HA VI Rep.92. Becker A Nr.51
Korrespondenz mit Dr. Andreesen, Leiter der Deutschen Landerziehungsheime 1920-23
286. Dr. Andreesen an C.H.B., Unterstaatssekretär. Schloß Bieberstein bei Fulda, 8.6.1920
Sehr geehrter Herr Unterstaatssekretär!
Die Reichsschulkonferenz wird mich in dieser Woche nach Berlin führen. Es wäre mir außerordentlich erwünscht, wenn Sie mir gelegentlich meiner Anwesenheit in Berlin eine kurze Unterredung gewähren könnten. Herr Oberregierungsrat Kumerow, der zur Zeit gerade hier in Bieberstein zu Gast ist, empfahl mir mich an Sie zu wenden.
Es liegt mir sehr am Herzen, mit ihnen Rücksprache darüber zu nehmen, in welcher Weise Erfahrungen der D(eutschen) Landerziehungsheime für das größere öffentliche Schulleben nutzbar gemacht werden könnten, und in wieweit der Staat an einer weiteren Entwicklung der Heime interessiert wäre. Darf ich Sie bitten, mir gütigst eine kurze Mitteilung zukommen zu lassen, wann und wo Ihnen mein Besuch genehm sein wird. Ihre Nachricht wird mich am besten unter der Anschrift: Reichs-Schulkonferenz erreichen.
Ich weiß wohl, daß Sie gerade in diesen Tagen sehr stark in Anspruch genommen sein werden und bedauere außerordentlich, daß ich Sie mit dieser Bitte belästigen muß. Doch wäre es mir im Interesse der Sache von großem Wert, wenn Sie mir diese persönliche Unterredung einräumen könnten.
Indem ich Ihnen für Ihre Mühe im Voraus meinen besten Dank ausspreche, bleibe ich in vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener gez. Dr. Andreesen
Leiter der Deutschen Land-Erziehungsheime
287. Dr. Andreesen an Minister C.H.B. o.O., 1.5.1923
(Maschinenkopie)
An den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Preußen, Berlin.
Durch das Provinzial-Schulkollegium in Cassel ist uns die Entscheidung des Herrn Ministers über unsere Eingabe betr. Freiere Gestaltung der Reifeprüfung am D(eutschen) Landerzieh-ungsheim Schloß Bieberstein mitgeteilt worden. Wir entnehmen daraus mit Befriedigung, daß der Herr Minister grundsätzlich nicht abgeneigt ist, den Deutschen Landerziehungsheimen eine Reifeprüfung in der gewünschten Art zu genehmigen. Der Aufforderung liegt in der Anlage bei eine Zusammenstellung der Lehrziele für die drei Gruppen A-C, die von der Ib1 an gebildet und in der Reifeprüfung als solche berücksichtigt werden sollen
Zu den Bemerkungen des Herrn Ministers ist noch folgendes zu sagen: Wir stimmen vollkommen damit überein, daß zu den Kernfächern, entsprechend Ziffer I der Richtlinien vom 24.1.1922 die Fächer Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften hinzukommen. Wir bitten jedoch, unter Naturwissenschaften hierfür Physik zu verstehen. Die Grundlage der Chemie ist in der IIa2 gelegt worden, der weitere Ausbau der Chemie würde der naturwissenschaftlichen Gruppe überwiesen werden; der Kernunterricht in den Naturwissenschaften stellt Physik in den Mittelpunkt und behandelt chemische Probleme nur im Anschluß und in Verbindung mit dem Physikunterricht.
