angesehen wird und zweifellos sich wieder einrenkt.

Über die Finanzen kann ich augenblicklich noch nichts sagen. Ich will mal die beiden Faune begutachten lassen, und dann will ich mir malüberlegen, ob ich Dir nicht einen Vorschuß auf den eventuellen Erlös geben kann, den ich bei ungefähr RM 500 sehe. Das könnte ich vertreten. Würde Dir das mal einstweilen langen? Wohl verstanden: noch ist es keine feste Zusage, aber ich wollte Dir nur schnell zeigen, daß ich mich bemühe, Dir zu helfen.

Ich habe es eilig, also nimm im üblichen Tempo schönste Grüße und sieh aus dieser prompten Antwort, daß Dein Klagen mein Ohr und mein Herz erreicht hat.

Wundervoll ist, daß Du den größten Einfluß auf mich hast. Wenn die andern Leute nur wüßten, daß ich jeder vernünftigen Diskussion willig das Ohr öffne, wenn ich sehe, daß von der andern Seite mit Verstand und etwas Überblick eine Sache besprochen wird.

Herzliche Grüße treulich, wie immer,

Dein schlafsüchtiger Schwager (gez.) Alex.


1 Das denke ich schon lange. Anmerkung von Alex mit Bleistift

2 Frida Michaelis geb. Becker, Schwester von Alex und Ferdi. Sohn Otfried, Töchter Emma und Mia

3 In der Tat heuerte Günther Becker später als Chemiker bei Oetker in Bielefeld an und verbrachte dort sein ganzes Leben. Seine Witwe Gerda lebte noch einige Jahre dort.