Am Sonntag, dem 2. September 1877, wurde ich in dem kleinen schlesischen Kreis-städtchen Namslau als zweites von fünf Geschwistern geboren. Am Sedanstag[1], der bis zum Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg als Nationalfeiertag in ganz Deutschland festlich begangen wurde. Wir hatten schulfrei, die Stadt war voller Fahnen, Blumen, Girlanden und Musik. In der Erinnerung ist es mir, als ob stets die Sonne vom wolkenlosen Himmel auf all die Feierlichkeit gelacht hätte, die eigens für mich Geburtstagskind geschaffen schien.
Und wie dieser Tag, so steht vor meiner Seele meine ganze Kindheit, durchleuchtet von Sonne, Liebe und Glück. Ich muss das schon sehr früh gefühlt haben. Denn ich ging noch nicht sehr lange zur Schule, da soll ich einmal sinnend zu meiner Mutter gesagt haben, wir müssten bestimmt zum gesegneten Samen Abrahams gehören; denn so glücklich wie wir sei keine andere Familie. Auf Mamas erstaunte Frage, wie ich darauf käme, meinte ich, wir hätten in der Religionsstunde gelernt, dass Abraham immer Gottes Gebote gehalten habe, und darum sei er gesegnet worden bis ins tausendste Glied. Das sei sein Same, nämlich seine Kinder und Kindeskinder, und diese leben heute noch.
So habe ich schon damals, mir selbst kaum bewusst, den Segen des Höchsten empfunden, der über meinem ganzen Leben stand. Vor ihm beuge ich mich in großer Demut und Dankbarkeit.
Die Vorfahren
Mein Vater, Hugo Bieder (1841-1921), stammte aus Göllschau, einem schlesischen Rittergut in der Nähe von Liegnitz, das durch Einheirat in den Besitz der Familie kam und durch zwei Generationen darin blieb.Ein großer Park umgab das geräumige Gutshaus mit seiner Orangerie, in der neben Palmen und anderen seltenen Gewächsen Zitronen- und Orangenbäumchen standen und alle Jahre Früchte trugen. Die Spaliere sorgten für Pfirsiche und Weintrauben; und im Obstgarten gab es viele Sorten Äpfel, Birnen und Pflaumen. Auch die Blumenpracht zeugte von der großen Liebe des Gutsherrn für die Gartenkunst, die durch viele Generationen gepflegt worden war und zurückgeführt wurde auf die übernommene Familienlegende, dass die Biederschen Vorfahren von einem preußischen König als Gärtner aus der Schweiz in Schlesien angesiedelt worden waren. Dass sich die Liebe zum Garten weiter vererbte, wissen wir Heutigen gut. Durch den Göllschauer Park floss ein Bach, in dem zahlreiche Krebse auf Beute lauerten. Nun gab es nichts Schöneres für meinen Vater und seine Brüder, als mit den Hofejungen krebsen zu gehen. Man watete barfuß mit hochgekrempelten Beinkleidern durch den Bach und suchte das Ufer nach Löchern ab, aus denen die Scheren der kleinen gepanzerten Ungetüme heraushingen. Wehe, wenn man nicht geschickt und schnell zupackte! Sonst kniff sich eine Schere tief in die Kinderhand und konnte nur mit Hilfe eines Kameraden geöffnet werden. Der Schmerz war heftig. Die Krebse wurden nur in den Monaten ohne R gefangen, von Mai bis August. Sie gaben eine köstliche Mahlzeit. Göllschau barg aber noch andere Schätze, die weithin Anziehungskraft ausübten, und dazu gehört die Jagd auf Rehwild, Hasen, Fasanen und Rebhühner, die wie in ganz Schlesien so auch hier waidgerecht gehegt und gepflegt wurde.. Das hatte mir nicht Papa erzählt, das erfuhr ich viel später, als mein Mann Landrat in Ostpreußen war. Bei einem Essen auf Gut Leissienen war der Kommandierende General von Prittwitzund Gaffren mein Tischnachbar. Wir entdeckten bald, dass wir beide Schlesier waren. Als ich auf seine Frage meinen Mädchennamen nannte, rief er erfreut: „Dann ist Ihr Vater vielleicht der schöne Bieder aus Göllschau?“ Dass Papa aus Göllschau stammte, konnte ich zugeben, dass er der schöne genannt wurde, wusste ich nicht. Nun erzählte mir der General, er habe als Fünfzehnjähriger in Göllschau seinen ersten Rehbock geschossen. „Daswar der glücklichste Tag meiner Jugend!“ sagte er, und man merkte ihm an, wie froh ihn diese Erinnerung machte. Da er mit meinem Vater und seinen Brüdern in Liegnitz auf die Ritter-akademie zur Schule gegangen war, verlebte er öfters die Ferien bei meinen Großeltern Bieder. Ich musste Papa herzliche Grüße des alten Schul- kameraden bestellen, und er freute sich, dass es noch Menschen gab, die gern an seine zu früh verlorene Heimat dachten. Göllschau musste verkauft werden, da die Großeltern sehr früh starben, als mein Vater noch zur Schule ging und keins seiner 6 Geschwister das Gut übernehmen konnte. Zwar kam nun jedes Kind in den Besitz eines eigenen Vermögens, aber der Schmerz über den Verlust ihres Jugendparadieses blieb groß.
Annemarie Baumgartner vor dem Gut Göllschau in Namibia etwa 1977/78
Mein Bruder Curt wurde Anfang des Jahrhunderts Farmer in Deutsch-Südwestafrika. Er nannte seine Farm Göllschau und verbrachte dort schwere, arbeitsreiche, aber sehr glückliche Jahre. Doch auch dieses Göllschau blieb der Familie Bieder nicht erhalten: im Ersten Weltkrieg kämpfte mein Bruder bei der Schutztruppe im Norden unserer Kolonie, während im Süden, wo Göllschau lag, die Hereros[2] sich empörten und die Farm vernichteten. Nach dem verlorenen Krieg und der Inflation war meines Bruders Vermögen so zusammengeschmolzen, dass er an keinen Aufbau mehr denken konnte. Er musste die Farm verkaufen, doch der Name ist geblieben und erinnert noch heute in Südwestafrika an die Siedlungsarbeit eines Schlesiers.[3] Die Verwandten meines Vaters, der 6 verheiratete Geschwister hatte, aufzuzählen, gelang schwer. Seine Mutter Mathilde geb. Kallmeyer (1813-1857) stammte aus einem angesehenen Breslauer Kaufmannsgeschlecht. Voll Stolz wurde uns Kindern ein kostbarer Glaspokal gezeigt, den ein Vorfahr für Verdienste um die Stadt Breslau erhalten hatte. In Breslau erstand uns nach dem Tode meiner Mutter in dem schönen Haus von Papas kinderloser Schwester Klärchen Völker eine zweite Heimat. Von dort zogen wir drei Schwestern als Bräute in unser neues Leben. Papas jüngste Schwester, Mathilde Weichsel, bewirtschaftete nach ihres Mannes Tod mit Inspektoren ihr Rittergut Hermsdorf, das in der Nähe von Göllschau lag. Viele Nachbargüter gehörten ebenfalls Verwandten, so das Zimmersche Vorhaus, das einzige bürgerliche Majorat in Schlesien. Als meine ältere Schwester und ich anfingen, zu den Erwachsenen gerechnet zu werden, verlebten wir auf diesen Gütern manche fröhliche Ferientage. Da lernten wir eine Menge Tanten, Onkel, Cousinen und Vettern kennen. Ein Ausflug nach Vorhaus machte mir besonders tiefen Eindruck. Wie der Spreewald ist das Gut von breiten Gräben durchzogen. Feste Wege führen nur nach den Dörfern und dem Gutshof. Das Wohnhaus selbst sah aus wie ein altes Jagdschloss. Wir machten die reizvollste, aber traurig endende Kahnfahrt meines Lebens. Unser Vetter Hugo Weichsel brannte darauf, einen Rehbock zu schießen. Onkel Otto Zimmer erlaubte es nur zögernd und hat es dann bereut. Wir fuhren zu viert mit dem Kahn los, kein Laut durfte unser Kommen verraten. An der vom Onkel bezeichneten Stelle stand ein kapitaler Bock. Mein Vetter schoss, doch in dem Augenblick muss der Kahn geschwankt haben. Die Kugel traf, verletzte das Tier aber nur schwer. Wir waren tief betrübt; denn in dieser Wasserlandschaft konnte selbst ein Hund die Fährte nicht mehr auffinden, und so ist das arme Reh sicher elend zu Grunde gegangen. Mit einem der Vettern 2. Grades, Eugen Naumann, kamen wir bei Tante Klärchen Völker öfter zusammen; er war auch bei unserer Hochzeit. Als mein Mann Landrat in Ostpreußen war, wurde er Landrat in der schönen Provinz Posen, die uns nach dem Ersten Weltkrieg verloren ging. EugenNauman blieb trotzdem mit seiner Familie dort und wurde unter polnischer Herrschaft der Führer der deutschen Minderheit, für die er segensreich wirkte. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er von den Polen verhaftet, misshandelt und erschlagen.
Meine MutterKlara geb. Haselbach (1854-1891) wurde in Simenau in Oberschlesien geboren, kam aber jung mit den Eltern und sechs Geschwistern nach Namslau, das auf der rechten Oderseite, nicht weit von der russisch-polnischen Grenze liegt. Dort lernte sie meinen Vater kennen und lieben, und es wurde eine überaus glückliche Ehe.Mein Vater war damals aufsichtsführender Richter, eine selbstständige, angesehene Stellung, der er sich mit großer Pflichttreue und Pünktlichkeit widmete. Arbeit und Muße wechselten harmonisch ab, Hast und Hetze kannte man nicht. Das drückte sich nicht nur in seinem Berufsleben, sondern ebenso in unserem Familienleben aus, das dadurch besonders reich war, da Mamas Eltern in Namslau wohnten. Ihr Vater August Haselbach (1820-1897) stammte aus einem alten Geschlecht, dessen bisher urkundlich festgestellter ältester Vorfahr Hans Haselbach (ca.1610-1687) Stadtkämmerer in Ellrich am Harz war. Später zog die Familie nach Nordhausen, wo viele Haselbachs als Buchbinder ihr Brot fanden und einige als Obermeister ihrer Innung die Achtung ihrer Mitbürger erwarben.
Großpapa erzählte mir von diesen Handwerksmeistern und ihrer Kunst, kostbare Bucheinbände, Urkunden und Diplome anzufertigen. Ob nicht etwas von dieser Gabe bis auf die heutige Generation vererbt wurde?
Großpapas Vater Johann Theodorus Haselbach (1774-1841) blieb der Familientradition treu und wurde auch Buchbinder. Doch als durch die napoleonischen Kriege das Gewerbe darniederlag, gab er es auf und erwarb einen Gasthof mit Landwirtschaft. Nach der unglücklichen Schlacht bei Jena drangen die Franzosen am 17.10.1806 in Nordhausen ein, plünderten schamlos und vernichteten fast vollständig Johann Theodorus’ Besitz. Er entging mit knapper Not einer Kugel, die ein französischer Offizier als Gnadenschuss auf den ruinierten Mann abgeschossen hatte.
Nach der glücklichen Beendigung des Krieges wollte er sich mit aller Energie aus eigenen Kräften wieder hocharbeiten. Er lehnte die ihm angebotene Kriegsent-schädigung ab, da er sich das Opfer, das er für sein Vaterland gebracht hatte, nicht ersetzen lassen wollte. Trotz eisernem Fleiß gelang es ihm aber in Nordhausen nicht, sich wieder eine Existenz zu schaffen, und so folgte er dem Ruf seines ältesten Sohnes Karl und wanderte mit Frau und Kindern im Jahre 1832 auf einem großen Planwagen nach Schlesien aus. Damals war Großpapa 12 Jahre alt, hatte aber schon als Dreijähriger eine ähnliche, aber abenteuerliche Wagenfahrt durchgemacht; denn Zigeuner hatten ihn mitgenommen. Glücklicherweise kam ein Freund seines Vaters vorbeigeritten, erkannte den blauäugigen, flachsblonden Jungen und brachte ihn den Eltern zurück. Was wäre wohl sonst aus ihm geworden? Nach seiner Konfirmation musste Großpapa Brauerlehrling werden und das Elternhaus verlassen. Sein Vater konnte ihm außer einem Fünf-groschenstück nichts mitgeben als den Rat: „Fürchte Gott, tue Recht,scheue niemand!“ Nach diesem Wahlspruch hat er gelebt. Nach einigen Jahren selbständiger Arbeit in Simenau kaufte Großpapa im Jahre 1861 die Namslauer Schlossbrauerei, wofür ihm sein Bruder Karl das Geld geliehen hatte. Und hier erwuchs der Familie durch Großpapa großes Glück. In der Haselbachschen Familiengeschichte heißt es von ihm:
„Der Bedeutung seiner Persönlichkeit entsprachen die außergewöhnlichen Ehrungen anlässlich seines Heimganges. Sie zeigten, welche Wertschätzung und welches Vertrauen er sich in allen Schichten der Einwohnerschaft der Stadt und des Kreises, ja weit über dessen Grenzen hinaus, erworben hatte. Er war ein Mann von hoher Intelligenz, von unbeugsamer Tatkraft, unermüdlichem Unternehmergeist, eisernem Fleiß, schlicht, bieder, herzgewinnend. Ein treusorgender Familienvater, väterlich auch zu allen seinen Angestellten und Arbeitern, den Armen ein hochherziger Wohltäter, in der Verwaltung der Stadt Namslau, deren Ehrenbürger er war, lange Jahre ein selbstloser Helfer.“
Er gehörte nicht nur der Stadtverwaltung, sondern auch dem Kirchengemeinderat und dem Kreistag an und hat auch dort viel segensreiche Arbeit geleistet. Kein Wunder, dass wir auf solchen Großvater stolz waren. Großpapas Bruder Karl, von dem schon zweimal die Rede war, wurde Landwirt und ließ sich schon jung in Schlesien nieder. Er war ein Glückspilz; denn er gewann ein Viertel des großen Loses der preußischen Klassenlotterie und kaufte sich das herrliche Rittergut Blumenau in Oberschlesien. Seinen Lotteriegewinn konnte er außerdem gut für seine große Familie gebrauche; er hatte aus zwei Ehen 26 Kinder.
Der Bruder meines Mannes, Major Julius Weber, der Familienforscher war, wollte mir diesen Kinderreichtum nicht glauben, das sei nur eine Familiensage. Aber als er später die Familiengeschichte des Geschlechtes Haselbach – Hasselbach schrieb, stellte er tatsächlich alle 26 Kinder fest.
Sich aus dieser Verwandtschaft herauszufinden, ist mir mein Leben lang nicht geglückt. Immer tauchten neue Vettern und Nichten auf, die ich noch nicht kannte. So im Jahre 1928 in Lichterfelde[4]eine Krankenschwester, die meinen Schwager Julius und später meinen Bruder Curt im Krankenhaus gepflegt hat.
Großpapas Bruder Theodor (1818-1908) hatte eine Zinngießerei in Berlin.Er war der Erfinder der Zinnsoldaten, die sich schnell im In- und Ausland großer Beliebtheit erfreuten. Meine Brüder besaßen auch zwei Armeen mit allen Waffengattungen, mit Gulaschkanonen und Sanitätskolonne.
An schulfreien Regennachmittagen wurde der große Esstisch ausgezogen, die Armeen in Schlachtordnung aufgestellt, und der Krieg begann. Wir Schwestern guckten zu, wenn die Kanonenkugeln alias Erbsen hin- und herflogen und uns das wechselnde Schlachtenglück in Spannung hielt. Papa kam dann manchmal zur Kritik; er war unsere anerkannte Autorität auf diesem Gebiet. Denn er hatte ja drei Kriege als Frontsoldat mitgemacht: 1864, 1866 und 1870/71. Bei der Belagerung von Belfort bekam er als Leutnant das Eiserne Kreuz. Sein Bruder Richard war bei Mars-la Tour[5] gefallen.
Oft baten wir unseren Vater, er möge uns schlimme Kriegserlebnisse erzählen. Das tat er nie, sondern berichtete uns nur von den komischen Episoden, über die wir alle lachen mussten. Er erlaubte uns nie, dass wir zusahen, wenn er auf der Jagd ein Wild erlegte. Dafür schmeckten uns dann die Reh-, Hasen-, Fasanen- und Rebhühnerbraten um so besser.
Doch ich schweife ab; ich muss ja noch die Vorfahren meiner Großmutter Beate Haselbach geb. Passek (1819-1898) erwähnen. Sie war die Tochter des Erbscholtisei-besitzers Gottlieb Passek (1779-1866) auf Nieder-Ellguth und ist dort auch geboren. Ich war die Glückliche, der Großmama besonders viel von ihrer Jugend erzählte; denn da ich als Kind sehr zart war, wurde ich monatelang „auf die Weide“ zu den Großeltern geschickt und war deshalb ihr verwöhnter Liebling.
Über die gemeinsamen Ahnen hat Gustav Freytag in seinen Lebenserinnerungen viel Interessantes ausgesagt. Er war ein Verwandter von Großmama, und da alle Sippenglieder eng verbunden waren, wurde auch diese Verwandtschaft gepflegt. Großmamas Großmutter Susanne Passek geb. Freytag (1741-1828), geboren in Schönwald, war die Schwester von Gustav Freytags Großvater. In Schönwald hat Großmama bei den beiderseitigen Großeltern den später so berühmt gewordenen Vetter öfters getroffen.
Schönwald und Nieder-Ellguth waren Erbscholtiseien; der Name bedeutet, dass das Schulzen-, heute würde man sagen Bürgermeisteramt, erblich mit dem Hof verbunden war, der Besitzer also immer Schulze wurde. Außerdem waren die Erbscholtiseien Minorate und kamen somit immer in die Hand des jüngsten Sohnes. Das war eine weise Einrichtung; denn da die Landwirte meist jung heirateten, war der Hofbesitzer im besten Mannesalter, wenn der älteste Sohn erwachsen war und selbständig schaffen wollte. So wandten sich die übrigen Söhne of gelehrten oder geistlichen Berufen zu (Gustav Freytags Vater wurde Arzt) oder heirateten auf andere Höfe, wo ein Sohn fehlte. Die Erbscholtisei Schönwald mit 160 ha Grundbesitz war seit dem Jahr 1700 in der Familie Freytag, bis im Jahr 1945 die letzte Besitzerin vertrieben wurde.
Wenn mir Großmama von ihrer Jugend erzählte und auch von dem Leben auf diesen Bauerngütern, da wurde mir klar, dass früher alles viel schlichter und einfacher zuging, dass aber das religiöse Leben reger war. Die Menschen stellten sich in den Schutz Gottes, Gottes Güte leitete sie. Wie gern wollte auch ich solch ein Leben führen. Je älter ich werde, um so mehr sehe ich an mir und anderen, dass in uns das Göttliche zum Leben kommen und wachsen will. Wir müssen uns ihm nur offen und bereit halten, und dabei hilft uns auch das tägliche Lesen in der Heiligen Schrift, im Neuen Testament.
Christus nennt das Unnennbare Vater. Unser Vater, von dem wir alle herkommen, bei dem wir geborgen sind. Und die Bibel sagt: „Er tröstet, wie einen seine Mutter tröstet.“ Vater und Mutter in einem. Kann man es mit unseren schwachen menschlichen Worten wohl schöner und besser ausdrücken?
Was für ein Glück war es für uns, die Großeltern so nahe zu haben! Unsere Wohnung lag nur durch die kleine Stadt von ihnen getrennt. Wir bewohnten die geräumige erste Etage und das Dachgeschoss der „Heinzelmannvilla“, die einem Herrn Heinzelmann gehörte. Auf dem großen Balkon vor dem Esszimmer wurde im Sommer Abendbrot gegessen, da blickte man überall ins Grüne. Hinter dem Haus war unser Garten mit großem Rasenplatz, mit vielen Blumenbeeten, unzähligen Fliederbüschen, zwei Buchenlauben und mit mächtigen Bäumen, auf denen wir unsere Kletterkunststücke vollführten. Eine Eiche hatte es uns besonders angetan. Wenn ich da hinauf von meinen Brüdern verfolgt wurde, schwang ich mich an einer bestimmten Stelle wie ein Eichhörnchen auf die daneben stehende Buche, wohin mir meine Brüder nicht folgen konnten.
Als ich im Frühjahr 1944 zum letzten Mal in Namslau war, ging ich mein Geburtshaus wiederzusehen. Wie sehr hatte es sich verändert; hoch vornehm sah es aus in seinem modernen Gewand. Doch unser Garten war verschwunden und hatte einem großen Asphaltplatz und einer Autoreparaturwerkstatt weichen müssen. Auch unser Spielplatz, mit Schaukel, Reck und Barren war verschwunden. Nur unsere alte Eiche war geblieben; sie war noch schöner und stattlicher geworden, ich winkte ihr einen stummen Gruß zu. Dahinter dehnten sich noch immer Felder und Wiesen bis an den Fluss. Ob jetzt polnische Kinder dort spielen und im Winter rodeln und Schlittschuh laufen mögen wie wir es getan? Die Heinzelmannvilla soll heute noch stehen, dagegen ist das großelterliche Haus niedergebrannt worden. Im alten Schloss sollen die Polen ein Museum untergebracht haben. Schon einmal, im Jahre 1883, war unser Großelternhaus durch eine schreckliche Feuersbrunst vernichtet worden. Und nicht nur das Wohnhaus sondern auch die Brauerei und die Mälzerei brannten ab. Von unserem Dachfenster aus sahen wir Kinder, wie der ganze Himmel immer röter wurde und die Flammen hoch hinauf schlugen. Uns zitterte das Herz, und wir bangten nicht nur um Großeltern und Onkels, sondern auch um unsere Eltern, die durch den dunklen Winterabend sofort hingelaufen waren, um ihren Lieben beizustehen. Zum Glück war damals schon das neue Wohnhaus im Rohbau[6] fertig und konnte im Sommer bezogen werden. Wir trauerten aber lange dem alten Haus mit seinen Winkeln, düsteren Treppen und Gängen nach, in denen man sich so gut verstecken konnte. Da wir jeden Sonn- und Feiertag bei den Großeltern waren, liebten wir jedes Eckchen und hatten genügend Platz, um uns auszutoben. Bei kühlem Regen- oder Schneewetter war das Buchhalterzimmer unser Revier; die Büroangestellten aßen dort nur Mittagbrot, in der übrigen Zeit gehörte es uns! Ein riesiges Sofa mit schwarzem Wachstuch bezogen, mit weißen Porzellanknöpfen verziert, musste unsere wilden Springkunststücke erdulden. Seine breiten, gepolsterten Seitenlehnen waren unsere Rutschbahn. Ein mächtiger Kachelofen spendete im Winter behagliche Wärme; eine alte, buntbemalte Bauernuhr tickte quäkend dazu und verkündete mit knarrendem, rasselndem Schlag die Stunden, ich habe heute noch diesen Klang im Ohr.
Im neuen Haus gab es dann viele moderne Zimmer, aber so heimelig wie das Buchhalterzimmer war keins, auch keins in unserer Heinzelmannvilla. Dort war alles Licht und Leben, das von unserer fröhlichen Mutter ausstrahlte. Papa war eine ruhige, ernste Natur, der uns Kindern wohl mit seinen geschickten Händen Schattenbilder an die Wand zauberte oder an Winterabenden die bunten Bilder der Laterna magica vorführte, sonst aber sehr selten mit uns spielte. Ich kann mich nicht erinnern, je ein nervös zorniges Wort von ihm gehört zu haben, auch hörte man ihn nie schelten. Hatten meine Brüder etwas ausgefressen, dann war ohne viel Worte die selbstver-ständliche Folge, dass Papa ihnen eine Tracht Prügel verabfolgte. Ich erinnere mich genau, dass ich bei Ankündigung einer solchen Katastrophe leise schluchzend davonlief, während die beiden Brüder nur trotzige Gesichter aufsetzten. Wenn wir Mädchen unartig waren, bekamen wir von Papa ein strenges Wort zu hören, oft genügte schon ein ernster Blick.
Die Geschwister
Mama war stets geduldig und lieb; ich glaube, sie hätte es nicht übers Herz gebracht, uns fünf wilde Rangen zu strafen. Wenn wir es zu toll trieben, dann wurde sie traurig, – und das brachte uns zur Besinnung. Meine Schwester Else[7], ein Jahr älter als ich, war sehr eigenwillig und machte es Mama oft schwer. Und gerade sie wurde die liebevollste Mutter und aufopfernd hilfsbereit gegen mich und die Meinen. Nach mir kam Curt, ein Jahr jünger als ich, unser geschickter Bastler, der spätere Schiffsbaumeister, Diplom-ingenieur und dann Farmer. Dann Franz, eine selten harmonische Natur, der die besten Eigenschaften beider Eltern geerbt hatte. Er wurde Offizier und fiel im Jahr 1918 in Frankreich. Unser Jüngstes, fünf Jahre jünger als ich, die schüchterne, zierliche Martha, die mit mir die einzige Lebende unseres großen Geschwisterkreises ist. Die Einzige, die die Goldene Hochzeit feiern konnte und noch das Glück hat, ihren Lebensgefährten zur Seite zu haben. Mama ging oft mit uns spazieren, und unser Ziel war meist der Wald, wo wir Papa von der Jagd abholten. Was für eine Wonne war es Blumen zu pflücken! So herrliche, wie in den Namslauer Wiesen, gab es wohl auf der ganzen Welt nicht noch einmal! Und über uns tirilierten die Lerchen, mit denen wir um die Wette sangen. Wenn wir so durch die Gegend streiften, dann wurden alle Märchen um mich lebendig. Ein Erlebnis ist mir fest in der Erinnerung geblieben: ich ging allein, um an den Feldern hinter unserm Garten Kornblumen zu pflücken. Da kroch ich in eine Furche, die Roggenähren schlugen über meinem Kopf zusammen, es duftete wunderbar und war so verwunschen, so märchen-haft, dass ich gespannt horchte; nun musste die Kornfee kommen und mich in ihr Reich führen. Da ertönte von unserm Garten her Stimmen: „Leni, komm schnell, es sind Gäste da.“ Erst verkroch ich mich noch tiefer in meinem Versteck. Da aber die Rufe immer dringender wurden, musste ich folgen und hörte, dass Bekannte mit ihren langweiligen Kindern gekommen seien, mit denen ich spielen sollte. Ach, die waren so steif, so geziert, strichen und zupften immer an ihren eleganten Kleidern herum und sahen verächtlich auf unsere Spielanzüge, die ruhig mal Flecken bekommen durften, ohne dass das Fräulein schalt. Unsere täglichen Spielkameraden waren uns lieber, meist Arbeiterkinder unserer Nachbarschaft, mit denen konnte man doch was anfangen. Erlebte ich im Sommer meine Märchen in Feld, Wald und Garten, so spann ich bei trübem Wetter im Zimmer weiter. Wie gern saß ich mit einer Handarbeit auf dem erhöhten Fensterplatz meiner Mutter und guckte oft verstohlen auf die Straße. Da kam gewiss bald der Prinz mit seinem von vier Schimmeln gezogenen Wagen und holte mich auf sein Schloss. Der Prinz kam aber nie. Dagegen stand eines schönen Wintermorgens ein Märchen-schlitten vor unserm Haus. Er hatte die Form einer Muschel, außen silberglänzend, innen mit hellblauem Tuch ausgeschlagen, darüber eine weiße Felldecke zum Zudecken. Das Pferdchen hatte, wie uns schien, silberne Glöckchen und auf Kopf und Rücken wippende weiße und hellblaue Rossschweife. Und dieser Zauberschlitten war uns von unserer schönen jungen Tante Kläre, Onkel Alberts Frau, zugeschickt worden, die ihn von ihrem Mann als Weihnachtsgeschenk erhalten hatte. So lange hoher Schnee lag, sollten wir nun alle Morgen damit in die Schule fahren. War das ein Jubel! Der ganz in Pelz gehüllte Kutscher bat uns einzusteigen, und fort ging die lustige Fahrt. Natürlich staunten unsere Schulkameraden und wollten mitgenommen werden. So landeten wir schließlich an der Schule als ein Knäuel von Köpfen, Armen, Beinen und Schulranzen, den das kleine Pferdchen kaum ziehen konnte. Wie sehnlichst wünschten wir, dass der Schnee nie verschwinden möchte! Wir sind wohl im Winter nie so schnell aus unseren Betten gesprungen, wie zur Zeit dieser Schlittenfahrten.
Konnte ich mich selig über all das Schöne freuen, was wir erlebten, so quälten mich andererseits meine Sünden tief. Zwei Ereignisse, die das zeigen, haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt. Unsere Älteste, Else, kam ins Internat nach Gnadenberg, unsere Mutter begleitete sie. Nun rückte ich daheim zur Ältesten auf und sollte den Geschwistern als gutes Beispiel dienen. Gleich an einem der ersten Abende kam ein Karussell nach Namslau und hatte seinen Standort in der Nähe unserer Wohnung. Papa erlaubte uns hinzugehen, übertrug mir die Aufsicht über die Kleinen und mit der Mahnung: „Leni, Du sorgst dafür, dass Ihr um ½ 9 Uhr wieder daheim seid!“ wurden wir entlassen. Wir rannten los und standen bald vor dem sich drehenden Wunderwerk. War da eine Lichterpracht mit glitzernden Perlengehängen, funkelnden Spiegeln und wehenden Blüten. Und dann die Pferde, Löwen, Schlitten und Gondeln, die zum Einsteigen einluden! Wir schwelgten im Genuss all dieser Herrlichkeiten; die Zeit war vergessen, bis unser Fräulein uns holen kam mit der Bemerkung: „Papa istsehr böse!“ Kleinlaut, mit klopfendem Herzen schlich ich mich mit den Geschwistern heim. Papa sah uns streng an und sagte zu mir: „Das darf nicht wiedervorkommen!“ Schluchzend gab ich ihm den Gutenachtkuss und ging zu Bett. Doch an Einschlafen war nicht zu denken, mein Vergehen ließ mir keine Ruhe. Nebenan saß nun Papa und las, ich hörte das Rascheln der Zeitung. Ein schmaler Lichtstreifen lag auf unserer Schwelle, den ich nicht aus den Augen ließ. Wie musste Papa sich grämen, das ich so pflichtvergessen gewesen war. Ich hielt es nicht länger aus, sprang aus dem Bett, lief zu ihm, schmiegte mich an ihn und bat um Verzeihung. Überrascht sah er mich an, schien gar nicht mehr an meine Sünde gedacht zu haben, streichelte mich liebevoll, er habe mir längst verziehen und schickte mich wieder ins Bett. Wie befreit und glücklich schlief ich ein.
Ein anderes, ungebeichtetes Vergehen hat mich monatelang nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich war ein Naschkätzchen. Rosinen und Mandeln in Mamas Vorratsschrank zogen mich unwiderstehlich an und ich mauste sie, sobald ich den Schlüssel erwischen konnte. Gewiss war es mein natürlicher Instinkt, die mir fehlenden Vitamine zu bekommen, wie zu Rachitis neigende Kinder Kohle und Kalkstaub in den Mund stecken. Diese Art zu naschen belastete wunderbarer Weise mein Gewissen kaum. Aber da kam ein schöner Sonntag im Sommer. Im großelterlichen Garten waren neue Himbeerstöcke gepflanzt, die zum ersten Mal herrlich süße, große Beeren trugen. Es waren wenige Früchte, nach denen die Erwachsenen nicht fragten, die wir Kinder aber mit Wonne aßen. Wir gingen zur Kirche, ich hielt mich zurück, und während die Andern im Gotteshaus verschwanden, drückte ich mich ungesehen hinter die Büsche und lief dann schnurstracks zu den Himbeeren. Da leuchteten sie in nie gesehener Größe und schmeckten, ach, so köstlich. Nicht eine einzige ließ ich für die Geschwister übrig und war längst mit meinem Schmause fertig, als die Glocken das Ende des Gottesdienstes verkündeten. Ich mischte mich unter die Kirchgänger, niemand hatte mein Fernbleiben gemerkt. So schien ja alles gut für mich abgelaufen zu sein. Doch mein Gewissen klagte mich schrecklich an, riesengroß stand meine Schuld vor mir. Hatte ich nicht den Heiland verraten, da ich dem Gottesdienst ferngeblieben war, um meinen Geschwistern beim Himbeeressen zuvorzukommen? Ich wagte mich niemandem anzuvertrauen, und so lag die Sünde schwer auf meiner Seele.
Nun möchte ich aber doch noch einmal zurückgehen und das erste Kindheitserlebnis schildern, das mir im Gedächtnis geblieben ist. Es knüpft an eine goldene Wundernuss an. Ich war drei Jahre alt, hatte Nierenentzündung und musste heiße Bäder bekommen. Das brachte mich zu bitterem Weinen. Meine Mutter tröstete mich mit Schwimm-tierchen und allerhand Kunststücken, nichts beruhigte mich. Da erschien die TanteFriedrichen und brachte die goldene Wundernuss; die hing an einem Faden. Wenn man sie auf die Wasserfläche niederließ, klappte sie auf und darin lag ein winzig kleines Jesuskind. Ich staunte voll innerer Seligkeit und vergaß, wie heiß das Badewasser war.
Wir fünf Biederkinder waren zäh, machten aber alle Kinderkrankheiten intensiv durch. Und da gab es niemanden, der so liebevoll pflegte, wie unsere Mutter. Man hatte damals noch wenige Erleichterungen für Kranke. Besonders unser Hausarzt gehörte wohl zu den derben Naturen, die mit Alkohol und anderen scharfen Mitteln jung und alt wieder zu Kräften bringen wollte. Und wenn ich z.B. nach einem Glas Madeira müde wurde und Kopfschmerzen bekam, war das Mittel vielleicht nicht stark genug. Das Fiebermessen war schwierig. Die Thermometer waren zwar doppelt so lang, wie die jetzigen; die Quecksilbersäule sank aber sofort, sobald man das Thermometer vom Körper entfernte. Bei Tageslicht ließ sich die Höhe leicht ablesen, bei Dunkelheit musste eine Kerze herangebracht werden (elektrische Taschenlampen gab es natürlich noch nicht). Ich hatte jedes Mal Angst, Mamas Haare oder mein Nachthemd könnten Feuer fangen. Um das Fieber herabzudrücken, mussten wir schrecklich bitteres Chinin-pulver schlucken. Wir bildeten uns ein, dass davon die beängstigenden Träume kamen, unter denen ich besonders litt. Es waren immer dieselben: eine Horde wilder Tiere polterte unsere Treppe hoch, trat die Türen ein und wollte auf mein Bett losstürmen. Oder Schlangen ringelten sich an meinem Körper hoch; ich musste steif liegen bleiben, um nicht gebissen zu werden. Der schlimmste Traum war folgender: ich musste in einem kleinen Kasten blitzschnell in eine schwarze, unergründliche Tiefe fahren. Wenn ich dann mit klopfendem Herzen erwachte, stand meistens schon Mama an meinem Bett, die durch mein Wimmern und Stöhnen geweckt worden war, gab mir vom bereitstehenden Himbeerwasser, schüttelte mein Kopfkissen auf und deckte mich zu. Welche Ruhe und Geborgenheit gingen von ihr aus. Nun schlief ich weiter.Als wir alle Fünf Scharlach hatten, steckte sich sogar Papa an, ebenso das Kinderfräulein, und Mama pflegte uns alle mit rührender Geduld und Liebe. Wie mag sie, die doch so zart war, das ausgehalten haben! Was eine Mutter leistet, wird uns ja immer dann erst klar, wenn wir selbst Kinder haben.
Nach der Krankheit bekam mein Vater längeren Erholungsurlaub, und nun begann der schönste Frühling meiner Kindheit. Täglich gingen wir mit Papa frühmorgens in seinen geliebten Wald, wo er jeden Baum und Strauch kannte. Große Stellen waren dort blau von Leberblümchen, wie ich sie in solchen Mengen sonst nie gesehen habe. Papa zeigte uns die Vögel und ihre Lebensweise, lehrte uns ihren Gesang unterscheiden, lockte den Kuckuck; ja, auch der Rehbock kam auf sein Fiepen zaghaft heran, wenn wir uns mucksmäuschenstill hielten.
Einmal gingen wir Kinder allein, um Veilchen zu suchen. Da fand ich einen ganz jungen Hasen, den wohl die Mutter beim Heranbrausen von uns tobender Schar verlassen hatte. Selig legte ich ihn in mein Körbchen, ohne weiter auf Veilchen zu achten, und brachte ihn heim. Ich zog ihn mit der Flasche auf, machte ihm in einer Kiste neben meinem Bett ein weiches Lager und fuhr ihn im Puppenwagen spazieren. Dort hielt er es aber bald nicht mehr aus, so band ich ihm ein hellblaues Band um den Hals und ließ ihn springen. Wochenlang ging es gut; doch eines Tages muss er wohl etwas Schädliches gefressen haben, er bekam Krämpfe, noch ein paar Zuckungen, und er war tot. Mein Schmerz war grenzenlos; stundenlang schluchzte ich herzzerreißend. Mama nahm mich liebkosend in ihre Arme, nichts half. Da trat Tante Lieschen, Mamas Schwester, zu uns und meinte: „Das solch ein kleines Kind schon einen so tiefen Schmerz fühlen kann!“ Das empörte mich sehr, und ich dachte: die großen Menschen können bestimmt niemanden so lieb haben, wie ich mein Häschen! Ja, die großen Leute, wie selten verstanden sie uns Kinder! Natürlich mit Ausnahmen und zu diesen gehörten Onkel Albert und Onkel Paul, die beiden jüngeren, damals noch unverheirateten, Brüder meiner Mutter.
Von Onkel Paul hieß es später in einem Lied an seinem Polterabend:
Paul als kleines Bübchen
War gar verwegen und keck,
Blieb nie im Kinderstübchen,
Nein, lief gewöhnlich weg.
Es war zu hoch kein Baum ihm,
Kein Graben ihm zu breit.
Gar schwer hielt man im Zaum ihn
Zu seiner Eltern Leid!
Paul, weißt Du’s noch?
Es gab da manchen Krach!
Daran denkt heut noch
Familie Haselbach!
Mit kleinen Abänderungen passten diese Verse auch auf uns fünf Biederkinder, und wenn die Onkel sich was Lustiges für uns ausdachten, waren wir für jeden Streich bereit. Harmlos, aber voller Reiz, war das Drachensteigen lassen. Dabei wurde Kartoffelfeuer angezündet, und nichts schmeckte köstlicher, als diese verkohlten Erdäpfel, besonders, wenn dann Onkel Paul noch Salz und Schweineschmalz aus der Tasche zog und dies uns zur vollendeten Verbesserung der Mahlzeit schenkte. Unsere Mädchen waren meist auch unserer Freunde. Mama hatte stets drei Hilfen im Haushalt: die Köchin, das Stubenmädchen, das Kinderfräulein. Es gab ja mehr Arbeit als heute. Da waren die vielen Petroleumlampen, deren Reinhaltung und Füllung große Sorgfalt und Übung verlangten. In den meisten größeren Häusern gab es Lampen-stuben, die entfernt von der Küche lagen; denn Petroleumgeruch ist gefährlich für die Lebensmittel. Wasserleitungen kannte man in Privathäusern noch kaum. Großpapa war in Namslau der Erste, der sie in sein neues Haus einbauen ließ. Bei uns wurde das Wasser in großen Kannen von der Pumpe geholt, die auf der gegenüber liegenden Straßenseite lag. In der Küche befand sich ein hoher, hölzerner Wasserbehälter, die Stande genannt, der mehrmals am Tag gefüllt werden musste. Auch Badezimmer gab es noch nicht. Für uns Kinder wurde für das Bad am Samstag abend eine große Holzwanne aus der Waschküche geholt, das Badewasser aus der Küche. Beim Geschirrspülen gab’s die heutigen Hilfsmittel natürlich noch nicht. Zwei große Holzwannen ersetzten den Spültisch, an der einen hing ein Gefäß mit weißem Sand. Man machte sich nun jeden Tag neu ein festes kleines Bündel aus Stroh und scheuerte damit Teller und Töpfe sauber. Danach wurde das Geschirr in der zweiten Holzwanne klar gespült. Im Winter machten die riesigen, bis fast zur Decke reichenden Kachelöfen nur morgens Mühe. Am Abend wurde wurden zwar als Vorbereitung Papier, klein gespaltenes Holz, einige große Stücke und etwas Kohle in die Ofenlöcher getan; das ging schnell, und ich half gern dabei, den kleinen Scheiterhaufen kunstgerecht aufzuschichten. Früh morgens, wenn alles noch schlief, ging das Mädchen mit einer brennenden Kerze von einem Ofen zum andern, steckte in jeden einen angezündeten Fidibus (so nannte man ein Stückchen eng zusammengerolltes Papier), und schon fing es lustig an zu knistern und zu prasseln. Von meinem Bett aus konnte ich das Flammen- und Funkenspiel blinzelnden Auges beobachten; da lag man noch einmal so gern unter der warmen Decke. Wenn das Mädchen den letzten Ofen besorgt hatte, war es Zeit, im ersten die gute oberschlesische Steinkohle aufzuschütten, bis in allen Öfen genügend Glut vorhanden war. Nun wurden die Ofentüren geschlossen und wohltuende, gesunde Wärme erfüllte die Zimmer bis zum nächsten Morgen. Ich kann mich nicht besinnen, das selbst bei scharfem Frost die Öfen zweimal geheizt wurden. Dabei hatten wir immer sehr sehr lange, strenge Winter. Und da fanden wir die herrlichsten Freuden auf der Eisbahn. Meine Eltern liefen beide sehr gut Schlittschuh, wir Kinder fingen mit fünf Jahren damit an. Wochenlang ging es dann nachmittags täglich aufs Eis. Lag Schnee bei starkem Frost, dann schnallten wir uns die Schlittschuhe schon im Haus an und liefen über die Wiesen zum Fluss der Weide. Er war zwar nie ganz zugefroren, weil er eine starke Strömung hatte. Nur der Rand trug uns; aber durch das Steigen und Sinken des Wassers war dort das Eis brüchig und hohl. Das knackte und splitterte, wenn wir darüber liefen und war ein bisschen unheimlich, so dass wir froh waren, wenn wir die richtige Eisbahn auf den über-schwemmten Wiesen erreicht hatten. Wenn in den Weihnachtsferien Großpapas Teich zugefroren war, gab es manchmal abends ein Eisfest mit Pechfackelbeleuchtung, bengalischen Flammen, Lampions, Musik, mit Punsch und Pfannkuchen. Dann strömte ganz Namslau zusammen, dass wir fürchteten, das Eis könne zusammenbrechen. Und die Schule? Wir gingen gern hin, das Lernen machte uns Spaß, es war ja für uns keine Last noch Bürde. Wir lachten über das oft sehr gezierte Wesen unserer dicken Vorsteherin, spielten wie alle Schulkinder unseren Lehrern ab und zu einen dummen Streich, taten aber meist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Gute Zeugnisse waren eine Selbstverständlichkeit: wir hätten uns geschämt, wenn es anders gewesen wäre. Denn in einer so kleinen Stadt wie Namslau wurde ja gleich alles bekannt. Und wir mussten doch unsern Eltern und Großeltern Ehre einlegen. Die Hauptsache war, dass die Schul-arbeiten schnell, womöglich schon vor dem Mittagessen, also eine Stunde nach Schul-schluss, erledigt wurden. Schule und Lernen gehörten eben zum Leben, wie Regenwetter und Sturm, waren aber nicht das Leben selbst. Das waren unsere Liebhabereien, das waren unsere Spiele. Bei vielen lernten wir auch eine Menge z.B. beim Zitatenlotto mit seinen deutschen, französischen und lateinischen Versen. Der Ausrufer las vom Kärtchen den Anfang der Verse vor, die anderen Mitspieler mussten auf ihren Karten die Fortsetzung suchen und zudecken. Wir kannten bald alle Verse auswendig und hatten uns angewöhnt, sie im täglichen Leben zu gebrauchen. Als wir dies beim Besuch eines viel gereisten Onkels taten, uns „time is money“ oder omnia mea mecumporto zuriefen, als wir ihn dann noch fragten: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? sagte er erstaunt zu Mama: „Habt Ihr gelehrte Kinder!“ Wir waren damals 7-13 Jahre alt! Lachend zeigten wir ihm unser Spiel, und da merkte er, wie oberflächlich unsere Gelehrsamkeit war.