Es wird ferner vermerkt, daß das Zeichnen übersehen worden sei und hinzutreten müsse. Wir bitten das Zeichnen in der Prima zu den fakultativen Fächern stellen zu dürfen. Der Zeichen-und Kunstunterricht erfährt in den Heimen eine besondere Pflege. Nach den sehr bemerkenswerten Ergebnissen der Versuche des Herrn Heckmann in Ilsenburg ist besonders das Alter der Unter- und Mittelstufe befähigt für zeichnerische, malerische und plastische Gestaltung. Es überwiegen hier die beobachtenden und intuitiven Fähigkeiten; auf der Oberstufe stellt sich ein stark in Erscheinung tretendes Überwiegen des logischen Denkens ein und verdrängt vielfach die ursprünglich künstlerischen Begabungen. Um den Zeichenunterricht fruchtbar zu machen, ist es daher ratsam, ihn auf der Unterstufe zu konzentrieren und die wichtigsten Fähigkeiten: perspektivisches Zeichnen, Formen-, Farb- und Raumsinn bis zum Abschluß der IIb3 zu entwickeln. Von diesem Gesichtpunkt ausgehend haben wir in den Heimen in den Klassen VI, V und IV4 einen sehr breiten Raum gewährt, teilweise 3-6 Stunden. Die Ergeb-nisse des Zeichen- und Kunstunterrichts in den Heimen sind in ganz Deutschland und sogar im Ausland als besonders bemerkenswert anerkannt worden. Wir bitten, uns die Möglichkeit zu gewähren, dem Zeichenunterricht auch fernerhin in diesen erprobten Bahnen weiter zu pfle-gen und für die Landerziehungsheime das Zeichnen von der IIa als wahlfreies Fach zu gestat-ten, wie es ja auch in den Gymnasien und Realgymnasien der öffentlichen Schulen schon von IIb an der Fall ist.
Daneben wird ein Reißbrettzeichnen im Anschluß an die darstellende Geometrie verbindlich betrieben für die Schüler der mathematisch-naturwissenschaftlichen Gruppe.
Als Lehrziele in den allgemein verbindlichen Fächern (Kernfächern) werden für die Reifeprüfung durchaus die Lehrziele angenommen, welche in den Lehrplänen der öffentlichen Oberrealschulen festgelegt sind. Wir glauben, daß wir in Deutsch, Geschichte und Physik in den Kernfächern sogar darüber hinaus gehen können. In Mathematik ist im Kernunterricht auf die Behandlung der kubischen Gleichungen und die darstellende Geometrie verzichtet, dafür aber die Differentialrechnung mit ihren Anwendungen eingehender behandelt.
Für die einzelnen Gruppen besteht die Minderleistung nicht in einer Herabsetzung der Lehrziele in einzelnen Fächern, sondern darin, daß für jede Gruppe 1-2 Fächer ausfallen und durch andere ersetzt werden.
Für Gruppe
A) Kulturgeschichtliche Gruppe: Ausfall: Französisch, Chemie, dafür Mehrleistungen in Deutsch, Geschichte und als neue Fächer Philosophie und Staatskunde.
B) Sprachliche Gruppe: Ausfall: Chemie, dafür Mehrleistungen in Englisch gegenüber den Zielen der Oberrealschule und in Philosophie, in Französisch die Leistungen der Oberrealschule.
C) Naturwissenschaftliche Gruppe: Ausfall: Französisch, dafür Mehrleistungen in Chemie, Mathematik, Biologie, Physik gegenüber dem Lehrplan der Oberrealschule. Diese Gruppe wird besonders zu selbständigem experimentellen Arbeiten angeleitet werden.
Es werden ferner Zweifel geäußert, ob wir in Französisch entsprechende Mehrleistungen aufbringen könnten. Hierzu ist zu sagen, daß allerdings nach dem Kriege die Leistungen in den Sprachen bei der ersten Reifeprüfung nicht erfreulich waren, bei guten Leistungen in Deutsch, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften; daß aber diese Mängel bei den letzten Prüfungen ständig geschwunden sind, so daß die Leistungen in Englisch bei der letzten Prüfung schon im Durchschnitt über genügend standen, in Französisch in der Mehrzahl auf genügend. Bei der für die Neuordnung vorgesehenen Stundenzahl wird Englisch in der sprachlichen Gruppe weit stärker getrieben werden, so daß hier die Leistungen unbedingt erheblich gesteigert werden können. In Französisch wird mit einer kleinen Gruppe interessierter Schüler und größerer Stundenzahl als bisher gearbeitet werden, so daß anzunehmen ist, daß auch hier die Leistungen sich noch verbessern lassen und mit dieser Gruppe mindestens die Leistungen der Oberrealschule zu erreichen sind. Die sprachliche Gruppe hätte dementsprechend für den Ausfall in Chemie aufzuweisen ein Mehr in Englisch und Philosophie bei gleichen Leistungen in den übrigen Fächern und wahrscheinlich Mehrleistungen in den deutsch-geschichtlichen Fächern.
