HA.VI. Nr. 8681 (Schwiegervater Schmid)
79. C.H.B. an seinen Schwiegervater (Schmid). Berlin, 13.1.1922
Lieber Vater!
Eine kleine Grippe, die mich die letzten Tage aus Bett gefesselt hat, hat es verhindert, daß ich Dir nicht schon längst für Deinen köstlichen Neujahrsgruß gedankt habe, der in Gestalt zweier Zigarrenkisten richtig in meine Hände gelangt ist. Nimm vielen Dank für das freundliche Gedenken, das meiner Dir ja bekannten Schwäche sehr entgegen kam. Ich habe auch schon gekostet und kann Euer Urteil nur bestätigen. Ich bitte, auch in künftigen Fällen meiner bei solchen Anlässen freundlich gedenken zu wollen.
Um mich von der Grippe und der Ministerschaft, diesen beiden ephemeren Erlebnissen der letzten Zeit, zu erholen, will ich nächste Woche nach Gelnhausen. Hedwig geht mit, obwohl sie sich nur sehr schwer loseist. Da auch Hellmut wieder von der Grippe erfaßt war und eine kleine Erholung ebenso nötig hat wie sein Vater, darf er uns begleiten. Vor Beginn der hohen Preise wollen wir wieder in Berlin sein. Hätten wir noch frühere Zeiten, so wären wir irgendwo ins Gebirge gefahren. Heutzutage ist man froh, wenn man in einem selbst im Winter nicht ganz unbehaglichen Heim wie in Gelnhausen unterschlupfen kann. Man ist jedenfalls einmal fern von Berlin, und es ist nicht so schrecklich weit. Wir sind schon um 5 Uhr dort. Man sieht Geschwister und Verwandte einmal wieder. Vielleicht erleben wir sogar den Geburtstag der Mutter dort. Kurz, es hat allerlei Verlockendes, selbst auf die Gefahr hin, daß kein Schnee liegt. Besser wie ein verregneter Aufenthalt in einem teuren Gebirgsgasthaus ist es allemal.
Während ich dies schreibe, gedenke ich des heutigen Geburtstages der lieben Mutter. Ich habe wegen meiner Grippe nicht schreiben können und bitte sie, auf diese Weise noch nachträglich meine herzlichen Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Mein geplanter Besuch in München ist leider unterblieben, da ich den Nuntius Pacelli1, den ich aufsuchen wollte, sehr eingehend in Berlin sprach, während die Besprechung mit dem Kardinal von Köln noch kurz vor Jahres-schluß glücklich vom Stapel lief. Wir haben sehr interessante und wichtige Besprechungen gehabt und alles hat sich zu einem, wie ich glaube, Gutes verheißendes Einvernehmen gefügt. Es waren vom Reich schwere Fehler gemacht worden, die wir von Preußen dann mit vieler Mühe ausbalancieren mußten2. Nun läuft die kirchenpolitische Entwicklung so, wie wir sie in Preußen von Anfang an hatten haben wollen. Leider ist mit Bayern auf diesem Gebiet nicht leicht zu arbeiten. Man ist immer gleich mißtrauisch und kommt aus dem alten Schema nicht heraus, als ob Preußen über die Reichsregierung Deutschland beherrschen wolle. Dabei besteht die Reichsregierung nur aus Süddeutschen, und Preußen hat einen weiß Gott schwereren Stand als Bayern; denn es kann nun einmal leider von Berlin nicht abfallen. Wie herrlich wäre die preußische Position, wenn Berlin außerhalb Preußens läge. Manchmal kann einen wirklich die Wut packen, wenn man sieht, wie wir an unserer eigenen staatsrechtlichen Kompliziertheit zu Grunde gehen. Wir brauchen diesen komplizierten Bau, um unserer partikulären Geistesart einen gewissen Auspuff zu geben, und dann schlagen wir uns wieder mit demselben Instrument gegenseitig die Köpfe ein. Und das alles trotz dem ausgesprochenen Willen, beisammen zu bleiben. Ich muß manchmal daran denken, daß spätere Jahrhunderte auf all diese Verhältnisse mit dem gleichen Mitleid zurückblicken wie wir auf die staatsrechtlichen Verhältnisse im Götz von Berlichingen. Schade, daß wir es nicht mehr erleben werden. Meine Arbeit gilt jedenfalls dem Ziel, unter Aufrechterhaltung aller landsmannschaftlichen Eigenart doch den Einheitsgedanken als nächstes Ziel über alles andere zu stellen. Nur das Tempo sollte man nicht forcieren.
Der außenpolitischen Entwicklung stehe ich mit großer Reserve gegenüber. Ich bewundere manchmal den Optimismus, mit dem unsere leitenden Männer heute an die Arbeit gehen müssen. Die kulturpolitische Arbeit ist da doch immerhin noch erfreulicher. Man kann sie zur Not auf die Intensivität einstellen, wenn man sich in Bezug auf die Extensität Schranken auferlegen muß. Aber in der Außenpolitik ist man doch jetzt nur noch Objekt. Und dabei das entsetzliche Gefühl, daß die Torheit der Engländer die Franzosen so mächtig hat werden lassen, daß dieses wildgewordene Narrenvolk jetzt selbst den Engländern eine Gefahr wird, weshalb diese immer weiter vor ihnen zurückweichen. Immerhin ist doch zu hoffen, daß die Welt allmählich einsehen wird, woran sie mit den Franzosen ist. Aber angenehm ist die Zeit nicht, die man darauf warten muß. (CHB)
1 Nuntius Pacelli ist der spätere Papst Pius XII. Seine Residenz in der Münchener Kaulbachstraße wurde nach dem 2. Weltkrieg Sitz des Institut Francais.
2 Hervorhebung des Herausgebers.
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