Tiefer gingen dann schon unsere geographischen Kenntnisse, die wir uns durch das Geographielotto erworben hatten. Da bekam jeder Mitspieler eine andere Landkarte, worauf die wichtigsten Städte rot unterstrichen waren und nach und nach vom Ausrufer vorgelesen wurden. Man suchte die Orte auf seiner Karte und steckte ein Fähnchen dran. Wehe, wenn man z.B. Barcelona in Südamerika oder Sansibar in Indien suchte, da wurde man tüchtig ausgelacht. Ich glaube, dass keine spätere Generation so unbeschwert, so selig spielen konnte, wie wir es getan. Meine Kinder lebten im Ersten Weltkrieg; dann kam die schreckliche Zeit, in der das Geld, von dem wir kaum etwas gehört hatten, so entsetzlich wichtig wurde. Die seelische, politische und materielle Not drang in jede Familie und überschattete die Kindheit. Meinen Enkeln wurde der Zweite Weltkrieg furchtbare Gegenwart. Trotz ihrer glücklichen Elternhäuser ist auch für sie das Leben viel ernster und schwerer geworden, und sie können sich kaum vorstellen, wie es in meiner Kindheit war. Alles hat ein anderes Gesicht bekommen, und von jedem Einzelnen wird große Verantwortung verlangt. Die Härte des Lebens erfahren selbst die Kinder täglich durch Radio, Kino, durch Zeitungen und illustrierte Zeitschriften. Was gab es davon in meiner Kindheit? Fast nichts! Das Telefon wurde gerade erst eingeführt, die Fotografie steckte in den Kinderschuhen, es gab ja noch nicht einmal Ansichtspostkarten! Uns blieben Rohheit, Gewalttaten, Schmutz und Gemeinheit fern.
In unseren Eltern und Großeltern hatten wir herrliche Vorbilder, denen wir unbewusst nachstrebten. Von Großpapa lernten wir sozial denken und handeln. Im kleinen Namslau verschaffte er Hunderten von Menschen Arbeit und Brot. Man lebte zufrieden und gemütlich. Wenn Not und Elend einkehrten, wurden sie bekämpft und gemildert. Wenn sich Großpapa eine Gelegenheit bot, hilfreich zu wirken, nützte er sie aus. Dafür nur einige Beispiele:
Die Namslauer Bäckermeister bezogen ihre Hefe aus der Brauerei. Sie bekamen sie umsonst unter der Bedingung, für eine bestimmte Menge Brot zu bringen, was sehr vorteilhaft für sie war. Diese Brote wurden regelmäßig an die Armen der Stadt verteilt. Nun gewöhnten sich einige Bäcker an, minderwertige Ware, die sie sonst nicht loswurden, abzuliefern. Als das Großpapa hörte, wurde er recht böse und ordnete an, dass diesen Meistern keine Hefe mehr abgegeben werden durfte. Reumütig gelobten die Sünder Besserung, und fortan fand sich im Kontor kein missratenes Brot mehr an.
Ein anderer Fall: beim Bierbrauen fließt viel reines, heißes Wasser ungenützt ab. Da ließ Großpapa durch die Mauer nach der Straßenseite eine Leitung legen. Und nun kamen die in der Nähe wohnenden Hausfrauen mit Kannen und Eimern, um ohne große Mühe und Kosten ihren Bedarf an heißem Wasser zum Waschen, Kochen und Spülen zu decken.
Einmal, man saß gerade beim Mittagbrot, meldete das Mädchen, ein Musikant bäte, den Herrschaften etwas vorspielen zu dürfen. Mein Großvater fragte: „Was macht er für einen Eindruck?“ worauf das Mädchen erwiderte: „Er ist nicht mehr jung und hat wohl bessere Tage gesehen.“ „Dann führe ihn herein und lege noch ein Gedeck auf“, ordnete Großvater an. Er ging dem kränklich und gedrückt aussehenden Fremden entgegen, schüttelte ihm herzlich die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. „Wollen Sie uns die Freude machen mit uns zu essen?“ Danach wäre es sehr schön, wenn Sie uns etwas vorspielten!“ Der Geiger nahm die Einladung hocherfreut an, ließ sich das gute Essen herrlich schmecken, trug einige Sachen vor und zog reichlich belohnt von dannen. Die selbstverständliche Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit von Großpapa gewannen ihm alle Herzen. Geldsorgen gab es nicht, wir kannten auch nicht die Wichtigkeit des Geldes. Für uns war es nur insofern von Wert, als man sich damit kleine Extrafreuden verschaffen konnte, etwa Limonade oder Honigbonbons, Karussellfahren oder auf den Jahrmarkt gehen. Wenn man dafür 10 Pfennig bekam, fühlte man sich reich und glücklich. Sonst wurde nie von Geld gesprochen oder von Preisen. Zwar erzählten manchmal die Großen von guten Geschäften oder reich gewordenen Leuten, das hatte mit Klugheit und Tüchtigkeit zu tun. Aber dass das Geld zum Leben unbedingt notwendig war, darüber machten wir uns keine Gedanken. Ich besinne mich, dass mir Onkel Paul einmal einen Packen Geldscheine in die Hand drückte (es mögen viele tausend Mark gewesen sein) und zu mir sagte: „Wenn es Dich glücklich macht, schenke ich es Dir!“ Ich schüttelte lachend den Kopf und gab es ihm zurück. Was sollte ich mit dem bedruckten Papier anfangen? Ja, ein Goldstück, wie es uns Großpapa zum Geburtstag schenkte! Das konnte man in die Sparbüchse werfen, es gab einen hellen Klang, und wenn man erst konfirmiert war, konnte man sich damit etwas Herrliches kaufen. Soviel ich mich besinne, fingen die Scheine erst bei 100 Mark an; doch wer war so leichtsinnig, soviel Geld in der Tasche zu tragen? Es gab die blanken Taler (3 Mark) und in reichlicher Menge die goldenen 10- und 20-Mark-Stücke[8], die man auch in beliebiger Menge ins Ausland mitnehmen konnte. Auch Maße und Gewichte waren anders als heute. Eier wurden nach Mandeln (1 Mandel = 15 Stück) oder nach Schock (60 Stück) verkauft. Kirschen und Beerenobst nach „Gemäßeln“ (1 ½ oder ¼ Liter); es gab noch keine Waagen auf den Wochenmärkten. Stoff wurde mit der Elle gemessen, trotzdem der Meterstab und das Zentimetermaß schon eingeführt waren. Man brauchte im täglichen Leben sehr viele Fremdwörter wie Perron (Bahnsteig), Coupé (Wagenabteil), Barriere (Schranke), Paravent (Windschutz) usw. Erst in den achtziger Jahren versuchte man energisch, die Reinheit der deutschen Sprache wieder herzustellen. Wir machten uns darüber keine Gedanken. Wir gaben uns mit Begeisterung unseren Spielen hin. Am lustigsten war es, wenn in den Ferien bei den Großeltern mit den Verwandten aus Brieg und Breslau zwölf Enkel zusammenkamen. Sie waren alle phantasiebegabt und brachten die schönsten Pläne zur Ausführung.
Auf Großpapas riesigem Holzhof, der zur Böttcherei[9] gehörte, ließen sich aus Brettern, Stangen und Kisten die großartigsten Wohnungen bauen, die meistens von drei Familien bezogen wurden. Wir waren neun Mädchen, aber nur drei Jungen, die dann die Väter spielen mussten; denn ohne Vater war keine Familie denkbar. Unser Brieger Onkel war Militärarzt und hatte ein Lazarett zu betreuen, das wurde von uns im Spiel nachgemacht; wer nicht als Mutter für die Puppen den Haushalt versorgen, kochen und waschen musste, der ging ins Lazarett, um sich behandeln zu lassen. So wurde die kleine Dora einmal als schwerkrank auf ein Lager gebettet, in dicke Tücher gehüllt und sollte schwitzen. Wir anderen hatten sie längst bei einem neuen Spiel vergessen und liefen dann hungrig zum Abendbrot. Erst dort bemerkten die Großen, dass das Nestküken fehlte. Schuldbewusst gestanden wir, wo Dora vielleicht noch sein könnte und stürmten mit den Großen auf den Holzplatz. Dort lag das arme Kind schluchzend und in Schweiß gebadet. Sie war eingeschlafen, und als sie erwachte, waren wir verschwunden. Es war ihr unmöglich, sich aus den Hüllen heraus zu arbeiten, kein Mensch hörte ihr Rufen, bis wir als ihre Retter kamen.
Gefährlicher waren schon unsere Piratenzüge auf dem Teich, wenn wir von zwei Kähnen aus mit Rudern und Stangen aufeinander losgingen und Gefangene machten. Diese wurden auf die Insel gebracht und gefesselt. Das war eine ziemliche Tortur, da es von Millionen Ameisen wimmelte, die einem im Handumdrehen am ganzen Körper hoch bis unter die Haare krochen. Gnädig wurden die Gefangenen nach kurzer Zeit wieder abgeholt, da man sie zu neuem Spiel brauchte;
oder wir wanderten durch Großpapas Ställe, bestaunten die riesigen blanken Ochsen, die mit Brauereiabfällen, den Trebern, gemästet wurden;
ließen uns von unseren Freunden, den stämmigen Bierkutschern, zu ihren starken Arbeitspferden führen und bettelten, darauf reiten zu dürfen;
brachten den Kutschpferden, die von ihren vornehmeren Kutschern in einem eleganterem Stall gepflegt wurden, Zucker und Brot;
tranken im Kuhstall frischgemolkene Milch
oder fütterten auf dem Hof die schnatternde, krähende, gackernde Schar der Enten, Gänse, Hühner, Tauben und flohen entsetzt, wenn die Truthähne kollernd mit gespreizten Flügeln und Schwänzen auf uns zukamen.
Der alten Schweinemagd gingen wir lieber aus dem Weg; sie wollte uns immer streicheln und war doch so schmutzig. Unter all den Arbeitern und Angestellten hatten wir viele Freunde. Da war vor allem der mächtig große, breite Böttchermeister Bermuske. Wenn er in die Riesenbottiche trat, um sie auszupichen und der Rauch und Dampf um ihn wogte, erschien er uns wie ein Held aus deutscher Sage. Oft stand er schmunzelnd im Holzhof, seinem Reich, und ließ uns bei unseren Spielen die größte Unordnung in seinen sauber aufgebauten Stapeln machen. Bei heißem Sonnenschein quollen aus den Harzkisten, die dort standen, klare bernsteinfarbene Brocken raus, wenn sie erkaltet waren, brachen wir sie gern ab und schmückten Puppen und Wohnung mit diesem Bernstein, der ja zum Pichen der Fässer gebraucht wurde. Da drückte Bermuske ein Auge zu und ließ uns unsere Edelsteine. Er heiratete unsere geliebte Nanna, die Kinderfrau, wurde Schützenkönig, unsere Nanna Frau Königin! Darauf waren wir so stolz, als ob wir die Ehre miterworben hätten.
An einige unserer Mädchen kann ich mich noch gut erinnern. Die hübsche Ottilie hatten wir besonders gern, sie verschwand nur zu schnell aus unserem Kreis. Warum wohl? Meine Schwester Else wurde krank; spät am Abend fürchteten meine Eltern, es könnte Diphteritis werden, da sollte ich nicht, wie sonst, bei ihr schlafen. Ich wurde ins Fremdenzimmer umquartiert, das oben im Dachgeschoss neben dem Mädchenzimmer lag. Ich fand das sehr interessant und schön, zumal unser Kinderfräulein bei mir schlafen sollte, ich also nicht alleine war. Sehr lange konnte ich noch nicht geschlafen haben, da wachte ich stöhnend auf; denn am ganzen Körper kribbelte es und biss mich. Ich weckte Fräulein Gretel: „In meinemBett sind Tiere!“ Sie zündete die Kerze an, und wir suchten nach den Quälgeistern. Richtig, da hüpften zwei schwarze Punkte, Flöhe!, die wir schnell unschädlich machten und uns beruhigt wieder schlafen legten. Doch die Ruhe dauerte nicht lange, bald kribbelte und biss es von neuem. Es schien, als ob sich eine ganze Flohgesellschaft eingenistet hätte. Fräulein Gretel leuchtete wieder, nahm mich entsetzt aus dem Bett und legte mich in ihr Bett, während sie nach unten ging mit der beruhigenden Versicherung, in diesem Bett seien keine Flöhe. Ich konnte nun auch ungestört die ganze Nacht schlafen.
Am anderen Morgen herrschte unten große Aufregung, nicht wegen meiner kranken Schwester, der es bedeutend besser ging. Man tuschelte mir ins Ohr, der lustige junge Wächter von der benachbarten Sägemühle hätte oben geschlafen. „In dem Flohbett?! Der Ärmste!“ dachte ich. Aber wie waren die Flöhe in unser gutes Fremdenbett gekommen, in dem unsere Tanten und Onkel immer so herrlich geschlafen hatten, wenn sie zu Besuch kamen? Und wie war überhaupt der Wächter nach oben gekommen, da unser Haus doch nachts immer fest verschlossen war? Und das Unerklärlichste, warum wurde unsere hübsche Ottlilie entlassen, musste sofort ihre Sachen packen und gehen? Sie konnte doch bestimmt nichts dafür, dass mich die Flöhe so gebissen hatten. Ja, das Leben war voller Rätsel, und man konnte die großen Leute oft gar nicht verstehen…
Auf ein anderes Mädchen kann ich mich auch noch gut besinnen; es war die etwas einfältige, abergläubische Pauline, die bei unserer Hauswirtin diente und unter uns schlief. Sie unterhielt uns am liebsten mit Geistergeschichten, die sie gehört oder gelesen hatte. „Aha“, dachten wir, „nun sollsie mal selbst Geister erleben!“ Es war Herbst, abends wurde es früh dunkel, das passte in unseren Plan. Wir höhlten kopfgroße Kürbisse aus, schnitten fürchterliche Gesichter hinein; dann nahmen wir zwei Bohnenstangen, an deren oberen Ende wir ein Querholz befestigten. Weiße Laken wurden darüber gehängt, der Kürbiskopf angebracht, ein brennendes Licht hinein getan, und die Geister waren fertig und sahen schauerlich aus. Nun ließen wir sie vor Paulines Fenster tanzen und hörten mit Genugtuung einen lauten Schrei und dann leises Wimmern. Unsere Absicht war erreicht, und jaulend zogen wir durch den Garten ab. Am nächsten Morgen kündigte Pauline, in einem Spukhaus bliebe sie keinen Tag mehr. Die drauf folgende Untersuchung entlarvte uns als Geisterhelden; wir mussten um Entschuldigung bitten und versprechen, nicht noch einmal zu spuken. Wie wir das Geisterspiel mit Passion betrieben hatten, so zog uns alles an, was ein bisschen unheimlich war.
Albrecht Haselbach, Geschichte Namslaus, S.17. Burg Namslau
Die Burg Namslau war seit Jahrhunderten ein befestigter Platz im Kampf gegen die Slawen. Gustav Freytag erzählt viel darüber in seinen historischen Schriften und in seinen Jugenderinnerungen. In seiner späteren Gestalt entstand das Schloss im Jahr 1360 auf Befehl des Kaisers Karl IV. Einer seiner Nachfolger, Kaiser Leopold, hat es mit vier dazugehörigen Gütern an das Bistum Breslau verpfändet und dieses hat es dem Deutschen Ritterorden (Mergentheim) übergeben, welcher eine Ordenskommende daraus machte. Diese wurde im Jahre 1803 säkularisiert. Der Staat verkaufte das Schloss an Herrn von Garnier[10], und von dessen Erben erwarb es mein Großvater zur Abrundung seiner Brauereigebäude, die seit alters (her) an das Schloss angebaut waren.Für seinen Zweck als Festung besaß es meterdicke Mauern, Geheimgänge, die man nur durch versteckte, kaum sichtbare Tapetentüren betreten konnte. Einer davon ging in den Keller, von wo ein langer, unterirdischer Gang kilometerweit unter dem Burg-graben, unter den Wiesen, ja unter dem Fluss nach dem fernen Wald geführt und in wilden Kriegszeiten bei Belagerungen der Burg gute Dienste geleistet haben soll. Nun war er zum größten Teil eingefallen, und es wäre lebensgefährlich gewesen, ihn zu betreten. Da unser Großpapa unsere Abenteuerlust kannte, ließ er vorsorglich den Eingang vermauern. Bei den nötigen Ausschachtungen fand man ein altes Tongefäß mit Münzen. Sofort verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt die Kunde, im alten Schloss sei ein großer Geldschatz gefunden worden. Das stimmte allerdings nicht: in dem Gefäß befanden sich Kupfer- und Silbermünzen, die Großpapa dem Breslauer Museum schenkte.
Mittelalterliches Kriminalmuseum Rothenburg ob der Tauber
Bei unseren Versteckspielen bevorzugten wir als Anschlagplatz die breite Toreinfahrt zum Schlosshof. Dort befand sich eine uralte Eichentür, hinter der einst die Folterkammer gewesen sein soll. An der Tür war in ca. 1 m Höhe ein eiserner Halsring befestigt, an dem im Mittelalter in hockender Stellung die Personen angeschlossen wurden, die eine Strafe abbüßen mussten: es war der Schandpfahl. Dort stand ich einmal beim Versteck-spielen, die Hände vor die geschlossenen Augen gepresst, vertieft in meine Pflicht des Zählens, als meine Brüder leise heranschlichen und mir den kalten eisernen Ring um meinen bloßen Hals legten, so dass ich huddernd[11] zusammenfuhr. Dieses Gefühl kann ich heute noch nachempfinden.
Albrecht Haselbach, Geschichte Namslaus, S.23. Der Krakauer Torturm war einer von zweien, der zweite hieß Breslauer Torturm
Unheimlich war auch eine Geschichte von Onkel Albert. An einem stürmischen eiskalten Sylvesternachmittag hatte er uns im mollig warmen großelterlichen Wohnzimmer versammelt und erzählte uns: „Ihr müsst nur nicht furchtsam sein, dann erlebt Ihr Ungeahntes und auch manches Schauerliches. Wenn Ihr heut kurz vor Mitternacht ganz allein, ohne zu sprechen, auf dem Ring (dem grossen Namslauer Marktplatz) dreimal um das Denkmal des heiligen Nepomuk geht, mit gefalteten Händen vor ihm stehen bleibt und wartet, bis es zwölf geschlagen hat: dann fragt Ihr ihn: „Heiliger Nepomuk, was machst du?“ so sagt er: „Nichts!“ Dies Nichts sprach Onkel Albert mit solch tiefer Grabesstimme aus, dass wir meinten, einen Geist zu hören. Wie gern hätte ich dies Abenteuer erlebt! Ich trat ans Fenster; draußen tobte ein wildes Schneegestöber, und der Wind heute ums Haus. Nein, da konnte ich’s nicht wagen.
Als ich kürzlich bei einem Schlesiertreffen in Konstanz von unserer schlesischen Heimat, von Gustav Freytag und Burg Namslau erzählte und auch diese Geschichte vortrug, rief mir eine Hörerin lachend zu: „Bei uns hat der Heilige Nepomuk nuscht gesagt, da hat er schlesisch gesprochen.“ Es hat lange gedauert bis ich einsah, dass der Heilige Nepomuk nichts sagen konnte.
Bei schönem Wetter durften wir sonntags of spazieren fahren. Damals gab es noch auf allen Chausseen Zollschranken, an denen Wegegeld einkassiert wurde. Großpapa, der sonst sehr freigebig war, hätte es aber für eine Verschwendung gehalten, wenn für eine Kinderspazierfahrt Geld ausgegeben worden wäre. So fuhr uns der Kutscher bis zur Zollschranke, kehrte um und fuhr einen anderen Weg bis zur neuen Schranke und so fort nach allen Himmelsrichtungen, das fanden wir sehr amüsant.
Wenn aber die Kirschen reif wurden, dann spendeten uns die Großen gern den Wegzoll, und wir fuhren weiter hinaus. Um Namslau und durch viele schlesische Kreise liefen meilenweit die herrlichsten Kirschalleen, wie man sie sonst wohl nirgends in Ostdeutschland fand. Es war eine köstliche, fast schwarze Frucht, die mit ihrem Aroma und ihrer Süße alle anderen übertraf. Die Bäume gehörten meist dem Kreis, die Ernten wurden verpachtet. Die Pächter bauten sich vor der Reifezeit an den Straßen ihre kleinen Holzbuden auf und hüteten ihre Schätze vor Dieben. Wenn dann die Zeit des Pflückens begann, durften wir rausfahren. Schon der Anblick der fruchtbeladenen Bäume war ein Ereignis. Jeder von uns hatte ein paar Körbchen mitgebracht, der Kutscher hielt bei einem bekannten Pflücker, und dieser gab uns von den Früchten, soviel wir haben wollten, für ein paar Pfennige. Der schlesische Kirschenreichtum war so groß, dass ihn die Provinz nicht allein verbrauchen konnte. Waggonweise gingen die gefüllten Körbe in viele Großstädte, besonders nach Berlin. Und wenn es dort auf den Wochenmärkten bekannt wurde: „Die schlesischen Kirschen sind da“, dann konnten die Hausfrauen nach Herzenslust einkochen.
Nun ist in unserer geliebten Heimat fast die ganze landwirtschaftliche Kultur vernichtet, weite Strecken sind versteppt. Wollte Gott, dass bald wieder deutsche Hände den kostbaren Boden pflegen und bebauen dürfen.
Da ich gerade von einer berühmten schlesischen Frucht erzählte, muss ich eine andere erwähnen, die nicht ganz so bekannt, aber herrlich war: die Ananas. Im vorigen Jahrhundert[12] wurde sie nur in geringen Mengen importiert und war in rohem Zustand selten zu haben. Da kam ein Schlossherr auf die Idee, sie in seinen Treibhäusern züchten zu lassen. Der Versuch glückte und fand vielfach Nachahmung. Da die Früchte erst geerntet wurden, wenn sie ausgereift waren, hatten sie ein kräftiges Aroma und erlangten eine gewisse Berühmtheit. So wuchsen auch im Glashaus von Baron von Stosch in S.(tosch) bei Namslau diese tropischen Früchte, und oh Wunder, an meinem Geburtstag bekam ich eine geschenkt, eine richtige reife Ananas! Der greise, liebenswürdige Baron, Kavalier alten Schlages, wollte sicher meiner reizenden Mutter damit eine Freude machen. Da er sie aber mir überreichte, nahm ich sie stolz als mein Eigentum an. Die Ananas thronte auf einem Blütenteppich, der von einer weißen Spitzenmanschette gehalten wurde. Nach Biedermeierart war jede einzelne Blume angedrahtet, um sie korrekt in Reih und Glied zu halten. Die armen Blumenkinder welkten dann schnell, wurden aber in allen Gärtnereien und Blumengeschäften auf gleich Weise misshandelt, bis in den neunziger Jahren der Hofgärtner Haupt in Breslau seine Schaufenster mit malerischen, natürlich geordneten Sträußen schmückte und nur noch solche verkaufte. Die Menschen waren begeistert, und die neue Mode wurde schnell beliebt. Aber warum hatte sich die alte so lange gehalten? Es musste wohl schwer sein, sie aus ihren Fesseln zu lösen. Ja, die Mode ist eine große Tyrannin und hält die Menschen in ihren Fängen, dass selbst Hygiene, Sitte und Moral oft machtlos dagegen sind. Das ist heute so, wie es früher war.
Die alten Sitten und Bräuche sind ihr nicht untertan. Wo sie sich unverfälscht erhalten haben, zeugen sie von gesundem Volksempfinden. In Namslau gab es viele, wir liebten sie sehr. Zu Pfingsten streute man frisch gepflückten Kalmus[13] in den Eingang des Hauses und auf die Treppen. Am frühen Morgen des Ostersonntags trieben wir uns gegenseitig und unsere Mädchen mit Osterwasserspritzen aus den Betten. Am lustigsten war das Sommersingen am Sonntag Laetare. Tags zuvor besorgten wir uns große, recht frische Tannenzweige, die wir mit bunten Papierblumen und –ketten schmückten. Am Sonntag nach der Kirche gingen die Kinder gruppenweise von Haus zu Haus und sangen die alten Sommersonntagslieder: „Diegoldene Schnur geht umdas Haus, die schöne Wirtin geht ein und aus“, oder „Der Herr, der hat ‚ne hohe Mützen, er hat sie voll Dukaten sitzen“, und viele, viele andere. Je mehr man konnte, umso schöner. Zur Belohnung bekam man Äpfel, Nüsse, Bonbons oder Kuchen. Einige Schlesierverbände haben in der Bundesrepublik den fröhlichen Brauch aufleben lassen, und nun klingt es auch in deutschen Städten des Westens „Rot Gewand, rot Gewand, schöne grüne Linden.“ Manches Schlesierauge füllt sich dabei mit Tränen, und das Heimweh wird übermächtig.
Wie überall, so wurde an Sylvester auch bei den Großeltern Blei gegossen, man ließ Nussschalen schwimmen, warf Pantoffel und Apfelschalen über den Kopf und neckte die jungen Mädchen. Als wir Schulkinder wurden, durften wir mit den Großen aufbleiben. Schlag zwölf klopfte es an die Terrassentür, und herein trat Großpapas Nachtwächter in dickem Schafspelz, die Pelzmütze keck zurückgeschoben, mit Hellebarde und brennender Laterne und sang sein Sprüchlein: „Hört, Ihr Herrn und lasst Euch sagen, unsere Glock’ hat zwölf geschlagen. Verwahrt das Feuer und das Licht, dass uns ja kein Leid geschicht. Lobet Gott den Herrn!“ Dann bekam der Nachtwächter wie wir alle ein Glas heißen Punsch, und die Gläser klangen mit Prosit Neujahr hell aneinander. Da es unsere Großeltern gern sahen, wenn wir in den Weihnachtsferien etwas aufführten, studierten wir einmal ein hochdramatisches Stück mit vielen Rollen ein. Für das Volk, das im letzten Akt die Bühne beleben sollte, blieb nur die kleine Dora übrig, die sich ihrer Aufgabe mit Eifer widmete. Alle Erwachsenen wurden eingeladen, und die Aufführung rollte ganz nach Wunsch ab. Wenn die Zuschauer bei den ernstesten Stellen mal das Lachen nicht unterdrücken konnten, das störte uns nicht, der Beifall war dann doch immer groß. Jetzt sollte der letzte, wirkungsvollste Akt kommen; doch das Volk fehlte. Wir rannten rufend durch das ganze Haus, endlich fanden wir Dora weinend in einem entlegenen Winkel. „Immer Volk spielen, ist mir zu dumm, ich will auch einmal Königstochter sein“, klagte sie. Das versprachen wir ihr für das nächste Mal, wenn sie nur dies Mal noch Volk sein wollte. Darauf ging sie ein, und die Situation war gerettet.
An einem anderen Sylvesterabend führten wir die Haydn’sche Kindersymphonie auf. Da uns unsere Kleidung dafür zu prosaisch erschien, nähten wir uns phantastische Zigeunerkostüme. Wir mögen aber nicht echt gewirkt haben; denn wir waren fast alle hellblond mit blauen Augen. Schminke und braunen Puder kannten wir ja nicht. Aber unser Spiel gefiel sehr. Wie freute ich mich, als später meine Tochter Annemarie mit ihren Schulkameradinnen und sehr viel später mit ihren eigenen Kindern das melodiöse Werk aufführte und groß und klein sich daran ergötzte.
Meine Eltern waren auch beide musikalisch, sie spielten Klavier, und Mama hatte eine schöne Stimme. Oft kamen nach dem Abendbrot Freunde mit ihren Instrumenten, und dann gab es herrliche Musik. Wir bettelten so lange, bis die Türen zu unseren Schlafzimmern einen Ritz offen blieben. Bei den holden Klängen schlief es sich noch einmal so gut ein.
An der langen, großelterlichen Familientafel, an der zu Weihnachten und Ostern meist 24 bis 28 Verwandte saßen, wurde viel politisiert. Wir Kinder am unteren Ende des Tisches hörten schweigend zu. Wenn wir auch nicht alles verstanden, so wurde damals schon die Liebe zu unserm Kaiserhaus, die Achtung vor Bismarcks Werk und der Stolz auf unser schönes Vaterland in unsere Seele gepflanzt. In der Schule sangen wir mit Begeisterung die Lieder, die von Deutschland und der engeren Heimat handelten und zogen singend, wie die Vögel, ins Freie hinaus. Wie die Vögel! Ohne sie könnte ich mir Namslau nicht denken.
Im Winter wimmelte es auf unserem Balkon von gefiederten Gästen. Die Finken-hähnchen, vornehme Herren, die sich ungern unter das freche Spatzenvolk mischten, bekamen ihr Futter an einem besonderen Platz. Papa erklärte uns, sie seien liebreiche Ehemänner; denn sie schickten ihre zarten Weibchen im Winter nach Süden. Die vielen Meisenarten waren unsere ausgesprochenen Lieblinge. Mit großer Emsigkeit, mit graziösem Flug- und Kletterkunststücken umschwirrten sie die aufgehängten Leckerbissen.
Im Sommer galt unsere Fürsorge der Nachtigall, die in unserem Garten nistete. Wer einmal den Gesang dieses Zaubervogels gehört hat, kann ihn nicht vergessen. Oh, wie andächtig haben wir da gelauscht! Jede heranschleichende Katze wurde grimmig fortgejagt und verfolgt. Mama bat uns, in der Mühle nach Mehlwürmern zu fragen, die unserer Sängerin beim Füttern der Jungen helfen sollten. Sofort liefen wir zu den Müllerburschen und trugen unsere Bitte vor. Da wurden wir aber böse angeschrieen: in ihrem sauberen Betrieb gäbe es so etwas nicht, wir wollten sie wohl ärgern. Ganz ängstlich und bescheiden sagten wir: „Sie sind ja nur für unsere Nachtigall!“ Da wurden die zornigen Männer mild, rückten in einer Ecke des Speichers schwere Kleiesäcke beiseite, und dort wimmelte es von dem erwünschten Futter, das wir uns dann oft abholen durften.
Auch im großelterlichen Garten nisteten Nachtigallen. Großpapa hatte festgestellt, dass sie jedes Frühjahr am 28./29. April aus dem Süden eintrafen. Wie glücklich war er, wenn sie sich pünktlich einfanden. Warum sind diese kostbarsten Singvögel aus vielen deutschen Gegenden verschwunden, die früher so zahlreich bei uns heimisch waren? In Lichterfelde [14]musste ich nach dem Ersten Weltkrieg feststellen, dass es von Jahr zu Jahr weniger wurden. Von Vogelkundigen hörte ich, die Amseln, die dieselbe Nahrung brauche und die Stärkeren sind, vertreiben sie. Nachdem der Dohnenstrich, d.h. der Fang mit Schlingen, verboten war, der jährlich Hunderte von Amseln, Drosseln und Krammetsvögeln an die Wild- und Delikatess-geschäfte lieferte, hatten sich diese Vögel ungeahnt schnell vermehrt zum Schaden der Königin der Nacht., die in vielen Gegenden ganz ausgestorben ist. Ob sie wohl noch in den Oderwäldern und in Eichendorffs Heimat singt? Beim Überprüfen meiner Kindheitserinnerungen sehe ich immer mehr, wie mir die Natur Herz, Seele und Geist gebildet hat. Mit welcher Seligkeit konnte ich mich in die Farbenpracht, die Formenschönheit und den Duft mancher Blume vertiefen. Voll Staunen erlebte ich das Werden eines Schmetterlings; von der gefräßigen Raupe über die unscheinbare Puppe bis zum bunten Falter. Welches Glück entgeht einem Stadtkind, das diese Wunder des Lebens nur aus Büchern kennt! Meine Brüder hatten Schmetterlings- und Käfersammlungen, für die wir fünf Geschwister gemeinsam auf die Jagd gingen. Ganz behutsam wurden die zarten, feingliedrigen Geschöpfe behandelt. Ein paar Tropfen aus dem mitgebrachten Alkohol- oder Ätherfläschchen töteten sie schnell und schmerzlos. Dann kamen sie aufs Spannbrett und malerisch geordnet in die Kästen, die die Wände des Jungenzimmers schmückten. Dort konnte man ihre Schönheit immer wieder bewundern. Vielleicht hat die Sammelwut unserer Zeit die Zahl der edlen Sorten vermindert; denn wo findet man jetzt noch Schwalbenschwänze, Trauermäntel oder Schillerfalter, von den dicken buntgezeichneten Nachschmetterlingen ganz zu schweigen? Die Blumen meiner Kindheit kann ich leichter wiederfinden. Wir lernten sie alle mit Namen, und mein Sport war es besonders, vielgezackte und bizarre Blätter und Gräser zu pressen. Da wir oft in den großen Ferien mit den Eltern ins Gebirge oder an die Ostsee fuhren, entdeckten wir auch dort überall neue Wunder der Natur, man konnte sich nie satt daran sehen. Aber in unser geliebtes Namslau kehrten wir immer gar zu gern zurück, wo uns die Großeltern mit Zärtlichkeit und neuen Freuden empfingen. Am schönsten war es bei ihnen am Heiligen Abend; da wurden in der riesigen Maschinenhalle lange Tische weiß gedeckt. Jeder Arbeiter und Angestellter bekam seinen Platz, auf dem neben einem großen Stollen, in Schlesien Striezel genannt, Stoff für einen guten Anzug lag, der in einheimischen Geschäften gekauft wurde und durch den die Namslauer Schneider dann Arbeit in Hülle und Fülle bekamen. Ein großer Christbaum bestrahlte die Festlichkeit. Wir sangen mit allen Arbeiterkindern Weihnachtslieder, Großpapa hielt eine Ansprache, jeder Beschenkte nahm seine Gaben. Dann zogen sie an Großpapa und den Onkeln Paul und Albert, die ja mit im Betrieb arbeiteten, vorbei, und es gab ein kräftiges Händeschütteln. Nun durften wir ihnen die Mütze voll Äpfel und Nüsse füllen, ja, unseren Freunden lachend auch noch alle Taschen voll packen. Den süßen Schmuck des Christbaums bekamen die Kinder, aber dabei wurden wir Wildlinge nicht zugelassen, sonst wäre wohl so manches Schokoladen-herz und mancher Pfefferkuchenmann in Stücke gegangen. Wir machten uns nun fertig zum Kirchgang, zum Höhepunkt des Weihnachtsfestes, ja, ich kann wohl sagen, zum Höhepunkt meiner ganzen Kindheit.
Gewiss, die Geburtstagstische waren schön, das Weihnachtszimmer überwältigend mit der Fülle der Geschenke. Nichts reichte aber an die Feier der Heiligen Nacht in unserer kleinen weißen Kirche. Sie lag nahe dem Haus meiner Großeltern, so dass wir zu Fuß hingingen. Jeder bekam einen Wachsstock in die Hand, und wenn wir hinter den Erwachsenen durch das große Tor schritten, erstrahlte der ganze Raum schon von Hunderten von Lichtern, die mit den beiden Christbäumen am Altar um die Wette flimmerten und einen Duft von Wachs und Honig verbreiteten. Feierlich begann die Orgel zu spielen, mit Inbrunst sangen wir die lieben, bekannten Choräle. Das Weihnachtsevangelium wurde verlesen: “Euch ist heute der Heiland geboren!“ Eine Ahnung von der Größe des Geschehens zog durch das Kinderherz. Nun jubelten sich die Kinderchöre, in Gruppen auf den einzelnen Emporen verteilt, das Gloria zu, eine helle Frauenstimme fiel mit dem Hosianna ein, alles floss in einem Meer von Wohlklang und Harmonie zusammen, und es schien mir, als hörte ich die Menge der Himmlischen Heerscharen, wie sie sich den Hirten von Bethlehem geoffenbart hatten. Hatten wir zuviel Glück erlebt? Waren wir zu reich beschenkt worden? War es besser für uns, nun auch die Schattenseiten des Lebens kennen zu lernen? Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt, da zogen schwarze Wolken über uns hin und bald verlöschte alles Licht: unsere geliebte Mutter starb am 30. September 1891. Wir waren erst vor einem halben Jahr nach Oppeln gezogen, wohin mein Vater versetzt worden war. Wir mussten mit einer Stadtwohnung vorlieb nehmen, ohne Garten, ohne Baum und Strauch, Wiesen und Felder weit entfernt. Hier sollten wir ohne Mutter aufwachsen. Wer das nicht erlebt hat, kann unseren Kummer nicht nachfühlen. Am meisten litt sicher unser lieber Vater unter dem Schicksalsschlag. Wie oft hörte ich ihn, wenn wir zu Bett gegangen waren, tief seufzen. Ich wollte ihm so gern helfen! An Mamas offenem Sarge hatte ich mir geschworen, ich wollte versuchen, sie ihm zu ersetzen, ich törichtes Kind! Schon am Begräbnistag musste ich einsehen, dass das ganz unmöglich war. Es folgten traurige Jahre. Um so heller stand vor unserer Seele unser Kinderparadies. Das Glück, das wir dort erlebt hatten, half uns auch die dunkelsten Stunden ertragen, und ich kann voll Innigkeit mit unserem schlesischen Dichter Eichendorff sprechen:
Mein Gott, Dir sag ich Dank,
dass Du die Jugend mir bis alle Wipfel
in Morgenrot getaucht und Klang.
Konstanz, St. Marienhaus, den 15.6.1955
Leni Weber 1954
Albrecht Haselbach, Geschichte Namslaus, S.26. Krakauer Tor von 1398
Korrektur und Druck 25.7.03 Berlin
[1] Am 2. September 1870 gewannen die vereinten deutschen Heere die Schlacht bei Sédan, Napoleon III. wurde gefangen genommen. Sturz des Empires, Kaiser in Kassel, später nach England, dort +1873. Seit diesem Zeitpunkt gibt es die III. Republik, bis 1940.
[2] Die Hereros sind ein Bantuvolk in Namibia, Angola, Botswana; Rinderzucht und –verehrung; heute noch etwa 160 000 Seelen (zumeist Christen)
[3] Anmerkung von Annemarie Baumgartner: „Das Schild Göllschau stand noch am Eingang zur Farm, als ich da war“ (Ende 70er Jahre des 20.Jh.)vgl.Foto vorige Seite
[4] Lichterfelde ist ein grüner Vorort von Berlin, in dem Webers nach Ernst Webers Pensionierung lebten; sie hatten es nicht weit zu uns Böhmers im Devrientweg.
[5] Mars-la Tour, zwischen Verdun und Metz gelegener Ort, wo eine entscheidende Schlacht 1870 stattfand.
[6] Anmerkung von Annemarie Baumgartner, leider nicht lesbar.
[7] Else Bieder heiratete unseren Großvater Ferdinand Becker.
[8] Seit 1873 hatten wir in Deutschland Goldwährung, daneben bis 1907 noch Silberwährung. Die Banknoten waren zu einem Drittel mit Gold, zu 2/3 mit Handelswechseln gedeckt. Goldwährung war zu dieser Zeit europäischer Standard., galt aber auch in den USA, Russland, Japan.
[9] Ein Böttcher macht Töpfe und vor allem Fässer aus Holz für das Bier – aber auch für Wein und Cognac.
[10] Anmerkung von Annemarie Baumgartner, nicht leserlich
Bearbeitet für meine „Vize-Mutter“ in schwerer Zeit 1946-48
von Bert Böhmer * 2003
Mein Lebenslauf (1929/30)
Am Montag, dem 6. März 1911, wurde ich (Annemarie Weber[1]) in Wehlau (Ostpreußen als viertes Kind meiner Eltern geboren. Mein Vater war dort Landrat. Als ich fünf Wochen alt war, starb mein zweiter, sechsjähriger Bruder[2]. Bis zu meinem 3. Lebensjahr blieb ich, mit Ausnahme einiger Erholungsreisen, in meiner Heimatstadt. Bei Ausbruch des Krieges wurden wir Kinder wegen der Russengefahr nach Halberstadt zu meiner Großmutter geschickt, und in diese Zeit reichen meine frühesten Erinnerungen. Besonders deutlich stehen mir zwei Bilderbücher vor Augen, die ich mit Hilfe meiner Tante während einer Krankheit klebte. Auch werde ich nie meine Urgroßmutter vergessen und die Mohrenköpfe mit Schlagsahne, die wir Kinder bei ihr bekamen. Im Sommer 1915 fuhren wir mit meinen Eltern nach Kolberg. Hier bekam ich eigentlich zum ersten Mal bewusst etwas vom Kriege zu sehen, nämlich die vielen Verwundeten, die in dem dortigen Lazarett lagen. Wie viel Spaß machte es uns immer, ihnen eine kleine Freude zu machen! Wir flochten ihnen Binsenkörbchen, füllten sie mit Bonbons und brachten sie ihnen. Wie hier so hat der Krieg stets ein heiteres, fast fröhliches Aussehen gehabt. Ich konnte mir nie unter ihm etwas Schreckliches denken, denn ich hatte nie etwas Schreckliches erlebt. Als wir nach ein paar Wochen wieder nach Wehlau zurückkehren durften, fanden wir im Hause alles beim Alten. Nur unser Pony hatten uns die Russen gestohlen, und darüber herrschte, besonders bei meinem Bruder[3], große Trauer. Von der Zeit, die nun folgt, sind mir hauptsächlich die vielen Truppentransporte im Gedächtnis geblieben. Das war natürlich eine ständige Freude für uns Kinder. Wir durften den Soldaten Liebesgaben bringen, durften ihnen, wenn sie in der Waschküche abkochten, helfen, bekamen wohl auch manchmal etwas von ihnen geschenkt, aber hörten es natürlich nie, wenn einer von unseren Freunden auf dem Schlachtfeld fiel, oder verstanden es noch nicht, was das bedeutete. Viel Abwechslung brachten uns stets im Sommer die vielen Ferienkinder, mit denen wir natürlich tüchtig spielten und herumtollten. Im Herbst 1917 wurde mein Vater nach Berlin in das Finanzministerium[4] versetzt, und somit siedelten wir alle nach Berlin um, wo wir seit dem und zwar ständig in derselben Wohnung[5] geblieben sind. Dieses so wenig wechselnde Vaterhaus, das mir vergönnt war, ist für mein Gefühl ein ganz besonderes Gut und Kleinod. Ich kann mir gar nicht denken, dass man so leicht zu einer inneren Ruhe kommen kann, wenn man ständig Umzüge und Wohnungswechsel erlebt, als wenn man ein Zuhause hat, das wie ein Fels steht, und an das man sich dann anklammern kann, wenn sein eigenes kleines Ich ins Wanken kommt. Es ist eine Art Tradition, die darin liegt, aber eine Tradition, die ich nie entbehren möchte.
Hier in Berlin stürmte gleich sehr viel Neues auf mich ein. Ich wurde nämlich in die Privatschule von Fräulein Henscher geschickt und kam somit mit vielen gleichaltrigen Kindern zusammen, was natürlich sehr anregend war.
Aber wir hatten noch etwas von Ostpreußen mitgebracht, das ich nie vergessen werde, nämlich eine Kuh. Diese Kuh ging mir sehr lange Zeit über die neuen Klassen-kameraden und die Schule. Wir hatten hier in der Nähe die Inhaber einer Gärtnerei oder besser, eines riesigen Gartens kennen gelernt und durften dort die „schwarzePrinzessin“ unterbringen. Täglich ging ich dann hinüber und half unseren Mädchen oder Mutti beim Kuhhüten. Das war sehr schwierig, denn die Prinzessin musste ständig an einem Strick geführt werden, da sie sonst Unheil angerichtet hätte.