Wir hoffen, daß nach diesen Darlegungen der Herr Minister sich entschließen wird, der vorgeschlagenen Neuordnung unter Verpflichtung auf die beigelegten Lehrziele seine Genehmigung zu erteilen.
Anlagen (fehlen)
D(eutsches Land-Erziehungsheim Ilsenburg (Harz)5
288. Dr. Andreesen an Staatssekretär C.H.B. Schloß Ettersburg, 5.5.1923
(Maschinenmanuskript)
Hochverehrter Herr Staatssekretär!
In der Anlage erlaube ich mir, den Durchschlag einer Eingabe unmittelbar zu übersenden, in Beantwortung des Schreibens des Provinzial-Schulkollegiums Cassel vom 30.3. d.J. (S.1971), in dem uns die Stellungnahme des Herrn Ministers mitgeteilt wurde; die Eingabe selbst wurde auf dem Dienstwege über das Provinzial-Schulkollegium Cassel eingereicht. Der Unterzeich-nete bittet, am Freitag, den 11.5. in Berlin vorsprechen zu dürfen, um Ew. Hochwohlgeboren persönlich nähere Auskunft noch dazu zu geben und zugleich Bericht zu erstatten über die Neugründungen der Heime, die in den letzten Wochen verlegt worden sind: Schloß Ettersburg bei Weimar und Schloß Gebesee bei Erfurt an Stelle des aufgelösten Heimes Ilsenburg. Eine Mitteilung, wo an diesem Tage und zu welcher Stunde eine mündliche Besprechung genehm wäre, erbittet der Unterzeichnete nach Schloß Ettersburg bei Weimar. Ich habe Herrn Staats-minister Boelitz und Herrn Ministerialdirektor Jahnke ebenfalls um eine Unterredung an diesem Tage gebeten.
In vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst gez. Dr. Andreesen.
Handschriftliche Anmerkung Beckers: Herrn RR Drews, bitte den Herrn an die gewünschte Adresse mitzuteilen daß ich bereit bin, ihn am Freitag zu empfangen, daß ich aber die Stunde noch nicht absehen kann und zu erfragen bitte (wegen der Verhandlungen des Landtages) evtl. im Ministerium oder im Landtag. CB 5/3
Preußisches Kultusministerium
289. Regierungsrat Drews an Dr. Andreesen, Schloß Ettersburg. Berlin, 8.5.1923
Sehr geehrter Herr Direktor!
Im Auftrage des Herrn Staatssekretärs Professor Dr. Becker teile ich auf das an ihn gerichtete gefällige Schreiben vom 5. d. Mts ergebenst mit, daß der Herr Staatssekretär gern bereit ist, Sie am Freitag, den 11. d.Mts. zu empfangen. Da gegenwärtig aber der Etat unseres Ministe-riums im Landtage zur Verhandlung steht, kann weder Ort noch Stunde des Empfangs ange-geben werden. Vielmehr läßt der Herr Staatssekretär Sie bitten, nach Ihrer Ankunft in Berlin dieserhalb gefälligst im Ministerium anzufragen und, falls der Herr Staatssekretär dann im Landtage weilen sollte, ihn freundlichst dort aufzusuchen.
Mit vorzüglicher Hochachtung gez.Drews (?), Regierungsrat
PS. Gemäß Anordnung des Herrn Staatssekretärs Herrn MinDirektor Dr. Jahnke zur gefälligen Kenntnisnahme vorgelegt. Gez. Drews 8/5. J 9/5.
Deutsches Landerziehungsheim Haubinda bei Hildburghausen (Thüringen)
290. Dr. Andreesen an C.H.B. Haubinda, 18.5.1923
Sehr verehrter Herr Staatssekretär!