In den ersten Jahren in Berlin war ich sehr viel krank, und deshalb konnte ich auch nicht in der Schule mitkommen. Ostern 1919 kam ich in die 9. Klasse des Elisabeth-Lyzeums. Während meiner dortigen Schulzeit bin ich von den verschiedensten Seiten stark beeinflusst worden. Sehr früh ist mir dort ganz besonders der Wert und die Größe der Wahrhaftigkeit zum Bewusstsein gekommen. In einem bin ich mir aber während meiner ganzen Schulzeit gleich geblieben, nämlich in dem Bedürfnis, die Klasse zu leiten. Wie sehr ich in den Zeiten, in denen ich es nicht durfte, und mit Recht dies nicht durfte, darunter gelitten habe, hat wohl keiner gemerkt, da ich dieses Nichtdürfen meist in einen Mantel von Kälte oder Trotz gehüllt habe. Während einer ganzen Zeit hatte ich die Klasse verloren.[6] Das war das Schlimmste für mich. Manchmal war ich wegen dieser Feindlichkeit so weit, dass ich meine Eltern bitten wollte, mich aus der Schule zu nehmen. Aus dem entgegengesetzten Grunde wird mir der Abgang sehr schwer, denn jetzt ist das da, was so lang sein sollte und nie wurde: wir sind alle zusammen ein fester Ring, und ich glaube, nicht eine steht außerhalb dieses Ringes. Wie stark ich im besonderen von einigen Lehrerinnen beeinflusst worden bin, möchte ich hier nicht ausführen. Nur eins will ich noch sagen, dass mir kaum eine andere Schule soviel Anregung in Kunst und Literatur hätte geben können, wie gerade unsere Waldschule. Außer der Schule hat mich in dieser Zeit besonders stark etwas in meinem Elternhaus beeinflusst, nämlich der Gegensatz der politischen Meinungen. Hierin habe ich auch wohl leichter als manch Kind gehabt, das zu Hause immer nur eine Meinung hört, und erst, wenn es einmal in die Welt hinaus tritt, selbst in den Kampf der Parteien gezogen wird. Ich kann jetzt still zuhören und kann mir, so denke ich jedenfalls, später leichter einmal eine Meinung bilden. Ob meine Reisen, die ich schon gemacht habe, Einfluss auf mich ausgeübt haben, kann ich jetzt noch gar nicht entscheiden. Doch soviel weiß ich, dass ich bei jeder etwas Besonderes fürs Leben gelernt und an jede eine besonders schöne Erinnerung habe. Etwas wirklich Schweres habe ich noch nie durchgemacht, und so kann ich wohl sagen, dass mein Lebenslauf bis jetzt so war, wie es in dem Liede heißt:
Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust
Und lauter Liederklang,
Ein frohes Lied aus heitrer Brust
Macht froh den Lebensgang!
Rückbesinnung und Zukunftsgedanken
Kann man mit 71 Jahren nochmals an ein Leben mit 21 Jahren anknüpfen?
Viele Dinge gehen einem durch den Kopf, wenn einem der Lebenspartner nach 50jährigem Zusammenleben plötzlich verlässt. Man schaut zurück, man schaut voran. Er, der Gefährte durch die langen Jahre, hat sein Leben rund gelebt, abgerundet bis zum letzten Tag. Er blieb immer der, der er war, er durfte da sein Leben beschließen, wo er seit seinem ersten Lebensjahr aufwuchs. Wem ist das vergönnt? Seine Kindheits-erinnerungen stehen in dem Raum, in dem sein Leben sich vollendete. Der Gang durch den Friedhof, auf dem er nun ruht, war jedes Mal ein Gang durch sein Leben, angefangen bei seinem ersten Lehrer Göbelbecker (?), seiner Schul- und Lebensfreundin Lissi Engelken-Kaiz (?) bis zum Begräbnis seines letzten Skifreundes Sepp Hopp-„Europa“, seiner Eltern, seiner Schwester, in Gedanken bei dem in den Italienischen Bergen in den letzten Kriegstagen vermissten Bruder[8]. Ein rundes Leben, das er bis zum letzten Atemzug mit echtem Leben erfüllte.
Dieser Mann, der in mein Leben trat, als ich 20 Jahre alt war, setzte unter meinem damaligen Leben einen Schlusspunkt. Ein völlig neues Leben begann für mich.
Geboren in Ostpreußen, aufgewachsen seit dem 6. Lebensjahr in Berlin. Die Zeit war Ernst. Der Krieg wurde beendet. Die Revolution brach aus. Es war keine Zeit des Wohlstandes. Die zweistöckige riesige Wohnung wurde verkleinert. Ein Stock genügte auch. Die Hausmädchen und Köchin wurden abgeschafft, die Mutter machte alles selbst. Später wurden sogar ausländische Pensionäre, Amerikaner, Engländer, in die Wohnung aufgenommen – ein Glück für mich, die dadurch leidlich Englisch lernte; denn das Kapital der Eltern war durch die Inflation zerronnen. Es musste von dem Gehalt des Vaters gelebt werden, drei Kinder sollten ernährt, gekleidet, unterrichtet und später ins Studium gebracht werden.
Ich verstand davon damals nichts, war glücklich über 20 Pfennig Taschengeld in der Woche, – später 0,50 Reichsmark, legte keinen Wert auf Kleider, denn es gab keine, und war glücklich in unserem kleinen Garten, in dem wir Blumen und etwas Gemüse zogen, und in unserer Schule, die gegenüber unserer Wohnung lag und die eine Traumschule war, denn wir mussten dort nicht nur lernen – und das im Sommer bei gutem Wetter auf Rundbänken im Schulwald, der die Schule umgab, sondern bekamen Freude am Leben geschenkt. Der Zeichenunterricht weckte alle guten Geister in uns – auch bei den weniger begabten Mädchen (denn es war eine Mädchenschule), der Erdkundeunterricht ließ in uns den Wunsch nach anderen Erdteilen zu reisen entstehen, Frühlingsfest, Kirschbaumklettern, Theater spielen und Advents- und Weihnachtsspiele – all das ging spielend mit dem Lernen in unser Leben mit ein.
Warum ist das nicht auch in anderen, heutigen „Stress-Schulen“ möglich? Durch diese Jahre häufte sich in einem ein Fundus für das ganze übrige Leben an, ein Fundus, der vielen Anderen und anderem zu gute kam – und ich meine noch: kommt. Dazu kam ein glückliches Zuhause, eine Mutter, die voller Ideen war, die mit kleinsten Mitteln immer wieder wusste, ein Fest aus dem Nichts heraus zu zaubern, sei es an Geburtstagen – bei mir gab es immer ein Fastnachtsfest, in Berlin nannte man es Kostümfest, denn das Wort Fastnacht kannten die Berliner nicht richtig – mit Freundinnen. Freunden und Verwandten. Aus Kartoffeln wurde Kuchen gebacken, aus gekochten Äpfeln wurde Eierschnee gezaubert: — ich weiß nicht, was unsere Mutter sich alles ausdachte, um längst nicht mehr mögliche Leckerbissen aus „alten Zeiten“ uns Kindern präsentieren zu können. Die Fröhlichkeit war immer da und ein Grammophon (mit Trichter) der Höhepunkt des Festes. Natürlich hielt auch das Klavier her, was es konnte, besonders bei der „Reise nach Jerusalem“.
Diese Jugendzeit – natürlich auch mit Härten und Tiefen – ging mit dem „Einjährigen“-Abschluss zu Ende und (ich widmete mich) meinem dringenden Wunsch, zur Bühne zu gehen. Gertrud Egsold,(?), eine unserer ganz großen Schauspielerinnen jener Zeit, die ich kennen lernen durfte, riet mir aber, unbedingt mein Abitur – und meinen Führerschein zu machen. Ich folgte ihrem Rat und machte beides: den Führerschein in Berlin (rund um den Potsdamer Platz musste ich fahren), das Abitur in Salem. Beides: ein Erlebnis und schön! – Meine Eltern hofften, mein Wunsch, Schauspielerin zu werden, sei nun begraben. Leider nein. In einem Jahr schaffte ich privaten Sprachunterricht und (Max-)Reinhardt-Schule. Das war kaum glaublich, aber – nach einem Jahr hatte ich mein erstes Engagement in den Händen, in Osnabrück. Inzwischen lernte ich Werner am Bodensee kennen. Er wollte mich „sofort“ heiraten, ich wollte nach Osnabrück und auf der Bühne spielen – meinen Lebenstraum von klein auf erfüllen. Heiraten, nein, auf keinen Fall! Aber oft geht es anders als man denkt!
Annemarie Weber als Debütantin in Osnabrück 1932
(Aus dem Osnabrücker Tageblatt, 3.9.1932)
Bei der Aufführung von Peer Gynt, – ich hatte tagelang Fieber, wollte aber unbedingt weiter spielen,- fiel ich hinter der Bühne um und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Befund: doppelseitige Lungenentzündung. Dort lag ich – man sagte später: „auf Leben und Tod“. Es ging noch einmal gut. Ich fuhr ins Allgäu zur Erholung, und so kam „er“ jedes Wochenende und ließ nicht nach, bis ich endlich „ja“ sagte und hinter mein Leben einen dicken Punkt und zugleich einen glücklichen Neuanfang in fremder Ungebung setzte.
So wurde aus der in Ostpreußen geborenen Berlinerin ein Konstanzerin, eine Litzelstetterin; aus einer Schauspielerin eine Hausfrau im weitesten Sinne, die mit diesem Lebenskameraden nun ein 50jähriges gemeinsames Leben aufbaute und mit ihm Freud und Leid teilte.
Heilige Kommunion im Hause Baumgartner.
Von links: Bert, Werner, Annemarie, Tante Gretel, Oma Baumgartner, Omi Weber-Bieder,
Jörg, Gerd, Michael, Christine und Lotte Fröhlich
vor dem Atelier Annemaries.
Litzelstetten, Frühjahr 1947(?)
In einer paradiesischen Umgebung durften vier Kinder aufwachsen. Werner war glücklich in seiner Arbeit bis zum letzten Tag. Zehn Enkel wurden uns geschenkt.Nun setzte der Tod unter diese lange Gemeinsamkeit einen Punkt und ein großes Fragezeichen steht vor meinem Leben. Darf man überhaupt mit 71 Jahren noch einen neuen Weg einschlagen? Muss man nicht dankbar sein, allen „Familien“ irgend wann und wie helfen zu können? Das sicherlich, das den Kindern und ihren Familien helfen. Aber nicht als Hauptaufgabe soll das dastehen, dafür ist die heutige Zeit nicht geschaffen. Man muss sich die Zukunft sehr gut überlegen, denn die Zeit läuft schnell, und die Kräfte nehmen im Alter nicht zu.
Annemarie Baumgartner, nach 1933
Gemälde von xy
Es war einmal
Ansprache von 1986
Ich soll etwas von mir erzählen, etwas aus meinem Leben? Nun gut, ich will es versuchen.
Es war einmal ein Landrat in Wehlau in Ostpreußen, der hatte eine Frau Helene, genannt Leni geb. Bieder, und drei Kinder, Hellmuth, Manfred und Liselotte. Es war am 6. März 1911, da erblickte Annemarie, das vierte Kind, das Licht der Welt. Sehr traurig für Manfred, denn seine Mutter konnte sich nicht so um ihn kümmern, wie sie es ohne das Kleinstkind getan hätte, der Hausarzt erkannte zu spät die Blinddarmentzündung, den Durchbruch – er starb im März[9] 1911 in Königsberg im Krankenhaus.
Meine frühste Erinnerung ist wohl die, dass meine Mutter sich auf dem Dachboden an einem großen Nagel am Kopf gestoßen hatte und mit offenen Haaren und einem blutigen Fleck auf dem Kopf vor mir im Zimmer, ihrem kleinen Biedermeierzimmer stand.[10]
Dann erinnere ich mich an einen eiskalten Winter, in dem wir, Liselotte und ich, und unser Kinderfräulein an der Oelle, die nahe vor unserem Haus vorbeifloss, in weißen Plüschmäntelchen, Mützchen und Muff spazieren gingen. Es war furchtbar langweilig, und ich ging immer mit einem Fuß auf dem Bürgersteig, mit dem zweiten auf dem Fahrweg. Das war unserem Fräulein gar nicht recht, sie beschimpfte mich ständig, weil sie mit uns beiden hübschen Kindern wohl Staat machen wollte.
Die nächste Erinnerung führt mich nach Halberstadt, wo meine Großmutter Weber und Urgroßmutter Berge in zwei Häusern, die nebeneinander lagen, wohnten. Ich wohnte bei Großmama Weber und ihrer Tochter Lisbeth. Emma hieß unser Kindermädchen, das von Wehlau aus mitgekommen war, um uns Kinder hier bei Kriegsbeginn zu betreuen. Ich sollte damals „trocken“ werden, recht spät meine ich jetzt nachträglich, aber ich fand es so entsetzlich langweilig, auf dem Topf zu sitzen. So machte ich nur Pipi, wenn Emma auch auf einem Topf saß und ich mit ihr um die Wette durchs Zimmer rutschte.
Ich erinnere mich auch an einen Spielnachmittag bei Urgroßmama Berge, die immer in schweren Kleidern und mit Spitzenschal und einem weißen Spitzenhäubchen zu sehen war, eine kleine zarte Frau. An diesem Spielnachmittag spielten wir mit verbundenen Augen von einem Bügelbrett herunter springen, das von zwei Kindern hoch oder niedrig gehalten wurde, weshalb man immer falsch den Abstand zum Boden schätzte, und ein Schaukelspiel, auch mit verbundenen Augen auf einem Tuch zwischen zwei Stühlen, auf denen jeweils ein Kind saß, und die das Tuch plötzlich fallen ließen. Diese Spiele müssen wohl durch ihren Schreck (?), den sie verursachten, in meinem kleinen Gehirn (unleserlich!?) sein. Es war herrlich-schrecklich.Nachdem Urgroßmama Berge nicht mehr lebte, gehen alle Erinnerungen von damals und später an Großmama Weber und Tante Lisbeth und ihren Hund Pucki zurück. Pucki, ein Zwergpinscher, unheimlich lustig und ständig bellend. Das Haus von Großmama war herrlich groß, ein Garten mit Birnen, „gute Luise“, Haselnüssen und Äpfeln – ein Reich für Kinder. Dann wohnten in Halberstadt Ballans, Hanna Ballan, die Schwester meines Vaters mit ihren Kindern. Als ich älter war, und immer wieder in Halberstadt, waren die Ausflüge nach Spiegelbergen und ihren Sandhöhlen, deren Betreten strengstens verboten war, – aber um so begehrenswerter natürlich für uns Kinder, und die Ausflüge auf den Brocken, den man vom Hause aus gut sehen konnte. Ein tolles Erlebnis.
[1] Die Schülerinnen des Elisabethlyzeums in (Berlin-)Lichterfelde fertigten als letzten Aufsatz einen Lebenslauf, der zu den Akten genommen wird. Notiz von A.B
[2] Manfred, der zweite Sohn, starb Ostern 1911 an einem nicht erkannten Blinddarmdurchbruch!
[6] Notiz von A.B.: Die Ausführungen über die Stellung in der Klasse beziehen sich auf das jetzt bestehende Institut der „Vertrauensschülerin“, die von der Klasse gewählt wird.
[7] Am 9.7.1982 starb Werner Baumgartner in Konstanz. Am 5.7. hatte er einen dummen Unfall, am 7.7. wurde er operiert und starb am Morgen des 9.7. Geboren wurde W.B. am 8.2.1899 in Oberkirch in Südbaden. Sie heirateten 1933 in Berlin und haben vier Kinder: Christine, Michael, Jörg und Gerd.
[8] Es handelt sich um Onkel Bibs, Vater von Annette B., verh. Hintze
[9] Lt. Erinnerungen von Leni Weber starb Manfred Ostermontag, den 18.April 1911
[10] Die damaligen Stühle stehen jetzt bei Christine, der Eckschrank bei mir und der kleine Glasschrank bei Vreni Fark-Stülpnagel.
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Berlin 1914
In der Reihe Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften
Herausgegeben von Ernst Jäckh
Drittes Heft
In dem gewaltigen Ringen der Gegenwart sprechen nicht nur die Geschütze und streiten nicht nur die Millionenheere und Panzerflotten. Es ist auch ein Kampf der Geister um den ganzen Erdball. Wer die herrliche Erhebung unseres Volkes, wer den bewundernswerten Aufmarsch unserer Heere offenen Auges beobachtet hat, der weiß, daß die Zukunft Europas von den un-wägbaren geistigen Kräften entschieden wird, die hinter den Kanonen stehen. Aber neben diesen wirksamen Imponderabilien sprechen in dem Kampf der Gegenwart doch auch noch andere geistige Kräfte mit, deren Wert und Wichtigkeit für uns oder gegen uns es zu betrachten gilt.
……
Durch französisch-russisch-englische Machenschaften haben wir so manche natürliche Sympathie bei Neutralen verloren, ja wir begegnen zuweilen einer ganz unerklärlichen, direkt feindlichen Stimmung, die nichts anderes ist als übertragener französischer Revanchehaß oder englischer Konkurrenzneid. Mit Erstaunen werden wir gewahr, daß wir von Leuten, die kei-nerlei historischen Grund dazu haben, in unseren besten Absichten verdächtigt, ja geradezu gehaßt werden. (S.5)
Haben wir denn in Friedenszeiten nichts getan, das wichtige Imponderabile des Beliebtseins uns für die Stunde der Gefahr zu sichern? Deutschland gilt in der ganzen Welt als der Freund der Türkei , ja der Mohammedaner schlechthin.
…
Der Kernpunkt unserer Beziehungen zum Islam ist unser Verhältnis zur Türkei. Hier liegt einer der Pole unserer weltpolitischen Stellung; denn die Umstände ergeben eine natürliche Interessengemeinschaft zwischen uns und der Türkei. Unser Interesse ist genügend dokumen-tiert durch die gewaltigen wirtschaftlichen Werte, die wir dort unten investiert haben, die anatolische Bahn, die Bagdadbahn; aber die Türkei? Ist ihre Zukunft nicht besser garantiert unter den Fittichen des meerbeherrschenden England und seiner Bundesgenossen?(6)
…
Dieser Krieg ist ein Kampf auch um Konstantinopel und die Türkei. Und doch war bei Kriegs-beginn von dieser Frage überhaupt nicht die Rede. Es schien sich als unmittelbaren Anlaß um die panslawistischen Interessen Rußlands zu handeln. Die türkische Frage schien mit dem Bukarester Frieden und der deutsch-englischen Verständigung über die Bagdadbahn für lange Zeit geregelt. Wer die historischen Tendenzen der russischen Politik kennt, konnte diesen Provisorien ein kurzes Leben prophezeien. Aber seien wir gerecht: Rußland kann nicht anders. Es ist für ein Weltreich von der Bedeutung Rußlands unmöglich, auf die Dauer von den großen Kulturstraßen der südlichen Meere ausgeschlossen zu sein. Und so sehen wir sein Vordringen über das Schwarze Meer nach dem Mittelmeer, über Persien nach dem persischen Golf und über die Mandschurei nach den eisfreien Teilen des Stillen Ozeans sich mit unerbitt-licher Naturnotwendigkeit vollziehen. (7)
…
Die Zaren fühlen sich als die Erben von Byzanz, als die wahren Hüter der christlichen Orthodoxie, als die natürlichen Beschützer der heiligen Stätten; denn hinter Konstantinopel winkt Jerusalem. Hier liegt zweifellos eine starke religiöse Energiequelle, aber schon seit den Anfängen des vorigen Jahrhunderts dient die Religion nur noch als Feigenblatt einem nackten Imperialismus. Die massenweisen Pilgerfahrten nach dem Heiligen Lande sind amtlich orga-nisiert und sollen noch heute im Inlande dem Vorwärtsdrängen der Regierung die nötige religiöse Resonanz verleihen. In der auswärtigen Politik ist der Anspruch der Mächte über die Orthodoxen am Widerspruch der Mächte gescheitert (Krimkrieg) und mit dem Erstarken der kirchlich selbständigen Balkanstaaten überhaupt inopportun geworden. So brauchte man eine neue wirkungsvolle Parole im Kampf um die Dardanellen. In der zweiten Hälfte des 19.Jahr-hunderts, im Zeitalter der Rassentheoretiker, wurde dann der Panslawismus[1] erfunden, ein gar nicht bestehendes Volkstum konstruiert –die Bulgaren sind gar keine Slawen -, um nach dem Versagen des religiösen Schlagwortes das zeitgemäßere nationale in den Dienst des russischen Imperialismus zu stellen. Daß der Panslawismus aber nur ein Vorwand war, hat Bulgarien im Balkankrieg zur Genüge erfahren. Nicht den Slawen, sondern den Russen soll Konstantinopel gehören. (S.8)
…
Die Aufteilung Persiens (1907) war ein völliger Bruch mit Englands politischen Traditionen. Zum ersten Mal schuf es sich eine große Landgrenze gegen eine militärisch starke Kontinen-talmacht. Welche Opfer brachte man nicht dem Haß gegen Deutschland! Aber man sah doch bald ein, namentlich nachdem die Russifizierung Persiens sich mit ungeahnter Schnelligkeit zu vollziehen begann, daß man die Russen um jeden Preis vom Persischen Golf zurückhalten mußte: denn sonst war Indien bedroht.
…
>Ventil: Dardanellen
…
Sollte dieser islamische Staat allein seine Selbständigkeit bewahren? Hatte man sich mit Frankreich über Marokko und Ägypten geeinigt, so teilte man sich mit Rußland die Türkei. Rußland in Konstantinopel war einigermaßen saturiert; dafür mußte England ganz Arabien und das Zweiströmeland zufallen, wodurch das englische Weltreich die langersehnte Land-verbindung zwischen Ägypten und Indien erhielt. (S.9)
…
Solange Englands Flotte der unsrigen überlegen ist, sind wir bei unserer geographischen Lage genötigt, uns im Mittelmeergebiet auf reine Wirtschaftspolitik zu beschränken, deren Schutz wir den Staaten überlassen müssen, in denen sie sich abspielt. Deshalb ist die Erhaltung und Stärkung der Türkei, ihre Umwandlung in einen modernen Rechtsstaat mit Achtung gebieten-dem Heer, eine der Grundforderungen unserer Weltpolitik.
…Deutschlands weltpolitisches Interesse fordert also die Erhaltung der Türkei. Wir werden Rußland niemals an die Dardanellen lassen. (10)
…
… die Sachlage ist Gemeingut geworden, daß die Zukunft der Türkei unlöslich verknüpft ist mit der Weltgeltung des Deutschen Reiches.
***
Erklärt sich so die Sympathie für Deutschland aus der historischen Tatsache, daß wir der ein-zige natürliche Freund der Türkei sind, wie wir auch als einzige Großmacht dem Sultan noch keine Provinz geraubt haben und nie werden rauben können, so findet damit allein die so erfreuliche deutschfreundliche Stimmung der weiteren nichttürkischen Islamwelt noch keine völlig befriedigende Erklärung.
…
Zunächst: Wie ist die Stellung der Türkei zum nichttürkischen Islam und wie stellt sich dieser zur Türkei? Seit dem Erstarken des Osmanentums im 15. Jahrhundert (S.12) ist es das Bestreben der türkischen Herrscher, nicht nur Sultane, d.h. Inhaber der Staatsgewalt auf einem bestimmt begrenztem Gebiet zu sein, sondern auch als Kalifen, d.h. Stellvertreter bzw. Nachfolger des Gesandten Gottes, in der weltlichen Leitung seiner Gemeinde, d.h. sämtliches Mohammedaner, überhaupt zu gelten.
…
Die Osmanen gingen bei ihrer Eroberung Ägyptens (1517) aufs Ganze, sie zwangen den letzten dort amtierenden Abassidenkalifen, das Kalifat auf das Haus Osmans zu übertragen. Seitdem fühlen sich die Türkensultane als Kalifen, sie erfüllen die vornehmste Pflicht des Kalifen durch Schutz der heiligen Stätten von Mekka und Medina, und sie haben jahrhun-dertelang den Heiligen Krieg geführt und den Islam bis tief in Europa hineingetragen.
(S.13)
Die Revolution und die Einführung der Verfassung brachten hier eine gewisse Änderung. Der bisher islamisch-patriarchalische Staat sollte ein moderner Rechtsstaat werden mit Gleich-berechtigung aller Religionen. Der rein islamische Charakter des Staates mit der Vorkämpfer-tendenz im Sinn des heiligen Gesetzes war unhaltbar, seitdem der Christ gleichberechtigt im osmanischen Heere diente, aber man ließ den Kalifatsgedanken und den Islam als Staats-religion nicht fallen.
…
So wie die europäischen Staaten sich seit langem um die Interessen der Armenier und anderer türkischen Christen als ihre Glaubensbrüder kümmerten, so begann die modernisierte Türkei ihrerseits den Anwalt der mohammedanischen Untertanen europäischer Kolonialgebiete deren Regierungen gegenüber zu spielen (S.14)
…
Der Panislamismus ist deshalb auch keine neue Organisation, sondern ein Gefühl, ein Bewußtsein. Sein Unterton ist dabei die Reaktion Asiens gegen Europa. Die Wirkung der Modernisierung Japans, sein Erfolg über die Russen war ungeheuer. Die Japaner haben…ganz Asien mit japanischen Kinofilmen überschüttet. Da sah selbst der ungebildete Orientale, der nicht lesen und schreiben konnte, unwiderleglich den Sieg Asiens über Europa vor sich. Konnte da der Islam zurückbleiben. Mit dem Umschwung in der Türkei schien die Wieder-geburt des Islam sich zu vollziehen. (16)
…
Die Türkei ist die letzte Hoffnung des ganzen modernen Orients. (17)
…
Ja, man kann direkt sagen, daß der Pressefeldzug unserer Gegner uns bei den Mohamme-danern nur genutzt hat. Wir haben mit reinen Waffen gekämpft und unseren Gegnern in ihren Kolonien niemals durch Agitationen Schwierigkeiten bereitet, sie selbst aber haben durch ihre Gereiztheit die Eingeborenen erst darauf aufmerksam gemacht, daß Deutschland doch ein ernster, wenn nicht der gefürchtetste Feind Englands und Frankreichs sein muß, und schon deshalb verfolgen ihre Blicke mit besonderer Spannung Deutschlands Stellung zu den anderen Mächten. (22)
…Unsere Politik hat sich stets davor gehütet, Länder mit hochstehender mohammedanischer Bevölkerung unserem Kolonialbesitz einzuverleiben. Schon aus diesem Grund hätten wir nie ein Stück von Marokko gewollt, das wir ja einst hätten haben können. Unsere amtliche Islam-politik war eben eine Politik des Vermeidens islamischer Empfindlichkeiten und im übrigen Türkenpolitik.(23)
Das oben Gesagte beweist, daß die Verhältnisse etwas komplizierter liegen (als daß der Kalif nur den Heiligen Krieg auszurufen brauche!) und daß auch die Türkei, deren wirtschaft-liches Rückgrat die christlichen Griechen, Syrer und Armenier bilden, vielerlei Rück-sichten zu nehmen gezwungen ist.[2]
[2] Hervorhebung vom Herausgeber. Mit der Vertreibung der Griechen, der Vernichtung der Armenier und der Abtrennung Syriens ergibt sich für die Türkei nach 1918 gewiß ein Problem!
1. Semester in Lausanne, Theologie und vergleichende Religionswissenschaften;
2. Semester Heidelberg. Eintritt in das Corps Rupertia. Begegnung mit seinem späteren Doktorvater Prof. Bezold, Max Weber, Windelband, Troeltsch, Vossler, Jellinek, Gothein und C. Neumann. Streben nach Synthese der islamischen Wissenschaften
1898 – Reise mit Willy Bornemann nach Italien (Florenz, Rom, Neapel, Palermo)
1899 – Pfingsten Promotion cum laude in Heidelberg
1899/1900 – in Berlin am Orientalischen Seminar bei Prof. Sachau
1900 – Herbst Reise über Spanien (Escorialbibliothek), Tanger, Neapel nach Ägypten (moderne Islamstudien und Khedivialbibliothek); Reise nach Oberägypten, Nubien, Sudan; Koptenklöster am Roten Meer
1901 – Frühjahr Archäologische Studienreise nach Griechenland mit Prof.Dörpfeld (Olympia, Delphi, griechische Inseln bis Kreta).
1902 – Frühjahr Landreise nach Syrien, von Jerusalem nach Damaskus und Konstantinopel (Moschee-Bibliotheken) 3.5.1902 Venia legendi an der Universität Heidelberg: Die Frau im Islam
1905 – Heirat mit Hedwig Schmid aus Augsburg. 1906 a.o. Professor in Heidelberg
1908-13 – Professor am Kolonialinstitut in Hamburg (Geschichte und Kultur des Orients)
Ausbau zur Universität scheitert in Hamburg, (Hamburg wird erst 1919 Universitätsstadt!)
1913 – 1.9. Professor in Bonn: Geschichte und Sprache des Orients
1914-16 -29 Islampublikationen; Kontakte zu Goldziher (Ungarn), Snouck Hurgronje (NL), Massignon (F); in Bonn lehrten zur der Zeit Zittelmann (Jura), Wiöcken (Historiker), Clemen und Ernst-Robert Curtius. Während des 1. Weltkrieges Schwerpunkt Türkeistudien.
Becker war ein Gegner rein militärisch-wirtschaftlicher Kriegsziele. Seine Frau Hedwig läßt sich zur Krankenschwester ausbilden und begleitet Lazarettzüge.
1916 – 16.6. Personalreferent im Preußischen Kultusministerium in Berlin: Geheimer Regierungsrat und Vortragender Rat im MK
1919 – April Staatsekretär unter Kultusminister Haenisch.1920 Kultusminister oder Staatssekretär bis Rücktritt 1930. 1930 Professur Friedrich-Wilhelms-Universität.
1931 – Chinareise im Auftrag des Völkerbundes.1932 Reise in die USA
1933 – 10.2. Tod
Quelle: C. H. Becker. VI HA Nl. Becker Nr. 8603. Geheimes Staatsarchiv Berlin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Das kurze Leben des Ferdinand Becker zur Zeit der Romantik 1805 bis 1834, herausgegeben und bearbeitet von Bert Böhmer Berlin 2005.
A. Vorwort
B. Hauptteil
1. Kindheit in Höxter und Göttingen 1805-1815
Die Eltern
Früheste Jugend Ferdinands
Einfluss des Großonkels Domvikar Ferdinand Becker
Schulzeit in Göttingen
Freundschaft mit Friedrich Rosen
Einführung in die Welt der Dichtung durch die Mutter
2. Jugendjahre in Offenbach 1815-1820
Umzug nach Offenbach am Main
Erziehungsheim auf dem Linsenberg in Offenbach
Botanische und anatomische Studien am Senckenberg’schen Institut in Frankfurt
3. In Schottland 1820-1825
Deutschlehrer bei Familie Andrew Bannatye in Glasgow
Unterbibliothekar an der „Advocates Library“ für das Fach Deutsche Literatur
Studium der Medizin und Naturwissenschaft an der Universität Edinburgh
Aufnahme im Hause von Prof. Dr. John Thompson in Edinburgh
Eintritt in die „Royal Medical Society“ in Edinburgh
4. Studium und Promotion in Berlin 1825-1826
Studium an der Friedrich-Wilhelm-Universität
Promotion zum Dr.med., Approbation als Praktischer Arzt und Operateur
In der Berliner Gesellschaft
Marianne Saling (Salomon)
Die jüdischen Salons in Berlin
5. Wieder in Schottland 1826-1829
Besuch bei Goethe in Weimar
Eindrücke in Südfrankreich
Schiffsreise nach Schottland
An der Universität Edinburgh
Liebe zu Susan
Begegnung mit Thomas und Jane Carlyle
Friedrich Rosen
Reise nach Italien und Studium an der Universität Paris
Im Elternhaus in Offenbach
6. Berliner Jahre 1829-1834
Arzt und Lehrer an der Friedrich-Wilhelm-Universität
Verhältnis zu Marianne Saling
Arzt von Rahel Varnhagen
Heirat mit Ziliaris (Zilli) Roedlich
Rahel Varnhagens Tod und Verlobung Varnhagens mit Marianne Saling
Tod Ferdinands
C. Epilog
D. Nachwort des Herausgebers
A. Vorwort
Das Leben Ferdinand Beckers führt uns mitten hinein in die Zeit der Romantik zu Beginn des 19.Jahrhunderts. In dem Dreieck, das durch die Städte Offenbach – Edinburgh – Berlin bestimmt wird, vollzieht sich sein frühvollendetes Schicksal, dem schon mit 29 Jahren, fast noch am Ende der Jünglingszeit, ein plötzlicher Tod ein tragisches Ende setzt. Als besonders musisch begabter Mensch fühlte sich Ferdinand Becker zur Poesie und Literatur hingezogen. Seine Neigung zur Dichtung und Literatur, angelegt durch die Erziehung der Mutter, aber auch zu den Naturwissenschaften und zur Medizin, befördert durch den Vater, soll in dem Titel „Zwischen Lyra und Aeskulap“ zum Ausdruck kommen. Becker hat selbst lange geschwankt, ob er sich in seiner beruflichen Ausbildung dem einen oder dem anderen Feld ganz zuwenden soll. Als Deutschlehrer und Bibliothekar für das Fach Deutsche Literatur während seiner Jahre in Schottland konnte er seine im Elternhaus begonnene sprachliche Kompetenz weiter vertiefen, so dass er auch später in den Berliner Salons, wo er viele bedeutende Vertreter der deutschen Romantik persönlich kennen lernte, ein gern gesehener Gast war.
Die Berliner jüdischen Salons zur Zeit der Romantik sind damals eine Art Zentrum von Literatur und Kunst nicht nur in Preußen, sondern wirken sich auch auf die Entwicklung in Deutschland aus. Ferdinand Becker begegnet hier den bedeutenden Frauen, von denen Stil und Geist dieser Salons geprägt wird: Rahel Levin-Varnhagen, Henriette Herz, Dorothea Schlegel, den Schwestern Saling, Bettina Brentano-von Arnim, Henriette und Rebekka Mendelssohn und anderen. Einer von ihnen, Marianne Saling-Salomon, bleibt er als Freund und Gefährte über Jahre verbunden. Von den bedeutenden Männern dieser Kreise werden einige seine Freunde oder sind seine Patienten, wie Karl-August Varnhagen von Ense, Abraham Mendelssohn, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Wilhelm von Humboldt, aber auch Goethe und Carlyle sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
Nachdem Becker sich der medizinischen Wissenschaft zugewendet hatte, konnte er sich schon in jungen Jahren einen sehr guten Ruf erwerben, wie es in einem Nachruf in der Literarischen Zeitung von Berlin vom 28.6.1834 zu erkennen ist:
„Sein Name bleibt den Vertretern der Natur- und Arzneikunde unvergesslich. Die ältesten, erfahrendsten Ärzte Berlins würdigten bei kritischen Krankheitsfällen diesen jungen Mann zu Rate zu ziehen, Minister beschenkten ihn mit aller möglichen Aufmerksamkeit und Auszeichnung und seine Kollegen mit seltener Liebe und Freundschaft. Zwei Länder beweinen ihn. Die gelehrte Welt verliert durch diesen herben Tod sehr viel…“
Und der Glasgow Herald schrieb schon 1831 über Becker: “His enthusiasm in the prosecution of any branch of art, literature or amusement, to which he turned his attention, rendered him deservedly a favourite with all with whom he came in contact. While his literacy acquisitions – his vigorous understanding, his ardour in the cultivation of medical science, – and his ready power, as well as his anxious desire, to render his knowledge available for the instruction of others, as manifested in the Royal Medical Society of this place, of which he was elected a President, – encouraged his more immediate friends to look forward with confidence to his speedily attaining a high rank in the medical school of Berlin…”
Dr. Ferdinand Becker ist der älteste Bruder meines Urgroßvaters Karl Wilhelm Becker (1821-1897), welcher der Zweitjüngste in der Geschwisterreihe von fünf Brüdern und drei Schwestern gewesen ist. Ferdinands Entwicklung im Elternhaus in Offenbach, während seines Studiums in Schottland und seiner beruflichen Arbeit in Berlin und seine Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten der Romantik sollen im Kontext des kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens im Mittelpunkt der Darstellung stehen.
*
Neben der einschlägigen Literatur wurden vor allem die Unterlagen über Ferdinand Becker im Stadtarchiv Offenbach, die noch weitgehend unerforscht sind, herangezogen. Dort befindet sich seit 1968 das Becker’sche Familienarchiv. Die Geschichte dieses Archivs ist wechselhaft und interessant. Ursprünglich hatte schon Ferdinande Becker (1811-1893), die jüngste Tochter von Karl Ferdinand Becker, verheiratet mit dem Berliner Philosophen Adolf Trendelenburg (1802-1872), mit dem Sammeln von Unterlagen ihres Vaters Karl Ferdinand Becker (1775-1849) begonnen und dieses „Archiv“ ihrer Tochter Nana Stahl in Tübingen vermacht. Durch glückliche Umstände sind die meisten Unterlagen über die beiden nächsten Becker-Generationen erhalten geblieben.
Während des Zweiten Weltkriegs waren die Becker-Materialien aus Gründen der Sicherheit auf verschiedene Verwandte verteilt: Meine Tante Karola Lexis in Marburg hatte einen Teil aufbewahrt, während das übrige Material sich bei Verwandten in München (Kläre Stahl-Knapp) und Kressbronn am Bodensee (Hellmut Becker) befand, beide wie Karola Lexis Urenkel von Karl Ferdinand Becker. Bei der Besetzung Marburgs durch amerikanische Truppen 1945 haben Soldaten einen großen Teil der Papiere aus dem Fenster geworfen. Obwohl die Unterlagen bald sorgfältig wieder aufgesammelt wurden, sind einige Verluste eingetreten.
Bei einem Besuch Marburgs 1950 während meines Studiums sah ich die archivierten Unterlagen zum erstenmal gesehen. Dabei hatte das Material über den Paderborner DomvikarFerdinand Becker (1770-1814) mein besonderes Interesse gefunden. Ich schrieb dann 1951 die Prüfungsarbeit für das 1. Staatsexamen über das Thema. „Zum InquisitionsprozessFerdinand Beckers“ (94 S. MS). Die Aufzeichnungen Beckers bestehen aus seinen sehr umfangreichen Tagebüchern (allein das „Große Tagebuch“ umfasst 1086 Seiten), dem Tagebuch aus dem Gefängnis und sonstigen Notizen, geschäftlichen Papieren, Rechnungen und einer großen Zahl von Briefen sowie sonstigen Schriften.
Später sorgte Dr. Martin Knapp in München, Schwiegersohn von Nana Stahl-Trendelenburg dafür, dass alle Bestände wieder zusammengeführt wurden und übergab im Einverständnis mit den Verwandten das gesamte „Becker-Archiv“ 1968 an die Stadt Offenbach. In einem Übernahmevertrag wurde geregelt, dass der Becker-Nachlass im Stadtarchiv Offenbach für dauernd aufbewahrt, gepflegt und verwaltet und als gesonderter Bestand geführt wird. Er wurde neu aufgenommen und 1973 in einem Bestandsverzeichnis von 80 Seiten katalogisiert. Der Magistrat sicherte den Erben die Pflege des Familiengrabes von Karl Ferdinand Becker auf dem alten Offenbacher Friedhof zu und erklärte sich bereit, eine Straße nach Dr. Karl Ferdinand Becker zu benennen. Diese Vereinbarung wurde von der Stadt gewissenhaft eingehalten.
Zu Forschungszwecken wurden die Materialien schon vor der Zusammenführung in Offenbach bei der Arbeit zu folgenden Werken genutzt:
Gerhard Haselbach, Grammatik und Sprachkultur – Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft in historischer und systematischer Sicht. Berlin 1966, Verlag Walter de Gruyter.
Georg Weigand, Karl Ferdinand Becker – ein hessischer Pädagoge und Sprachphilosoph des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1966, Verlag Moritz Diesterweg.
Erich Wende, Carl Heinrich Becker – Mensch und Politiker, Biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik. Stuttgart 1959, Deutsche Verlagsanstalt.
Ich habe von 1996 bis 2000 das Stadtarchiv mehrfach besucht. Ich konnte einige Unterlagen, die bestens geordnet und aufgelistet sind, für meine Aufzeichnungen zur Familiengeschichte „Spurensuche“, Konstanz 1999 (MS) benutzen. Einen größeren Teil der vorhandenen Briefe, Urkunden etc. konnte ich dort einsehen, z.T. auch zur weiteren Bearbeitung kopieren.
Das spezielle Material über Dr. Ferdinand Becker ist im Katalog auf den Seiten 31-37 aufgelistet und besteht außer Urkunden, Zeitungsausschnitten, Berichten und dergl. aus über 600 Briefen von Ferdinand Becker, seinen Eltern, seinem Freunde Friedrich Rosen, seiner Freundin Marianne Saling (Salomon), seiner Ehefrau Ziliaris Roedlich, schottischer und englischer Freunde, darunter Thomas und Jane Carlyle usw. Dieses m
Material ist noch weitgehend unerforscht.
Herrn Stadtarchivar Hans G. Ruppel in Offenbach gilt mein besonderer Dank für die vorbildliche Unterstützung des Vorhabens.
Konstanz, im September 2000
Heinz Knab
B. Hauptteil
1. Kindheit in Höxter und Göttingen 1805-1815
Die Eltern
Im Jahre 1804 waren Karl Ferdinand Becker (1775-1849) und seine junge Frau Amalie geb. Schmincke (1782-1838), die Eltern von Ferdinand Becker, nach dem Städtchen Höxter an der Weser gezogen. Der Vater übernahm dort nach seinem medizinischen Abschlussexamen und seiner Promotion zum Dr.med. eine Arztpraxis, wofür er ein Gehalt von 200 Talern erhielt. Dafür musste er aber die Apotheke für die Armen unterhalten. Die ärztliche Praxis nahm Becker stark in Anspruch. Da er viel auf den umliegenden Höfen und Gütern zu tun hatte musste er reiten lernen. Die Tochter Minna berichtet darüber später: „Da nun Vater sehr gewissenhaft und zudem ein eifriger Anhänger Browns war, der sehr für stärkende – sehr teure – Arzneien stimmte, so wanderte mitunter die ganze Besoldung in die Apotheke. Die übrige Praxis war viel auf dem Lande, weshalb ein Pferd gehalten wurde, aber ein recht frommes, welches von dem Dienstmädchen besorgt wurde.“[1]
Das junge Paar hatte erst 1802 geheiratet, damals war Karl Ferdinand zu einer Hochzeit von der Familie Schmincke nach Karlshafen an der Weser eingeladen. Die jüngere Schwester der Braut, Amalie Schmincke, beeindruckte ihn sehr. Sie war bereits die Braut eines anderen. Als er die Möglichkeit fand, sich Amalie wieder zu nähern, löste sie das bisherige Verlöbnis unter Missbilligung der Familie, vor allem deswegen, weil sie einen Katholiken heiraten wollte. Doch sie folgte ihrer großen Liebe. Die Ehe wurde evangelisch eingesegnet. Im Jahre 1805 wurde als ältestes von acht Kindern Ferdinand Becker in Höxter an der Weser geboren. Ferdinand wurde katholisch getauft, alle späteren Kinder aber evangelisch. Das klingt zwar etwas ungewöhnlich, zeigt aber sicher die Toleranz der Ehegatten.
Die Eltern Karl Ferdinands stammten aus Westfalen, wo sie in Neuhaus bei Paderborn ein kleines Bauerngut bewirtschafteten. Mit zehn Jahren nahm ihn sein Onkel Ferdinand Becker, Domvikar in Paderborn, in sein Haus auf und ließ den Jungen das Gymnasium besuchen. Einmal war der Fürstbischof Franz Egon zu einer Schulprüfung persönlich erschienen. Karl Ferdinand hatte einen mathematischen Lehrsatz an der Tafel zu beweisen, was ihm mit Bravour gelang. Als der Fürst ihn fragte, wo er das her habe, antwortete der Knabe bescheiden: „Das habe ich mir so ausgedacht.“ Von da an besaß der Junge die besondere Gunst des Fürstbischofs. Als er sechzehn Jahre alt war, wollte ihn der Fürst an das Priesterseminar nach Hildesheim schicken. Der Vater ließ ihm die Wahl der Entscheidung über den künftigen Beruf, der Onkel half ihm mit gütigem Zureden über manche Zweifel hinweg. Karl Ferdinand entschied sich so für den Priesterberuf. Bereits 1794, mit neunzehn Jahren, erhält Becker eine Lehrerstelle für die unteren Klassen am fürstbischöflichen Gymnasium in Hildesheim. Besonders setzte er sich hier im Sprachunterricht ein. Mit großem Eifer ist er in diesem Beruf tätig. „Ich kannte kein edleres Geschäft als die Bildung derJugend“, so schreibt er später darüber. Bereits mit zwanzig Jahren, 1795, wird er in Hildesheim als Professor geführt.
Schicksalhaft für seinen weiteren beruflichen Weg wird die Verhaftung des Onkels in Paderborn.[2] Karl Ferdinand kann sich nun nicht mehr entschließen, die Priesterweihe zu nehmen, er bricht mit dem geistlichen Stand, verlässt Hildesheim und nimmt in Göttingen ein Medizinstudium auf. Erst viele Jahre später kehrt er, unter völlig anderen Umständen, zu einer Lehrtätigkeit zurück.
Seine medizinische Ausbildung verbindet Becker mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien, die er in seinen Mußestunden betreibt. Er bekennt des öfteren seine Begeisterung für Kant. Insbesondere interessieren ihn die Zusammenhänge von naturphilosophischer Betrachtungsweise und medizinischen Vorgängen. Um es modern auszudrücken: er besitzt schon eine Ahnung von psychosomatischen Zusammenhängen. Im Jahre 1801 antwortet er auf eine Preisfrage der medizinischen Fakultät mit einer preisgekrönten Arbeit zu der Frage, wie sich Wärme und Kälte auf den menschlichen Körper auswirken, die er 1804 in deutscher Bearbeitung als Buch erscheinen lässt.[3]
Die Mutter, Amalie Becker geb. Schmincke stammt aus einer Kaufmannsfamilie in Karlshafen an der Weser. Ihre Entwicklung wird so charakterisiert: „Amalie überragte weit ihre kleinbürgerliche Umgebung. Schulunterricht hat sie wenig genossen, doch hat sie durstig eingesogen, was sich an geistigem Gut anbot. Die Bibel und Jean Paul waren ihre geistige Nahrung, Musik ihr Ausdrucksmittel gewesen.“[4] Mit vierzehn Jahren war sie in das Haus eines Verwandten, des Inspektors Bernstein gekommen, der die Farbmühle in Karlshafen besaß und mit einer älteren Schwester Amalias verheiratet war. „Bernstein war eingroßartiger, genialer und leidenschaftlicher Charakter… Er hat jedenfalls großen Einfluss auf die Entwicklung des jungen, empfänglichen Mädchens gehabt.“ Bernstein, der gut Violine spielte, schaffte für Amalie ein neues Klavier an, so dass mit weiteren Freunden bald in einem Quartett musiziert werden konnte.
„Was Mutter von ihren Mädchenjahren erzählte, wie neben und nach tüchtigem Arbeiten in Haus und Garten die jugendlichen Scharen Feld, Wald und Gebirge durchwanderten, in Scherz und Spiel nicht nur, sondern auch in anregenden Gesprächen über die höchsten und heiligsten Interessen – das hörten wir allzeit gar zu gern mit an.“[5] Durch den Umgang mit Studenten, Amalies Bruder studierte Medizin in Göttingen, und Einladungen in adligen Häusern wurde ihr Interesse für die schönen Künste, Literatur und Poesie geweckt und konnte sich beim Lesen entwickeln. Amalie entwickelte sich zu einer gewandten, gesellschaftlich erfahrenen jungen Frau.
Früheste Jugend Ferdinands
Aus der frühen Jugend Ferdinand Beckers geben Aufzeichnungen des Vaters Karl Ferdinand Becker[6] anschaulich Auskunft. Da schreibt der junge Vater am 24. April 1805: „Da liegt er, der erst vor einigen Stunden sich losgelöst hat von der Mutter. Er schläft, nachdem er eben erst die erste Milch der entzückten Mutter getrunken hat. Ein Wesen, das schläft und trinkt – wie uninteressant! Und doch, wie lieb!“ In dem Anblicke des vegetierenden Kindes knüpfen sich schöne Hoffnungen an frohe Erinnerungen. Darum grüßte ihn die Mutter, darum der Vater mit Freudentränen.
„Es soll ein Mensch aus ihm werden. Der Knabe ist gesund, und das Leben regt sich schon mächtig in seinen zarten Gliedern. Das noch schlummernde geistige Leben wird vielleicht in ihm mit Macht erwachen und mein ganzes Leben will ich ihm weihen, sagte die Mutter. Und mein Weib, ich weiß es, wird Wort halten, sie wird mit Mutterliebe für seine Erhaltung sorgen, solange er schwach ist. Sie wird sein Herz zur Liebe bilden. Und ich es betrachte es als eine ganz große Wohltat des Himmels – mein Weib wird meinen Sohn nicht verweichlichen. Sie wird nicht, wie gewöhnliche Mütter, durch tausend Huddeleien die freie Entwicklung der Natur in ihm hemmen. Darum gehe ich mit Mut an das Geschäft, daswichtigste, welches ich je unternehme, das Geschäft, meinen Sohn zu erziehen. Er soll ein guter, ein herrlicher Mensch werden. Er wird es werden. Und dass er nicht gehindert werde, das ist mein Geschäft. Sonderbar! Die Hebamme wollte ihm die Zunge lösen. Wie wunderbar! Als ob die Sprache des Menschen nicht auch ein Geschenk der Natur, sondern Werk der Kunst wäre! Der Geist wird ihm die Zunge lösen, und nicht die Schere der Hebamme. Sie lösen die Zunge und fesseln den Geist. Mein Sohn soll kein Schwätzer werden.“
In den Gedanken des philosophisch geschulten dreißigjährigen Vaters zeigt sich der Geist der Aufklärung, insbesondere die Begeisterung Beckers für die Gedanken Rousseaus für eine freie und „natürliche“ Entwicklung und Erziehung des Kindes sehr deutlich. Sein großer pädagogischer Optimismus, der ihn Jahre später sein eigenes Erziehungsinstitut in Offenbach gründen lässt, wird hier besonders offenkundig. Die religiösen Anschauungen Beckers werden in folgendem Eintrag in das Kinderbüchlein deutlich:
„29. April. Mein Sohn ist getauft. Er soll ein Christ werden – der Himmel behüte ihn aber vor dem kalten, verständigen Protestantismus unseres Zeitalters. Und vor dem geistlosen Mechanismus, in welchem der Katholizismus zu erlösen scheint. Sein Gefühl wird früh erwachen. Vom Herzen der Mutter wird sein Herz lebendige Wärme schöpfen. Sein Vater wird wachen über ihn, dass er sein Gefühl nicht an das Kleine, nicht an das Gemeine vergeude. An seine Eltern wird er sich mit dankbarer Liebe anschmiegen. Die Schönheit und die Größe der Natur wird ihn anziehen. Vielleicht werden ihn die Griechen und die Römer lehren, der Kunst zu huldigen. Die Hoheit der Tugend wird ihn aus der Geschichte ansprechen. So wird ihm überall das Idealische vorschweben und das Streben nach dem Idealischen seine Brust schwellen. In der Natur und im Leben wird er überall den Strahl aus einer höheren Welt wiederfinden. Mit einer religiösen Innigkeit wird er überall das Schöne, Gute und Große umarmen. Er wird der übersinnlichen Welt angehören mit glühendem Herzen an dem Idealischen hangen – er wird Katholik sein.“
Noch in Höxter folgen dem erstgeborenen Sohn rasch hintereinander, immer im Abstand von zwei Jahren, drei Schwestern: Sophie (*1807), Minna (*1809) und Ferdinande (*1811): so bleibt es nicht aus, dass dem bis dahin einzigen Sohn besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vater und Mutter kümmern sich intensiv um seine Erziehung. Schon mit vier Jahren kann er lesen, mit sechs schreibt er kleine lateinische Briefe. Eine Schule besucht er zu dieser Zeit noch nicht. Zu seinen Schwestern hat Ferdinand ein herzliches Verhältnis, oft geht es munter und lustig in dem jungen Arzthaushalt zu, Spielen, Singen und im Garten und in der Natur herumspringen sind zu jeder Jahreszeit gern geübte Aktivitäten der Becker-Kinder und ihrer Freunde.
Einfluss des Großonkels Domvikar Ferdinand Becker
Zur intellektuellen Entwicklung des frühreifen und hochbegabten kleinen Ferdinand hat vor allem der Großonkel und ehemalige Domvikar Ferdinand Becker (1770-1814) viel beigetragen. Dieser war völlig mittellos von seinem Neffen in Höxter in den Haushalt aufgenommen worden und bezog eine Stube im Doktorhaus. Wie er einst die Erziehung seines Neffen Karl Ferdinand in Paderborn geleitet hatte, so betätigte er sich jetzt in seinem stark entwickelten Lehrbedürfnis an der Erziehung seines Großneffen. Nachdem er im Heim seines Neffen Dr. Karl Ferdinand Becker in Höxter liebevolle Aufnahme gefunden hatte, nahm er sich der Erziehung des vier- bis fünfjährigen Ferdinand an, für den er ein Lehrbuch in der Art der damals üblichen Elementarbücher verfasste. Großonkel und Neffe stellten zusammen eine „Erdkugel, auf der das Meer vertieft, die Berge erhöht waren“ her. Amalie Becker, die junge Mutter vermerkte nicht ohne Sorge: „Vom Onkel wird er beständigangeregt, ist leider oft und viel in dessen schmutziger Stube.“ 1809 vermerkt der Vater in seinem „Kinderbüchlein“ über Ferdinand: „Herrliches Aufblühen des Körpers und des Geistes. Ungewöhnlicher Beobachtungsgeist. Er schreibt die Namen auf die Schiefertafel mit Frakturbuchstaben. Auf des Onkels Stube sind viele Landkarten, die ihm dieser auf seine Art erklärt.“[7]
Auf diesen Domvikar Ferdinand Becker sei hier ein wenig ausführlicher eingegangen. Er hatte schon viele Jahre vorher in Paderborn auf die Entwicklung seines Neffen Karl Ferdinand ganz entscheidenden Einfluss gehabt. Und das geschah so: Schon mit zehn Jahren hatte ihn der Onkel in sein Haus genommen, ließ ihn das Gymnasium in Paderborn besuchen und unterrichtete ihn am Nachmittag selbst. Karl Ferdinand Becker beschreibt in seiner Selbstbiographie[8] sehr anschaulich seine Stunden mit dem Onkel Domvikar: „Dann stieg der gute Alte in unsere Kinderwelt herab, redete unsere Sprache, reihete neue Kenntnisse an die schon vorhandenen, setzte durch eine reizende Darstellung die Phantasie in Schwung… Ohne mühsame Anstrengungen erweiterte sich das gebiet unserer Kenntnisse. Ehrfurcht und Liebe fesselten uns an den Onkel. Was aus seinem Munde ausging, hatte für uns den Stempel der Wahrheit und Heiligkeit. An unseren Spielen nahm er gern teil. Er verstand es in diesem unsere Kräfte zu entwickeln… Es war die Allgewalt der Wahrheit, die ihm zur Seite stand und die unwiderstehlich den Jüngling anzieht.“
Durch das Nebeneinander von streng kirchlicher Schulerziehung durch „Exjesuiten“[9] und die freie, am Geist der Aufklärung orientierte Hauserziehung durch den Onkel geriet Karl Ferdinand bald in Konflikte. Der Onkel unterrichtete ihn in Naturkunde, Geschichte und Geographie und versuchte, ihm „lautere Begriffe von Religion beizubringen und überhaupt sein Denkvermögen zu entwickeln.“ Karl Ferdinand spürte im Onkel die starke Erzieherpersönlichkeit und wandte ihm sein Herz zu. Mit sechzehn Jahren hatte er sich deshalb erst nach vielen Zweifeln und längerem Zögern für den Priesterberuf entschieden und das Priesterseminar in Hildesheim bezogen.
Der Domvikar hatte ein wechselvolles Schicksal gehabt, als er 1804 zu seinem Neffen Karl Ferdinand nach Höxter zog. Schon als junger Geistlicher im Fürstbistum Paderborn war er mit dem Franziskanerorden in Konflikt gekommen, weil er sich auf eine alte Verordnung des Bischofs berief, nach der es auswärtigen Mönchen nicht erlaubt war, ohne Erlaubnis des Ortspfarrers zu betteln. Er verbot ihnen kurzerhand das Betreten der Pfarrei. Dagegen hatte er ein gutes Verhältnis zu seinen benachbarten Pfarrbrüdern, die ähnlich wie er dachten. Becker wollte den Gläubigen im Sinne Kants einen Weg „zum moralischen Reiche Gottes“ weisen und lehnte den oft äußerlichen, formalistischen Glaubensbetrieb der katholischen Kirche ab. Es gelang ihm bald, sich das Vertrauen der Gemeinde durch seine leutselige Art zu erwerben. Die schlimmsten abergläubischen Bräuche konnte er abschaffen, die Mönche ausschalten, die Predigt im Gottesdienst mehr in den Mittelpunkt stellen. Auf eigene Kosten schaffte er Bücher an und suchte die Volksbildung zu verbessern.
Als Domvikar war er in Paderborn zunächst unter dem Schutz des aufgeklärten und fortschrittlichen Fürstbischofs Wilhelm Anton von Asseburg zu erheblichem Einfluss gekommen und hatte als Archidiakonalkommissar und fürstlicher Schulkommissar viele Reformen gegen den großen Widerstand eines Teiles des Klerus und vor allem der Ordensangehörigen durchsetzen können. Mit vierzig Jahren wird Becker im Jahre 1780 zum Archidiakonalkommissar ernannt. Sein Distrikt umfasst die Stadt Paderborn und zahlreiche Pfarreien, insgesamt 30 000 Menschen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Aufsicht über die Geistlichkeit und über das Vermögen der Kirchen und Pfarreien, die Leitung des Volksunterrichts und die geistliche Jurisdiktion. Dieser neue Wirkungskreis entsprach ganz Beckers Neigungen. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Abschaffung der lateinischen und die Einführung deutscher Messgesänge. Dazu gab Becker eine Sammlung deutscher Messgesänge heraus, die in Paderborn gedruckt und mehrfach aufgelegt wurde. Besonders nahm er sich des Erziehungswesens an, vor allem der Landschulen, die sich in trostlosem Zustand befanden. Häufig unterrichtete er selbst, um den Lehrern ein Beispiel zu geben. Vor allem versuchte er, durch Unterrichtung der Lehrer diesen die Grundzüge einer neuen Methode beizubringen. Beckers Ruf als Pädagoge war zu dieser Zeit weit über die Grenzen des Fürstbistums hinausgedrungen. In der „Nationalzeitung der Deutschen“ hieß es 1793 in einem Bericht über Paderborn u.a.: „In den hiesigen Bürgerschulen scheint es etwas lichter zu werden indem einige der hiesigen Geistlichen, unter denen sich besonders der Domvicar Becker durch hellen Kopf und redliche Tätigkeit sehr auszeichnet, richtige Begriffe und nützlichere Lehren in Umlauf zu bringen und eine zweckmäßigere Methode als die bisherige einzuführen suchen. Der Segen des Himmels komme über deine Bemühungen, verkannter Edler!“
Schon seit Jahren hatte sich der Konfliktstoff zwischen Becker und der Amtskirche, die ja in der Person des Fürstbischofs auch weltliche Obrigkeit war, angehäuft. Nach dem Tode des ihm wohlgesonnenen Fürstbischofs von Asseburg wurde Franz Egon von Fürstenberg, ein orthodoxer und streng konservativer Mann, dessen Nachfolger. Becker verlor seine Stellung als Archidiakonalkommissar und wurde wieder auf seinen ursprünglichen, kleinen Wirkungskreis beschränkt. Er nahm seine Studien und seine schriftstellerische Tätigkeit wieder auf und beschäftigte sich besonders mit Pädagogik. Beckers Nachfolger als Archidiakonalkommissar, der Exjesuit Hannemann, machte Beckers Maßnahmen entweder rückgängig oder ließ sie im Laufe der Jahre einschlafen.
Eine erste Anklage wegen Ausleihens „ketzerischer und schädlicher Bücher an dieSchul-meister“ im Jahre 1796 konnte von Becker noch entkräftet werden. Er fühlte sich in dem Bewusstsein, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen und in dem Gefühl der Verbunden-heit mit Gleichgesinnten in Paderborn und darüber hinaus noch immer sicher und unterschätzte die Möglichkeiten seiner Gegner. Am 8.Juni 1798 wurde er abends gegen 22 Uhr durch einen Unteroffizier und vier Soldaten verhaftet und in einer Zelle im Franzis-kanerkloster eingesperrt. Von einer Gruppe junger Adliger unter Mitwirkung einer Nonne wurde Becker einige Wochen später aus dem Gefängnis befreit und über die Grenze nach Arolsen gebracht. Ob auch der Neffe Karl Ferdinand an der Befreiung mitgewirkt hatte, ist nicht eindeutig festzustellen, kann aber vermutet werden.
Im Jahre 1799 wurde der „Große Kirchenbann“[10] gegen Becker verhängt: Das bedeutete Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Kirche, Verlust der geistlichen Würde und aller kirchlichen Ämter und Einkünfte. Becker verklagte den Fürstbischof von Paderborn vor dem Reichskammergericht in Wetzlar, nach dessen Auflösung vor dem König von Preußen, nachdem Paderborn 1803 preußisch geworden war; später vor dem König Jerome Bonaparte in Kassel. Die fünfzehn Jahre, die Becker noch zu leben hat, sind erfüllt von den verschiedenen Rechtsverfahren, mit denen er sich gegen das ihm zugefügte Unrecht zur Wehr zu setzen versucht, die jedoch erfolglos blieben.[11]
Als die Familie des Neffen 1811 nach Göttingen verzieht, wo Karl Ferdinand eine neue Aufgabe übernommen hatte, bleibt der alte Großonkel Becker allein in Höxter zurück. Es gibt rührende Kinderbriefe des sechs- bis achtjährigen Großneffen im Becker-Archiv, die zum Teil in lateinischer Sprache geschrieben sind und von der Anhänglichkeit des Kindes an den Großonkel zeugen. Aus den Briefen geht hervor, dass Ferdinand schon mit sieben Jahren den Cornelius Nepos und den Julius Caesar in lateinischer Sprache gelesen hat. In einem seiner Briefe schreibt der kleine Ferdinand dem Großonkel Domvikar, dessen Notlage er kennt: „Dubrauchst die Briefe nicht frankieren!“ Und auf der Rückseite dieses Briefes steht von der Hand des Großonkels: „…schenkte mir bei der Abreise einen Louisdor. Sollte ich mit meinen Forderungen reüssieren, so schenke ich dem Ferdinand von meiner Hinterlassenschaft 100 Pistolen, ohne dass er dadurch in seinem Anteil verkürzt werden soll…“
Schulzeit in Göttingen
Im Jahre 1811 zieht die Familie nach Göttingen um. König Jerome Bonaparte organisierte die Pulver- und Salpeterproduktion im Königreich Westfalen neu und beauftragte ein Direk-torium von Chemikern und Physikern mit der Leitung. Karl Ferdinand Becker erhielt die Stelle eines „Sous-Directeur“ im Departement Leine/Harz mit Wohnsitz in Göttingen. Daneben hielt er an der Universität Göttingen eine Vorlesung zum Thema: „Die Naturgeschichte des Salpeters und die künstliche Gewinnung desselben“.[12]
Ferdinand bezieht das Gymnasium in Göttingen. Weil die Lateinkenntnisse für die Einstufung in die Klassen maßgebend war, kommt er mit neun Jahren in die Sekunda. Hier schließt er bald Freundschaft mit Friedrich Rosen (1804-1837), dem Sohn des Kanzleidirektors Rosen aus Detmold. Beide sind wissensdurstig und an selbständiges Arbeiten gewöhnt. Die Buben tauschen Steine aus ihren Mineraliensammlungen, erhalten auch zusammen den ersten Englisch-Unterricht bei Vater Rosen, der ein fein gebildeter Mann ist. Englisch kann man nur privat erlernen, da es damals nicht zum Lehrplan des Gymnasiums gehörte. Die Freundschaft der beiden wird auch später bestehen bleiben. Nicht weniger als siebenundvierzig aus-führliche, mehrseitige Briefe aus den Jahren 1820 bis 1834 sind im Becker-Archiv vorhanden und geben ein vorzügliches Bild ihrer Schul- und späteren Studienzeit, ihren beruflichen Werdegang, aber auch über ihr Denken und ihre Urteile über Menschen und Zeitgeschehen. Beide leben einintensives Leben, das für beide schon vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr enden wird.
Mit Beginn der Freiheitskriege werden auch sie von der patriotischen Begeisterung erfasst, fertigen Holzschwerter an und ziehen damit, Volks-, Wander- und Soldatenlieder singend, durch die Straßen. Auch in Briefen berichtet Ferdinand über seine Beobachtungen bei den verschiedenen Heeren der Alliierten, wobei ihm vor allem die Russen mit ihren Hilfstruppen aus asiatischen Völkerschaften Staunen bereiten. In einem Brief des achtjährigen Ferdinand aus dem Jahr 1813 an den Großonkel heißt es:
„Lieber Onkel, wie geht es Dir in dieser unruhigen Zeit und hast Du durch diese Veränderungen nichts verloren? Wir haben schon sehr lange keine Besoldung bekommen, hoffen aber, daß Vater bald angestellt wird. Hier haben wir seit drei Monaten sehr vielMerkwürdiges gesehen, unter diesem einen Baschkiren von der asiatischen Grenze, er hatte eine rote, spitze Mütze, mit Schafsfell gefüttert, auf… und an den Seiten trug er zwei große, lederne Taschen, in welcher eine er den Bogen, in die andere die Pfeile steckt. Außer diesen hatte er gar keine Bewaffnung… Es wird jetzt in Hannover-Landen eine Landwehr errichtet, in welcher alle von 18 bis 30 und im Notfall bis 40 Jahren unter Gewehr treten müssen… Der Kronprinz von Schweden Bernadotte ist hier mit den englischen Generalen Stewart und Hammerstein und mehreren preußischen Generalen, unter diesen Blücher, und ich glaube auch von Bülow, gewesen… Es werden jetzt viele gefangene Franzosen durchgeführt… Ich lerne jetzt sehr viel auf der Schule, nämlich Lateinisch, Griechisch, physische und politische Geographie, Geschichte und Rechnen. Außerdem lerne ich beim Hl. Consistorialrat Ballhorn Englisch und beim Vater Geometrie… Schreibe mir bald wie es Dir geht… Ich werde stets bleiben Dein getreuer Freund Ferdinand.“[13]
Minna Becker, die jüngste Schwester, schildert später in ihren Erinnerungen die Atmosphäre im Hause, als Ferdinand noch klein war, so:
„Vaters sittliche Strenge und Mutters unerschöpfliche Herzensgüte waren sicherlich gute Lehrer. … Außerdem Bücher, deren Werth wir später noch an den eigenen Kindern erprobten: Krummacher mit seinen Parabeln und dem Festbüchlein, Kohlrausch mit seiner biblischen Geschichte, die wir wieder und wieder bei der Mutter durchlasen, bis die kräftige Sprache der Bibel uns unentbehrlich war. Dann lasen wir auch den erklärenden Teil dazu, meist Reisebeschreibungen, die uns das Leben der Patriarchen, der Könige und Apostel lebendig und verständlich machten, Grimms Hausmärchen (soeben erst erschienen) und Hebels allemanische Gedichte, beides ein guter Anfang zu Sprachstudien – und dazu Robinson und Baff’s Naturgeschichte nebst einem recht prosaischen Liederbuche.“[14]
Die 1813 beginnenden Freiheitskriege mit ihrer patriotischen Begeisterung veranlassten Becker, der nicht länger Beamter des französischen Königs Jerome sein wollte, sich als Arzt zur Betreuung der Verwundeten der gegen Napoleon verbündeten Heere zur Verfügung zu stellen. Er arbeitete in Lazaretten in Frankfurt-Sachsenhausen und später in Heusenstamm im Fürstentum Ysenburg. Die Familie blieb in Göttingen zurück, wo Amalie Becker ihre liebe Not hatte, ihre fünf Kinder durchzubringen, weil der Vater in den Lazaretten zunächst gar keine Einkünfte hatte.
1814 schreibt der neunjährige Ferdinand aus Göttingen an den Vater und teilt ihm mit, dass er beim Studium des Systems der Pflanzen weder im griechischen noch im lateinischen Lexikon die Klassen und die Bedeutung der Pflanzen finden konnte, darüber aber in Vaters Büchern das Linné’sche System entdeckt habe. Außerdem möchte er vom Vater wissen, was es mit der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. auf sich hat und bittet ihn um „Reliquien“ aus den alten römischen Zeiten, weil der Vater in Frankfurt und Offenbach sicher Gelegenheit habe, römische Überreste zu finden.
2. Jugendjahre in Offenbach 1815-1820
Nach Beendigung der Freiheitskriege, an denen Karl Ferdinand Becker als Arzt in Lazaretten im Deutschordenshaus an der Mainbrücke in Sachsenhausen bei Frankfurt am Main und Heusenstamm als „Dirigierender Oberarzt“ teilgenommen hatte, kam Becker in das Städtchen Offenbach, vor den Toren Frankfurts am Mainufer gelegen. Offenbach hatte damals etwa 8000 Einwohner und war Residenz des Fürsten von Ysenburg-Philippseich-Offenbach, der allerdings 1815 seine Souveränität verlor. Becker gefiel es in Offenbach so gut, dass er beschloss, sich dort als Arzt niederzulassen. Diesmal soll es ein Entschluss für das ganze weitere Leben sein. Er schreibt am 6.Januar 1815 an seine Frau: „Gestern Abend bin ich in mein freundliches Offenbach eingezogen. Heiter und wohlgemuther grüße ich Dich nun aus unserer zukünftigen Heimath. Ob Du Ostern oder Johannis hierher kömmst habe ich ernstlich überlegt, und nachdem ich alles erwogen, gefunden, daß Du Ostern hierher ziehen mußt. Höre meine Gründe: Unsere Niederlassung in Offenbach darfst Du nicht mehr, wie damals mein Ziehen nach Cassel, als einen Versuch ansehen. Offenbach ist und bleibt von nun an unsere Heimath.“
Amalie Becker lebte mit den Kindern noch immer in Göttingen, wo sie oft unter schwierigen Verhältnissen die Kriegsjahre verbringen musste. Wie sie diese Nachricht aufnimmt, zeigt uns ihre Antwort vom 13.Januar 1815: „Wie soll ich Dir, mein lieber Becker, herzlich genug danken für Deinen heiteren Brief, der zum erstenmal seit langer Zeit eine wahre Heiterkeit in mir bewirkt hat. Ich fürchtete mich vor der Bestimmung der Abreise, und als sie kam, machte sie mich fröhlich. So werde ich denn, wenn’s Gott will, einziehen in Offenbach, und werde Dich wiederhaben und glücklich seyn, obgleich ich jetzt noch nichts erwarte als Sorgen…“
Dr. K. F. Beckers Arztpraxis war finanziell zunächst kein großer Erfolg beschieden. Becker fühlt sich besonders den sozial Schwächeren verantwortlich, die ihn kaum bezahlen konnten. Bei den Wohlhabenden stellt er nur zu oft fest, dass ihre Krankheiten weniger ernst als eingebildet waren und sagte in seiner geraden Art in solchen Fällen seine Meinung offen heraus. So entstand bald wirtschaftliche Not in der jungen Familie, zumal rasch hinterein-ander, zu den vier Kindern noch weitere Geschwister geboren werden. Von 1805 bis 1821 sind es insgesamt vier Söhne und drei Töchter. Die Beschäftigung mit der Erziehung der Kinder beansprucht den fast Fünfzigjährigen mehr und mehr, Aber Becker gewinnt auch zunehmend Interesse daran, wieder zu unterrichten und junge Menschen erziehen zu können, wobei ihm auch seine Erfahrungen als junger Mensch zugute kommen, die er als Lehrer im Priesterseminar in Hildesheim gewonnen hatte.
So nimmt er eine Anregung des englischen Konsuls in Frankfurt, der ein guter Bekannter war, gern auf und kann durch dessen Vermittlung einige junge Schotten und Engländer in sein Haus aufnehmen, die zusammen mit den eigenen jüngeren Kindern erzogen und unterrichtet werden.
Becker beschließt, sich ganz dem „Erziehungsgeschäft“ zu widmen, zumal sein Interesse für die ärztliche Praxis mehr und mehr geschwunden war.
So entsteht in Offenbach in den nächsten Jahren eine private Lehr- und Erziehungsanstalt. Aufgenommen wurden nur Knaben, Ausländer, die Deutsch lernten und junge Deutsche, die oft ziemlich verwöhnt waren und daheim Schwierigkeiten hatten. Das neue Institut floriert nach kurzer Zeit, sein Ruf verbreitet sich, so dass schon bald nicht mehr alle Bewerber aufgenommen werden können. In der allgemeinen hochgestimmten Aufbruchsstimmung im Anschluss an die napoleonische Zeit wandte sich das allgemeine Interesse in starkem Maße den Fragen von Bildung und Erziehung zu, und Deutschland galt im Ausland weithin als das klassische Land dieses pädagogischen Aufbruchs. Um 1817 kann Becker ein schönes stattliches Haus auf einer kleinen Anhöhe unmittelbar am Ufer des Mains, in einem großen, hübschen Garten gelegen, erwerben. Das Haus lag fast am Rande der Stadt Offenbach in Richtung Frankfurt.
Ein Zeitgenosse schreibt später in seinen Erinnerungen darüber:
„Auf dem Linsenberg befand sich damals nur ein Haus, aber dieses beansprucht unser Interesse in mehrfacher Hinsicht. Es ist das Jakob d’Orvill’sche Haus mit seinem schönen, auf den Strom gehenden Garten, dem letzten in der Reihe flussabwärts. In die eiserne Wetterfahne auf dem obersten Grat des Daches ist die Jahreszahl 1789 eingeschnitten, das ist also unzweifelhaft das Jahr der Erbauung… Nachher besaß jenes Haus auf dem Linsenberg Dr. Karl Ferdinand Becker, der… um 1815 als praktischer Arzt nach Offenbach gekommen war, wo er eine Erziehungsanstalt errichtete. Schon von Jugend an sich neben seinem eigentlichen Berufe auch mit den Sprachwissenschaften beschäftigend, ging Becker, durch den seinen Söhnen und Zöglingen zu erteilenden Unterricht noch besonders darauf hingeführt, und von dem Zauber des gewaltigen Jakob Grimm mächtig angezogen, bald ganz zu dieser Wissenschaft über, in welcher seine Arbeiten später so epochemachend werden sollten.
Seine Erziehungsanstalt aber errang sich mit den Jahren immer größeren Ruf, besonders auch in England, welches viele junge Leute, deren eine größere Anzahl hier mit uns auch die Realschule besuchte, in das Pensionat auf dem Linsenberg in Offenbach entsandte, in dessen Leitung Becker später seinen Schwiegersohn Dr. Georg Helmsdörfer zur Seite stand… Um aber auch des bedeutenden Grammatikers Namen in dieser Stadt seines ruhmvollen Wirkens zu verewigen, wurde eine unserer neuen Straßen „Becker-Straße“ zubenannt.“[15]
Zu der Herkunft des Namens Linsenberg macht Pirazzi folgende Anmerkung:
„Woher der Name Linsenberg kommt, ist Offenbachs Urkunden und ältesten Einwohnern fremd. Es mag möglich sein, daß an dieser Stelle ehedessen Linsen gebaut wurden; allein ich vermute, daß es ein Spottname ist, welcher dadurch entstand, weil diese kleine Anhöhe als Hügel den Namen nicht verdiente, man ihn spottweise „Linsenberg“, d.h. ein „Berg wie eine Linse“ nannte.“[16]
Offenbach war damals eine kleine, aber aufstrebende Stadt, in der sich „Manufakturen“, vor allem von Hugenotten betrieben, entwickelt hatten. Die französischen Zuwanderer waren unternehmerisch geschickt und besaßen einen hohen Leistungsstand an handwerklichen Kenntnissen und Fertigkeiten. So gab es Seiden- und Textilhandel und –industrie, eine Schnupftabak- und eine Kutschenfabrik sowie eine „Portefeuillefabrik“, wohl der Anfang der berühmten späteren Offenbacher Lederindustrie.
Aber auch die Kultur hatte in Offenbach ihren Platz gefunden. Pirazzi macht seine Leser dazu mit den anderen, in unmittelbarer Nähe des Becker’schen Hauses auf dem Linsenberg stehenden Häusern und ihrem Bezug zu Offenbachs wichtigsten historischen Persönlichkeiten bekannt und stellt fest:
„Es ist ganz merkwürdig, wie das unregelmäßige Fünfeck, welches durch die Herrn-, Dom- und Kanalstraße, die Speyerstraße und den Linsenberg eingegrenzt sind, alle die großen und berühmten Namen, welche … Offenbach Glanz verleihen, sich auf dieses Stadtviertel verteilen, welches das klassische Stadtviertel von Offenbach genannt zu werden verdient, die Namen André, Bernard, Goethe, Lili, La Roche, Bettina…Spieß, Becker und Senefelder.“[17]
Im Becker’schen Hause auf dem Linsenberg wurde lange Zeit ein kleines Zimmer in der oberen Etage gezeigt, in dem Goethe bei einigen seiner zahlreichen Besuche in Offenbach während seiner Verlobungszeit mit Lili Schönemann übernachtet haben soll, als das Haus noch der Familie d’Orville gehörte. Pirazzi erwähnt das auch, meldet gleichzeitig aber auch Zweifel an.[18]
An der pädagogischen Arbeit auf dem Linsenberg war die ganze Familie beteiligt: K.F.Becker selbst erteilte den Unterricht im Deutschen, insbesondere in der Grammatik, und gab den Ausländern Deutschunterricht. Außerdem unterrichtete er in Naturgeschichte und Mineralogie. Großen Wert legte er auf die Prinzipien der Anschauung und des selbständigen Tuns und Erfahrens. Die Schüler untersuchten an rohen Kartoffeln, die sie zerschnitten, die verschiedenen Kristallformen, legten Pflanzen ein und untersuchten sie und vertieften sich in das Linné’sche System. Die älteren Schüler besuchten außerdem die Offenbacher Realschule, wo auch Dr. Helmsdörfer mit unterrichtete.
Die Mutter nahm sich des Religionsunterrichts an und gab auch in Geographie und Geschichte Stunden. Ferdinande, die jüngste Tochter, betreute die Gruppe der vier- bis siebenjährigen Knaben, während Minna, die mittlere Tochter, die Zehn- bis Zwölfjährigen unterrichtete und vor allem den Mathematikunterricht erteilte. Sophie, die älteste Tochter, war die rechte Hand der Mutter im Haushalt der ganzen Anstalt und war gleich dem Vater Autorität, auf der schon früh die Sorge um den Fortbestand des Ganzen lastete.
Als Hauslehrer wurden Christian Pansch für den Latein- und Französischunterricht und außerdem Dr. Georg Helmsdörfer als Beckers Stellvertreter in der Leitung des ganzen Hauses eingestellt. Beide heirateten später die ältesten Becker-Töchter Sophie und Minna.
Becker richtet die Erziehung in seiner kleinen Anstalt an den Prinzipien der Aufklärung und der Kant’schen Philosophie aus. Sie soll liberal und natürlich sein, als Ziel aber strebt er die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufgabe und der Pflicht an. Durch seinen Deutsch-unterricht wird Becker die Unvollkommenheit der damals vorhandenen Grammatiken bewusst. Zu dieser Erkenntnis gelangte er besonders durch Unterricht mit Ausländern. Er sucht Verbindung zu Schulmännern in Hanau, Darmstadt und Frankfurt und beginnt um 1820 damit, sich mit Fragen der Sprachforschung und –wissenschaft zu beschäftigen. Dabei muss er sich im wesentlichen autodidaktisch weiterbilden und in die linguistische Wissenschaft einarbeiten, wobei er allerdings durch sein theologisches Studium, seine gute Kenntnis der alten Sprachen als Lehrer am bischöflichen Gymnasium in Hildesheim eine solide Grundlage besitzt, auf der er nun aufbauen kann. Einer seiner Schüler, der Engländer R.P.Gillies, urteilt dreißig Jahre später: „I know not of any German philologist, not even excepting the Brothers Grimm, more estimable than Dr. Becker.“
In Beckers Haus auf dem Linsenberg versammelt sich regelmäßig ein Kreis von Gelehrten und diskutiert über grammatische und linguistische Fragen. Beckers Bibliothek umfasst bald neben deutschen auch die bekanntesten Grammatiken der englischen und anderer nordischer Sprachen. Er beginnt unter dem Einfluss der Werke der Brüder Grimm mit vergleichenden Studien des Althochdeutschen, des Sanskrits und des Russischen. Später erforscht er sogar so ausgefallene Bereiche wie die baskische Sprache und Südsee- und Indianersprachen – wirklich eine ganz ungewöhnliche Begabung, vor allem, wenn man bedenkt, dass er als Laie erst im reifen Mannesalter begonnen hatte, sich mit den linguistischen Wissenschaften zu beschäftigen.
Das Becker-Archiv enthält eine große Anzahl von Briefen, die Becker mit führenden Sprachwissenschaftlern gewechselt hat. Dazu zählen vor allem Jakob Grimm, Wilhelm von Humboldt, Ernst Moritz Arndt und Schlegel. Es kommt auch zu persönlichen Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten.
In dieser Atmosphäre wächst Ferdinand als Ältester seiner sieben Geschwister heran. Besonders von der Mutter erfährt er eine intensive Förderung im sprachlichen Bereich und wird schon in frühem Alter mit Werken aus Literatur und Poesie bekannt gemacht.. Die Mutter verehrt besonders den Dichter Jean Paul. Als dieser 1818 einmal nach Offenbach kommt, überreicht Amalie Becker ihm ein Blatt, auf dem sie den Dichter überschwänglich für seinen Roman „Levana“ feiert. Dieser Erziehungsroman war damals ungeheuer populär und begeisterte besonders die Frauen. Der damals dreizehnjährige älteste Sohn Ferdinand durfte die Mutter begleiten und begegnete zum erstenmal einem der bekannten Dichter seiner Epoche. Später sollte er in den Berliner Salons, vor allem bei Rahel Levin-Varnhagen, viele andere näher kennen lernen: Chamisso, Heine, Achim und Bettina von Arnim, Clemens Brentano – und auch den größten von allen, Goethe, konnte er 1825 in Weimar besuchen. Amalie schreibt an Jean Paul auf dem Blatt :
„Dem Verfasser der Levana möchte eine glückliche Mutter von sechs blühenden Kindern recht aus innigstem Herzen danken für jede Belehrung, Tröstung, Erhebung, die ihr dieser Freund früher Tugend gab. Er, ein milder Hesperus, erleuchtete diese arme, dunkle Jugend, dass ich Schönheit und Wahrheit ahnte und fand. Er begleitete mich durch Ernst und Mühen bis auf die Höhe des Lebens, er steht wie ein leuchtender Engel oben und zieht meinen Blick auf seinen und meinen Gott… Mein Herz zittert vor Freude, denn ich werde ihn sehen… Heil dem edlen Freunde!“
Auch Jean Paul berichtet über diese Begegnung in einem Brief an seine Frau:
„In Offenbach trat eine schöne Mutter von sechs Kindern mir bei meiner Ankunft geradezu entgegen und drückte mir ein Blatt des Dankes für die Levana in die Hand, und nie blickten weibliche Augen mich liebender an – die Deinigen ausgenommen – als ihre. Sie war eine Freundin von Villery. Welch offene, schöne Gesichter in diesem Offenbach! – Das Lieben der Menschen ist der einzige Thau noch für meine Seelendürre…“[19]
Seine schulische Ausbildung beginnt Ferdinand in Offenbach zunächst in der Privatschule des Pfarrers Spiess, Vater des damals im Frankfurter Raums bekannten Turners Adolf Spiess, einem Gefährten des Turnvaters Jahn und Begründer des Schulturnens in Hessen. Gegenüber dem hohen Lernniveau des Göttinger Gymnasiums wird Ferdinand aber in dieser privaten Schule erheblich unterfordert. Deshalb muss der Vater den Unterricht zu Hause in den Sprachen und Naturwissenschaften vertiefen, während die Mutter ihn Zeichnen und Musik lehrt. Für seine drei kleineren Schwestern Sophie, Minna und Ferdinande wird er zum Vorbild und Helfer. Schon früh erfasst der Junge die wirtschaftlich schwierige Lage der Familie und verdient durch Notenabschreiben und Korrekturen etwas Geld und legt der Mutter heimlich die selbstverdienten Kreuzer in die oft leere Haushaltskasse.
Seine besondere musikalische Begabung hat die Mutter früh erkannt. Sie lässt ihn am Klavier unterrichten. Weil Ferdinand auch Freude am Singen hat, geht Amalie mit ihrem Sohn zum Offenbacher Musikverein, wo er im Chor neben ihr stehend singen darf. Ferdinand bereitet das viel Beglückung, auch später bewahrt sich die Vorliebe für Singen und Musik, wo er oft zur eigenen Freude ganze Opernarien übt. Felix Mendelssohn-Bartholdy, dem er in seinen Berliner Jahren begegnet und den als einen großen Musiker bewundert, wird ein guter Freund und Begleiter seines musikalischen Interesses, auch wenn Ferdinand, bedingt durch seine starke berufliche und wissenschaftliche Beanspruchung, nur wenig Zeit übrig hat, seine musikalischen Fähigkeiten selbst auszuüben.
3. In Schottland 1820 bis 1825
Aus den Beziehungen zu England und Schottland durch die „Zöglinge“ von dort, die ab 1817 in Beckers florierendem Erziehungsheim auf dem Linsenberg in Offenbach aufgenommen worden waren, entwickelte sich der Plan, dass Ferdinand als ältester Sohn nach Schottland reisen und dort eine Abrundung und Ergänzung seiner Erziehung durch einen größeren Horizont zu erhalten und zugleich auch schon seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Die besondere Freundschaft mit der Familie Bannatye in Glasgow gibt einen ersten Ansatz für den Start des Fünfzehnjährigen in das weitentfernte Land. Ferdinand schreibt im Oktober 1820 an seinen Freund Friedrich Rosen in Göttingen:
„Ich muß Dir nun den ganzen statum rei ausführlich erzählen. Du kennst sehr wohl Mr. Bannatye, er war der erste schottische Zögling in Offenbach. Dieser ist jetzt in seine Heimat zurückgekehrt und ist Advocate in Edinburgh. Sein Bruder, etwas jünger als ich, hat sich von einer sehr schweren Krankheit noch nicht erholt und soll das College diesen Winter noch nicht besuchen. Nun wünscht sein Vater, dass ich nach Glasgow kommen und mit ihm Lateinisch, ein wenig Griechisch und Deutsch treiben (soll), und da nun König (das bin ich), House of Lords (das ist mein Vater) und House of Commons (die Mutter) ihre Einwilligung gegeben haben, so werde ich nun dorthin abreisen, werde dort Chemie, Physik und Anatomie treiben und wahrscheinlich dann in Edinburgh meine Studien fortsetzen.“[21]
Ferdinand beschreibt dann dem Freund, was er in der letzten Zeit getrieben hat: Im Senckenberg’schen Institut in Frankfurt hat er Botanik und Mineralogie gehört und sich viel damit beschäftigt. Daneben hat er die Deutsche Sprachlehre des Vaters für Engländer zweimal abgeschrieben, weil man sie im Unterricht benötigte. Dadurch hat er sich auch damit besonders beschäftigt. Er fährt dann fort: „Nicht wahr, das kommt Dir wunderlich vor? Mein Vater konnte bei dem Unterricht, den er den Engländern gibt, nicht den geringsten Gebrauch von allen grammars machen, welche die Engländer für die deutsche Sprache haben, sah sich also genötigt, eine kurze Übersicht derselben niederzusetzen, woraus nach und nach eine Grammatik entstand… Durch diese Beschäftigung habe ich mich zugleich gewissermaßen mit den Grundsätzen meiner Muttersprache vertraut gemacht. Wer hätte wohl, als wir bei Deinem Vater (in Göttingen) den ersten Unterricht im Englischen hatten, geglaubt, dass ich einen solchen Gebrauch davon machen würde?“ Ferdinand nimmt diese Grammatik des Vaters mit, um zu versuchen, sie in Schottland drucken zu lassen.
So machte sich der Fünfzehnjährige Ende Oktober allein auf die weite Reise. Sein Gepäck war leicht, denn er musste teils zu Fuß gehen und konnte nur gelegentlich die Postkutschen benutzen, weil sein Reisebudget sehr klein war. Über Göttingen, wo er bei Freunden einkehrte, gelangte er nach Hamburg. Im Postwagen hatte er freundliche Mitreisende kennen gelernt, die dem Jungen in der Hafenstadt Gastfreundschaft gewährten, bis sein Schiff nach Schottland abging. Auf dem Schiff hat der kontaktfreudige und sprachgewandte junge Mann Glück. Dem Kapitän war empfohlen worden, so dass er an dessen Tisch essen darf. Dabei lernt er Mr. Irving, einen schottischen Gelehrten kennen, der offenbar Gefallen an ihm findet und ihm später eine Stelle als Hilfsbibliothekar in Edinburgh verschafft.
Die besonderen Umstände, in denen Ferdinand aufgewachsen war, hatten ihn früh reifen lassen. Als Kind hatte er die Erschütterungen durch die Kriege Napoleons und die Not im Elternhaus kennen gelernt. Er hatte aber auch die Kraft und den Willen der Eltern, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden, gespürt, und war als Ältester zahlreicher jüngerer Geschwister davon geprägt worden. Durch die Bemühungen des Großonkels Domvikar war er schon früh intellektuell geschult worden und zeigte sich motiviert und wissbegierig gegenüber allem Neuen. So konnten ihm die Eltern vertrauen, dass er trotz seiner Jugend in der Fremde bestehen würde.