Entsprechend den Anregungen, die ich im Ministerium erhielt, habe ich beiliegende Eingabe dem Herrn Minister übersandt. Ich erlaube mir, Ihnen einen Durchschlag der Eingabe direkt zuzusenden und bitte Sie, die dort gestellten Anträge zu befürworten.
Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst gez, Dr. Dreesen
Anmerkung eines Sachbearbeiters: Auskunft von Herrn Landé: Die Eingabe ist im Ref.U II. Durch Staatsbeihilfen für private Knabenschulen kann nicht geholfen werden. Reichszuschuß für begabte Schüler beantragen, kann dorthin gegeben werden (…unleserlich)
Anlage vom 18.5.1923 zu dem obigen Brief
Bitte um staatliche Beihilfe für die Heimerziehung
Der Unterzeichnete bittet, der Stiftung „Deutsche Landerziehungsheime“ aus den Mitteln des preußischen Staates eine Beihilfe zuteil werden zu lassen, damit die Stiftung ihre Auf-gaben in diesen Zeiten weiterhin erfüllen kann. Es erübrigt sich, über die Bedeutung der Deutschen Landerziehungsheime für das heutige Schul- und Erziehungswesen sich auszu-lassen. Sie stellen wohl den z.Zt. größtangelegten Versuch dar, neue Wege für das Erzie-hungswesen zu suchen. Diese Versuche sind seit nunmehr 25 Jahren mit dem dazu notwendigen Ernst und auch nicht ohne Erfolg durchgeführt worden. In dieser Würdigung stimmt die wissenschaftliche Pädagogik mit dem Urteil der Eltern und Fachleuten aller politischen Richtungen überein.
Die Landerziehungsheime haben diese pädagogische Sendung bisher ganz aus eigenen Kräften erfüllt und sind auch weiterhin wohl imstande, sich aus eigenen Kräften zu halten. Wenn trotzdem die Hilfe des Staates angerufen wird, so geschieht es, weil gerade in den jetzigen Zeiten die Durchführung der gesteckten Ziele im Sinne des Stifters, Dr. Lietz6 auf besonders große Schwierigkeiten stößt und andererseits die Lösung der gestellten Aufgaben heute wichtiger denn je ist. Folgende Gründe sollten den Staat veranlassen, diesem Unter-nehmen seine Unterstützung zuteil werden zu lassen.
- 1. Der Staat hat selbst das größte Interesse an derartigen pädagogischen Versuchen. Auch das öffentliche Schulwesen folgt dem Gesetz der Entwicklung. Es kann jedoch neue Bahnen erst beschreiten, nachdem sie nach allen Seiten erprobt sind. Es gibt wenig Schulen in Deutschland, die ein so geeignetes und breites Feld für pädagogische Versuche im weitesten Sinne gewähren. Es wird insbesondere darauf hingewiesen auf die Bedeutung des handwerklichen Unterrichts, der in den Heimen eine besondere Rolle spielt. Wir haben in diesem Jahr zum ersten Mal den Versuch gemacht, einzelne Schüler so weit auszubilden, daß sie mit der Reifeprüfung zugleich ihre Gesellenprüfung im Tischlerhandwerk ablegen können.
Derartige Versuche, das Handwerk als Bildungsmittel dem Lehrgang einer höheren Schule einzufügen sind, selbst wenn sie nicht vom Staate übernommen werden, in ihren Ergebnissen für die Öffentlichkeit von Bedeutung, besonders in Hinblick auf das brennende Problem der Trennung und Entfremdung von Geistes- und Handarbeit.
Ich weise ferner darauf hin, wie hier zum ersten Mal der Versuch gemacht ist, den jungen Menschen nicht allein durch den Unterricht zu erziehen, sondern durch die Gesamtheit des Lebens, insbesondere durch seine Eingliederung in ein Gemeinschaftsleben und seine Beteiligung an allen wirtschaftlichen und praktischen Aufgaben, die das Leben in einer abgeschlossenen ländlichen Wirtschaft dem Einzelnen stellt. Nicht von außen auferlegte Zwecke, sondern die Eigengesetze der Erziehungsaufgabe sollen die Schulform bestimmen7.