Die Mutter schreibt ihm schon bald nach Schottland:
„Vergiß es nie, dass Du der älteste Sohn einer zahlreichen mittellosen Familie bist!“ Sie erinnert ihn daran, dass er sich seinen Unterhalt selbst verdienen muss, sich zugleich aber auch weiterbilden und auf sein Studium vorbereiten soll. Der Vater schreibt ihm: „Wahrlich, Ferdinand, Du magst Dich glücklich preisen, dass es Dir so früh vergönnt ward, die Welt und das Leben, Wissenschaft und Kunst in so mannigfaltigen und großen Gestalten zu sehen. Wie hätte ich Dich nach Schottland schicken können, wenn ich Dir nicht vertrauete, dass Du Alles, was sich Dir darstellte, mit einem ernsten Sinn und kräftigem Gemüt auffassen und ergreifen würdest. Ich hoffe, Du wirst mein Vertrauen nicht Lügen strafen!“[22]
In Schottland wurde Ferdinand äußerst gastlich aufgenommen, wie die Briefe der nächsten Zeit beweisen. Im Hause Bannantye findet er mütterliche Fürsorge und Liebe und einen vielseitigen Umgang mit vielen Anregungen in der Familie und in deren großem Freundeskreis. Er hat die Gelegenheit, seine musikalische Begabung im Klavierspiel und Gesang weiterzuentwickeln und beschäftigt sich daneben mit deutscher und englischer Literatur und Poesie. Dabei kommt es ihm sehr zugute, dass er mit sechzehn Jahren als Unterbibliothekar an der Advocates Library, einer der größten Bibliotheken Englands, Zugang auch zur schöngeistigen poetischen deutschen Literatur hat, weil er für die Abteilung Deutsche Literatur zuständig ist. Ein Jahresgehalt von 100 Pfund[23] ermöglicht ihm ein erträgliches Auskommen. So trägt er sich mit dem Gedanken, auch ein Studium der Sprachwissenschaften zu beginnen, wobei ihm das Beispiel seines Vaters besonders vor Augen steht. Aber auch die Naturwissenschaften und die Medizin fesseln ihn – so schwankt er längere Zeit zwischen Lyra und Aeskulap. Noch weiß er nicht genau, wie er sein Studium gestalten und wo er seine beruflichen Ziele und seine Zukunft suchen soll.
Ferdinand war ohne Zweifel ehrgeizig, konnte aber auch leicht überheblich und schroff gegen andere werden, die langsamer und schwerfälliger im Lernen und Begreifen waren. Von der Mutter muss er in ihren Briefen dieser Zeit des öfteren ermahnt werden, auch daran erinnert, dass man mit besonderer Begabung Verpflichtungen gegen andere zu übernehmen hat. Es gibt aus den Jahren 1820 bis 1824 nicht weniger als 38 Briefe der Eltern (meist schrieb die Mutter an den Brief des Vaters an oder legte ein Blatt ein) und 59 Briefe Ferdinands, die alle im Becker-Archiv erhalten sind und ein gutes Bild seiner Entwicklung in diesen Reifejahren abgeben, zumal Ferdinand immer sehr offen über sich und seine Probleme schreibt.
Mit siebzehn Jahren entschließt sich Ferdinand dann doch zum Studium der Medizin und der Naturwissenschaften und wird an der Universität Edinburgh immatrikuliert. Er zieht von Glasgow nach Edinburgh um, wo er ein kleines Zimmer bezieht. Schon bald findet er das besondere Interesse seines Lehrers Professor Dr. Thompson, eines bekannten Mediziners. Nach einiger Zeit lädt Thompson den jungen Deutschen ein, in seinem Hause zu wohnen und ihm bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu helfen. Thompson führt ihn auch in die RoyalMedical Society ein, eine Gesellschaft zur Förderung medizinischer Studien, der Professoren, Ärzte und Studenten angehörten.
Die medizinische Fakultät der Universität Edinburgh hatte damals einen sehr guten Ruf und zog deutsche Ärzte zu Studien an. Mit einigen von ihnen kommt Ferdinand in Kontakt, z. B. erwähnt er einen Dr.Autenriet aus Tübingen: „Dr.Autenriet aus Tübingen ist mir doch mein allerliebster Gesellschafter, wir sind oft zusammen. Er ist ein sonderbarer, kleiner Mann… Ich glaube, es wird noch etwas recht Tüchtiges aus ihm. Ehe er von Haus ging, schrieb er eine Preisschrift, welche viel Aufsehen gemacht zu haben scheint.“ Im Februar 1822 übersetzte Ferdinand einen Aufsatz Autenriets ins Englische für das EdinburgherMedizinische Journal über den „Thyphus sporadicus iuniorem“, eine Krankheit, welche schon Autenriets Vater besonders beobachtet hatte. In seiner Freizeit übersetzt eine griechische Grammatik, die ihm der Vater empfohlen hatte, ins Englische.
Im Frühjahr 1825 endet nach ca. fünf Jahren sein erster Aufenthalt in Schottland. Er nimmt eine perfekte Beherrschung der englischen Sprache, wichtige Erfahrungen über das Leben und die Besonderheiten der englischen Gesellschaft sowie nach 6 Semestern gründliche Kenntnisse im Bereich des Medizinstudiums mit nach Deutschland, von denen er hofft, dass er ohne Schwierigkeiten den Anschluss an das Studium an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin gewinnen kann, denn er möchte dort sein medizinisches Studium so bald wie möglich zum Abschluss bringen.
4. Studium und Promotion in Berlin 1825 bis 1826
Studium an der Friedrich-Wilhelm-Universität
Nach fünfjährigem Aufenthalt in Schottland kehrt Becker im Frühjahr 1825 nach Deutschland zurück. In einem seiner letzten Briefe aus Schottland schreibt er an seine Mutter nach Offenbach: „Der Vater ermahnt mich nicht zuviel, an meine Pläne zu denken. Dieses ist mir fast unmöglich. Der Gedanke, Euch wiederzusehen, verfolgt mich beständig: ich male mir immer vor, wie Ihr alle aussehet. Heut’ Abend habe ich nichts getrieben, als den Freischütz durchgespielt und gesungen: Ouvertüre, Arien, Duette und Chöre – alles solus cum solo – ich glaube, es ist die herrlichste Musik, die je geschrieben wurde. Nantchen, Du mußt mir alle Arien vorsingen!“
In Berlin an der neugegründeten Universität will er sein Medizinstudium vollenden. In Berlin lehrten damals Wilhelm und Alexander von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Leopold von Ranke, Karl von Savigny und Friedrich Raumer. Die junge Universität hatte sich auch im medizinischen Bereich schnell einen guten Ruf erworben, weil dort bedeutende Männer wirkten. Vor allem waren es die Brüder Hufeland: Friedrich Hufeland, Dekan , und Christoph Wilhelm Hufeland, vorher Professor in Jena, waren Beckers Lehrer.[27] Ein anderer Lehrer war der „alte Heim“, der nicht nur an der Universität, sondern auch in der ganzen Stadt ein volkstümlicher Arzt und eine bekannte Persönlichkeit war.[28] Auch zu den Geheimräten Rust und Horn trat Becker in nähere Beziehung. Besonders Horn schätzte den jungen Mann bald sehr und förderte ihn auch später.
Berlin hatte 1828 nur 219 000 Einwohner; mit 1787 Studenten im Wintersemester 1829/30 war die Berliner Universität immerhin schon eine der größten in Deutschland geworden, Göttingen hatte zum gleich Zeitpunkt 1203, Halle 1161 und Breslau 1121 Studenten. Relativ niedrig war auch die Zahl der Hörer: Schleiermacher hatte z.B. in seinen berühmten „LebenJesu“-Vorlesungen 251 und Hegel in der Philosophie 128 Zuhörer. In der medizinischen Fakultät lag ihre Zahl in der Regel unter 100.[29] Deshalb konnte das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten zumeist wesentlich persönlicher sein, als das heutzutage möglich ist.
So berichtet Ferdinand in einem Brief 1826 von einem vornehmen Diner bei Geheimrat Rust, zu dem er eingeladen war. Das Diner fand im Anschluss an den Besuch der Oper mit Rossinis Italienerin in Algier statt, bei dem Becker in der Loge von Madame Fränkel teilnehmen kann. „Madame Fränkel hat drei liebenswürdige Töchter, von denen zwei noch zu haben sind“, vermerkt er weiter.
Zusammen mit dem alten Schulfreund Friedrich Rosen bezieht Ferdinand eine gemeinsame Wohnung in der Markgrafenstraße. Mit Interesse verfolgen sie gegenseitig ihre Studien und helfen sich, wo sie können. Rosens Sprachstudien der Orientalistik werden von Becker besonders eifrig beobachtet, hat er sich dafür doch, angeregt vom Vater, schon immer begeistern können. Ferdinand bezeichnet Rosen zwar als „einen Idioten in medizinischerHinsicht“, doch lässt er sich gern seine Arbeiten vom Freunde in Latein und Deutsch durchsehen. Über Rosen schreibt Ferdinand nach Hause: „Rosen ist ein herrlicher Mensch geblieben und geworden – so eine Reinheit des Herzens ist mir selten vorgekommen. So ein Gemüt, wie er hat, ist mir noch nicht vorgekommen. Ich schäme mich zuweilen meiner Kälte und Weltbürgerlichkeit, wenn ich bei ihm bin.“ Und Rosen schreibt an Becker 1825: „Vor allem muß ich streben, Dir ähnlich zu werden. Dies erkannt zu haben, achte ich für den höchsten Lebensgewinn der letzten Zeit und ich glaube, es ist nicht der schlechteste Teil meiner Seele, der diesem erkannten Ziele nachzustreben sich stark fühlt.“[30]
Sein medizinisches Studium kann Becker dank der ausgezeichneten Ausbildung in Edinburgh nun in Berlin in relativ kurzer Zeit abschließen. Schon nach zwei Semestern in Berlin promoviert er im Januar 1826 zum Dr.med. Seine Dissertation überbringt er persönlich den wichtigsten Persönlichkeiten. „Ich bin zu dem Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Freiherrn von Altenstein gegangen und habe demselben meine Dissertation gebracht. Er war sehr gnädig und bemerkte, dass man sich zum medizinischen und chirurgischen Lehramte (an der Universität) nur durch praktische Übung vorbereiten könne… Auch bei Nicolovius war ich, der sich nach meinen Plänen erkundigte… Hufeland, dem ich die Dissertation brachte, hat mich wie gewöhnlich steif empfangen. Der Mann ist mir
unausstehlich, ich komme auch in keine Berührung mit ihm… Der alte Heim – das drolligste Männchen der Welt! 80 Jahre alt, und immer Stiefel und Sporen… Nächste Woche fange ich bei Jungker an, einem jungen Professor mit einem Privatissimum über Augenoperationen…“[31]
Caroline von Humboldt geb. von Dacheröden aus Erfurt, Schriftstellerin und Ehefrau Wilhelm von Humboldts .
Brockhaus 2004
Zu seiner Staatsprüfung bearbeitet Becker das Thema: „Operation an Aneurysmen.“ Als Gebühr muss er 40 Reichstaler für die Prüfung zahlen, er legte alle Prüfungen mit „Sehr gut“ bzw. „Vorzüglich gut“ ab, was im Semester vorher nur ein Prüfling erreichte. Mit der Prüfung erhält er seine Zulassung als „Arzt und Operateur“.
An der linguistischen Arbeit des Vaters nimmt Ferdinand lebhaften Anteil. Er besorgt ihm in Berlin eine litauische und eine finnische Grammatik, die der Vater studieren will. Im Auftrag des Vaters überbringt er Wilhelm von Humboldt des Vaters neues Werk, an dem Humboldt lebhaften Anteil nimmt. Auch privat ist bei Humboldt mehrfach zu Gast und schreibt dem Vater am 14.6.1826: „Einen herrlichen Abend bei Humboldt zugebracht!“
In der Berliner Gesellschaft
Ferdinand Becker findet rasch Anschluss an den Berliner gesellschaftlichen Verkehr. Frankfurter Gönner haben ihn an Abraham Mendelssohn (1776-1835) empfohlen, den Sohn von Moses Mendelssohn (1729-1786), des bekannten jüdischen Philosophen, Verfechters religiöser Toleranz und Freund Lessings, für den er das Vorbild zu seinem Nathan denWeisen darstellt. Der wohlhabende Bankier Abraham Mendelssohn ist auch Stadtrat und eine einflussreiche Persönlichkeit in Berlin. Zu der Familie Mendelssohn, wo er stets gern gesehen war und wie ein Sohn behandelt wurde, fühlte sich Ferdinand besonders hingezogen. Auch wenn keine anderen Gäste da waren, kann er dort ein- und ausgehen. Mendelssohns haben neben ihrer Stadtwohnung in Berlin einen Sommersitz „draußen“ in Charlottenburg und außerdem eine weitere Sommerresidenz in Horchheim am Rhein, unweit Koblenz. Über das Leben im Hause Abraham Mendelssohn heißt es:
„Ein liebevolles Familienleben, durch die Kunst bestrahlt und geadelt, zeigte sich …im Mendelssohn’schen Hause. Dort waren auch die Wirte, Abraham Mendelssohn-Bartholdy, Moses’ Sohn und dessen Frau bloße Kunstfreunde. Die Kinder dagegen, besonders Felix und Fanny, ausübende Künstler, der Schwiegersohn Wilhelm Hensel Maler und Dichter… Außer den schon genannten Kindern lockten Paul, ein tüchtiger Kaufmann, und die geistvolle Rebekka ihre Altersgenossen, und so entfaltete sich hier ein überaus reiches, geselliges Leben, an dem besonders junge Künstler…theilnahmen. Die Musikaufführungen, die meist an den Sonntag-Vormittagen stattfanden, wo Felix neue Compositionen, aber auch ältere Musik-werke zu Gehör bebracht wurden, boten Hauptanziehungspunkte, für die gute, ja die beste Gesellschaft der Hauptstadt. Vornehme Fremde nahmen daran theil. Alles was auf dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft einen Namen und einen socialen Rang hatte, suchte hier Zutritt.“[32]
Ferdinand äußert sich über die Mädchen im Hause Mendelssohn einmal so:
„Mein Geschmack ist zu raffiniert. Die eine hat zuviel Verstand, die andere zu wenig. Die hübsche und überaus gescheite Rebekka Mendelssohn stößt mich durch ihre Unweiblichkeit ab. Am meisten gefällt mir unter den Mädchen Anna Fränkel, in deren heiterem Gemüt aber nichts ernsthaft zu haften scheint.“[33]
Über den Weihnachtsabend 1825 im engsten Kreise im Hause Mendelssohn schreibt Becker nach Hause: „Sonnabend war bei Mendelssohn Bescherung. Recht kann ich mich an die jüngeren Glieder der Familie, die etwas kalt sind, nicht anschließen. Um so mehr freut es mich, dass der Vater, ein tüchtiger und gerader Mann, sich mit mir zu schaffen macht. Von ihm bekam ich eine schwarze Weste und eine Halsbinde… Am Montag hatten die Salings Bescherung, nämlich Herr Heyse, der Hausfreund, und ich… Ich war ganz gern ein Kind, wieder vor dem Christbaum stehend und vor meinen Geschenken, die so angenehm und schön waren: eine Tuchnadel, ein Uhrband von Marianne gearbeitet, ein Buch für Auszüge, worin sie mir einige ihrer eigenen Sachen geschrieben hatte. Die Geschenke waren aber nichts gegen die Art und Weise, wie sie gegeben wurden. Ich machte Marianne eine englische Übersetzung von einem kleinen Gedicht von ihr, das schien sie sehr zu rühren.
Marianne Saling
Im Hause Mendelssohn macht Ferdinand die Bekanntschaft der Schwestern Saling (auch Saaling genannt), Julie und Marianne. Sie hießen eigentlich Salomon und waren die Töchter des getauften Hofjuweliers Salomon, einer wohlhabenden und angesehenen Familie in Berlin. Mariannes Mutter war die Schwester von Lea Mendelssohn, der Frau von Abraham Mendels-sohn. Die Familie hatte nach der Konversion zum Christentum den Namen „Bartholdy“ angenommen. Marianne Saling war damals Ende 30, Ferdinand Anfang 20.
Die Beziehungen Ferdinand Beckers zu Marianne Saling können wir heute nur aus ihrem Briefwechsel rekonstruieren. Die Mariannes an Ferdinand sind im Becker-Archiv vorhanden, ebenso die ab 1832 und nach Ferdinands Tode 1834 an seine Mutter Amalie Becker, geb. Schmincke und an seine Schwestern gerichteten über 30 Briefe. Ferdinands Briefe dagegen hat Marianne nicht aufbewahrt, vielleicht hat sie diese nach Ferdinands Heirat vernichtet, wir wissen es nicht. Auch aus dem Briefwechsel Ferdinands mit seinen Eltern (85 Briefe allein
1825-26 von Offenbach nach Berlin) und seinem Freund Rosen (47 Briefe) können Schlüsse über das Verhältnis zu Marianne gezogen werden. Sie galt als eine außerordentlich schöne und reizvolle Frau. Aus ihrer Jugend gibt es einige Anekdoten. So hielt der preußische König Friedrich Wilhelm III., wenn er morgens durch Wilmersdorf ausritt, wo die Salings ein Sommerhaus besaßen, oft an, sprach mit Marianne über den Gartenzaun und ließ sich von ihr ein Glas Wasser reichen. Auch hat die Schildwache am königlichen Palais, als Marianne vorüberging, das Gewehr präsentiert und ihr zugerufen: Tausendmal lieber vor ihr als vor dem König von Preußen!“[34]
Als sie sechzehn Jahre alt war, traf sie zum ersten Mal mit Karl August Varnhagen von Ense in Berlin zusammen. Er war von ihrer Schönheit angerührt und richtete ein Sonett an sie. Viele Jahre später schreibt er über diese Begegnung:
„Ich kenne Marianne seit 32 Jahren. Ich war stets ein Bewunderer ihrer Schönheit… und da wäre die Geschichte der Marianne Saaling ein durchaus annehmlicher Stoff, mir in jedem Falle reizender als der, welchen das Leben von Henriette Schleiermacher oder Bettina von Arnim darböte!“[36]
Marianne war zum Christentum konvertiert. Varnhagen berichtet über ihre religiöse Entwicklung:
„Sie erzählte unbefangen, wie sie in frühester Jugend immer die Christenmädchen wegen des Unterrichts beneidet habe, den diese in Religion erhielten, da für Judenmädchen damals in der Art nichts geschah, als daß man sie Hebräisch lesen und schreiben lehrte, wie sie darauf in Wilmersdorf, wo die Mutter eine Sommerwohnung besaß, in einer katholischen armen Familie die lateinischen Gebete den Leuten zur Erbauung vorgelesen, dann nach Anleitung manche kirchliche Zeremonie verrichtet habe, wobei die Leute die größte Andacht gezeigt, von der sie auch selbst ergriffen und fortgerissen sei. Schon seit jener Zeit habe sie eine Vorliebe für den katholischen Gottesdienst gefasst, die sich… durch ihren Aufenthalt in Böhmen, besonders aber in Wien durch den Besuch …der Kirchen und den Anblick des Klosterlebens sehr wohltätig geworden, und ihr Entschluß, Christin zu werden, habe für sie nur bedeuten können, katholisch zu werden.“[38]
Marianne hatte schon in ihrer Jugend viele Verehrer. Zu ihnen gehörte der preußische Offizier und spätere General Ernst Rudolf von Pfuel, der sich 1810 leidenschaftlich in Marianne verliebt hatte, die „mit allem Reize der Jugend und Jungfräulichkeit in Schönheit strahlte,“[39] eine Beziehung, die noch lange angehalten hat. Pfuel (1779-1866) war in späteren Jahren Kommandant von Paris 1813, und Militärgouverneur während der Revolution 1848 in Berlin sowie kurze Zeit Ministerpräsident von Preußen. Zu Mariannes engen Freunden gehörte auch Friedrich von Gentz (1764-1832), den sie schon kennen gelernt hatte, als er in preußischen Staatsdiensten stand. In Wien traf sie ihn wieder, nun als rechte Hand Metternichs, wo er der denkende Kopf des österreichischen Systems geworden war. Im Alter reihte er sich wieder in den engen Zirkel um Rahel Levin-Varnhagen und Marianne Saling ein und machte noch einmal durch sein Verhältnis mit der bekannten Tänzerin Fanny Elsner von sich reden. Pfuehl und Gentz hatten nicht die Absicht gehabt, sie zu heiraten, doch konnte ihr vor allem Gentz, lange Zeit im Zentrum der Macht stehend, oft mit seinen Verbindungen behilflich sein.
Während des Wiener Kongresses hatte sich Marianne Saling in Wien aufgehalten, wo sie sich vor allem in den Häusern der Wiener Bankiers bewegte. Hier empfing sie viele Huldigungen. Es wird überliefert, dass Zar Alexander ihr auf einem Ball nach dem Tanz öffentlich die Hand geküsst habe. Aber Mariannes Bild wird auch kritisch gesehen. So schreibt Clemens Brentano aus Wien an Rahel Levin:
„Ich habe Marianne Saling zu Hietzing bei der Pereira gesehen. Ein liebes anmutiges beredtes Wesen, aber sie müßte eine Liebe und ein Kind haben, denn sie gewöhnt sich bereits an die allgemeine Anbetung, und ihre Natur, gezwungen zu jungfräulicher Haltung, schwängert sich selbst, ohne Geburt, sie muß kalt und eine Figur werden, und der Mensch kann nur eine Natur werden oder ein Geist in der modernen Zeit, die Antiken sind erschöpft wie die Heiligung der Nacktheit.“[41]
In Wien hatte sie sich mit dem Marquis von Marialva, dem portugiesischen Abgesandten, verlobt und war zum Katholizismus übergetreten. Das Verlöbnis zog sich über mehrere Jahre hin. Zur Hochzeit kam es aber nicht. Marianne löste schließlich die Verlobung.
„Es steht unzweifelhaft fest, dass Marianne das Verhältnis zu Marialva zuletzt im höchsten Überdruß und Zorn gelöst, das heißt, ihm erklärt hatte, sie warte und rechne nun nicht mehr auf ihn, sondern verachte und verwerfe ihn als feigen, nichtswürdigen Verräter.“
Weiter berichtet Varnhagen hierzu später, dass Marianne ihm eine ganz andere Lesart des Endes der Beziehung zu Marialva gegeben hat. Nachdem der viel ältere Marialva einige Monate nach der Auflösung der Verlobung plötzlich gestorben war, verbreitete sie diese Version: „Viel anständiger bot sich diese Lösung dar anstatt der früheren! Sie ergreift die verspätete Gelegenheit, erklärt unbekümmert um die Anderswissenden, Marialva sei als ihr Bräutigam gestorben und habe die letzten entscheidenden Schritte getan, auf welche die Heirat unmittelbar folgen sollte, sie betrauert ihn als ihren schon bestimmten Gatten und behauptet überall, sie dürfe sich ihrem Schicksal… nach als Witwe betrachten.“[42]
Als Ferdinand Becker nun nicht lange nach diesen Erlebnissen in ihren Kreis tritt, war Marianne vom Leben enttäuscht und ihr Herz nicht ausgefüllt. So streckt sie dem neunzehn Jahre jüngeren Ferdinand beide Hände in Freundschaft entgegen. Gerade hatte sie auch erlebt, wie ihre Schwester Julie sich in den zehn Jahre jüngeren Karl-Wilhelm Heyse, den Hauslehrer von Felix Mendelssohn, verliebt hatte, und diesen wenig später heiratet. Marianne wird dem jungen Mann in einer Art Seelenfreundschaft, vergleichbar mit Goethes Beziehung zu Frau von Stein, bis zu Beckers Tode eng verbunden bleiben, doch war sie ihm nicht nur Freundin, sondern auch Vertraute, Mutter und Geliebte zugleich. Ohne Zweifel enthielt ihre Freundschaft auch starke erotische Elemente. Marianne hat Ferdinand sicher geliebt, wie sich dann ihrem Verhalten nach Ferdinands Hochzeit mit Ziliaris Roedlich 1834 deutlich zeigte. Aber davon im letzten Kapitel.
Marianne hat noch drei Schwestern: Rebekka (1783-1850), zunächst verheiratet mit Moses Friesländer, von dem sie sich schon mit 23 Jahren scheiden lässt. Sie gehört zu dem engen Kreis der Berliner Salondamen um Rahel Levin, deren enge Vertraute sie ist, und veranstaltet selbst in ihrem Hause einen Salon, dessen Zusammenkünfte sie als „Ästhetische Tees“ bezeichnet. Sie bleibt trotz zahlreicher Verehrer später unverheiratet, nimmt den Namen Regina Frohberg[43] an und verfasst nicht weniger als fünfzehn Romane, die aber sehr zeitgebunden sind. Varnhagen schreibt in seinen „Denkwürdigkeiten“ eine vernichtende Kritik über ihre Romane: Charaktere platt, Handlung unbedarft, Dialogegeschraubt. In einem kurzen Briefchen lädt Marianne ziemlich am Anfang ihrer Bekanntschaft Ferdinand zu einer Gesellschaft bei Regina Frohberg ein, wo er „wichtigeLeute“ kennen lernen soll. „Nicht mit Angst denke ich heute an Sie, sondern mit der Besorgnis, die vielleicht Ihre Mutter empfinden würde. So, dass Sie eben heute an einer ernsten Lebens-Grenze stehen sollen. Gott mit Ihnen, nicht nur heute, sondern jederzeit!“[44] Julie („Julchen“, 1788-1864) heiratete Karl-Wilhelm Heyse, den Hauslehrer von Felix und Fanny Mendelssohn-Bartholdy. Heyse war später Universitätsprofessor und Sprachforscher. Der Sohn aus dieser Ehe ist der Dichter Paul Heyse (1830-1914), der zu meiner Jugend noch sehr bekannt war und gern gelesen wurde.
Ihre jüngste Schwester Klara („Klärchen“) war verheiratet mit dem reichen Bankiers Hertz in Frankfurt am Main. Die Familie führte ein großes Haus, in dem Marianne häufig zu Besuch weilte. In einer neuen Aufstellung der jüdischen Salonfrauen in Berlin werden neben Rahel Levin und Henriette Herz (geb. de Lemos) die drei Schwestern Rebekka, Marianne und Julie Saling aufgeführt, wobei Rebekka, die ja einen eigenen Salon führte, zusätzlich als „Salonière“ bezeichnet wird.[45]
Über das Verhältnis Ferdinands zu Marianne Saling machen sich die Eltern in Offenbach Gedanken. Wenn er auch um einiges jünger als sie war, hatte nicht auch Rahel Levin den vierzehn Jahre jüngeren Varnhagen von Ense geheiratet? Und schließlich war auch Dorothea elf Jahre älter als ihr Gatte Friedrich von Schlegel. Sie alle gehörten zu Beckers Freundeskreis. Die Mutter in Offenbach trifft in Frankfurt Dorothea Schlegel, die zu dieser Zeit in Frankfurt lebt. Aus ihren Schilderungen macht sie sich ihr eigenes Bild von Marianne. Rechtzeitig will sie ihren Sohn vor den Ketten der Freundschaft zu der Frau, die so viel älter ist, warnen. Sie wusste um die großzügigen Anschauungen im Kreise der Romantiker in Herzensangelegenheiten, die von viel Freiheit geprägt waren. Sie spürt, dass es sich, zumindest von Seiten der Frau, um mehr als bloße Freundschaft handelt. Ferdinand schreibt der Mutter nach Hause: „Es ist doch sonderbar, liebes Mutterchen, Du musst eine ganz schlechte Meinung sowohl von mir als von der Saling haben, wenn Du glaubst, ich müsse vor ihr zurückgehalten werden… Sie ist sehr schön und sehr gebildet, aber im guten Sinn… Bei den Salings bin ich wie zu Hause… Denk Dir das glücklichste, innigste Verhältnis, das zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau bestehen kann. Ich mache keine Ansprüche, ich brauche mich nur über die zarte Aufmerksamkeit zu freuen, die mir ohnedies zuteil wird…“
So wie Carola Stern das Verhältnis Rahels zu Varnhagen charakterisiert, lässt sich vielleicht auch Mariannes Wunschdenken Ferdinand Becker gegenüber vermuten: „Sie, die Dominierende, Besitzergreifende, möchte zugleich Geliebte, Mutter und Freund sein, wie es ein Mann sein könnte, sieht sie in ihm ihr Kind, den eifersüchtig umhegten „kleinen Jungen“ und den beschützenden künftigen Gatten.“[46]
In einem anderen Briefe schreibt Ferdinand nach Offenbach: „In dem letzten Briefe gebt ihr mir viele hints[47] über das Verjudeln, Verkatholisieren und Verweibern. Ich danke dafür, ich hoffe aber, ihr werdet es mir nicht übel nehmen, wenn ich meine selbständigen Kartoffeln esse. Mit dem Verkatholisieren hat es keine Not, und was die Juden betrifft, so sind sie mir Juden, so lang ihr Wesen und Treiben jüdisch ist. Dies ist bei meinen hiesigen Bekannten gar nicht der Fall, und ich kann euch in Wahrheit versichern, dass sie mir die angenehmste Gesellschaft bilden, die ich kenne. Dies kann ich besonders vom Mendelssohn’schen Hause sagen, wo man unter talentvollen und anspruchslosen Menschen ist… Auch wegen Marianne kann Mutter ruhig sein, denn so lange ich hier bin, ist sie meine Mutter. Ich weiß sehr gut, dass ein Umgang mit angenehmen Frauen mir sehr zuträglich, ja sogar nötig ist…“
Marianne Saling und Rahel Levin-Varnhagen waren seit ihrer Jugend bis zum Tode von Rahel enge Freundinnen. In Rahels Briefsammlung wird Marianne nicht weniger als 65 mal erwähnt.[48] Für Rahel war die schöne Marianne, die in Gesellschaft wegen ihrer körperlichen Vorzüge auffiel, besonders wichtig. Beide waren unzertrennlich. „Rahel ging gern mit schönen Menschen um. Bisweilen benutzte sie eine anerkannte Schönheit, um das heitere Wohlwollen jener zu gewinnen, an denen ihr … ganz besonders lag.“[49]
Das Verhältnis der beiden Freundinnen war jedoch nicht ohne Probleme. Als beide nach 1813 zusammen in Baden bei Wien sind, schreibt Rahel an Varnhagen: „Gott, wie find’ ich Marianne Saaling bis aufs tiefste affektiert. Ohne Rettung!“[50] Und etwas später wird sie noch ausführlicher:
„Marianne Saaling bringt mich in wahre Empörung. Durch die tiefe Lüge, die sie ist, und nicht müde wird, aus der reinsten, glänzendsten Albernheit zu spielen. Bei Gott, ein monstre, wie es nur irgendeine hideuse, ekelhafte Missgeburt sein kann. Du denkst, sie hat mir etwas angetan? Nichts in der Welt, wir sind sehr gut. Sie lügt aber in meiner Gegenwart. Sie ist aber dabei durch meine in Grimm getauchten Forscherblicke, denen ich freien Lauf lasse, so entsetzt, dass ihre Blicke plötzlich abbrechen oder ablöschen. Das ist zum Sehen. Sie grimmassiert auch schrecklich! O Gott richtet Strafen ein. Und wahr ist auch der Bibel-spruch: Missetaten rächen sich bis ins dritte Glied. Ist man häßlich geboren oder mit Hässlichem, so sind das der Eltern Sünden, Fehler und Laster. Ich weiß das ganz deutlich. Mein Studium. Ein Diner bei Clärchen Hertz, wo jene so gränzenlos albern war, bringt mich vollends so auf!“[51]
In Berlin waren die ersten literarischen Salons in Deutschland entstanden, die vor allem von jüdischen Frauen getragen waren. Die bekanntesten waren RahelLevin-Varnhagen[53] und Henriette Herz. „Es war eine ganz kurze Epoche… Nur für ein bis zwei Jahrzehnte, vor der bürgerlichen Emanzipation der Juden und vor der Emanzipation des deutschen Bürgertums überhaupt kann sich diese geistig ungemein lebendige, gesellschaftlich sehr lose Form der jüdischen Salons entwickeln, größtenteils durch eine Verbindung mit Elementen des Adels, der sie frequentiert und protegiert… Rahel Levin, später Varnhagen, sah in ihren Mansarden-räumen, die sie etwas kokett ihre „Dachkammer“ nannte, alle bekannten und angehenden Schriftsteller und Publizisten: Friedrich Schlegel, Tieck, Jean Paul, die Brüder Humboldt, den Prinzen Louis Ferdinand, Diplomaten, Junker, Schauspieler.“[54]
Die Salonteilnehmer waren meistens zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Adlige waren dabei eher ärmer, Juden eher reicher. Man versuchte ein wenig, die lockeren Sitten des französischen Adels nachzuahmen. „Die Salons waren die Bühne für romantische Liaisons, die in Ehen mündeten, stets mit geschiedenen und konvertierten Jüdinnen.“[55]
In den Salons fanden sich viele Gelehrte, Wissenschaftler, aber vor allem fast alle Dichter der Romantik. Der Salon war ein „offenes Haus“, in dem die Freunde oft uneingeladen erschienen, sie mussten aber von einem angesehenen Mitglied des Circels eingeführt werden. Das war besonders wichtig. Die Salongäste wurden oft als „Hausfreund“ bezeichnet. Der Adel wiederum fand auf dem neutralen Boden der Salons der jüdischen Häuser intellektuellen Anreiz und Beziehungen zu Bürgerlichen. Allerdings war die Salongesellschaft sehr hetero-gen und die Beziehungen der Teilnehmer untereinander äußerst zerbrechlich. Die Jüdischen Salons in Berlin waren das Produkt einer ganz bestimmten Konstellation in einer gesellschaftlichen Epoche des Übergangs.
Wichtig für das Entstehen der jüdischen Salons war sicher auch die Beschränktheit des christlichen Mittelstandes sowie die oft geistlose und öde Atmosphäre des Hofes und vieler adliger Kreise.
„Von einem christlichen, bürgerlichen Mittelstand, welcher andere, geistige Interessen gehabt hätte als diejenigen, welche der äußere Beruf etwas anregte, war damals hier noch nicht die Rede. Es gab da … geistige Beschränktheit und Unbildung. Der höhere christliche Kaufmannsstand zählte nur noch wenige Mitglieder, und es stand bei ihm in geistiger Beziehung nicht viel anders. In den Häusern wurden wohl große und prächtige Gastmähler und Feste gegeben, die Töchter des Hauses wurden in verweichlichendem Luxus erzogen, aber von Bildung ward nur der äußere Firnis angestrebt… Die hohen Zivil- und Militärbeamten teilten das Geschick des Hofes, welchen… eine geistreiche und anregende Geselligkeit gänzlich abging.“ So urteilt als Zeitgenossin eine der wichtigsten Salondamen von Berlin, Henriette Herz.[56]
Und weiter heißt es bei Henriette Herz:: „Der Geist, welcher in diesen (jüdischen Salons) waltete, war der einer neuen Zeit, und nächst dem waren die Trägerinnen desselben durch eine Gunst des Zufalls z.T. sehr schöne junge Frauen…, daß zuerst der strebende Teil der adligen Jugend sich anschloß, denn der Adel stand in der bürgerlichen Gesellschaft den Juden so fern, um selbst, indem er sich unter sie mischte, als ihresgleichen zu erscheinen…
„Von den jungen jüdischen Frauen ging eine eigenartige Faszination aus. Sie waren kultiviert, vorurteilslos, manchmal von etwas lockeren Sitten, und gelegentlich sehr schön.“[57]
Jedenfalls haben die jüdischen Frauen exotisch, charmant und empfindsam auf ihre Freunde in dieser Epoche der Romantik gewirkt.
Diese Frauen der Romantik stellten die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau vollkommen infrage. Ganz emanzipiert wollten sie, dass die Frau gleichberechtigte Partnerin des Mannes sein sollte. Sie wollten ihre eigenen Persönlichkeiten herausbilden und bestrebt sein, den Mann zu verstehen und ihn auch anzuspornen. So war das ideale Frauenbild der Salonzeit die gebildete, begabte und lebenserfahrene Frau – nicht aber das junge, unerfahrene, hübsche Mädchen, das darauf wartet, geheiratet zu werden. Deshalb heirateten viele dieser Frauen viel jüngere Männer, bzw. wurden von ihnen besonders begehrt.
Der Geist ist ein gewaltiger Gleichmacher und die Liebe, welche hin und wieder auch nicht unterließ, sich einzumischen, wandelte oft den Stolz gar in Demut…“[60]
Der Theologe Friedrich Schleiermacher schrieb in einem Brief an seine Schwester, dass man die interessanteste Gesellschaft in Berlin in den jüdischen Häusern treffe, weil nicht nur die reichsten Männer in Berlin Juden waren, sondern auch ihre Frauen und Töchter sehr kultiviert waren und einen lockeren, lebendigen Stil der Geselligkeit pflegten.[61]
Natürlich gab es auch Kritik an den jüdischen Salons, wie sie z.B. der Historiker Heinrich von Treitschke äußerte: „Die schnellfertigen jüdischen Talente… trugen ihre jüdische Sonderart hochmütig zur Schau und verlangten gleichwohl als Wortführer der deutschen öffentlichen Meinung geachtet zu werden… Aus ihrem (Rahel Levin) Wesen redete der ruhelose Weltschmerz eines edlen, aber tief unbefriedigten Frauenherzens. Mit dialektischer Kühnheit übersprang sie alle Grenzen, welche Natur und Geschichte der Menschheit gesetzt haben: Vaterland und Kirche, Ehe und Eigentum, alles erlag ihrer zersetzenden Kritik.“[62]
Verdammt wurden die jüdischen Salons als eine Art Verschwörung natürlich auch von den Nationalsozialisten: „Gelehrte, Künstler und Schriftsteller mussten bei den Juden verkehren, wenn sie Anschluß an das Leben der Nation haben wollten. So gelangten die jüdischen Berliner Salons denn auch bald zu jener späten Entwicklungsstufe, auf der sie praktisch schon eine unumschränkte Herrschaft auf kulturellem Gebiet und einen stets im Wachsen begriffenen Einfluß auf politischem Gebiet ausüben wollten.“[63]
Ferdinand Becker wurde von Marianne 1825 in den Salon der Rahel Levin-Varnhagen in der Mauerstraße 36 eingeführt. Diese große und elegante Wohnung des Ehepaares Varnhagen unterschied sich von Rahel Levins erstem Salon von ca. 1794 bis 1810 in ihrer „Dachkammer“ in der Jägerstraße 54 äußerlich sehr. Auch ging es hier etwas formeller zu. Doch die „Hausfreunde“ waren zum Teil noch dieselben, zu denen inzwischen aber z.B. Leopold von Ranke, Bettina von Arnim-Brentano, Fürst Pückler-Muskau, Ludwig Börne, Hegel, Heinrich Heine (der sich damals noch Harry nannte) und auch manche bekannte Schauspieler hinzugekommen waren. Von einer jungen Schauspielerin, Karoline Bauer, die auch 1825 in Rahels Salon eingeführt wurde, gibt es eine sehr lebendige und z.T. amüsante Schilderung, aus der hier einige Auszüge übernommen werden:
„Frau von Varnhagen bewillkommte uns herzlich mit sanfter, angenehm klingender Stimme. Als wir Platz genommen hatten, hoffte ich, die gepriesene Frau recht aufmerksam betrachten zu können, doch ich vermochte es nicht unbemerkt zu tun, denn während des lebhaften Gesprächs spielte sie ständig mit einem Augenglas, und öfter führte sie es blitzschnell an die Augen, mich dadurch fixierend. – Rahel ist klein, ziemlich stark, von Taille keine Spur. Ein graues Kleid hing wie ein Sack um ihre Gestalt, nur von einer Gürtelschnur lose gehalten, deren Enden nachschleiften. Die dunkelbraunen Haare schienen nur so in aller Eile hinaufgewirbelt zu sein, von einem Kamm gehalten, der immer herabzustürzen drohte. Einige wilde, kleine Locken schmückten ihre schöne Stirne, und freundlich blickende, tiefblaue Augen, von langen Wimpern beschattet, milderten die scharfen jüdischen Züge; die ganze Physiognomie atmete Wohlwollen und hohe Intelligenz… Ganz eigentümliche Bemerkungen überraschten und fesselten mich. Lachen und Scherzen wechselten bei der seltenen Frau oft blitzschnell mit ernsten Betrachtungen und Rührung… – Herrn vonVarnhagens Kommen unterbrach das für mich höchst interessante Gespräch. Er machte auf mich von vorneherein einen recht unbedeutenden, ja unangenehmen Eindruck. Er hat nicht die Spur von ernster, würdiger Männlichkeit… Er spricht mit leiser, beinahe flüsternder, gezierter Stimme. Die grauen, matten Augen vermögen dem runden Gesicht keinen belebenden Ausdruck zu verleihen, denn er hält sie stets halb geschlossen, dabei spielt ein stereotypes Lächeln um seinen Mund, und das hellblonde Haar, die fast weißen Wimpern lassen die Züge noch unbedeutender und zerflossener erscheinen. – Herr von Varnhagen scheint seine Gattin über alle Maßen zu verehren! Er lauscht mit fast komischer Bewunderung jedem Worte Rahels und beobachtet ihr Gesicht, ihre Bewegungen aufmerksam und mit Selbstgefälligkeit, und auf seinem verschwommenen, eitlen Semmelgesichte triumphiert es: Ah! Seht doch – ich bin der Mann dieser geistreichen Frau! In meinen Augen die jammervollste Rolle, die ein Mann spielen kann: der Mann seiner Frau zu sein!- Rahel war unstreitig eine der interessantesten, geistreichsten und originellsten Frauen jener … Literatur- und Kulturperiode briefseliger und teeästhetischer Geistreichigkeit. Wie ein brillantes Feuerwerk sprühten und prasselten die Geistesfunken nach allen Seiten hin – blendend – imponierend – bestechend… Dazu kam schon mir jungem Dinge gar bald das wenig behagliche Gefühl, dies geistreich-originelle Frau ist sich sicher ihrer Geistreichigkeit und Originalität nur zu gut bewusst! Dank den Posaunenstößen ihres Gatten und ihres Publikums ist es mit der Zeit sogar ihr Metier geworden, zu jeder Stunde … geistreich und originell zu sein – à tout prix! Wie es das Metier der Pythia war, auf ihrem Dreifuß über der dampfenden Erdspalte zu sitzen und den wartenden Gläubigen
göttliche Orakelsprüche vorzustammeln.- Rahel sprach gern und enthusiastisch über Toiletten, kritisierte sie, gab Toilettenrat und glaubte in allem Ernst, auch in diesem Fach eine ernste Kennerin zu sein und den feinsten Geschmack zu besitzen. Das wirkte geradezu komisch, wenn man dabei ihre eigene Toilette etwas genauer musterte. Noch lieber und enthusiastischer sprach Rahel über Herzensangelegenheiten. Da wurde die vierundfünfzigjährige, kleine, kränkliche Frau überaus mobil, redselig, neugierig, anbohrend, vertraulich, ja sogar duldsam gegen einen kleinen amüsanten Teeklatsch. Sie dachte über Liebe und Ehe sehr frei. „Freiheit! Freiheit! Besonders ineinem geschlossenen Zustande wie die Ehe“ war der Schrei ihres Herzens. Sie deutete gern an, dass durch dies Herz manche große Leidenschaft gegangen war… Aber die arme Rahel hatte kein Glück in der Liebe. Sie verlangte in ihrer heißen Jugend neben der geistigen auch die körperliche Anbetung. Und an ihrer reizlosen und doch reizbaren Körperlichkeit scheiterten alle ernsten Verhältnisse. Auch ihr Gatte Varnhagen war nie ihre irdische Liebe, nur Seelenfreund! – Viele interessante und berühmte Leute sah ich in Rahels Salon an mir vorübergleiten… Alexander vonHumboldt, hoch und schlank, elegant und beweglich wie ein Franzose, tauchte plötzlich – blitzartig, ein aufregendes Irrlicht, an Rahels Teetisch auf, knusperte ein paar geröstete Kastanien oder Biskuits, sagte Rahel, Henriette Herz und Bettina im Fluge die niedlichsten Schmeicheleien, plätscherte wie ein Salon-Springbrunnen von Kölnischem Wasser die zierlichsten und pikantesten Hof- und Stadtneuigkeiten in das Tassenklirren hinein, plauderte mit Herrn von Varnhagen noch zwei Minuten in der Fensternische und war verschwunden wie ein Irrlicht. – Humboldts älteste Freundin in Rahels Salon war die Hofrätin Herz – die einst hoch- und weitberühmteste Schönheit Berlins. Als ich sie sah, war sie schon über sechzig Jahre alt – aber noch immer eine anmutsvolle königliche Erscheinung mit silbergrauen Locken, den wunderschönsten siegenden dunklen Augen und einem liebreichen Lächeln. Dabei milde und in der Unterhaltung zurückhaltend; hierin der stärkste Kontrast zu der sprudelnden Rahel und dem närrischen Zaunkönig Bettina. Aber was Henriette Herz sagte, hatte Charakter, Geist, Klarheit und war immer wohltuend. Als ich sie nur einmal gesehen hatte, begriff ich sogleich die langjährige Hausfreundschaft Schleiermachers zu der schönen Jüdin. Der kleine verwachsene Pastor … liebte in Henriette Herz nicht die berauschende Frauenschönheit, nur den schönen, großen, klaren Menschen. Ebenso begreiflich war mir, dass der siebzehnjährige Ludwig Börne die um volle zweiundzwanzig Jahre ältere Henriette Herz bis zum Wahnsinn, ja bis zum projektierten Rattengift unglücklich lieben konnte. – Welch ein Kontrast zu dieser schönen, klaren, hoheitsvollen Frau war – Bettina. Mit Rahel dagegen hatte Frau von Arnim viel Ähnliches, ja Gemeinsames… Von Achim von Arnim weiß ich nur, dass er mir neben seiner Gattin furchtbar ernsthaft, still und ehrbar vorkam. Clemens Brentano sah ich nur einmal. Ich fand ihn wunderlich und für meine Heiterkeit allzu weinerlich. Man sagte und lachte: er hat mal wieder mystische Klosterschmerzen, wie andere Leute – Migräne! Er redete immer davon: nur hinter katholischen Klostermauern wohnt der wahre Friede! – aber er finde doch: draußen lebt’s sich angenehmer und lustiger. – Friedrich Baron de la Motte-Fouqué, der Dichter des „Zauberrings“ und der „Undine“, lebte die Wintermonate in Berlin. Eine schöne, milde Erscheinung, wohlwollend, wahr, treu und echt vornehm-bieder. Die Jugendfreundschaft mit Varnhagen war stark gelockert… Adalbert von Chamisso war keine Salonfigur. In Haltung und Kleidung vernachlässigt, schweigsam bis zum Mürrischen, machte er anfangs den Eindruck eines armen Hypochonders. Aber wenn ein Funke des Gesprächs zündend in seine Seele fiel, wenn sein… gutes, mildes Gesicht, edel und hager sich rötete, sein anmutiger Mund beredt wurde – dann war Chamisso unbeschreiblich liebenswürdig, wie man sich den Dichter so viel reizender, herzenswarmer Lieder dachte.“[64]
Nicht nur der preußische Minister von Altenstein, sondern auch maßgebliche medizinische Lehrer wie Geheimrat Horn hatten Ferdinand Becker angeraten, vor einer angestrebten akademischen Laufbahn an der Universität noch weitere Erfahrungen an bedeutenden ausländischen Universitäten zu sammeln. Deshalb entschließt sich Ferdinand, noch einmal nach Edinburgh und danach nach Paris zu gehen, um seine Kenntnisse dort zu erweitern. So tritt er nach Beendigung seiner medizinischen Ausbildung an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin und nach glänzend bestandenen medizinischen Examen und erfolgreicher Promotion zum Dr.med. im Juni 1826, 21 Jahre alt, die zweite Reise zunächst nach Schottland an. Schon zuvor waren brieflich Verhandlungen mit seinem Gönner Professor Thompson in Edinburgh geführt worden, der eine Mitarbeit an seiner wissenschaftlichen Arbeit und Tätigkeit in der „Royal Medical Society“ in Aussicht gestellt hatte.
Um die finanziellen Mittel für dieses Projekt zu sichern, hat sich wieder einmal Marianne Saling eingeschaltet. Durch ihre Vermittlung kann Becker als ärztlicher Begleiter der wohlhabenden französischen Familie Dufay eine Reise von Juli bis September 1826 durch Südfrankreich unternehmen, bevor er dann nach Schottland weiterreist. Monsieur Dufay ist leidend und soll sich in der Provence erholen. Besonders aber hat ihm Marianne ans Herz gelegt, auf der Durchreise in Weimar einen Besuch bei Goethe zu machen, ein Vorhaben, das Ferdinand durch seine Erlebnisse in den Berliner Salons, wo vor allem Rahel immer noch eifrigste Goetheverehrerin war, schon lange zu einem heimlich gehegten Wunsch entwickelt hat.
Ferdinand bei Goethe in Weimar
Anfang Juni 1826 macht sich Ferdinand mit der Postkutsche auf den Weg. Nach einem Deichselbruch langt er, von Berlin kommend, in Leipzig an, wo er zwei Tage dazu verwendet, sich diese Stadt anzusehen und Harmann zu hören. In Naumburg ist er begeistert von dem „Monument der neugothischen Bauart“. Den Dom mit seinen Bildwerken empfiehlt er seinem Freunde Friedrich Rosen dringend einmal zu besuchen.[67] Um diese Zeit hatte man überhaupt erst angefangen, die zuvor kaum beachteten Bauten und Kunstwerke des Mittelalters wieder zu würdigen und begann, sich dafür intensiver zu interessieren.
In Weimar angekommen, mietet es sich in einem Gasthof ein und lässt sich bei Goethe und den Schopenhauers melden. Marianne hatte ihm dringend ans Herz gelegt, auch die letzteren aufzusuchen und ihre Grüße zu überbringen. In den Berliner Salons um Rahel Levin und Henriette Herz und ihren Freundinnen, zu denen Marianne Saling und ihre Schwestern zählten, wurde ganz besonders Goethe verehrt, für Rahel Levin war er der Abgott ihres Lebens, für den sie unentwegt wirbt. Friedenthal charakterisiert in seiner großen Goethebiographie die Mittel und Möglichkeiten dieser deutsch-jüdischen Familien und vor allem ihrer Frauen:
„Sie waren alle untereinander verwandt, von Berlin nach Wien, nach Paris oder London gingen ihre Beziehungen, sie verfügten über einen Brief- und Nachrichtendienst, der schon den jüdischen Hof-Faktoren ihre sonst so unsichere Stellung geschaffen hatte… Und sie hatten neben diesen technischen Vorteilen einen Enthusiasmus eigener Art, das Gefühl einer Sendung, wenn sie sich für eine geistige Leistung begeisterten. Alle Mittel wurden dabei mobilisiert: Rahel warb mit ihrem starken Intellekt, die hübsche Marianne mit ihrer
Liebenswürdigkeit… Fanny Arnstein…mit ihren weitreichenden gesellschaftlichen Beziehungen.“[69]
Mit der „hübschen Marianne“ wird hier Marianne Saling gleich neben ihrer engen Freundin Rahel genannt, beide gehörten zum engen Zirkel dieser romantisch-idealistisch bewegten Berliner jüdischen Kreise, die auch über entsprechende materielle Mittel verfügten, wenn man an die Bankiers Mendelssohn in Berlin oder Arnstein in Wien denkt, die zu den reichsten Leuten gehörten.
Goethe empfängt den jungen Mann am nächsten Tag. Es kommt zu einem lebhaften Gespräch vor allem über englische und schottische Literatur, insbesondere über Walter Scott. Goethe war durch Thomas Carlyle, mit dem er schon einige Zeit in lebhaftem Briefwechsel gestanden hatte, auf diese Thematik besonders aufmerksam geworden; die historischen Romane Scotts, die vor 1826 erschienen waren, hatten auch in Deutschland Beifall gefunden. Goethe war auch mit Walter Scott in Verbindung getreten. Durch den Verkehr mit ausländischen Dichtern hat Goethe versucht, die deutsche geistige Kultur über die Grenzen hinaus zu tragen. Becker berichtet über sein Gespräch mit Goethe:
„Ich habe Goethe gesehen: einen gutmüthigen, stattlichen, großen Mann mit klaren, jugendlichen braunen Augen und einem schönen Gesicht… Ich war 20 bis 30 Minuten ganz allein bei ihm. Er war sehr heiter und liebenswürdig, schalt mich sogar recht derb und bös, weil ich Walter Scott nicht alle Gerechtigkeit wollte widerfahren lassen: „Liebe Kinder, davon versteht ihr nichts!“[70]
Abends ist Ferdinand bei Schopenhauers zu Gast. Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen, lebt mit ihrer Tochter in Weimar. Er berichtet über seinen Besuch:
„Abends spät bei Schopenhauers. Die eine Tochter Schopenhauer – Adele – nicht mehr jung, häßlich, äußerst liebenswürdig und gescheit – sie ist der Magnet, welcher Stromeyer hierher zieht…. Nicht, daß er verliebt ist, aber er hat sie sehr gern… Ich habe mit ihr über unseren Freund gesprochen. Sie hat mich außerordentlich angezogen, und ich bedauerte, sie so bald verlassen zu müssen.“
Adele Schopenhauer und Marianne Saling waren sich mehrfach begegnet. Über die erste Begegnung berichten sowohl Johanna als auch Adele Schopenhauer in ihren Erinnerungen.[71] Schon als junges Mädchen war Adele beeindruckt von der „auffallenden Schönheit“ Marianne Salings. 1823 begegnen sich die beiden Frauen wieder bei einer Einladung bei Fichards in Frankfurt am Main. Sie schreibt darüber:
„Später kam die Saaling, erzählte mir viel, bezauberte mich. Das Jugendlich-Reizende ist weg, aber die Anmuth ist geblieben. Mein Mitleiden steigerte sich bis zum Leidenschaftlichen… Marianne und ich sind uns sehr nah gekommen, ich kann dem Zauber nicht entgehen…[72]
Eine gar anmutige Geschichte erzählte mir die Saaling: Im Freiburgischen in der Schweiz wollte sie nach der Messe mit Felix (Mendelssohn Bartholdy[73]) auf die Orgel eines Dorfes, um zu spielen. Oben finden sie einen alten, verdrießlich dreinschauenden Mann, Felix weicht scheu zurück – und Marianne muß in seinem Nahmen um die Erlaubniß bitten, zu spielen. Der Mann sie die Orgel – den Jungen – an und schüttelt den Kopf: „Der soll spielen?“… Felix spielt, und immer höher schwellen die Töne unter seiner Hand, und immer leuchtender werden die Gedanken – der Alte horcht, und sein Gesicht wird zum Wiederschein des Entzückens. Plötzlich hebt er wie zum Himmel die Hände und legt sie dann unbewusst aus innerem Drange dem Knaben segnend aufs Haupt – Felix spielt fort, und ihm treten die Tränen aus den Augen.
Endlich fragt Marianne kühn und stolz: „Nicht wahr, er spielt brav?“ Da antwortet der Alte: „Jawohl, und wissen Sie denn, wer ich bin?…Ich bin Aloys Moser und hab’ die Orgel gebaut, und dies ist die zwanzigste, die ich in der Schweiz setze, und der Knabe weiht sie nun ein.“[74]
Eindrücke in Südfrankreich
In Offenbach freuen sich Eltern und Geschwister sehr, als Ferdinand nach langer Zeit wieder bei ihnen eintrifft. Eifrig bewundert alles, was auf dem Linsenberg inzwischen geschehen ist und kann auch mit dem Vater über dessen sprachwissenschaftlichen Pläne sowie über seine eigenen Vorhaben sprechen. Doch bleibt ihm nicht lange Zeit. Nach wenigen Tagen Aufenthalt bei Eltern und Geschwistern in Offenbach bricht Ferdinand zu seiner Reise nach Südfrankreich auf und erreicht mit der Post über Darmstadt – Straßburg – Belfort die Stadt Lyon. Hier trifft er mit dem Ehepaar Dufay zusammen, dessen ärztliche Begleitung er für die nächsten Wochen übernommen hat. Monsieur ist kränklich, Madame begleitet ihn. Im Juli 1826 kommen sie in Marseille an, wo Dufay ein nettes Landhaus in der Campagne mietet. Die frische Luft und der Aufenthalt auf dem Lande tun dem Kranken gut. Becker kann die Zeit zu mehrtägigen Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung nutzen. Nîmes. Arles, St.Remy, Avignon und Toulon sind die wichtigsten Ziele. Man bewundert die „römischen Altertümer“ mit ihren Tempeln, Triumphbögen und Amphitheatern. Begeistert berichtet er seinem Freunde Friedrich Rosen über viele Details und erzählt dazu den Kontext der römischen Geschichte. Das Buch „Monuments du Midi de la France“ habe ihm besonders gute Dienste getan.
Ferdinand beschreibt eindrucksvoll, aber auch ein wenig melancholisch das Erlebnis dieses südlichen Landes:
„Die herrliche Natur, die verschiedene Art und Weise der Menschen gibt Stoff zur Beobachtung… Die große Hitze, welche den ganzen Tag fortdauert, macht auch, dass man, nicht zur Bewegung gezwungen, sich ruhig verhält. Die Nächte sind wunderherrlich, die Ausblicke in das helle Blau des Himmels mit seinen unzähligen Sternen, die streng abgeschnittenen Formen der Berge, die warme Luft, der Duft der Orangenbäume – alles dies gibt ein Gefühl des Wohlbehagens, das sich gar nicht in Worten ausdrücken lässt. Aber ach, für den, welchem was er hat nicht genügt, der alles in seiner Vollkommenheit besitzen möchte, für den ließe sich noch viel wünschen, denn ich bin, wenn auch unter Menschen ganz allein.“[75]
Bei einem Aufenthalt in Montpellier besucht Becker die medizinische Fakultät der dortigen Universität. Becker führt auch Gespräche mit französischen Kollegen. Von dem auch als medizinischer Schriftsteller bekannten Professor Delpech wird er „mit ausgezeichneterFreundlichkeit“ empfangen und mit dem Forschungsstand der Medizin, insbesondere der Chirurgie bekannt gemacht.
„Ich fand in ihm das, worüber wir so oft gesprochen haben, diewahre Humanität.“ Dagegen bleiben Begegnungen mit jüngeren französischen Kollegen unbefriedigend: „Die jüngeren französischen Ärzte sind alle disgusting durch die französische Arroganz und Unwissenheit. Statt Belehrung hört man nur leere Deklamationen…“[76]
Im September tritt Ferdinand über Lyon – Basel – Freiburg – Frankfurt die Rückreise nach dem heimatlichen Offenbach an, doch der Aufenthalt ist auch diesmal nicht lange. Schon im Oktober 1826 bricht er zur großen Reise nach Schottland auf.
Reise nach Schottland
Den Rhein entlang kommt er zunächst nach Koblenz, wo er die Familie Mendelssohn auf ihrem Sommersitz in Horchheim bei Lahnstein besucht. Es ist die Zeit der Weinlese, ein lustiges Treiben mit der ganzen Familie, wo Becker wieder wie ein Sohn aufgenommen wird, mit Singen, Tanzen und einem gemeinsamen Ausflug auf die Festung Ehrenbreitstein. Er trifft auch auf Ernst Moritz Arndt. Doch der alte Freund des Vaters bleibt Ferdinand fremd. Er stellt nur fest, dass Arndt durch seinen übersteigerten Nationalismus mit chauvinistischen Tendenzen an Bedeutung verloren hat und schreibt über die Begegnung:
„Arndt habe ich auch gesehen. Ein Mann, der zu seiner Zeit gehört hat. Er soll angenehm im Leben sein – mir kam er etwas absprechend vor, fast missfallen mir die neu-altdeutschen Namen seiner Kinder, wie Theoderich etc.“[77]
Weiter geht es mit dem Dampfboot auf dem Rhein von Köln nach Rotterdam und von dort über den Kanal nach London, wo er Ende Oktober ankommt. Bei Bekannten erhält er von einem Fremden ein Angebot, als Arzt der „East Indian Company“ nach Indien zu gehen, das er aber trotz der günstigen finanziellen Seite ablehnt. Mit einem ganz neuen „prächtigen glänzenden Dampfschiff mit dem Namen The United Kingdom mit „ 100 horse power“ und 174 Betten verlässt Ferdinand am 2.November 1826 London, um nach Edinburgh zu fahren. Er hat diesmal die schnellere und bequemere Schifffahrt dem strapaziösen Landweg vor-gezogen, zumal ihm diesmal einige Geldmittel zur Verfügung standen. Doch schon in der Themsemündung blieb das schöne, neue Schiff liegen und konnte erst nach Stunden seinen Weg fortsetzen. Doch noch im Bereich der Themse gab es kurz darauf einen Beinahe-Zusammenstoß mit einem kleinen Schiff, wobei ein Teil eines Querbalkens abgerissen wurde, aber niemand zu Schaden kam.
In der Nordsee ergriff sie ein gewaltiger Sturm, gegen den das Dampfschiff nicht ankam, so dass man umkehren und die Nacht vor Sherness liegen bleiben musste. Auch am folgenden Tag kam man nicht weit und musste wegen des heftigen Sturms bei Grimsby in die Humbermündung einlaufen, wo die folgende Nacht verbracht wurde. Am dritten Tag endete der Versuch, über die offene See weiter nach Norden zu kommen; schon bald folgte das Schiff dem Ruder nicht mehr und musste erneut in den Humber einlaufen. Da beschloss ein Teil der Passagiere, das Schiff zu verlassen und über Land weiterzufahren. Ein kleineres Schiff, das vom Meer kommend nach Hull fahren wollte, legte sich längsseits und etwa zwanzig Passagier, darunter Frauen und Kinder stiegen auf dieses Schiff über. Becker beschreibt den weiteren Verlauf so:
„Wir waren aber noch keine drei Minuten an Bord, als mit einem großen Krach ein Teil des Schiffes mit Menschen und Gepäck usw. in die Luft flog…Ich glaubte, das Schiff ginge unter, ich hatte ein kleines Kind auf dem Arm, um uns her sah ich Menschen im Wasser. Ich brachte mich aber bald mit dem Kind an Bord unseres eigenen Dampfschiffs, das ganz am andern lag, und sah ich, dass der Kessel (des anderen Schiffes) geborsten war. Der Maschinist, neugierig unser schönes Schiff zu sehen, hatte seinen Platz verlassen, die Ventile nicht gehörig geöffnet – und so war das Unglück geschehen. Drei Menschen ertranken, einem wurde die Stirn ganz eingeschlagen, mehrere schwer verwundet und gegen zwölf mehr oder weniger verbrannt…“[78]
Nachdem alle Passagiere des verunglückten Bootes aufgenommen waren, fuhr das große Schiff nach Hull. Als Arzt konnte Becker unterwegs den Verletzten erste Hilfe leisten. Zu Lande setzte er dann den Weg nach Edinburgh fort.
An der Universität Edinburgh
In Edinburgh wird Ferdinand von seinem väterlichen Freund Professor Thompson sehr herzlich empfangen. Er bezieht ein Zimmer in dessen Hause. In seinen Briefen beschreibt er das Leben im Hause Thompson als „äußerst angenehm“. Die Mutter sei eine tüchtige Hausfrau, dabei sehr gebildet und trägt zur Unterhaltung wesentlich bei.
„Die Tochter, ungestalt von Körper, ist ein sehr lebendiges Mädchen, in deren Erziehung man vernünftigerweise die Unbequemlichkeiten der Isolation von anderen Mädchen durch eine vielseitige Erziehung des Geistes eingebracht hat. Ich lese zuweilen Deutsch mit ihr… Der jüngere Bruder, ein lad von 18 Jahren, der eben seine Studien anfängt, ist keineswegs auf den Kopf gefallen. Mein trefflicher Lehrer selbst aber macht mir mein Leben und Werk mit ihm sowohl angenehm als nützlich und belehrend. Ich bin jetzt seit einigen Monaten mit den Schriften des Dr.Cullen beschäftigt, eines Mannes, der auf den Gang der Medizin in Europa sehr großen Einfluß gehabt hat… Die Beschäftigung mit der Geschichte der Medizin ist immer eine Lieblingsbeschäftigung (von Mir) gewesen.“[79]
Thompson ist dabei, ein mehrbändiges Werk über das Leben und Werk von Dr.WilliamCullen (1710-1790) zu schreiben, wobei ihm Ferdinand Becker hilft. Cullen war u.a. durch sein Hauptwerk „First lines of the practice of physick” bekannt geworden. “Aus seinen Schriften, Vorlesungsheften, Notizen und Papieren soll eine vollständige Lehreentstehen,“ vermerkt Becker. Er denkt schon jetzt an seine künftige Laufbahn in Berlin, wo er an der Universität lehren möchte. So spricht er davon, dass er später in Berlin „in Ehren auftreten“ möchte und sich jetzt in Edinburgh darauf vorbereite.
Da er der Geschichte der Medizin besonderes Interesse entgegenbringt, nimmt er sich vor, später einmal „den großen Haller“ in ähnlicher Weise bearbeiten zu können, weil er davon überzeugt ist, „daß Haller und Cullen mehr als alle anderen die Medizin auf den jetzigenStandpunkt versetzt haben.“ Albrecht von Haller (1708-1777) war Schweizer Arzt und Professor in Göttingen. Sein Hauptwerk – der „große Haller“ – hat den Titel „Elementaphysiologiae corporis humani“ in acht Bänden. Haller hält Experiment und Erfahrung für die wichtigste Grundlage der naturwissenschaftlichen Forschung. Ferdinand Becker war schon in Frankfurt bei seinen anatomischen Studien im Senckenberg’schen Institut mit Hallers Tafelwerk „Icones anatomicae“ in Berührung gekommen und schätzt seine Arbeit sehr.
Die Zusammenarbeit zwischen Prof. Thompson und Becker gestaltet sich bald sehr eng. Becker hilft ihm bei der Vorbereitung seiner Vorlesungen, ja, er scheint diese sogar ziemlich selbständig mit zu gestalten. An Friedrich Rosen schreibt er:
„Ich schreibe Vorlesungen für den alten Thompson. Von Redigieren ist nicht die Rede, sondern von wirklichem Schreiben, so drollig Dir das auch vorkommen mag. Er hat sich leider an diese Manier des Lesens gewöhnt, und nun müssen die Vorträge unter unendlichen Mühen verfertigt und der Stil auf das Feinste abgerundet werden. Ich übe mich dabei im englischen Schreiben und werde durch das viele Wiederholen mit den Gegenständen sehr bekannt.“
Bei seinen wöchentlichen Besuchen in der Royal Medical Society in Edinburgh kommt es oft zu intensiven Diskussionen mit Studenten und Ärzten. Durch seine Berufung auf Haller und Cullen gerät Becker dort in den Ruf eines „Dogmatisten“ und damit in Gegensatz zu den Empiristen, dem die meisten Studenten und jungen Ärzte zuneigen. Einem solchen „abscheulichen, groben Empirismus“, wie es Becker bezeichnet, widersetzt er kräftig und gerät damit sehr zu Unrecht „in das Odium eines Verächters derErfahrung“. Da Ferdinand aber sowohl bei Professoren als bei Studenten einen sehr guten Ruf genießt, wird er zum Präsidenten der „Royal Medical Society“ gewählt, eine große Ehe für ihn, zumal er Ausländer ist.
Aber Becker ist keineswegs ausschließlich an Fragen der Medizin interessiert. Es zieht ihn in seiner karg bemessenen Freizeit immer wieder zur Literatur und zu den schönen Künsten. Aber er betont in dieser Zeit, dass er sich in seinen „Nebenstunden“ mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt, die ihn in „dem Chaos philosophischen Studiums“, so paradox es auch scheint, die einzige wahre Richtschnur zur unparteiischen Erkenntnis zu sein scheint. Er liest Platon in Schleiermachers deutscher Übersetzung, merkt aber gegenüber seinem Philologenfreund Rosen ausdrücklich an: „Wohlgemerkt, ich könnte sie auch im Original lesen, aber mir fehlt die Zeit.“ Glücklicherweise findet er in seinem Gönner Prof. Thompson einen Gleichgesinnten. Er hat öfters Gespräche mit diesem über philosophische Gegenstände, denn „Thompson ist ein gewaltiger Metaphysiker“.
Liebe zu Susan
Ein ganz persönliches Erleben trifft Ferdinand im Jahre 1827 sehr tief. Auf einer Gesellschaft, zu der er geladen ist, trifft er auf ein Mädchen, Susan mit Namen, in das er sich verliebt. Hierüber gibt es nur einen einzigen Brief, und zwar an die Mutter, die er bittet, dieses Erlebnis nicht weiter zu verbreiten. Weder in seinen Briefen an Marianne Saling noch an Friedrich Rosen wird darüber etwas erwähnt. Seine Liebe wird erwidert, die Liebenden treffen sich z.B. in der Advocates Library, sie lesen zusammen Goethe, und Ferdinand leiht ihr Bücher von ihm aus. An seine Mutter schreibt er:
„Ich bin in den vergangenen Wochen auf dem Gipfel des höchsten Glückes gewesen, aber ebenso schnell als es kam, ist es auch verschwunden. Ein in jeder Hinsicht vortreffliches, frommes und gebildetes Mädchen, die ich anbetete, hat mich geliebt, sehr geliebt, und es ist uns plötzlich alle Hoffnung abgeschnitten worden… Ich bin seit der zeit ganz verwirrt und zu jeder ernstlichen Arbeit unfähig gewesen. Aber ich könnte mich beruhigen, wenn nicht die Arme, die nun einsam und verlassen ist, sehr unglücklich wüsste. Ich habe mir aber nichts vorzuwerfen, denn wahrlich, ich träumte nicht von einem Glücke, bis es deutlich vor mir stand. In einem Band von Goethe, den sie mir heute zurückgeschickt, ist die Stelle angestrichen: „Wir hoffen immer, und in allen Dingen ist besser hoffen als verzweifeln!“
Die Mutter Susans, deren Nachnamen wir nicht kennen, hatte eingegriffen, dem jungen Arzt das Haus verboten und ihm die Möglichkeit genommen, bei dem Vater um die Hand der Tochter anzuhalten. Becker glaubt, dass weniger der Unterschied in Nationalität und Religion, als seine Mittellosigkeit als Assistent von Prof. Thompson der Grund für dieses harte Verhalten gewesen ist. „Das verwünschte Geld“, so schreibt er weiter, „einmal zu wenig da, und da wird nichts, und dann es wieder zuviel, und es wird wieder nichts… Wäre nur ein Rest der Hoffnung da, so würde mich das zu vermehrter Thätigkeit anspornen.“
Die Verbindung zu Susan kann Ferdinand unter diesen Umständen nur noch mit größter Mühe aufrecht erhalten, nach seiner Abreise aus Schottland bricht sie ganz ab.
Begegnung mit Thomas und Jane Carlyle
Bei seinem Besuch in Weimar bei Goethe war Becker von Goethe auf Carlyle aufmerksam gemacht worden. Mit Goethes Empfehlung gelangte er in Edinburgh schon bald in das Haus des Ehepaares. Er ist nicht nur Freund der Familie, sondern wird auch als Arzt öfters zu ihnen gerufen. Es gibt eine Anzahl von Briefen von Thomas und Jane Carlyle an „Dr.Becker, at DrThompson’s, George-street.“ In einem Brief schreibt Carlyle: „Becker sometimes comes hither, and seems to have more to say than he can find words for. No bad youth, I believe…”[80]
Ferdinand kann Carlyle mit deutschen Büchern versehen, die dieser noch nicht kennt. In einem Brief an Eckermann in Weimar schreibt Carlyle: „A young German (FerdinandBecker) lent me a book „Beiträge zur Poesie unter besonderer Verweisung auf Goethe“. Carlyle hatte sich gerade mit Jane Welsh verheiratet und wohnte in der Comley Bank Nr.21, einem stattlichen Hause in Edinburgh. Er konnte seine Goethebegeisterung auf seine junge Frau übertragen. In einem Brief schreibt er Goethe: „Ungefähr vor 6 Monaten habe ich mich verheiratet. Meine junge Frau, die in den meisten Dingen mit mir übereinstimmt, teilt meine Bewunderung für Sie… Sie kennt Sie in Ihrer eigenen Sprache, und ihr erstes Urteil, das sie mit einigem Staunen aussprach war folgendes: „Dieser Goethe ist ein größerer Genius als Schiller, obgleich er mich nicht weinen macht.“
Zwischen Carlyle und Goethe war seit 1824 eine enge Brieffreundschaft entstanden. Carlyle schrieb seine Briefe in englischer Sprache, allerdings mit zahlreichen deutschen Zitaten. Goethe antwortete in Deutsch. Carlyle hatte 1825 in vier Bänden „Life of Schiller“ herausgegeben und 1827 Wilhelm Meisters Wanderjahre ins Englische übersetzt. Goethe ermunterte den jungen Schotten, in seinem Eifer für die deutsche Literatur fortzufahren. Es war eine Art Vater-Sohn-Verhältnis entstanden. Becker bekommt im Hause Carlyle nicht nur die Briefe Goethes zu sehen, sondern er kann auch die kleinen Geschenke bewundern, die Goethe aus Weimar geschickt hatte, wie eine Medaille mit Goethes Kopf für Jane Carlyle. Jedes Mal war auch ein kleines Gedicht Goethes beigefügt, wie z.B. am 1. Januar 1828:
Dies fessle deine rechte Hand
Die du dem Freund vertrauet;
Auch denke, dass der fern im Land
Nach euch in Liebe schauet.
Aber Goethe erhält auch liebevolle Geschenke aus Edinburgh: Jane hat „mit zarten Fingernund treuer Liebe“ eine Börse für ihn gefertigt. Ein andermal schickt sie einen Schattenriss von sich und eine Haarlocke. Thomas Carlyle schreibt dazu: [81]
„Die Brieftasche ist von meiner Gattin gearbeitet, die Ihnen unter anderen Zeichen der Liebe eine Locke ihres Haares schickt;und ich kann sagen, dass sie außer ihrem Gatten nie einem anderen Mann Gleichesgewährt hat. Sie indes bittet und hofft, dass Sie ihr eine Locke von Ihrem Haar schicken werden.“
Doch Goethe erwidert: „(ich) erwähne zuerst der unschätzbaren Locke, die man wohl mit dem theuren Haupte verbunden möchte gesehen haben, die aber hier einzeln erblickt mich fast erschreckt hätte. Der Gegensatz war zu auffallend, denn ich brauche meinen Schädel nicht zu berühren, um zu wissen, daß daselbst nur Stoppel sich hervortun; es war nicht nötig, vor den Spiegel zu treten, um zu erfahren, dass eine lange Zeitreihe ihnen ein missfarbiges Ansehen gegeben…“[82]
Aus der Bekanntschaft mit Carlyle erwächst für Becker aber neben dem Briefwechsel mit Goethe auch manche Information über das Geistesleben und die zeitgenössische Literatur in Deutschland, deren Freund und Kenner der etwa zehn Jahre ältere Carlyle ist. Doch ist dies Verhältnis auch wechselseitig, denn Ferdinand berichtet in seinen Briefen, dass er Carlyle mit dem Werk Jean Pauls bekannt machen konnte, von dem Carlyle zuvor kaum etwas gewusst hatte. Gemeinsam mit Thomas und Jane werden auch andere Romantiker, wie z.B. Novalis, gelesen Beckers Mutter Amalie hatte den Dichter Jean Paul immer besonders verehrt und war ihm in Offenbach zusammen mit dem damals dreizehnjährigen Ferdinand auch persönlich begegnet. Seit seinem Roman „Levana“ schwärmten in Deutschland viele Frauen für den Schriftsteller, der in England noch kaum bekannt war. Im Jahre 1828 erscheinen zwei Artikel über Jean Paul aus Carlyles Feder, die dies heute bestätigen können. Becker schreibt in einem Brief an den Vater:
„Ein interessanter Mensch, mit dem ich hier verkehre, ist Mr.Carlyle, ein Übersetzer und Kritiker deutscher Dichtung. Er steht im Briefwechsel mit Goethe, und ich freue mich, den frischen Sinn und Mut des alten Herrn in seinen Briefen zu sehen.“
Im Frühjahr 1828 geben die Carlyles, wahrscheinlich aus finanziellen Gründen, die Wohnung in Edinburgh auf und ziehen in den einsamen Landsitz Craigenputtock bei Dumfries um, etwa 70 Meilen südlich von Edinburgh. Dort konnte Ferdinand nur noch einen Abschiedsbesuch machen, bevor er selbst aus Schottland wieder nach Deutschland zurückkehrte.
Als nach Beckers Rückkehr nach Berlin 1831 irrtümlich sein Tod in Schottland berichtet wurde, schrieb Froude in seiner Carlyle-Biographie über dieses Ereignis: „These brithening prospects were saddenend by the death of various eminent persons, whom he (Carlyle) held in honour. Dr.Becker, died of Cholera at Berlin, then Hegel from Cholera also.”[83]
Als sich dann später die Meldung als falsch herausstellt, schreibt Carlyle an seine Frau: „The good Becker is not dead…“
Friedrich Rosen
Auch aus Edinburgh setzt Ferdinand den intensiven Briefwechsel mit Friedrich Rosen fort. Dr. Friedrich Rosen, Beckers Jugend- und Studienfreund, hatte zunächst in Göttingen Theologie und Jura studiert, war dann nach Berlin gewechselt und hatte sich ganz dem Studium der Orientalistik zugewandt. Er sprach Arabisch, Persisch und Hindi[84]. Als er zufällig auf einige Bücher in Sanskrit stößt, erlernt er auch diese Sprache, wobei er von Wilhelm von Humboldt kräftig ermuntert wird. Rosen war in Berlin geblieben, wo er um 1826 sein Humboldt gewidmetes Werk „Radices Sanscrita“ vollendet hatte, in dem er die Verbalwurzeln der Sanskritsprache ordnete und damit einen wichtigen Beitrag für ein Sanskritlexikon lieferte. Mit seinen Kenntnissen in Sanskrit trifft sich Rosen mit Dr. Karl Ferdinand Becker (1775-1849) in Offenbach, dem Vater unseres Ferdinand, denn dieser hatte im Zuge seiner Sprachstudien sich auch mit Sanskrit beschäftigt.
Persönlich war Rosen ein eher schüchterner Mensch und Gelehrter mit wenig Kontakten, besonders Frauen gegenüber. Bei seiner Abreise aus Berlin hatte Becker seinen Freund gebeten, seine freundliche Fürsorge auf Marianne Saling zu übertragen. „Rosen nahm sie auf sich wie Fridolin, der fromme Knecht. Um auch Cervantes mit der Herrin lesen zu können, lernte er in Eile Spanisch.“[85]
Aber Marianne beklagt sich in Briefen, dass Rosen das scheue Wesen nicht ablegen kann. „Solieb er mir auch ist“, schreibt sie, „der Umgang mit ihm ist nicht angenehm… Diese Verzagtheit, die ihn zu keiner Ruhe kommen lässt.“ Ferdinand ermuntert den Freund brieflich: „Küß’ Marianne für mich auf die Hand, oder wenn Du zu bescheiden dazu bist, sage wenigstens, ich hätt’s Dir aufgetragen. Tausend Grüße, love and affection für sie.“ Da Ferdinand weiß, wie oft der Freund in finanziellen Nöten ist, rechnet er auch damit, dass Marianne ihm helfen wird: „Geh’ zu M. (Marianne), jetzt brauche ich Dir’s wohl nicht mehr zu sagen. M. gibt Dir drei Louisdors.“[86]
Ferdinand ermuntert den weicheren und wenig entschlussfreudigen Freund, sich frei und unabhängig in der Welt umzusehen. „Berlin ist nicht die Welt!“ schreibt er ihm aus Schottland. Er versucht, dem Freund als „Sprungbrett“ seine eigene, frühere Stelle an der Advocates Library in Edinburgh zu verschaffen, was ihm aber nicht gelang. Ein Anerbieten als Gesandtschaftsattaché nach Konstantinopel zu gehen, das durch Mariannes Verbindungen Rosen gemacht wird, lehnt dieser ab. Schließlich kann Becker dem Freunde eine Stelle am University College in London vermitteln, wo er vorwiegend angehende Kolonialbeamte in Arabisch, Persisch und Hindi unterrichten muss. Seine eigentliche Forschungsarbeit der orientalischen Philologie kann er daneben zwar fortsetzen, findet aber damit wenig Anerkennung. Der empfindsame Rosen zweifelt an sich selbst. Er schreibt an Ferdinand aus London: „Ich finde es bis jetzt nicht sehr schwer, meine hiesige Fortdauer durch Nebenarbeiten zu fristen. Ich setze meine Studien fort und hoffe, durch das Oriental Translation Committee einen beträchtlichen Teil der Rig-Veda mit Übersetzung ans Licht treten zu lassen… Und wenn es einst mein Los sein sollte, als Lehrer an einer deutschen Universität angestellt zu werden,… (hoffe ich) den Begriff der orientalischen Philologie … in engerem Anschluß an Geschichte und Geographie festhalten zu können.“
Zwar erreicht es Rosen, für die Übersetzung eines arabischen Dokuments in Oxford, eines der ältesten Werke über die Algebra, mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet zu werden, doch gelang es dieser stillen, zurückhaltenden und zartbesaiteten Forschernatur nicht, wissen-schaftliche Anerkennung zu finden und nach Deutschland zurückzukehren. 1829, bei Ferdinand Rückreise nach Berlin, sehen sich die beiden Freunde in London zum letzten Mal. Becker versucht, dem Freund Mut zu machen, sich als anerkannte Kapazität von anderen weniger ausnützen zu lassen und mit mehr Energie seine wissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen. Rosen bewirbt sich dann um eine Professur in Oxford, aber seine Bewerbung hat keinen Erfolg. Friedrich Rosens weiteres Schicksal ist rasch erzählt. Die untergeordnete Tätigkeit am University College in London kann ihn nicht befriedigen. Überarbeitung und ein Augenleiden untergraben seine Gesundheit. In einem Brief Rosens an Ferdinand aus dieser Zeit heißt es: „Irgendwo werden sich unsere Lebenswege wohl wieder einmal kreuzen, oder verschwistert zu einer Bahn nebeneinander herlaufen. Mir träumt zuweilen vom Himalaja und Ganges. Sei es wo es sei, wir treffen uns schon. Und bis dahin leite die ewige Idee der Menschheit uns durch die Talwindungen des Lebens näher und näher zu den umwölkten Höhen hinan.“[87]
Beckers Verhältnis zu Marianne Saling aber bleibt, wie sich aus den Briefen ergibt, weiter eng und vertraut. Marianne berichtet ihm alles, was in Berlin und Frankfurt vorgeht – und sie hat stets durch ihre weitverzweigten Verbindungen durch die Berliner Salons und durch ihre Verwandten die allerneuesten Informationen. Stets beteuert sie, wie sehr sie Beckers Rück-kehr nach Berlin erwartet. Die meisten Briefe beginnen in dieser Zeit mit „Herzliebster Ferdinand“ und enden stets mit einem kleinen gemalten Herzchen über der Unterschrift.
Marianne ist auch darum bemüht, Ferdinand bei seiner Laufbahn zu unterstützen. Sie hat gute Beziehungen zu Geheimrat Dr.Horn, der in Berlin eine Klinik leitet und an der Universität lehrt. Horn kennt Becker aus seiner Studienzeit an der Friedrich-Wilhelm-Universität und schätzt den jungen Mann. Horn behandelt auch Rahel Varnhagen, die oft kränkelt. Durch Marianne, die Geheimrat Horn öfters auf Gesellschaften etc. begegnet, erfährt Ferdinand, dass der Geheimrat ihn gern in seinem Bereich als Assistenten anstellen möchte. Er rät aber, seine ärztlichen Erfahrungen zuvor noch durch einen Aufenthalt in Paris zu ergänzen.
Marianne warnt Becker gleichzeitig, dass Horn die jungen Leute, die er beschäftigt, sehr ausnützt und ihnen kaum eine Gratifikation zukommen lässt. Sie schreibt:
„Die jungen Leute, die H. beschäftigt, stehen wirklich unter seiner peinlich strengen Subordination. Sie sind freilich selbst froh, wenn er sie mit Aufträgen und anderem beschäftigt, aber sie werden auf das ärgste betrogen, und wer nicht etwas zuzusetzen hat, oder gleich selbst in eine eigene Praxis zu kommen versteht, ist sehr übel dran… Ich halte es für eine gute Lösung, wenn Sie unter H.s Leitung debütieren und die Zeit benützen, so bald als möglich flügge zu werden.“[88]
Sie rät deshalb Becker, dass er sich, bevor er nach Berlin kommt, noch etwas verdienen soll, z.B. durch ärztliche Begleitung eines kranken Adligen auf einer Erholungsreise in Ausland, wozu sie auch gleich einen Vorschlag macht. Ferdinand soll etwas sparen, damit er in Berlin in der ersten Zeit existieren und sich bald unabhängig machen kann.
Reise nach Italien und Aufenthalt in Paris
Durch Mariannes Vermittlung erhält Becker die Möglichkeit, wiederum als ärztlicher Begleiter einen Baron Dellmer, einen Patienten von Geheimrat Horn, auf einer Erholungsreise nach Italien zu begleiten. Er verlässt Anfang Mai 1828 nach fast zweijährigem Aufenthalt Schottland und reist über Frankreich und die Schweiz an den Gardasee. In Bologna trifft er auf das Ehepaar Dellmer, mit dem zusammen er Florenz und Rom besucht. „Dellmer ist sehr leidend, körperlich und geistig, verwöhnt, aber gutmütig, höflich – ein Mann von Geist und Bildung. Sie ist auch sehr angenehm und gebildet. Beide sind, wie es scheint, mit mirziemlichzufrieden,“ so beschreibt Becker seine Schutzbefohlenen. Vorsichtig dosiert unternimmt er mit dem Ehepaar während des Frühjahrs und Sommers 1828 Ausflüge mit vielen Besichtigungen, die sie bis nach Neapel führen. Der Aufenthalt in besten Hotels oder einem angemieteten Landhaus und der gute Verdienst machen für Becker die Zeit sehr angenehm.
Ende Juli trennt er sich von den Dellmers und fährt über Genua nach Paris. Hier bleibt er ungefähr vier Monate, hört Vorlesungen an der Sorbonne, besucht Krankenhäuser und hospitiert bei Untersuchungen und Operationen, um sich einen Überblick über den Stand der französischen Medizin zu machen. Becker hat eine kleine Wohnung in der Rue St.Honoré. Die elegante Stadt an der Seine, das rege kulturelle Leben, aber auch die gespannte politische Atmosphäre am Vorabend der Pariser Revolution von 1830 vermitteln Becker vielfältige Eindrücke und Erfahrungen. Mit einem Brieflein von Marianne, das er Becker überbringt, erscheint ein Herr Sylvester Sichel aus Frankfurt in Paris. Ferdinand soll sich seiner freundlich annehmen und ihn bei diversen einflussreichen Bekannten einführen. Sichel gelingt es bald, sich in Paris im Umfeld der reichen jüdischen Kaufleute und Bankiers zu etablieren, vor allem in Kontakt zum Hause Rotschild zu kommen. Viele Jahre später wird Karl Becker, Ferdinands jüngerer Bruder[89], zusammen mit einem Partner die Repräsentanz des Hauses Rotschild in Amsterdam von Sichel übernehmen.