- 2. Die Heime haben ferner seit langem einer großen Anzahl von jungen Lehrern eine Fülle von Anregungen gegeben, mit denen sie nach kürzerem oder längerem Aufenthalt in den Heimen in den staatlichen Dienst zurückkehrten und so das Unterrichts-wesen des Staates mit den bei uns gewonnenen Erfahrungen befruchteten. Die öffentliche Schule vermag niemals den jungen Lehramtskandidaten eine solche Ausbildung geben. Die öffentliche Schule kann ihnen eine hervorragende methodische Ausbildung geben; daß Heimleben, welches zu den engstem Zusammenleben der Jugend zwingt, vermag Verständnis für die Jugend und pädagogischen Takt zu entwickeln, welches die Grundlagen des Unterrichts und der Erziehung sind. Daneben haben seit langen Jahren zahlreiche Schulmänner des öffentlichen Schuldienstes die Heime zum Zwecke des Studiums besucht und gewiß mancherlei Anregungen mit fortgetragen.
- 3. Der Staat hat auch in ganz anderer Richtung ein unmittelbares Interesse an den Heimen und eine Verpflichtung ihnen gegenüber. Es werden schon jetzt in den Heimen fast 400 Schüler und Schülerinnen erzogen, die sonst der öffentlichen Schule zur Last fielen. Wir nehmen dem Staate eine große Aufgabe, schon im Rahmen der bisherigen Schule ab, deren Lasten er sonst selbst tragen müßte. Über den bloßen Unterricht8 hinaus widmen sich die Heime insbesondere der erzieherischen Aufgabe der Schule, die der Staat bisher nur zum geringen Teil in Angriff nehmen konnte; diese Lücke in unserem Bildungswesen wird von weiten Kreisen immer stärker empfunden. Die großstädtischen Verhältnisse haben sich so entwickelt, daß sie die Erziehung der Kinder vom 10. Lebensjahre an durchweg nur ungünstig beeinflussen können.9 Der wirtschaftliche Kampf, das Berufsleben und die vielfach unglücklichen Familienverhältnisse machen es mehr und mehr unmöglich, daß die Eltern selbst die Aufgabe der Erziehung übernehmen, ganz abgesehen davon, daß aus ländlichen Kreisen viele Eltern die Erziehung ihrer Kinder anderen anvertrauen müssen, weil in der Nähe ihres Wohnsitzes eine öffentliche höhere Schule sich nicht befindet. Der Staat hat bisher diese erzieherische Aufgabe nicht oder nur in seltenen Fällen in Angriff genommen. Die Nachfrage nach guten Erziehungsschulen ist in den letzten Jahren so ungeheuerlich gestiegen, daß auch die bestehenden Landerziehungsheime und ähnliche Schulen sie bei weitem nicht mehr befriedigen können, ein Beweis, daß hier ein Aufgabenkreis vorliegt, für den noch durch keine öffentliche Einrichtung gesorgt ist. Wenn in den vier Jahren nach dem Kriege die Schülerzahl der Heime sich nahezu verdoppelte, so zeigt das, daß ein dringendes öffentliches Bedürfnis vorliegt. Die Reichsschulkonferenz hat anerkannt, daß die Unterstützungspflicht des Staates gegeben ist, wenn ein öffentliches Bedürfnis vorliegt. Der Staat hat auf dem Gebiete des weiblichen Unterrichts diesen Grundsatz bereits befolgt. Das erzieherische Bedürfnis verlangt ebenso dringend ein Eingreifen der Staatshilfe.