Im Elternhaus in Offenbach
Im Elternhaus in Offenbach, wo Becker im Spätsommer 1829 anlangt, floriert inzwischen das Erziehungsinstitut, das der Vater in dem schönen Haus am Linsenberg 1820 gegründet hatte. Zahlreiche Zöglinge, die meisten aus England und Schottland, aber auch aus Frankreich, hatten hier Einzug gehalten, die ältesten von ihnen hatten das Haus inzwischen schon längst wieder verlassen. Seine älteste Schwester Sophie Becker (1807-1971) hatte inzwischen Dr. Georg Helmsdörfer (1803-1856) geheiratet, der Lehrer am Institut und Beckers Stellvertreter war. Sophie unterrichtete auch selbst und managte die ganze „Logistik“ im großen Hause. Sophie hatte zuvor eine unglückliche Liebe durchgemacht und sich mit Ferdinand darüber brieflich ausgetauscht, wobei ihrer der Bruder Ferdinand noch aus Schottland dringend von einer Verbindung abgeraten hatte. Über das Paar Helmsdörfer-Sophie schreibt meine Großmutter Julie Becker geb. Schöffer (1839-1917) in ihren Erinnerungen:
„Dieser Schwager Helmsdörfer war ein hochbegabter Mann, der die Kunst und die Liebe dazu in die Familie einführte und damit allen Glieder eine reiche Quelle irdischen Glücks erschloss. Seine Frau Sophie, die älteste Schwester meines Mannes, war eine ideale Natur, voller Demut und Aufopferung, groß an Liebe und an warmem Gefühl. Sie hat die jüngeren Söhne, meinen Mann und seine Brüder, wie ihre eigenen Kinder erzogen.“[90]
Ferdinand hatte zu Sophie und dem Schwager Helmsdörfer ein besonders gutes Verhältnis und hatte ihre Verbindung, so gut er konnte, stets gefördert. Die zweitälteste Schwester Minna Becker (1808-1884), der Ferdinand eine Stelle als Deutschlehrerin in England verschafft hatte, schrieb aus der Ferne erfreuliche Berichte aus London. Die beiden jüngsten seiner sieben Geschwister, Karl und Theodor, waren gerade sieben und acht Jahre als geworden, sie wurden oft zusammen mit den ausländischen Schülern am Institut unterrichtet. Die wissenschaftliche Arbeit des Vaters, der dieser inzwischen fast seine ganze Zeit widmete, war erfolgreich gewesen und wurde von vielen Seiten anerkannt. 1827 war sein Hauptwerk, Organismus der Sprache“ erschienen, mit dem er in der Welt der Germanisten bekannt wurde. Im gleichen Jahr hatte er Jakob Grimm in Kassel und Wilhelm von Humboldt in Berlin besucht, die Zustimmung, aber auch Kritik geäußert hatten.
K.W.Heyse, Sprachforscher wie Becker und seit 1829 Professor an der Universität Berlin, der Julie Saling, die Schwester Mariannes, geheiratet hatte, suchte in den „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik“ die Leser von der „Wichtigkeit und Reichhaltigkeit“ des Werkes zu überzeugen.[91] Ferdinand hatte als Naturwissenschaftler und Mediziner für den Grundgedanken der Lehre des Vaters, die Sprache als eine Art Organismus zu betrachten und von daher ihre Gesetzmäßigkeit zu erschließen, ganz besonderes Verständnis und nahm deshalb lebhaften Anteil an der Arbeit. Es kommt zu langen Gesprächen und Diskussionen. Ferdinand verspricht, in Berlin die Verbindung zu Wilhelm von Humboldt nach Möglichkeit zu fördern.
Im Herbst 1829 kehrt Ferdinand Becker nach Berlin zurück, wo der letzte Lebensabschnitt dieses jungen Menschen beginnt. Fünf Jahre zusammengedrängter Arbeit, getragen von einem großen Selbstvertrauen, einem unerschütterlichen Optimismus und immensen Fleiß liegen vor ihm, die ihn, vom Schicksal begünstigt, zu großen Erfolgen führen.
6. Berliner Jahre 1829 bis 1834
Arzt und Lehrer an der Universität in Berlin
Im Herbst 1829 kommt Becker wieder in Berlin an. Marianne hatte für ihn eine Wohnung in der Behrensstraße ausgesucht und half ihm nun, diese einzurichten. Geheimrat Horn stellte Ferdinand als seinen Assistenzarzt an, wie Marianne ihm schon vorher geraten hatte. Da sie ihn aber dringend davor gewarnt hatte, dass Horn seine Assistenten sehr schlecht bezahlt und ohne Rücksicht ausnützt, war er bemüht, sich so bald wie möglich selbständig zu machen. Dazu hatte er sich durch seine Auslandsreisen als Begleiter wohlhabender Herren eine kleine Barschaft sparen können, die ihm den Start erleichtern sollte. Andererseits ermöglichte ihm die Arbeit bei dem bekannten und beliebten Geheimrat Horn mit seiner großen Patientenklientel, viele Kreise in der Berliner Gesellschaft kennen zu lernen und selbst bekannt zu werden.
So konnte er tatsächlich schon bald eine selbstständige Arztpraxis eröffnen, wobei ihm seine Verbindung zu den Familien Mendelssohn und Saling mit ihrer weitverzweigten Verwandt-schaft besonders zugute kam. Da er außerdem Englisch und Französisch fließend und Spanisch leidlich beherrschte, zog er auch viele Ausländer in seine Praxis. Die englische Gesandtschaft ernannte ihn zu ihrem Arzt. Berlin war inzwischen so groß geworden, dass man zu Fuß seine Patienten kaum erreichen konnte. Außerdem schadete es offenbar dem Prestige, als Arzt zu Fuß unterwegs zu sein. Sobald es seine Mittel erlaubten, legte Ferdinand sich Pferde und Wagen mit einem Kutscher zu, der auch als Diener fungierte. Ferdinand schreibt 1831 an die Mutter:
„Die Berliner sind ein kurioses Volk. Ein Laufdoktor gilt bei ihnen gar nichts und einen Einspänner sehen sie auch nur für halb an. Deshalb fahre ich seit gestern mit zwei Schecken und einen wunderschönen Wagen.“
Aber auch seine wissenschaftliche Arbeit betrieb Ferdinand mit Geschick und Engagement weiter. Schon ein Jahr nach seiner Ankunft in Berlin wird Becker im November 1830 an der Friedrich-Wilhelm-Universität habilitiert. Seine Habilitationsschrift hat den Titel „De HistoriaMedicinale Explicatione“.[92] Eine große erhaltene Urkunde in lateinischer Schrift gibt darüber Auskunft, dass er zur Zeit der Regierung Friedrich Wilhelms III., unter dem Rektorat des Professors August Boeckh und während des Dekanats von Friedrich Hufeland am 16.November 1830 um 11 Uhr seine Antrittsvorlesung „De Geographia Medicinali“ pro Fakultate Docendi Rite impetranda halten wird. Von da an hält er als Privatdozent Vorlesungen und kann dem Vater am 12.12.1830 mitteilen, dass er inzwischen schon fünf Vorlesungen zur Allgemeinen Pathologie gehalten hat.
Wissenschaftlich arbeitete er schon seit längerer Zeit an einem Werk über Pathologie, das allerdings unvollendet blieb. Außerdem plante er eine größere Veröffentlichung mit einer Arbeit über die Geschichte der neueren Medizin, ein Thema, das ihn schon Schottland während seiner Arbeit mit Prof. Thompson stark beschäftigt hatte. Auf diesem Gebiet fehlten damals Publikationen fast vollständig, deshalb wurde seinen Vorhaben besonderes Interesse entgegengebracht. In Zeitschriften wurden verschiedene Aufsätze von Ferdinand Becker veröffentlicht, vor allem in der „Zeitung des Vereins für Heilkunde“ in Preußen, in dessen Vorstand Becker gewählt worden war, aber auch in englischen und französischen Fachzeitschriften. Außerdem schreibt er eine Vorrede zu Andrals Pathologischer Anatomie, die er übersetzt und herausgibt.
Im Jahre 1831 erreicht die Cholera, von Osten kommend, Berlin. Zwar wird die Bevölkerung nicht wie bei den großen Seuchen im Mittelalter dezimiert, wo sogar manche Orte fast entvölkert wurden, aber die Ärzte in Berlin stehen der Epidemie ziemlich hilflos gegenüber. Mit lautem Klingeln auf den Straßen wurde der Transport von Cholerakranken angekündigt. Es fehlt an wirksamen Medikamenten, vor allem auch zur Vorbeugung. Es wird berichtet, dass Rahel Varnhagen pulverisierte Kanthariden, besonders die „Spanische Fliege“, benutzte, während Bettina von Arnim Belladonna in homöopathischen Dosen vorzog, die Unterschicht aber den Schnaps zur Vorbeugung verwendete. Zwar gehörten Beckers Patienten überwiegend der wohlhabenden Schicht des Bürgertums und des Adels an, doch gab es auch unter diesen zahlreiche Cholerakranke. Außerdem engagierte er sich in den schnell eingerichteten Cholera-Lazaretten, die mit Hilfe der Behörden und des Militärs eingerichtet wurden.
Seine Beobachtungen mit der Epidemie wertet er aus und berichtet darüber als Arzt der Britischen Botschaft nach England. In seinen Briefen berichtet er, wie verzweifelt und todmüde er oft erst in der Nacht ins Bett sinkt. In einer englischen Zeitungsmeldung heißt es: „In that letter he (Becker) gave a brief statement of the observations he had had an opportunity of making on the Cholera, in his attendance on one of the hospitals provided in Berlin for the reception of persons attacked with that pestilence. A more detailed report of his observations on the same disease was transmitted by him on the English Government through Mr. Chad, the British Ambassador at Berlin…”[93]
Von 3000 Erkrankten (bei ca. 270 000 Einwohnern) starb fast jeder zweite. Zu den Cholera-toten gehörte auch Hegel, kurz vorher schon Gneisenau in Posen und Clausewitz in Breslau. Auch Ferdinand Becker war in einer Zeitungsmeldung, die in Schottland erschien, zusammen mit Hegel als Choleraopfer irrtümlich gemeldet worden.[94] Froude schreibt in seiner Carlyle-Biographie darüber: „These brightening prospects were saddened by the death of various eminent persons, whom he (Carlyle) held in honour. Dr. Becker dies of Cholera at Berlin, then Hegel from Cholera also.”[95]
Friedrich Hufeland, der Dekan der Medizinischen Fakultät an der Berliner Universität, sagt zu der Krankheit in Berlin:
„Eine Schande ist es freilich für uns Berliner Ärzte, daß, seitdem die Cholera in civilisierten Ländern, d.h. solchen herrscht, wo es keine medizinische Polizei giebt und Totenlisten angefertigt werden, an keinem Orte im Verhältnis zu der Zahl der Erkrankten, so viele Menschen daran gestorben sind, als hier. Deshalb behaupten auch die witzigen Berliner, die Cholera habe bei ihrem Abschied aus Berlin gesagt, sie könne unmöglich länger an einem Ort bleiben, wo sie so schlecht behandelt werde.“[96]
Aus Beckers Bekanntenkreis in den Salons setzte sich ausgerechnet die ehemals verspielt-romantische Bettina von Arnim in ungewöhnlicher Weise für die Kranken aus dem Volk, aus der Unterschicht ein. Nachdem ihr Gatte Achim von Arnim zu Beginn des Jahres 1831 gestorben war, siedelte Bettina von dem Rittergut Wiepersdorf ganz in die Stadtwohnung nach Berlin über und konnte so im Herbst 1831, als die Cholera Berlin erreichte, eine zuvor ungeahnte Wirksamkeit entfalten. Zusammen mit anderen Frauen organisierte sie Sammlungen zum Einkauf von Kleidern und Lebensmitteln für die von der Krankheit befallene arme Bevölkerung. Ihre Biographin Ingeborg Drewitz berichtet: „Schleiermacher übergab ihr regelmäßig die um Hilfe flehenden Briefe der Armen, nannte ihr auch den Stadtrat Pr. In der Fr.straße, der als Berater der Armen bekannt wäre und eine ungeahnte Wirksamkeit entfalten. Zusammen mit anderen Frauen organisierte sie Sammlungen zum Einkauf von Kleidern und Lebensmitteln für die von der Krankheit befallene arme Bevölkerung. Ihre Biographin Ingeborg Drewitz berichtet: „Schleiermacher übergab ihr regelmäßig die um Hilfe flehenden Briefe der Armen, nannte ihr auch den Stadtrat Pr. In der Fr(iedrich)straße, der als Berater der Armen bekannt wäre und eine Niederlassung in Wolle hätte. Der Stadtrat bedauerte, wegen der Cholera keine Decken auf Lager zu haben und schlug Bettina vor, sehr teure zu beschaffen. Sie trappelte mit den Füßen und sagte, sie schüttle den Staub von ihren Schuhen, denn sie sei nicht in das Haus eines rechtlichen Mannes, sondern in eine Mördergrube gefallen, in das Haus eines Wucherers, der sich an den Armen bereichern wolle.“
Weiter wird erzählt, dass Bettina zum erstenmal aus dem beschränkten Gesellschaftskreis, in dem sie sich bis dahin bewegt hatte, herausgetreten war und enge Berührung zu den einfachen Menschen erlangt hatte, „als die Proletarier der ganzen Stadt… morgens vor Sonnenaufgang
schon ihre Türe belagerten, um die wohltätigen Mittel der Homöopathie…gegen die Cholera sich zu holen.“[97]
Übrigens entfaltete Bettina von Arnim von diesem Zeitpunkt an, besonders in den 40er Jahren eine rege gesellschaftlich-politische Tätigkeit im Sinne der demokratisch gesinnten Patrioten in Preußen, die sie später in erhebliche Konflikte zu der reaktionären Staatsführung bringen sollte.
Auch die Pocken traten im 19. Jahrhundert immer wieder mit oft schlimmen Folgen als Volkskrankheit auf. Damals hat man angefangen, durch Impfen gegen ihre Verbreitung vorzugehen, doch bestand noch große Unsicherheit über die Wirksamkeit solcher Maß-nahmen. Von vielen Ärzten wurde sie abgelehnt, für gefährlich gehalten oder gar für unwirksam erklärt. Doch war der Staat sehr interessiert daran, diese Krankheit wirksam bekämpfen zu können. Deshalb ordnete der preußische Minister von Eichhorn eine staatliche Untersuchung über die Schutzkraft der Pockenimpfung an und übertrug deren Leitung Dr. Ferdinand Becker. Da Becker in relativ kurzer Zeit ein bekannter Arzt und akademischer Lehrer geworden ist und über Auslandserfahrungen verfügt, wird er oft von Kollegen, die meistens erheblich älter sind, zu Rate gezogen.
Verhältnis zu Marianne Saling
Marianne Saling wird in diesen Jahren für Ferdinand und seine persönliche Entwicklung besonders bedeutsam. „Jetzt wäre ich wieder in Berlin. Wie ich mich gefreut habe, Marianne wiederzusehen, brauch‘ ich Dir nicht zu sagen,“ schreibt er der Mutter. Fast täglich sehen sich die beiden und werden natürlich auch in der Öffentlichkeit gesehen. Varnhagen schreibt darüber in seinen Erinnerungen: „Nach seiner Rückkehr schloß er sich ganz an seine Freundin an; man sah beide stets zusammen und ganz vertraulich, man sagte lange Zeit, sie würden heiraten.“[98] Ohne Zweifel hat Marianne in diesen Jahren einen veredelnden Einfluss auf Ferdinands charakterliche Entwicklung gehabt, vielleicht vergleichbar mit der Wirkung der Frau von Stein auf den jungen Goethe.
Gegenüber Varnhagen äußert sich Marianne über ihre Beziehung zu Ferdinand Becker später so:
„Wie selten mag doch ein anderer erkennen, was in unserem Herzen vorgeht! Sie sind ganz im Irrtum, wenn Sie glauben, dass mir Becker gleichgültig gewesen. Er hat mir stets sehr wohl gefallen, ich habe niemals jemanden so lieb gehabt. Auch setzte ich mich um seinetwillen über jedes Gerede hinweg, sah ihn täglich, ging an seinem Arm, ließ mich abends von ihm abholen, ich, die so stolz und schüchtern auf Meinungen hält und jeder festgesetzten Schicklichkeit unterwürfig ist! Zwar hätte ich nicht seine Frau werden mögen, das Missverhältnis der Jahre und selbst seine unsichere Anfängerschaft in der Welt mussten diesen Gedanken von mir entfernen.“[99]
In ihren Briefen, die jetzt seltener werden, da ja beide in Berlin wohnen, ist nun öfters von Heiraten die Rede. Auch scheint Becker Marianne gegenüber intime Dinge anzudeuten, denn sie tadelt ihn als „unartig“, so in einem Brief, den sie aus Frankfurt an Ferdinand schreibt, als sie dort zu Besuch bei ihrer Schwester Klara Hertz weilt: „Ich bin übrigens nur böse mit Ihnen, wenn Sie es verdienen, und, wie Sie selbst sagen, unartig sind. Denn kein Mann ist berechtigt, (zu) einer Dame unartig zu sein… Was ich vom Getrenntsein der Menschen im allgemeinen gesagt, erstreckt sich nicht auf einzelne bewährte, mir treue Freunde. Im übrigen aber habe ich bisher meine Meinung trotz Ihrer Predigten, noch nicht ändern können.“[100]
An anderer Stelle heißt es: „Was Sie über Berlin sagen, interessiert mich sehr, und mit Freuden erkenne ich Ihre Treue, die sich wieder zu den Füßen der geliebten Tante Marianne schmiegte. Um Gotteswillen, denken Sie aber nicht daran, sie zu heiraten, es wäre eine Tollheit, die die Welt mit Recht uns beiden nicht vergeben würde… Übrigens ist die Saling in jeder Beziehung vortrefflich und ausgezeichnet, und Sie können stolz darauf sein.“
Ferdinand, der inzwischen in Rahel Varnhagens Salon ein- und ausgeht, wird auch mit ein wenig Eifersucht bedacht: „dass R(ahel) kokettiert, und zwar nur mit den Augen, thut mir leid für sie. Das ist auf jeden Fall die unschuldigste und auch die dümmste, auch wohl gefährlichste Art, und untergräbt den guten Ruf – und man hat durchaus nichts davon!“
Im gleichen Brief berichtet Marianne nicht ohne Stolz und Eitelkeit über sich und das gesellige Leben in Frankfurt, wo sie sich in der Weihnachtszeit zusammen mit ihren Eltern bei ihrer Schwester Klara aufhält. „Der Winter ist für mich reich an Bällen, Gesellschaften und Dîners, und ich komme wahrlich nicht dazu, mich auszuruhen. Meine Gesundheit ist jedoch recht gut und mein Aussehen stark und blühend – ich tanze und tolle daher recht tüchtig darauf los. Vor einigen Tagen haben wir das Weihnachtsfest recht und schön und freundlich bei uns begangen. Ich bin ganz herrlich von den lieben Eltern beschenkt worden, unter anderem zwei Ballkleider, ein Muff, ein Hut, ein Pelzmantel, eine wunderschöne Tuchnadel in Form eines Bouquets…in verschiedenartigen Edelsteinen gefasst, dazu ein Paar Ohrringe in derselben Fassung…“
Selbstbewusst weist Marianne einen kleinen Tadel Ferdinands zurück, der auch mit Rahel darüber gesprochen hatte, dass sich Marianne zu auffällig schmücke: „Es ist nichts Neues, daß gewisse Personen des Schmuckes nicht bedürfen, um sich zu schmücken, da der liebe Gott sie schön geschaffen (hat). Dennoch kann ich weder Ihrer noch R(ahels) Meinung willfahren, da es hier Sitte ist, Bänder und Blumen etc.etc. in die Haare zu flechten, und ich mich weder davon ausschließen kann noch mag, und dies umso weniger, als ich zu allen großen, eleganten und angenehmen Festen eingeladen werde![101]
Ferdinand trifft gelegentlich einen Verehrer Mariannes und hat ihr über ein Zusammentreffen mit einem von ihnen berichtet, dessen Name nicht genannt wird. Marianne antwortet darauf: „Ihr Zusammentreffen mit Herrn von … ist wirklich außerordentlich sonderbar gewesen, und alles, was Sie mir darüber gesagt, hat mich königlich amüsiert. Auch aus Hamburg schreibt man mir, welch’ tiefen Eindruck ich auf diesen Zwerg gemacht habe, und dass er sich mit allerlei Plänen beschäftigt, wobei ich eine Hauptrolle spielen soll. Ich lache herzlich darüber und flechte ihm, (sollte es je von seiner Seite dazu kommen, so dass es notwendig würde), ein recht zierliches Körbchen.“
Arzt von Rahel Varnhagen
Rahel war um 1829 von schlechtem Gesundheitszustand. „Rheuma und Gicht erzeugten heftige Schmerzen; Brustkrämpfe und Beklemmungen, besonders nachts, bilden sich zu chronischen Schwächezuständen auslösenden Übeln.“[102] Marianne wird oft zu ihr gerufen, aber es können auch Wochen durch Mariannes Reisen vergehen, dass sich die Freundinnen nicht sehen. In einem Brief an Ferdinand in Paris, kurz vor dessen Ankunft in Berlin, berichtet sie: „Frau von Varnhagen, zu der ich erst jetzt wieder als Umsorgende komme, seitdem sie sterbenskrank war, hat eine heftige Wassersucht gehabt und war von Geheimrat Bartels, einst das fünfte Rad am Wagen, völlig aufgegeben, bis ein kritischer Ausschlag die Gefahr verscheuchte. Es darf noch niemand zu ihr und ich bin erschreckt gewesen, wie verändert sie ist.“[103]
Rahel konsultierte gleichzeitig mehrere Ärzte. Vor allem war Geheimrat Horn ihr „Hausarzt“., daneben auch Geheimrat Bartels, der von Zeit zu Zeit gerufen wurde. Da Marianne Saling ihre Freundin oft besuchte und auch betreute, wenn es ihr schlecht ging, lag es nahe, dass vor allem der junge Assistent Horns, Dr. Ferdinand Becker, oft zu ihr gerufen wurde und sie trotz seiner Jugend Vertrauen zu ihm fasste. Ab 1831 bis zu ihrem Tode 1933 hat er sie regelmäßig als Arzt besucht und behandelt. Rahel hielt große Stücke auf Ferdinand und vertraute oft längere Zeit allein seiner ärztlichen Kunst. So schreibt sie an ihren Bruder Ludwig Robert, der zeitlebens ihr enger Vertrauter war, nach einer schweren Krankheit in einem kurzen Brief: „Mein theurer Louis, ich war recht krank…In Gottes ewiger Hand sind wir immer, komme es wie es wolle…Varnhagen grüßt, sonst sehe ich niemand als Dr.Becker.“[104]
In ihren letzten Lebensjahren quälte sie vor allem die Gicht, die zu dem schon seit längerer Zeit bestehenden Rheumaleiden hinzugekommen war. Sie war in immer kürzer werdenden Abständen krank. Starke Anfälle von „Beklemmungen in der Brust“ (Angina pectoris?) machen ihr besonders zu schaffen.
Verbindungen nach Offenbach
Mit Eltern und Geschwistern bleibt der Kontakt eng, trotz Ferdinands knapper Zeit gehen Briefe hin und her. Der Vater hat 1827 sein Hauptwerk „Organismus der Deutschen Sprache“ und 1829 seine „Deutsche Sprachlehre“ sowie die „Schulgrammatik der deutschen Sprache“ veröffentlicht und beträchtliche Erfolge erzielt. Mit diesen Arbeiten wurde er in der Welt der Germanisten bekannt. Mit den eingehenden Honoraren bessert sich die wirtschaftliche Situation im Haus am Linsenberg in Offenbach. Der Vater war auch in Berlin zu Besuch, wo er Wilhelm von Humboldt getroffen hat. Briefe von Jakob Grimm und Humboldt zeigen den Gedankenaustausch über Beckers Lehre. Ferdinand verfolgt die Arbeit des Vaters mit großem Engagement, wie der Briefwechsel beweist, und trägt durch Gespräche mit Humboldt, dem er ein Exemplar des „Organismus“ überreicht, dazu bei, dass das Werk auch in Berlin bekannt wird. Humboldt hat nach einem Streit mit dem Staatskanzler Hardenberg sein Ministeramt aufgegeben und hielt sich oft lange auf seinem Rittergut in Tegel auf. Ferdinand schreibt an Fritz Rosen nach London: „Humboldt habe ich noch nicht gesehen. Er sitzt in Tegel, vergraben in amerikanische Sprachen. Wenn das Wetter gelinder wird, soll ich zu ihm herauskommen, so hat er mir freundlich geschrieben.“[105]
W. Heyse, Sprachforscher wie Becker und seit 1829 Professor an der Universität, der Julie Saling, die Schwester Mariannes geheiratet hatte, suchte in den „Jahrbüchern fürwissenschaftliche Kritik“ die Leser von der „Wichtigkeit und Reichhaltigkeit“ des Werkes zu überzeugen.[106] Hier können nur einige Grundgedanken aus Beckers Werk angeführt werden:
Die Idee des Sprachorganismus wurde zum leitenden Gedanken des Becker’schen Sprach- systems. Becker lehnt die Vorstellung ab, dass die Sprache vom Menschen erfunden, von seinem bewussten Verstande fortgebildet und künstlich verbessert werden könnte. Er setzt dagegen den Begriff des „Organismus“, der ihm aus der Naturwissenschaft vertraut ist. Der Organismus kann nicht durch Zusammensetzung der Organe von außen geschaffen werden, sondern entwickelt sich von innen heraus. Zu den organischen Dingen zählt Becker auch die Sprache.
„Die Verrichtung des Sprechens geht mit einer inneren Notwendigkeit aus dem organischen Leben des Menschen hervor: denn der Mensch spricht, weil er denkt; und mit der Verrichtung des Denkens ist zugleich die Verrichtung des Sprechens gegeben… Die Verrichtung des Sprechens hat das Leben selbst, und zwar das innerste Leben des Menschen zum Zwecke.“
Aus der Naturwissenschaft wusste Becker, dass alles Geistige in einem Leiblichen zutage tritt. Das allgemeine Leben ist notwendigerweise erst im Bezug zu dem Ganzen, das es trägt, wie umgekehrt das Ganze nur in Verbindung besonderer Organe besteht. Der Sprache als organisches Ding bedient sich der Mensch auf den verschiedenen Entwicklungsstufen. Menschliches Leben erfordert immer den geselligen Gedankenaustausch. So stellt Becker fest, dass „der Mensch nur Mensch durch Sprache“ ist.
Im Vorwort zu seiner „Deutschen Grammatik“ sagt Becker: „Dieses oberste Prinzip der Sprache und Grammatik hat der Verfasser in der Idee des Sprachorganismus angedeutet, und er übergibt hiermit dem Rate der Sprachkundigen einen Versuch, alle Besonderheiten unserer Sprache in diese Idee aufzunehmen.“ Mit der Herausgabe der „Deutschen Grammatik“ wurde Becker auch bei vielen Schulleuten bekannt, von denen er zahlreiche Anregungen erhielt.
Ferdinande, Ferdinands drittälteste Schwester, hatte den Philosophen Adolf Trendelenburg[107] in Berlin kennen gelernt. Trendelenburg, befreundet mit Friedrich Rosen, war zunächst Erzieher des Sohnes des Generalpostmeisters Nagler in Berlin, besuchte den von ihm verehrten Sprachforscher Karl Ferdinand Becker 1827 in Offenbach und knüpfte freundschaftliche Beziehungen zur Becker’schen Familie an, die dann zu der Verlobung mit Tochter Ferdinande führten. In Berlin schlossen sich Ferdinand Becker und Trendelenburg, der Professor an der Universität und ein bekannter Philosoph geworden war, eng aneinander an.
Weil die Eltern sich für den fünfzehnjährigen Bruder Ferdinands, Friedrich Becker (1815-1887) in Berlin eine bessere Ausbildung als in dem kleinen Offenbach versprachen, nahm ihn Ferdinand 1830 in seiner Wohnung auf, ab 1833 auch noch Bruder Bernhard Becker (1817-1846) und ermöglichte beiden den Besuch eines preußischen Gymnasiums. Trendelenburg und Marianne Saling unterstützten ihn nach Kräften bei der Aufgabe der Erziehung und Betreuung der beiden Brüder. Es gibt aus den Jahren 1831 bis 1834 einen lebhaften Briefwechsel von Friedrich und Bernhard mit den Eltern in Offenbach, der uns auch ein gutes Bild über die Situation im Gymnasium und in der Stadt vermittelt.. Trotz seiner geringen Freizeit ist Ferdinand stets bemüht, seinen beiden Brüdern den Aufenthalt in Berlin angenehm zu gestalten, wobei er aber immer darauf achtet, dass sie ihre Ausbildung zielgerichtet betreiben. Als Friedrich und Bernhard 1834 nach Offenbach zurückgekehrt sind, schreibt die Mutter Amalie Becker an Marianne Saling: „Bernhard ist ein sehr lieber Mensch geworden. Auch Dir, liebe Marianne, sage ich dafür gewiß größtenteils den herzlichen Dank. Reiche auch Trendelenburg die Hand in meinem Namen.“
Heirat mit Ziliaris Roedlich
1833 wird Ferdinand als Arzt in das Haus des pensionierten österreichischen GeneralsRoedlich gerufen, dessen Tochter erkrankt ist. Bei diesem Besuch lernt er die jüngere Schwester der Patientin, ein Mädchen von 18 Jahren kennen. „Er wurde aufmerksam auf eine andere 18jährige Tochter, die zart und bleich, aber voll bescheidener Anmut wie eine weiße Lilie auf wildem Acker erblüht war.“[108] Ferdinand verliebt sich in Ziliaris, so heißt das junge Mädchen. Sicher war es nicht die leidenschaftliche Liebe, die er für Susan, das Mädchen in Edinburgh, vor sechs Jahren empfunden hatte, deren Ende er verzweifelt in einem Brief an die Mutter bekennt. Vielleicht spielte die Sehnsucht mit, nun endlich einen richtigen eigenen Hausstand zu gründen?
Einen größeren Gegensatz wie zwischen Ziliaris und all den geistreichen, gewandten, erfahrenen und reifen Frauen wie Rahel, Marianne und ihre Schwestern und all denen, die ihm in den Salons und auch als Arzt immer wieder begegneten, kann man sich kaum vorstellen. Reizte es Ferdinand vielleicht auch, dieses zarte, unschuldige und unerfahrene Geschöpf ganz nach seinem Sinne formen und bilden zu können? So ähnlich hat es wohl auch Ferdinands Familie gesehen: „So bald als möglich wollte er sie verpflanzen. Ihm zur Seite sollte sie leiblich gesunden, geistig kräftig sich entwickeln.“[109] Ferdinand war bei dem Gedanken, Zilli „geistig kräftig entwickeln“ zu können, sicher durchaus ein Sohn der Aufklärungspädagogik mit ihrem fast unbeschränkten pädagogischen Optimismus im Sinne Rousseaus, von dessen Idealen auch der Vater schon in seiner Jugend als Lehrer in Hildesheim und später in seiner Erziehungsanstalt in Offenbach beseelt war.
Hier wird vielleicht ein eigentümlicher Charakterzug in der Becker’schen Familie mitgespielt haben, allen Fragen von Erziehung und Bildung mit großem Engagement gegenüber zu stehen. Einige Mitglieder der Familie übten selbst einen pädagogischen Beruf aus, andere gelangten auf Umwegen über einen anderen Beruf zur intensiven Beschäftigung mit Fragen von Bildung und Erziehung. Diese Entwicklung beginnt schon mit dem Schulmeister Jodokus Becker (*1710), setzte sich fort mit seinem Sohn, dem Domvikar Ferdinand Becker, der als fürstlicher Schulkommissar beachtliche Anstrengungen im inhaltlichen und methodisch-didaktischen Bereich des Volksunterrichts unternommen hatte, und kann später nicht nur in der Generation der Kinder weiterverfolgt werden, sondern auch in der Enkelgeneration mit Carl Heinrich Becker, dem preußischen Kultusminister, und dessen Sohn Helmut Becker, dem Juristen und „heimlichen Kultusminister“ der Bundesrepublik in den Sechziger und Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.[110]
Zu dieser pädagogischen Neigung gehört bei Ferdinand auch die Aufnahme seiner beiden Brüder Friedrich und Bernhard in seinem Haus in Berlin sowie der Plan, zwei bis drei jugendliche „Zöglinge“ aus Schottland nach Offenbacher Vorbild dazu aufzunehmen, um sie gemeinsam mit den Brüdern zu erziehen. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen.
Von Ziliaris, auch Zilli genannt, gibt es kein Jugendbild, sondern nur ein paar Photos, die sie ältere Frau zeigen. Das blutarme Mädchen war oft kränklich und eigentlich auch später nie ganz gesund. In ihrem ersten Brief nach Offenbach vom 11.7.1832 an die Mutter Ferdinands, mit einer kleinen, sehr zierlichen Schrift geschrieben, sagt Zilli über sich selbst:
„Ich kenne wenig die äußeren Annehmlichkeiten des Lebens, bin von frühester Jugend an mancherlei Entbehrungen und Leiden gewöhnt, aber ich fühle doch, dass das Glück in uns selbst und nicht in den äußeren Verhältnissen zu finden ist… Ich habe Ihrem Sohn nichts als ein Herz voll der treuesten, wärmsten Liebe zu geben, eine Liebe, die sich glücklich fühlen würde, sollte sie auch die größten Entbehrungen und schwersten Prüfungen vereint mit ihm zu tragen haben.“
Amalie antwortet so: „Meine liebe, unbekannte Tochter, mit dem herzlichsten Willkommen seien Sie bei uns aufgenommen. Gott segne Sie und meinen guten Ferdinand!… Sein reines, tiefes – sehr tiefes Gemüth fordert ein liebendes Herz. Sein Geist einen gebildeten Sinn, das innige Verhältnis zu seinen Eltern eine einfache Natur: Das alles werden Sie ihm geben, und die Kraft zu wirken wird ihm nicht fehlen. Von Jugend an konnte ich ihn zu Recht einen Liebling des Glückes nennen…“
Auch die Schwestern Sophie und Ferdinande schreiben gleich an die ihnen noch unbekannte Braut des Bruders, freundlich und zärtlich im Ton und Inhalt, überschrieben „Mein liebesSchwesterlein!“ Schon Ende Juli 1832 kündigt Schwester Ferdinande in einem Brief an Zilli an, dass der Vater Karl Ferdinand Becker sich auf den Weg nach Berlin machen wird. Aber für Ferdinand soll es eine Überraschung sein. Offenbar war sein Eindruck von der künftigen Schwiegertochter, nachdem er sie persönlich in Augenschein genommen hatte, nicht ungünstig, denn nach seiner Rückkehr nach Offenbach schreibt die Mutter: „Ich freue mich auf den Augenblick, der Dich meine geliebte vierte jüngste Tochter in unsere Arme führen wird. Möge dieses Glück sich nicht zu lange verschieben.“
Ferdinands Berliner Bekannte aber, die sich an eine Verbindung mit Marianne gewöhnt hatten, reagierten mit Erstaunen und Unverständnis. So schreibt Varnhagen in seinen „Denkwürdigkeiten“: „Er verliebte sich in die Tochter des pensionierten Generals Rödlich und heiratete das schöne und blutjunge, aber auch unbedeutende Mädchen.“[111]
Am schwierigsten wird es aber für Ferdinand, die Nachricht seiner bevorstehenden Verlobung seiner vertrauten Freundin Marianne beizubringen. Er nutzt eine Reise Mariannes nach Hamburg, um ihr in einem Brief alles schriftlich zu erklären. Wir besitzen den Antwortbrief vom 19.Juni1832 aus Magdeburg, den sie ihm auf der Rückreise schreibt. Weil sie schon am übernächsten Tag in Berlin ankommen und Ferdinand treffen wird, könnte sie eigentlich bis dahin warten. Aber auch sie möchte den schriftlichen Weg vorziehen. „Bei einer so baldigen Rückkehr scheint dieser Brief ganz überflüssig, erfüllte er nur den Zweck, den Empfang des Ihren anzukündigen, aber mich würde es bedrücken, dass ich die letzten Zeilen Ihres Schreibens nicht mündlich beantworten könnte, und sie ganz unerwidert zu lassen gleiche einer Unfreundlichkeit, von der meine Seele nichts weiß… Wie kommt es nun, dass wir die Rollen vertauscht, dass Sie phantastische Pläne für die Zukunft bauen, während ich in aller Nüchternheit das Trugbild unseres Verhältnisses erfasse?“
In Mariannes Brief offenbart sich, wie schmerzlich die Nachricht sie getroffen hat. Sie verwendet sogar das „Du“, was nur ganz selten in ihren Briefen geschieht: „Was ich Ihnen bis jetzt gewesen, Freundin, Vertrauen, Versorgerin Ihrer kleinen Bedürfnisse, das alles trete ich der Braut ab, die ein geheiligtes Recht daran hat und die jeden Eingriff dereinst, wenn auch nicht jetzt, schwer empfinden würde. Trauen Sie darin meiner Erfahrung und glauben Sie mir, dass ich ohne Bitterkeit meine Ansprüche aufgebe. Ich werde nichts mehr sein Dir, wenn Du leidest noch wenn Du glücklich bist. Und dabei bleibt es!“
Marianne entsagt allen Ansprüchen an den langjährigen Seelenfreund und Vertrauten und wahrscheinlich einzigen Mann, den sie jemals wirklich geliebt hatte. Sie tut das nicht ohne Pathos, aber sie handelt anders und klüger als z.B. Goethes Seelenfreundin Charlotte von Stein bei Goethes Liaison mit Christiane: Sie überträgt ihre Freundschaft auf das junge Paar, ohne ihre Enttäuschung und Verletztheit nach außen zu zeigen. Was sie wirklich gedacht und gefühlt hat, vertraut sie später ihrem Verlobten Varnhagen an:
„Ich empfand gleichwohl den bittersten Schmerz, ich ließ ihn zwar nach außen nicht blicken, sondern schien gütig einverstanden, und nahm die junge Braut wie eine Freundin und Nichte auf. Rahel jedoch, die liebevolle, wohlwissende Rahel, der keine menschliche Teilnahme entging, und deren Herz für jede das zarteste Mitgefühl hegte, mit der ich nie das Verhältnis besprochen hatte, die wusste gleich und ganz, wie mir im Innersten sein musste, und als ich ihr eines morgens sagte, Becker heirate, tat sie weiter keine frage, weinte, schloß mich in die Arme, küsste mich, und als nun auch meine Tränen hervorbrachen, tröstete sie mich mir liebreichen Worten, zeigte mir ein so wahrhaft von Einsicht und Liebe durchdrungenes Herz, dass ich mich kaum erinnere, von einem Menschen so wohltätige Einwirkung erfahren zu haben, und von dem Tage an für Rahel die dankbarste Verehrung und Zuneigung trug.“[112]
Marianne trifft alle Vorbereitungen für Ferdinands Umzug nach Berlin
Nachdem Marianne die Braut Ferdinands persönlich kennen gelernt hatte, äußerte sie sich Varnhagen gegenüber sehr kritisch über Zilli, wobei sicher auch eine gewisse Eifersucht mitspielt. Sie hatte immer begehrt, den ersten Platz in Ferdinands Herzen auszufüllen, nun hatte sie ein ganz junges Mädchen daraus verdrängt:
„Viel weniger hielt sie auf seine (Beckers) Frau, für die sie jedoch das gütigste und vertraulichste Benehmen hatte. Sie fand, dass Becker durch ein so unbedeutendes Wesen in nichts gefördert werde, wohl aber in vielem gehemmt. Sie erklärte diese Frau für durchaus nichtig, ja für dumm, und zwang mich beinahe zur Bestätigung dieses Urteils.“[113]
Die Hochzeit fand in Berlin im kleinen Kreis statt. Aus Offenbach war nur der Vater gekommen, wer von Zillis Familie teilgenommen hat, wissen wir nicht. Es ist überhaupt auffällig, dass Zilli in ihren Briefen nie von ihren Eltern und ihrer Familie spricht.
Rahels Tod und Varnhagens Verlobung mit Marianne Saling
Rahel Varnhagens Gesundheitszustand hatte sich ab 1832 erheblich verschlechtert. Die Salontreffen wurden dadurch immer seltener. In ihren letzten Lebensjahren quälte sie vor allem die Gicht, die zu dem schon seit längerer Zeit bestehenden Rheumaleiden hinzugekommen war. Sie war in immer kürzer werdenden Abständen krank. Starke Anfälle von „Beklemmungen in der Brust“ machen ihr besonders schwer zu schaffen. Bei ihrer letzten schweren Erkrankung 1832/33 wurde sie von Bettina von Arnim dazu überredet, einen homöopathischen Arzt hinzuzuziehen. Becker kommt zwar auch noch zu ihr, ebenso gelegentlich Geheimrat Horn, doch befolgt sie vor allem die Behandlungsmethoden des homöopathischen Kollegen sehr genau, die letztlich aber ohne Erfolg bleiben. Sie stirbt am 7. Mai 1833 und wird unter großer Anteilnahme ihrer zahlreichen Freunde und Bekannten beigesetzt.