- 4. Der Staat bedürfte ferner das größte Interesse daran haben, daß die Heime ihre besondere soziale Aufgabe weiter, bzw. noch besser erfüllen können, die bisher wohl noch von keiner anderen Schule in dem Maße angepackt worden ist. Die Heime arbeiten seit ihrem Bestehen an der Überbrückung der sozialen Gegensätze unseres Volkskörpers, einmal durch die Ausbildung eines Gemeinschaftslebens, welches Geistes- und Handarbeiter umfaßt und in der Schule die handwerkliche Tätigkeit ebenso hoch bewertet wie die geistige. Wir haben ferner stets, neben Kindern aus begüterten Kreisen Kinder aus den arbeitenden Schichten unseres Volkes mit erzogen. 1914 gründete Dr. Lietz ein Waisenheim, welches im besonderen diese soziale Aufgabe erfüllen sollte. Die Durchführung in diesem Sinne ist durch die Entwicklung der letzten Jahre sehr gefährdet. Es besteht die große Gefahr, daß der Schülerkreis der Heime sich mehr und mehr auf eine Schicht reicher Eltern beschränkt, ganz im Gegensatz zu den Absichten des Gründers. Diese Entwicklung könnte nur durch Hilfe des Staates vermieden werden.-
Ganz im Sinne des Gründers haben wir im letzten Jahr in Haubinda unseren Aufgabenkreis dadurch erweitert, daß wir junge Arbeiter als „Werkschüler“ in unsere Schulgemeinschaft aufnahmen, die an unserm ganzen geistigen Leben Anteil haben, nach einem ausgewählten Plan an dem Unterricht der Schüler teilnehmen, daneben in Arbeitsgemeinschaften besonders weitergebildet werden, zugleich aber handwerklich, besonders in den Schülerwerkstätten, als Lehrer sich betätigen können und so mit ihrem Handwerk in Verbindung bleiben. Die nicht unbeträchtlichen Mittel für die Durchführung dieser Aufgabe wurden aus eigenen Kräften aufgebracht. Wir sehen hierin einen beachtenswerten Versuch, dem Volkshochschulgedanken in eigener Weise zu verwirklichen mit dem Ziel einer Vertiefung des Handwerks und ohne die sonst leicht eintretende Entfremdung.
- Die Heime dürften in besonderer Weise dafür geeignet sein, die schon in der Verfassung festgelegte Forderung des Aufstieges begabter Menschen aus unbemittelten Kreisen durchzuführen. Sie können den Kindern aus den unteren Ständen eine höhere Bildung vermitteln und zwar nicht nur intellektuelles Wissen sondern auch die für sie viel wichtigere Erziehung in einer Umgebung, die ihnen eine Heimat werden kann und ihnen die gleich oder günstigere Bedingungen gibt, wie sie die Kinder der bemittelten Stände in der Stadt zu haben pflegen. Die Organisation der Heime dürfte auch am ehesten dazu geeignet sein, junge Arbeiter, die erst nach Verlassen der Volksschule als für eine höhere Bildung befähigt erkannt werden, in abgekürztem Lehrgang noch bis zur Reifeprüfung zu bringen.
An der Lösung dieser Aufgaben hat der Staat gewiß ein dringendes Interesse. Die Heime haben zwar ihren Aufgabenkreis trotz der wirtschaftliche Schwierigkeiten10 ständig weiter ausgedehnt, haben alles getan, um eine Verengung ihres Schülerkreises auf eine bloße Oberschicht zu vermeiden. Die Mitarbeiter, die sich durchweg aus Idealismus gerade diese ihre Arbeit gewählt haben, haben noch stets auf die dringendste Sicherung ihrer Existenz freiwillig verzichtet, wenn sie dadurch die Arbeit in den Heimen wertvoller gestalten konnten. In dem ständigen Konflikt zwischen ideellen Forderungen ihrer Arbeit und ihrem persönlichen Bedürfnis haben sie in einem Maße auf letztere verzichtet, das in keinem Verhältnis zu der von ihnen geleisteten Arbeit steht. So scheint eine Unterstützung des Staates aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt. Es werden folgende Wege vorgeschlagen:
1. Der Staat stellt der Stiftung eine einmalige oder, wenn möglich, jährliche Beihilfe zum Ausbau der Heime zur Verfügung.
2. Er errichtet eine Anzahl von Freistellen, für die der Erziehungskostensatz wie für die übrigen Schüler gezahlt wird, z. Zt. Unter Berücksichtigung der Steigerung der letzten Wochen M(ark) 500 000 vierteljährlich11. Die Besetzung dieser Freistellen bleibt den Behörden überlassen.
3. Er stellt den Heimen Lehrmittel zur Verfügung bzw. Mittel, solche anzuschaffen, besonders Landkarten, Bücher für die Schüler- und Lehrerbibliotheken. Es wäre vielleicht möglich, Überweisungen von Büchern, die an öffentlichen Schulen geschehen, auch in gleicher Weise den Heimen zukommen zu lassen.
4. Er besoldet die Studien-Assessoren, die an den Heimen tätig, aber aus dem Staatsdienst nur beurlaubt sind.
5. Er stellt Mittel zur Verfügung zum Ausbau der Heime, Anschaffung von Betten usw. um das dringende öffentliche Bedürfnis nach Erziehungsschulen in höherem Maße zu befriedigen. Neben öffentlichen Mitteln kämen vielleicht auch Einkünfte aus sonstigen Stiftungen in Frage, die unter staatlicher Aufsicht stehen und ihren Stiftungszweck z.Zt. nicht erfüllen können. Eine Zusammenfassung der Kräfte einzelner Stiftungen auf die oben angegebenen Ziele dürfte wertvoller sein als eine Zersplitterung.
Der Unterzeichnete ist gern bereit, nähere Unterlagen beizubringen oder mündlich im einzelnen Auskunft zu erteilen.
Gez. Dr. Andreesen
Oberleiter der Deutschen Landerziehungsheime
Schloß Bieberstein in der Rhön
1 Unterprima
2 Obersekunda
3 Untersekunda
4 Sexta, Quinta und Quarta
5 Aus dem Briefkopf des Deutschen Landerziehungsheimes Ilsenburg geht hervor, daß sich dort die Klassen VI-IIIb befinden, in Haubinda (Thüringen) die Klassen IV-IIb, in Bieberstein die Klassen IIb-I
6 Hermann Lietz, Dr. phil., Pädagoge, *1868 +1919. Gründete 1898 nach englischem Vorbild in Ilsenburg/Harz das erste Landerziehungsheim, dem 1901 Haubinda, 1904 Bieberstein, 1914 Landwaisenhaus Veckenstedt (Wernigerode) folgten. Bei kulturkritischer Grundeinstellung betonte Lietz ländliche Lage, hygienisch-asketische Lebensweise, körperliche Betätigung und patriarchalisch-musisch bestimmtes Gemeinschaftsleben. Werke: Emlohstobba (1897), Die deutsche Nationalschule (1911), Lebenserinnerungen (hg. 1920). Brockhaus 1996
7 Hervorhebung vom Herausgeber.
8 Ich zitiere einmal als Beispiel aus den beigefügten Lehrzielen für Deutsch: Die Entwicklung der deutschen Literatur ist dabei bis zur Gegenwart durch Proben einzelner Schriftwerke zu vervollständigen. ..; für Geschichte: Es ist dabei Wert zu legen auf diejenigen Gebiete, die für das Verständnis der Kultur und des Staatslebens der Gegenwart besonders wichtig sind; für Englisch: Durch die Lektüre soll Verständnis für die Erscheinungen des englisch-amerikanischen Kulturlebens geweckt werden, die für Deutschland besonders wichtig geworden sind und die zu weltpolitischem Denken erziehen können. Bei der Auswahl der Stoffe in der Oberstufe sind zu berücksichtigen: 1. die englische Literatur durch die Lesung moderner Prosaschriftsteller und geeigneter Dichtwerke, besonders Shakespeare, Byron, Carlyle, Emerson, Ruskin 2. der englische Parlamen-tarismus, besonders Macaulay (Die englische Revolution) (Freytag), Freeman (Growth of the English Constitution 3. die amerikanische Demokratie (Wells (The Future of America) , Brooks (A trip to Washington) (Freytag) 4. der englische Imperialismus (Seeley (Expansion of England) Parrott (Britain overseas); Lektüre einer englischen Zeitung.
9 Hervorhebung vom Herausgeber.
10 Wir befinden uns mitten in der Hochphase der Inflation!
11 Vgl. obige Anmerkung.