Varnhagen hatte in der Trauerzeit die Salontätigkeiten eingestellt, lebt in seinem Hause zusammen mit seinem Butler Ganzmann und Dora, Rahels Dienerin und Zofe. Er fühlt sich einsam, macht zahlreiche Besuche, bei den Mendelssohns, bei Heyse, bei der Gräfin Yorck, bei Ludwig Robert, Rahels Bruder. „Schon eine Weile mied ich die … Einsamkeit und mochte selten einen Abend zu Hause bleiben“, schreibt er. Auf einer Gesellschaft begegnet er Marianne Saling, die nach Ferdinands Heirat sich unglücklich und in ihrem Herzen heimatlos fühlt. Varnhagen beschreibt die Begegnung mit Marianne so:
„Auch ich war von Mariannes Anblick, als sie die Augen wieder auf mich richteten, wunderbar getroffen. Ich glaubte, sie nie so schön gesehen zu haben. Sie leuchteten in frischer Jugendfarbe… Dabei trug ihr Antlitz den Ausdruck der tiefsten und großartigsten Wahrheit, der unbefangensten Ehrlichkeit, der holdesten Zuversicht. Alles Kleinliche, Gemachte, Angenommene, was mich in früheren Zeiten bei ihr so oft gestört hatte, war verschwunden, eine schöne, starke, freie Seele zeigte sich menschlich einem Menschen… Das Schicksal des edlen Geschöpfes, dem ich mich gegenüber fand, erfüllte mich Trauer… An jenem Abend empfand ich ihre Wirkung in höchstem Grade… mein Gemüt und Sinn wandte sich an jenem Abend Marianne zu, und in mir war beschlossen, dass ich ihr Freund sein müsse.“[114]
So kommt es im April 1834, noch kein Jahr nach Rahels Tod, zur Verlobung zwischen Marianne und Varnhagen. In seinen „Denkwürdigkeiten“ widmet Varnhagen der Verlobungszeit mit Marianne fast hundert Seiten, was beweist, welche Bedeutung er diesem kurzen Lebensabschnitt beigemessen hat.[115]
Terry H. Picked bringt das Verhältnis zwischen Varnhagen und Marianne Saling und sein Ende auf einen sehr einfachen Nenner: „Varnhagen was by no means a confirmed widower, for all his abiding love for Rahel. He was engaged to Marianne Saaling, a very old friend… As the day of wedding approached, Marianne was beset by “nameless fears”, as she wrote Varnhagen…Mariannes’s guilt at marrying the husband of an old friend was complicated by a neurotic fear of sexual contact. On May 21 she accused Varnhagen of “beastly and uncivilized” behaviour. He had attempted to take affectionate liberties with her and it became clear to her that she could not tolerate the thought of physical contact that was even mildly sexual in nature…He (Varnhagen) decided that a marriage with a person who demanded that he agree not to have sex with her would simply not work.”[116]
Liest man Varnhagens eigene Darstellung, so wird bald deutlich, dass das Auf und Ab der Beziehungen der Verlobten ein psychologisch äußerst differenzierter Vorgang ist und keines- falls so einfach beschrieben werden kann, wie Picket das tut. Formal bleiben die Verlobten bei der gegenseitigen „Sie-Anrede“, wechseln kurze Zeit in das vertrauliche „Du“ über, um im letzten Abschnitt, ausgehend von Marianne, wieder zum „Sie“ zurückzukehren. Natürlich war für Marianne, sensibel wie sie war, ein ganz wesentlicher Grund, sich bald unbehaglich in der neuen Verbindung zu fühlen, dass sie ständig an Rahel, die gerade verstorbene Freundin, denken musste und das Gefühl nicht los wurde, ihren Platz bei Varnhagen zu Unrecht eingenommen zu haben. Sie hat die Vorstellung, dass Rahel ihr im Traum erschienen und ihr Vorhaltungen gemacht habe. Wohl um sich selbst zu beruhigen spricht sie zu Varnhagen darüber, wie sie es versuchen will ihn ebenso wie Rahel glücklich zu machen. „Besonders aber wollte sie es nun als ihre Aufgabe, als ihren Stolz und ihre Pflicht ansehen, dass ich durch unsere Verbindung glücklich würde…wiewohl sie nicht wagen könnte, sich mit Rahel zu vergleichen, so sollte ich doch erfahren, was auch sie für die Annehmlichkeiten des Lebens zu leisten vermöge.“[117]
Zu der Frage von intimen Kontakten, „in Betreff der sinnlichen Dinge“, äußerst sich Varnhagen bezüglich Marianne folgendermaßen:
„Ein Mädchen, in reiner, schöner Jugend herangewachsen, von Huldigungen umgeben,… nach außen immerfort beschäftigt, im Inneren kalt und ruhig, ist durch natürlichen Sinn auf strenge Sittsamkeit angewiesen, deren Bewusstsein später als jungfräulicher Stolz auftritt. Von frühester Jugend an die Vorstellung gewöhnt, heiraten zu müssen,… und den Fünfzigern nahegekommen, ohne dass die Erwartungen der Jugend sich erfüllt hätten, befindet sich eine Jungfrau notwendig in einer zweideutigen Lage… Ist aber das Wissen den Sinnen fremd geblieben, so entsteht… ein bedenklicher Zustand, welcher das Verhältnis älterer Jungfrauen oft unglücklich, ihr Benehmen so leicht lächerlich macht… Sie selbst glaubte, hoch über jeder Anfechtung zu stehen, sie dankte Gott für ihre marmorkalte Natur und pries ihr Schicksal in diesem Betreff als ein angemessenes. Wunderbar aber setzte sie allen Anreiz, dessen sie völlig frei zu sein glaubte, desto mehr in anderen voraus und wähnte sich umgeben von Leidenschaft.“[118]
Das Wechselbad der Verlobten beschreibt er so: „Im Wechsel von Anziehung und Sprödigkeit setzte sich unser Umgang fort. Die Stunden unseres Zusammenseins waren von allergrößter Verschiedenheit, und es war niemals zu berechnen, von welcher Art die nächsten sein würden. In Marianne lebten sehr unterschieden gleichsam zwei Personen, die eine wahrhaftig, großartig, klar, kindlich, bescheiden, einsichtsvoll; die andere scheinsam, kleinlich, verworren, stolz, eigensinnig und störrig bis zum Wahn.“[119]
Neben dem ständigen Gedenken an die verstorbene Freundin und „Vorgängerin“ Rahel, das Mariannes Gemüt belastet, und der Scheu vor intimeren Kontakten mit dem Verlobten scheint es bei genauem Lesen der ausführlichen Darstellung Varnhagens aber noch einen dritten „Störfaktor“ in dem Verhältnis der Verlobten zu geben, und das ist ohne eigenes Zutun – Ferdinand Becker. Schon ganz am Anfang nimmt Marianne Varnhagen das Versprechen ab, sich um Becker zu kümmern und ihn weiter zu fördern. „Sie sprach mir gelegentlich von Becker und ich versprach, in einigen Beziehungen ihn nach besten Kräften zu fördern.“[120] Sie selbst wollte, nachdem sie durch die neue Heirat entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung hätte, Beckers Ergehen auch nach seiner in ihren Augen unglücklichen Heirat weiter vorwärts bringen. „Sie sann…mit lieblichem Eifer, wie sie Heyse’s erfreuen, Becker unterstützen, Armen und Kranken wohltätig sein würde.“[121]
Später verlangt Marianne von Varnhagen, ein Gespräch mit dem Arzt zu führen, weil sie sich zu „jugendlich-leidenschaftlicher“ Liebe nicht mehr jung genug fühle und Bedenken gegen intimere körperliche Kontakte hatte. Varnhagen reagiert ablehnend: „Meine erste Bewegung war, ein solches Gespräch mit einem Arzte durchaus abzulehnen. Es war ja zwischen uns mit zarter Aufrichtigkeit beredet, dass unsere Ansprüche aneinander mehr im Sinne liebevoller Pflege und Geselligkeit als jugendlicher Leidenschaft sein würden. Ich wollte keine Fremden eingemischt, sondern jedes Bedenken durch unser gegenseitiges Vertrauen allein… gelöst sehen.“[122] Weil Marianne aber auf ihrem Vorschlag besteht, schlägt Varnhagen vor, Dr. Becker zu konsultieren, nicht aber Geheimrat Horn oder einen anderen fremden Arzt. Darüber ist Marianne aber empört und regiert heftig, weil sie diese intimen Probleme auf keinen Fall vor dem jungen Freund und Vertrauten vieler Jahre ausgebreitet sehen möchte: „Nun aber machte Marianne meinen Widerspruch zu dem ihren, beklagte meine Unzartheit, daß ich an ihre Beschämung gar nicht dächte, fand sich viel zu gut und hoch, um ihr Los…an dem Ja oder Nein eines dritten hängen zu wissen und hielt es nun um so richtiger, dass wir unsere Verbindung aufgäben.“
Auch wenn es nicht zum Konsultieren eines Arztes kommt, wird das Verhältnis bald wieder harmonisch. Marianne kann sogar mit Varnhagen gemeinsam ihren sozialen Neigungen nachkommen. „Eine Reihe schöner Tage folgen auf diesen Sturm,… wir verlebten glückliche Tage in holder Eintracht, das Frühlingswetter begünstigte schöne Spazierfahrten…Wir fuhren zusammen nach der Kopf’schen Anstalt vor dem Halle’schen Tor, wo ich Marianne im stillen Glanz ihres Wohltuns mehr als je schön finden musste…meine Hinneigung zu den Kindern schien Marianne ganz besonders zu beglücken.“[123]
Schließlich wird die Trauung festgesetzt und auch die Fragen der Hochzeit und der Trau-zeugen werden erörtert. „Inzwischen rückte die Zeit, welche wir für unsere Verbindung angesetzt, allmählich näher, und ich hatte mancherlei, sowohl für die Trauung, als auch für die Reise, die ihr folgen sollte, zu veranstalten.“[124] Hierbei will Varnhagen Marianne vorsorglich entgegenkommen, indem er Ferdinand Becker als Trauzeugen vorschlägt. „Ich erfreute Marianne ungemein, dass ich unter den meinerseits gewählten Trauzeugen den Doktor Becker nannte. Daß dies insgeheim, sagte sie, ihr lebhafter Wunsch gewesen, würde sie nie verraten haben, wenn ich demselben nicht so erfreuend begegne. Becker kam wegen ihres Unwohlseins täglich und war ihr sichtbar äußerst wert als Arzt und Freund.“[125]
Daneben werden die Vorbereitungen für die Hochzeitsreise getroffen, die das Paar nach Weimar führen soll. Schon lange hatte Rahel als glühende Goethe-Verehrerin zusammen mit Varnhagen den Plan gefasst, das Erbe des Dichters in einer besonderen Einrichtung zu sichern und der Welt zugänglich zu machen. Nachdem Goethe 1832 gestorben war nehmen nun Varnhagen und Marianne, die sich nicht weniger Goethe verpflichtet fühlt, diesen Plan wieder auf. Auf ihrer Hochzeitsreise wollen sie in Weimar eine „Goethe-Gesellschaft“ gründen, die international das Erbe des Dichters pflegen und betreuen soll. Mit Ottilie von Goethe, seiner Schwiegertochter, hatten sie schon Verbindung aufgenommen und ihre Zustimmung und Unterstützung erhalten.[126]
Doch es kommt anders. Aus fast nichtigem Anlass entsteht ein heftiger Streit zwischen Marianne und Varnhagen, den er bezeichnenderweise ganz ausführlich beschreibt. Der Anlass des Streits war – völlig ohne daran beteiligt zu sein – Dr. Ferdinand Becker. Marianne hatte während der ganzen Zeit der Verlobung enge Verbindung zu Becker und seiner jungen Frau gehalten, zu der sie ein mütterlich-freundschaftliches Verhältnis entwickelt hatte. Becker kam fast täglich in Mariannes Wohnung, um sie als Arzt zu besuchen, denn sie fühlte sich in diesen Monaten oft unwohl und leidend. Als Becker nun eines Tages wieder kommt, wird er von Varnhagen im Beisein Mariannes empfangen und ziemlich kurz abgefertigt. „Doktor Becker kam, als Arzt nachfragend, etwas zerstreut und eilig. Er wollte seine Frau aus einer Gesellschaft abholen und dann arbeiten. Ich war ganz gut mit ihm, doch weder redselig noch vergnügt, wozu auch gar kein Anlaß war.“[127]
Als Becker gegangen war, wacht Marianne Varnhagen schwere Vorwürfe, dass er Becker nicht freundlicher empfangen, nicht heiterer gewesen oder wenigstens so geschienen habe. „Ob Becker denken solle, ich sei unglücklich neben ihr, und wohl gar es erzählen, er habe mich sehr verstimmt gesehen… ich habe gegen Becker alle Artigkeit beobachtet, und höchstens, wenn er überhaupt darauf gemerkt hat, was ich noch bezweifle, mag er sich denken, ich sei mit irgend etwas beschäftigt,“ so fährt Varnhagen fort.
Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, wobei Marianne sagt, dass sie „in einemunvorteilhaften Lichte“ erschienen sei, während Varnhagen ihr vorwirft, dass sie an ihm weniger Anteil nehme als an Dritten und seine „schmerzlichen Empfindungen“ nicht beachte. Schließlich fließen Tränen, und Varnhagen geht nach Hause, „weil ich der Ruhe bedürftig war und den ferneren Redelauf abzubrechen wünschte.“ Er beendet seine Darstellung mit dem Satz: „Dennoch sollte über diesen armseligen und schon versöhnten Zwist unser ganzes Verhältnis zusammenstürzen!“[128]
Das Ende der Geschichte ist rasch erzählt. Marianne legt sich zu Bett, ist für Varnhagen nicht zu sprechen. Es gehen Brieflein und Billets hin und her, beschwörend, liebevoll, ärgerlich und voll Zweifel im Wechsel. Marianne wechselt wieder vom Du zum Sie. Schließlich schreibt sie: „Daß ich im Herzen um Sie traure, auch um das Glück, das unnötigerweise zerstört worden ist, gestehe ich ohne Hehl. Doch da es nun zerstört, kann ich es nicht wieder aufrichten… dass ich mit meinen Fehlern und Eigentümlichkeiten in der Ehe kein Glück zu hoffen, keins zu gewähren habe…Wir reichen uns vielleicht noch einmal die Hände als Freunde, denn Unedles ist nicht zwischen uns, und unedel sei auch unsere Trennung nicht! Leben Sie wohl, Gott sei mit Ihnen! M.S.“
Doch macht Varnhagen weiter Versuche, den Streit beizulegen und das Verhältnis zu retten, besucht Marianne auch wieder. „Warum“, rief ich aus, „unwiederbringlich? Können Sie es ein schönes Glück nennen, so es noch da!“ Marianne bringt wieder Dr. Becker ins Spiel, dessen Meinung und Urteil ihr von äußerstem Wert ist. Da sie vor ihm keine Geheimnisse hat, möchte sie ihn beruhigen, wenn er ihren Gemütszustand bemerken sollte. „Noch weiß kein Mensch von unserem Bruch“, versetzte sie bedeutend, „sogar Becker nicht. Ich habe ihm bloß gesagt, wenn er sähe, dass ich ihm etwas verschweige, so möge er denken, dass ich Gründe dazu habe, und soll sich dabei beruhigen.“[129]
Freunde, die von dem Zerwürfnis der Verlobten ahnen, wollen sich einschalten. Abraham Mendelssohn-Bartholdy, Heyse und andere fragen an und wollen sich nach näheren Umständen erkundigen. Mendelssohn macht einen konkreten Vorschlag, weil er Zweifel an einer Unwiderruflichkeit des Streits hat. Doch Marianne lässt sich nicht beeinflussen. Besonders wird sie davon beunruhigt, dass in der Berliner Gesellschaft nun über sie und Varnhagen gesprochen, und natürlich allerlei Vermutungen geklatscht wird. Sie empfindet all das schmerzlich und fürchtet, dass ihr guter Ruf darunter leiden könnte.
In dieser Situation schlägt ihr Ferdinand Becker vor, allem Ärger aus dem Wege zu gehen und eine Zeitlang zu verreisen und empfiehlt ihr einige Wochen in dem nahen Kurort Freienwalde an der Oder zuzubringen, um sich dort zu erholen. Aber Becker möchte sie nicht allein gehen lassen, weil er sich um sie sorgt und ihren Zustand noch für zu labil hält. Deshalb gibt er ihr seine junge Frau Zilli als Begleitung mit und vermittelt Marianne den Eindruck, dass Zilli selbst überarbeitet sei und Erholung brauche. Dabei glaubt er, dass Marianne mit der Aufgabe, „die Kleine“, das „gute Kind“ betreuen zu müssen, zu dieser Reise motiviert wird. So fahren Marianne und Zilli zusammen zur Kur nach Freienwalde.
Tod Ferdinands
Ferdinand selbst bleibt in Berlin, wo er zu viele Verpflichtungen hat, um eine solche Reise unternehmen zu können. Tatsächlich hat er sich in diesen Berliner Jahren seit 1829 kaum irgendeine Erholung gegönnt. Im Vertrauen auf seine jugendliche Kraft, voller Energie, seinen Weg erfolgreich weiter zu gehen, hat er sich sehr viel zugemutet. Die Mutter im fernen Offenbach sieht das mit Besorgnis und ermahnt den Sohn in ihren Briefen, den „Bogen nichtzu straff zu spannen“ und sich öfter einmal zu schonen und auszuspannen. Sie lädt ihn auch nach Offenbach ein, doch Ferdinand glaubt, sich in dieser Aufbauzeit eine längere Unterbrechung seiner Aufgaben nicht leisten zu können, ohne seine Existenz als Arzt, als Wissenschaftler und Universitätslehrer zu gefährden.
Inzwischen hat er eine größere Praxis als Arzt aufgebaut, die viel von seiner Zeit beansprucht. Mit seinem Wagen besucht er die Patienten in den Berliner Stadtteilen, was viel Zeit in Anspruch nimmt. In seiner Wohnung hält er Sprechstunden ab, im Krankenhaus führt er Operationen durch. An der Universität ist er nun mit zahlreichen Vorlesungen, hauptsächlich zur Pathologie, stark engagiert. Sein junger Haushalt mit der nun neunzehnjährigen Zilli als Hausfrau, die sich erst allmählich an diese Aufgabe gewöhnt und in mancherlei Hinsicht selbst noch der Bildung und Führung bedarf, erfordert ständig seine Zuwendung, weil Zilli auch oft kränklich ist. Zur eigentlichen Arbeit befähigte sie wohl der beste Wille, nicht aber ihre körperliche Kraft und ihre bisherige Lebensgewohnheit.
Die beiden jüngeren Brüder Friedrich und Bernhard lebten auch weiterhin bei Ferdinand und Zilli. Der Schulbesuch ist zu organisieren und zu überwachen, wobei ihm Marianne und der angehende Schwager Trendelenburg oft hilfreich zur Seite stehen. Der Plan, zwei junge Schotten nach Offenbacher Vorbild dazu aufzunehmen, um ihre Studien zu leiten, ist bislang allerdings noch nicht verwirklicht worden.
Während die Frauen noch in Freienwalde sind, erkrankt Ferdinand plötzlich schwer. Die herbeigerufenen Ärzte stellen eine Gehirnentzündung fest, die mit sehr hohem Fieber einhergeht. Als man nach einigen Tagen bemerkt, dass weder Medikamente noch sonstige Maßnahmen zur Besserung des Krankheitsbildes beitragen, schickt man eilig den Wagen nach Freienwalde, um die Ehefrau von dort zu holen. Zilli und mit ihr Marianne fahren sofort nach Berlin zurück, doch finden sie Ferdinand bei ihrer Ankunft schon sehr schwer krank und ohne Besinnung. Am sechsten Tag seiner Erkrankung stirbt Ferdinand, ohne noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
In einem Brief an die Mutter in Offenbach schildert Marianne das Ende: „Als der Todeskampf vorüber war, sagte ich (zu Zilli): „Geh zu Bett, ich wache bei ihm!“ Wie hat der Mensch ausgesehen – wie ein gefallener Held, den der Sieg verklärt. Ich habe, als er uns entrissen wurde, meine Lippen in Deinem Namen auf seine kalte Stirn gedrückt.“[130]
Varnhagen beschreibt das Ereignis so: „…als der Wagen die Nachricht brachte, sie möchten eilen, Dr. Becker sei sehr krank. Als sie ankamen, lag er im Sterben, am anderen Mittag war er tot. Ein junger Mann von 29 Jahren, Mariannes vertrauter Freund und Arzt, ihr plötzlich entrissen, wo sie des Trostes am meisten bedürftig, einen solchen doppelt musste schätzen lernen! Und ein besonderes Verhängnis lässt ihren Bruch mit mir den Anlaß sein, der den erkrankten Freund ihrer eigenen und der Gegenwart seiner Gattin beraubt.“[131]
Bleistiftzeichnung auf Karton von Wilhelm Hensel[132]
Marianne wollte dem Freund auch nach dem Tode nahe sein. Deshalb sicherte sie sich gleich nach der Beerdigung vertraglich ihre eigene Grabstätte neben der des Freundes. Aber sie überlebte Ferdinand um mehr als dreißig Jahre. Nachdem sie von ihren Eltern ein größeres Vermögen geerbt hatte, war Marianne später eine große Wohltäterin der Armen und stiftete das Hedwigs-Krankenhaus in Berlin. Der katholischen Kirche blieb sie ihr Leben lang treu verbunden. So war es nicht verwunderlich, dass sie nach ihrem Tode nicht neben ihrem Freund Ferdinand Becker beerdigt wurde, wie sie es einst gewünscht hatte, sondern mit großem Pomp von der hohen katholischen Geistlichkeit an einer besonders bevorzugten Stelle zu Grabe getragen wurde. „An Ferdinands Grabhügel aber wucherten wilde Veilchen,“ bemerkt Nana Stahl-Trendelenburg in ihren Aufzeichnungen.
Für Zilli, die unglückliche Schwiegertochter, sorgte die Familie Ferdinands nach ihrer kurzen Ehe von nur neun Monaten. Sie holte die Schwiegertochter nach Offenbach, wo sie im Hause am Linsenberg im Kreise der Schwestern leben und sich erholen konnte. 1836 zog sie ganz nach Offenbach. 1841 machte sie eine Reise nach England, wo ihre Schwester in London verheiratet war. Aus dieser Zeit gibt es eine Anzahl von Briefen zwischen ihr und den Offenbachern, die zeigen, wie sowohl die Eltern Karl-Ferdinand und Amalie Becker sowie alle Geschwister am Leben dieser Frau ihres ältesten Sohnes und Bruders, den sie so früh verloren hatten, regen Anteil nehmen.
Über das weitere Schicksal von Ziliaris Becker berichtet Julie Becker-Schöffer, ihre Schwägerin und Frau von Karl Becker, des zweitjüngsten Bruders von Ferdinand. Karl und Julie Becker haben sogar ihrer Tochter im Gedenken an die unglückliche Schwägerin den seltenen Namen Ziliaris gegeben. 1870 machten sie zusammen mit ihrer Tochter einen Besuch bei Zilli Becker, die inzwischen in Berlin lebt. In ihren Lebenserinnerungen berichtet Julie Becker : „Im Frühjahr 1870 brachten wir unsere Kinder nach Berlin, um sie und besonders unsere kleine Emma Ziliaris ihrer unglücklichen Patentante Zilli zu zeigen. Wie ich bereits erwähnte, war sie als 20jährige Frau nach 9 Monate langer Ehe Witwe geworden. Da sie ohne jedes Vermögen war, nahmen sie die Schwiegereltern zu sich und sie lebte auf dem Linsenberg von 1836 bis 1854, auch nach des Vaters Tod bei Helmsdörfers.
Sie machte sich dort nützlich, so viel sie konnte, war aber ihr Leben lang kränklich und oft leidend. Als ich sie kennen lernte, war sie eine zarte, kleine, aber vornehme Erscheinung, die mit rührender Geduld ihr schweres Leben trug. Im Jahre 1856, bei der Auflösung des Hauses
auf dem Linsenberg, zog sie zu einem verwitweten Bruder nach Frankfurt/Oder, dem Major von Roedlich, und erzog dessen einziges Töchterchen. Bei seiner Versetzung kam sie nach von
Berlin, wo ich sie zum zweitenmal im Leben wiedersah. Vorher hatte ich sie mit Karl auch einmal in Frankfurt a.O. besucht. Im Jahre 1870 war sie bereits so taub, dass nur schriftliche Unterhaltung mit ihr möglich war, oder aber Fingersprache, in die ich mich auf der Reise zu ihr einübte.
Sie freute sich sehr über die Kinder, und Emma schlief einmal zwei Stunden auf ihrem Bett. So wenig wir uns sahen, so innig wurde unser schriftlicher Verkehr von Anfang an. Es war mir eine große Freude, ihr geistig viel sein zu können. Später zog sie nach einer zweiten Versetzung des Bruders nach Breslau, wo sie am 26.Januar 1876 gestorben ist, nachdem sie nicht nur taub, sondern auch lichtscheu und ganz blind geworden war. Dort habe ich später ihre letzte Ruhestätte bei einem Besuch in Breslau am Datum des Hochzeitstages von Ferdinand und Zilli besucht.“[133]
C. Epilog
Zwischen Lyra und Aeskulap – diesen beiden Polen seiner Lebensentwicklung bleibt Ferdinand Becker lebenslang verbunden. Durch Herkunft und Neigung war er ein besonders musisch begabter und engagierter Mensch. Seine Interessen und Neigungen galten stets in gleicher Weise der Kunst und Kultur, besonders der Poesie, der Musik und der Philosophie. Vor dem Hintergrund eines kulturelle und sozial engagierten Elternhauses entwickelt sich sein Charakter. Schon in der Jugendzeit in Göttingen und Offenbach war er von den Eltern in die Welt der Kultur, der Sprache und der Musil geführt worden. Mit Jean Paul begegnet ihm in Offenbach der erste Romantiker, viele andere Vertreter der romantischen Schule lernt er später in Berlin näher kennen. Schon in sehr jungen Jahren auf sich gestellt, kann er in Schottland lernend und lehrend zugleich seine Individualität zwischen den Grenzen der Realität und der romantischen Phantasie weiter entwickeln. Im Kreise bildungsbewusster Familien wird er gastlich aufgenommen und lernt in seinem Gönner Professor Thompson und in Thomas und Jane Carlyle hervorragende Vertreter des schottisch-englischen Kulturlebens kennen, deren besonderes Interesse auch auf die deutsche Geschichte, Literatur und Kunst gerichtet ist.
Wir erfahren über sein Denken, seine Erfahrungen und seinen Charakter vor allem aus seinen eigenen und den Briefen seiner Familie und Freunde. Im Becker-Archiv in Offenbach sind davon mehrere hundert vorhanden. Während heute, bedingt durch die Dominanz der neuen Kommunikationsmedien, Briefe immer mehr aus dem alltäglichen Leben verschwinden, hat das Interesse an historischen Briefen immer mehr zugenommen. In der Literaturwissenschaft werden Briefe heute als eigene Literaturform anerkannt.[134] Aus Ferdinands Briefen und aus den Antwortbriefen erfahren wir nicht nur, was er erlebt, sondern auch was er gedacht und gefühlt hat. Für seine „Seelenfreundin“ Marianne Saling war Briefe schreiben mehr oder weniger die einzige geistige und kreative Betätigung in ihrem Alltag.
Ferdinand Becker hatte sich für Medizin entschieden und sich schon bald sowohl in Berlin als auch in Schottland, wie die Nachrufe nach seinem Tode zeigen, einen sehr guten Ruf erworben. Man kann mit Recht vermuten, dass er Bedeutendes als Arzt und Universitätslehrer geleistet habe würde, wenn nicht der Tod seinem Leben schon mit neunundzwanzig Jahren ein Ende gesetzt hätte. Sein Werk zur Pathologie blieb unvollendet. Sein Engagement während der Cholera-Epidemie hatte ihn bei Patienten aller Stände des Volkes bekannt gemacht. Seine Auslandserfahrungen, über die die meisten Berliner Ärzte nicht verfügten, trugen zu seinem Ansehen auch bei den Kollegen bei. Der Auftrag des preußischen Ministers von Altenstein zur Untersuchung der Wirkungen der Pockenimpfungen zeigt, dass der junge Mann die Aufmerksamkeit der Behörden in Preußen gefunden hatte.
Sein großes Interesse für die Geschichte der Medizin führte Becker besonders zur Auseinandersetzung mit dem Werk von William Cullen und Albrecht von Haller. Wie Haller setzt Becker vor allem auf Experiment und Erfahrung in der medizinischen Forschung. Wie schon der Vater Karl Ferdinand Becker als Arzt an den Zusammenhängen von naturwissenschaftlich-philosophischer Betrachtungsweise und medizinischen Vorgängen interessiert war und damit eine Ahnung von psychosomatischen Zusammenhängen besaß, entwickelte der Sohn Ferdinand eine ganzheitliche Sicht des menschlichen Organismus.[135] Damit steht er in Übereinstimmung mit den in der Zeit der Romantik bei fortschrittsbewussten Medizinern vorherrschenden Vorstellungen. „Es ist interessant, daß gerade die Romantik der Medizin wesentliche Anregungen gab, besonders im Hinblick auf eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen. Ihr verdankt sie weitgehend die Vorstellung von der Einheit von Geist und Seele und der daraus resultierenden Erkenntnis, dass man körperliche Symptome unter Einbeziehung der psychischen Konstitution betrachten müsste. Die Romantiker beschäftigten sich mit den unbewussten Kräften der Seele, sie betrachteten die Medizin nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Kunst.“[136]
In Berlin begegnet Ferdinand Becker zunächst im Hause von Abraham Mendelssohn einer deutsch-jüdischen Bildungsschicht, die sich an die Lebensformen und das Denken ihrer christlichen Umwelt weitgehend angepasst hatte, wie das damals in vielen gebildeten jüdischen Familien Berlins der Fall war. Für viele von ihnen war die deutsche klassische Dichtung und Philosophie an die Stelle der religiösen Traditionen des Judentums getreten. Gerade in der Familie Mendelssohn führte dieser Assimilationsprozess zu Identitätskrisen, denn Abraham Mendelssohn hatte als Sohn des berühmten und angesehenen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn ebenso wie drei weitere seiner Geschwister dem Judentum den Rücken gekehrt und war zum Christentum übergetreten.
Im Hause Mendelssohn nimmt Ferdinand an dem lebhaften musikalischen Leben teil, das dort herrscht. Zunächst durch die Mutter in Offenbach, wo sie gemeinsam im Chor singen, später in Schottland im Hause Thompson und nun in der Begegnung mit Felix und Fanny Mendelssohn-Bartholdy kann er sein Bedürfnis nach musikalischem Erleben befriedigen. Hier trifft er sich mit dem Geschmack von Marianne Saling, wenn sie zusammen die „Sonntags-musiken“ im Hause Mendelssohn und manche andere musikalische Veranstaltung besuchen. Er ist aber nicht nur Hörer der Musik, sondern er pflegt auch, wenn ihm der Alltag Zeit lässt, seine musikalische Kreativität im Klavierspiel und im Gesang.
Die jahrelange, enge Freundschaft Ferdinands mit Marianne Saling, einer der bekannten Berliner „Salondamen“ und enge Freundin Rahel Varnhagens, führte ihn in die jüdischen Salons dieser Zeit. So war es vor allem Rahel Varnhagen-Levin, in deren Salon er intensiv verkehrte und stets gern gesehen war. In ihrem literarischen Salon hatte sich in diesen Jahrzehnten eine geistreiche und romantische Gesellschaft formiert. Hier lernte Becker viele der bekannten romantischen Dichter wie Clemens Brentano, Adalbert von Chamisso, Bettina und Achim von Arnim, August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Heinrich Heine, und manche andere kennen. Mit Wilhelm von Humboldt verbindet ihn außerdem die Vermittlung zur Arbeit des Vaters, dessen Werke er Humboldt bringt und dann dem Vater von Humboldts Meinung berichtet.
Ferdinand Becker findet sich hier im Kreise der Männer und vor allem der Frauen der romantischen Schule in dem Bewusstsein, der „Moderne“ seiner Zeit anzugehören. Der Bruch mit althergebrachten Traditionen und gesellschaftlichen Formen und Usancen hatte auch das Verhältnis der Geschlechter in diesen romantischen Zirkeln geprägt. Egon Friedell hat das so charakterisiert: „Das damalige Leben erhielt eine überaus geistreiche, aber auch frivole Färbung. Daß man auch die erotischen Beziehungen vom ironischen Standpunkt betrachtete, geht aus den zahlreichen „Doppellieben“ hervor, die man geradezu als eine Mode der Zeit ansprechen kann: Fast immer steht eine Frau zwischen zwei Männern oder ein Mann zwischen zwei Frauen.“[137]
Auch Ferdinand steht in seinen letzten Lebensjahren zwischen der langjährigen „Seelenfreundin“ Marianne und der zarten Zilli, zwischen der reifen, erfahrenen schönen Frau und dem blutjungen, stillen, bescheidenen Mädchen. Selbst in der Stunde des Todes sind beide Frauen an seinem Krankenbett – und mit den Worten: „Kind, geh zu Bett, ich wache bei ihm!“ erweist Marianne dem Geliebten den letzten Dienst.
D. Nachwort des Herausgebers
Die verdienstvolle Arbeit von Vetter Heinz Knab hat mich so interessiert, dass ich beschloss, sie auch anderen Gliedern meiner Familie zugänglich zu machen. Dabei änderte ich nur an wenigen Textstellen offensichtliche Irrtümer, die Anmerkungen habe ich zuweilen ergänzt durch präzise Daten aus dem Brockhaus medial 2004, woraus ich auch die Bilder entnommen habe. Ich notierte die Quellenangaben jeweils am Fuß der Seite und ergänzte diese ebenfalls. Nach einigem Bemühen fand ich im Berliner Kupferstichkabinett zwei hübsche Zeichnungen mit Marianne Saling von Wilhelm Hensel, eine aus dem Jahre 1823, eine zweite aus dem Jahre 1860. Aus dem gleichen Katalog der Hensel-Bildnisse stammt die Zeichnung von der Schwester Julie Heyse geb. Saling, wohl etwa aus der gleichen Epoche wie das erste Bildnis Mariannes. Andere Bilder entnahm ich dem Buch von Henriette Herz und dem marbacher-magazin 106 Schiller in Berlin.
Auf eine detaillierte Bibliographie verzichtete ich aus ökonomischen Gründen; ich verweise auf die Fußnoten.
Die Rechtschreibung richtet sich nach dem neuen Duden von 1997 – das geht schon fast nicht anders, weil ich WORD 2000 benutze – bei den Zitaten aus dem 19.Jahrhundert allerdings kämpfte ich um korrekte Wiedergabe.
Das Leben Ferdinand Beckers ist wirklich außerordentlich intensiv gewesen. Schon früh in die weite Welt geschickt von seinen Eltern, entwickelt er sich prächtig während seines langen Aufenthalts in Schottland, wo er neben seiner Brottätigkeit als Unterbibliothekar Privatunterricht gab und gleichzeitig studierte. Es muss ein sonniger Typ gewesen sein, den ich in meinem Patenonkel Horst Jürgen Becker und seinem Bruder Bernhard, aber auch bei Hellmut Becker und anderen wiederzuerkennen glaube.
Es war wohl diese Freundlichkeit, dieser Charme, der ihm die Herzen der Frauen öffnete, als er zur Beendigung seiner Studien nach Berlin zurückkehrte. Die heutige Humboldtuniversität hatte sich in den anderthalb Jahrzehnten außerordentlich entwickelt und die Studien-bedingungen waren sehr gut, vor allem was die Relation Lehrer – Schüler angeht. Es war in etwa so wie in Oxford heute noch… Es muss einfach traumhaft gewesen sein, wenn man dagegen die heutigen Massenuniversitäten betrachtet. Kein Wunder, dass die StudentenInnen heute erheblich länger benötigen, um zu einem Abschluss zu kommen. Es ist beeindruckend, wie schnell der Junge mit seinen Studien fertig wurde – um dann gleich wieder nach Schottland und Paris geschickt zu werden und sich dort auf eine Universitätslaufbahn vorzubereiten. In den Salons der Berliner Damen war er sehr beliebt, auch als Arzt. Hier stechen vor allem Rahel Levin und Marianne Saling hervor, deren heimliche Liebe er war. Die Eltern schlugen natürlich die Hände über dem Kopf zusammen, weil Marianne fast zwei Jahrzehnte älter war – aber sie tat alles für ihn: sie war ihm Mutter, Freundin, Geliebte. Es war wohl ein Tabu zu jener Zeit, eine so alte Frau zu heiraten. Durch diese intellektuellen Frauen lernte er die Crême de la crême der romantischen Schriftsteller Deutschlands kennen, außerdem – und nicht zuletzt – wurde seine Herzensbildung in diesen Kreisen vertieft. Ohne mit der Wimper zu zucken, besuchte er in Weimar den alten Goethe und Johanna Schopenhauer, ebenfalls eine Salonière.
Die Choleraepidemie 1831 überstand er mit Bravour, war Botschaftsarzt für die Briten und Mitglied der Royal Medical Academy from Scotland, – damals war noch kein Kraut dagegen gewachsen, außer Ansätzen von Hygiene. Ich erlebte einst in Iran 1971 eine solche Epidemie, nur gab es da bereits einen wirksamen Impfstoff. Und trotzdem starben viele Hunderte, vor allem in Teheran! Dabei waren das Hauptproblem die Nomaden, deren man nur schwer habhaft werden konnte, um sie zu impfen. Und in Schiras war es geraten, seinen Impfpass immer parat zu haben, – erwartete man doch Gäste aus aller Welt für das große Fest in Persepolis 1971. 1834 jedoch half dem jungen Ferdinand niemand; seine junge Frau Ziliaris, begleitete Marianne zu ihrer diplomatischen Kur (die aber eher eine Flucht aus der Verlobung mit Varnhagen von Ense war), und sein Leben erlosch: wie eine Kerze, die von beiden Seiten brennt. Seine beiden Frauen konnten ihn nur noch im Koma erleben.
Knab zitiert zuweilen das Werk von Deborah Hertz über die jüdischen Salons in Berlin. Doch hält diese nüchterne soziologische Studie weniger, als man erhofft: es fehlt die historische Dimension und Empfindsamkeit, die stark von der Romantik geprägt wurde. Die Rolle der jüdischen Salons am Ende des 18. Jahrhunderts ist die Geschichte einer Emanzipations-bewegung innerhalb einer erstarrten Standesgesellschaft, in der Bürger, Juden, Frauen keine Rolle spielten. Der sprichwörtliche Charme der wohlhabenden jüdischen Salonières zog in Berlin adlige wie bürgerliche Herren an, denn es gab nur wenig Möglichkeiten, sich zu verlustieren und intellektuellen Austausch zu pflegen: es gab weder Theater noch Konzert, keine aufmüpfige Presse – sondern nur das Gespräch im kleinen Kreis, natürlich zuerst bei Hofe, der sich jedoch nicht durch intellektuelle Qualität auszeichnete. Noch dazu war der Zugang zum königlichen Hofe stark beschränkt auf den Adel und einige wenige bürgerliche Ausnahmen; eine andere Möglichkeit boten Empfänge der adligen Familien – aber hier blieb man auch gern unter sich. Die geistigen Interessen des Adels waren eher eingeschränkt: seine Hauptaufgabe bestand darin, dem König Offiziere zu stellen oder nach staatswissenschaft-lichen Studien in der Staatsverwaltung zu dienen. Bürgerliche hatten vielleicht eine Aufstiegschance nach einem Hochschulstudium; dann konnten sie nur auf Protektion hoffen – um einen, meist mies bezahlten, Job zu erhalten.
Das Freiheitsideal der Französischen Revolution von 1789 fand seinen Weg in die Salons – das Vehikel war die französische Sprache, die von den Salonières im allgemeinen gut beherrscht wurde, da sie von ihren Eltern eine vorzügliche Ausbildung erhielten. Auch bei Hofe sprach man nur französisch. Die französische Kultur beeinflusste im 18. Jahrhundert ganz Europa entscheidend. Noch der Alte Fritz sprach nur mit seinen Pferden deutsch, ansonsten französisch. Die Sprache des europäischen Adels aber war das Französische und blieb es noch über eine lange Zeit.
Auch die moderne deutsche Literatur fand durch die Salons Verbreitung. Schiller, später Heine, Jean Paul, Chamisso, Börne, von Arnim, Brentano, die Gebrüder Schlegel und Humboldt und viele andere präsentierten hier ihre Texte, ihre Ideen und diskutierten sie. Sie ließen aber auch ihren Charme spielen, heirateten untereinander, ließen sich auch wieder scheiden (unerhört zur damaligen Zeit!) und pumpte die jüdischen Finanziers, die hinter den Salonières standen, nur zu oft an. Goethe stand in brieflichem Kontakt mit Berlin, insbesondere mit Zelter[138]: ob er je einen der Salons besuchte, entzieht sich meiner Kenntnis.
Hier kommt es durch die preußische Niederlage bei Jena 1806 zu einem Bruch: die Mode des Französischen wurde zurückgedrängt zugleich mit dem Philosemitismus – nunmehr abgelöst durch einen starken preußischen Nationalismus, schon damals eng verwoben mit Ansätzen eines deutschen Nationalgefühls, denn das Heilige Römische Reich deutscher Nation war unter den Schlägen Napoleons zerbrochen! Durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 werden alle geistlichen Territorien aufgeteilt an die Länder Baden, Preußen, Württem-berg und Bayern. Über 50 Freie Reichsstädte werden nur zu gern von den Ländern geschluckt, die Reichsritter mediatisiert: kurzum, es war eine Revolution mit dem Ziel, das Habsburgerreich zu schwächen und lauter kleine Gegenmächte von Frankreichs Gnaden zu schaffen, die sich den Königstitel zulegten… Kaiser Franz war jetzt nur noch Kaiser von Österreich.
In diesem Zusammenhang zeigten sich auch erste Anzeichen des Antisemitismus z.B. bei J.G. Fichte und Achim von Arnim mit seiner Deutschen Tischgesellschaft (1810-1813), die weder Frauen noch Juden duldete. Die jüdischen wurden jetzt durch aristokratische Salons einer Kunigunde von Arnim, der Fürstin Radziwill abgelöst, wobei letztere in ihrem Privattheater Schiller-Dramen aufführte, die das Königliche Staatstheater am Gendarmenmarkt abgelehnt hatte. Gleichzeitig entwickelte sich ein starkes literarisches Leben nicht nur in Berlin, sondern auch in „Deutschland“, sei es nun in Jena, Weimar, Dresden oder Heidelberg. Zwar war Friedrich Schiller bei der Schlacht von Jena bereits zwei Jahre tot, seine Euphorie für die Französische Revolution (deren Ehrenbürger er durch die Republik wurde) längst verflogen – aber sein Werk wirkte weiter. Parallel dazu entwickelt sich die Romantik, deren Autoren in den Salons geschätzt wurden.
Drei Tendenzen standen sich nach Franz Schnabel[139] in dieser Epoche gegenüber:
Die Vernunftreligion der Aufklärung,
Die Gefühlsreligion der Romantik und dazwischen
Die Humanitätsreligion der Klassiker
Schleiermacher ging bereits soweit, die Trennung von Kirche und Staat zu fordern nach dem Motto >Werde was du bist<. Die Romantiker glaubten, „dass ihre Art dem deutschen Gemüt entstamme, sie lebte im Hochgefühl ihrer germanischen Abkunft, sie haben dadurch dem nationalen und dem geschichtlichen Denken wertvolle Antriebe gegeben und wohl auch die Rassentheorien der späteren Zeit vorbereitet.“[140] Schon Novalis hatte 1799 in seinem Werk „Die Christenheit oder Europa“ den Beginn der Anarchie in der Reformation gesehen, die dann in Absolutismus und Revolution endete. Der Heidelberger Romantikerkreis um Arnim, Brentano und Görres sprach in der Zeit des napoleonischen Aufstiegs zwischen1804 und 1808 von der „historischen Sendung des Deutschen“. „Die Heidelberger Romantik grub bis hinunter zu den Quellen des nationalen Lebens, so dass nachher der Freiherr vom Stein sagen konnte, in Heidelberg habe sich ein guter Teil des Feuers entzündet, welches die Franzosenvernichtet habe.“[141]
Nach der Gründung der Berliner Universität 1810 durch Wilhelm von Humboldt bekam die preußische Hauptstadt ein geistiges Zentrum, nachdem die Könige sich bisher auf die Universitäten Königsberg und Halle beschränkt hatten. Die Ausstrahlung Berlins hatte magnetische Kraft auf ganz Deutschland.
Die preußischen Reformen nach dem militärisch-moralischen Zusammenbruch von 1806/1807 veränderten das Land von innen heraus mit der Emanzipation der Bürger und der Juden, der Bauernbefreiung – und den Freiheitskriegen von 1812-1815.
Nachdem in der Frühphase die Verbindung jüdischer Frauen zu Adel und Bürgertum durch Konversion – zumeist zum Katholizismus, aber auch dem Protestantismus stattfand – schließlich gab es noch keine Standesämter, man brauchte also die Kirche für eine legale eheliche Verbindung -, versuchte das aufgeklärte Judentum jetzt eine innere Reform desselben, nachdem es durch das Emanzipationsedikt die administrative Gleichheit erreicht hatte. Wilhelm von Humboldt setzte sich 1815 auf dem Wiener Kongress stark dafür ein – gleichzeitig zog er sich aber aus seinem jüdischen Freundeskreis zurück.
Hinzu kommt ein weiteres Phänomen: die Erneuerung Preußens sollte auf christlicher Grundlage geschehen. Dafür traten neben Fichte auch Clemens von Brentano, die Gebrüder Schlegel, Schleiermacher und Tieck ein. Diese Frühromantiker waren zugleich Gegner der Aufklärung und dessen Rationalismus und Universalismus unter der „Fahne des Irrationalen und der Geschichtsverbundenheit“.[142] Das Bündnis von Thron und Altar sollte das ganze Jahrhundert stark prägen, denn der preußische König war immer auch gleichzeitig oberster Kirchenherr – so wie es heute noch in England ist, wo die Monarchin Oberhaupt der Anglikanischen Kirche ist.
Die Krise von 1806 mündet in eine Vision des preußisch-christlichen Staates; verursacht wurde die Niederlage nach konservativer Ansicht durch den moralischen Verfall der vorhergehenden Generation. Zwar erklärte man die Juden als Staatsbürger, gleichzeitig aber erhöhte sich der Druck, zum Christentum überzutreten.
„Wenn der preußische Staat des 19.Jahrhunderts als ein weltlicher definiert worden wäre im Zuge des liberalen Projektes, Juden als <Staatsbürger mosaischen Glaubens> anzuerkennen, wären Juden gleichberechtigte Bürger geworden. Aber da der Staat gleich von Anfang an als ein christlicher definiert wurde, konnte ein Jude „nur“ ein weltlicher Staatsbürger werden, per definitionem nie ein wirklicher Preuße.“[143]
Es war wohl gerade die gelungene Assimilation einer jüdischen Oberschicht, die die antijüdischen Reflexe in der Folge auslösten.
Durch das Anwachsen der Intellektuellenschicht bildeten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die verschiedensten Diskussionsforen, wie Zeitungen, Zeitschriften, Vorlesungen, Bücher-eien, Museen, Berufsverbände, Universitäten und Parlamente. Sie machten die Salons gewissermaßen obsolet.
Mit dem Rückzug des preußischen Adels aus dem städtischen intellektuellen Leben – im Gegensatz zu Paris oder London – versiegt eine weitere Möglichkeit der Begegnung zwischen bürgerlichen Frauen und Adligen.
Dem Ideal der emanzipierten Frau der Salons wurde nun aus konservativen Kreisen die Familie, die Mutterschaft entgegengesetzt, die Frau gehörte zurück an den Herd. Diese Bewegung war nicht auf Preußen beschränkt, sondern machte sich in ganz Europa und in Amerika breit. Bei allen Fortschritten im Bildungswesen blieben die Frau außen vor; es dauerte noch Jahrzehnte, bis Frauen an Gymnasien und Universitäten lernen konnten, wo sie aber nur zu oft von Studenten und Professoren diskriminiert wurden. Zwar wurden die Menschenrechte bereits 1789 verkündet – doch galten sie in der Praxis nur für die Männer. Eine Olympe de Gouges, die 1791 einen Katalog der Frauenrechte vorstellte, wurde von Robbespiere aufs Schafott geschickt; die Redefreiheit der Frauen bereits 1793 eingeengt, das Verbot weiblicher politischer Betätigung folgte: „Ihre Anwesenheit in den Sociétés populaires würde … Personen einen aktiven Anteil an der Regierung geben, die in besonderem Maße dem Irrtum und der Verführung ausgesetzt sind.“[144]
Während die deutschen Frauen immerhin 1918 das Wahlrecht erhielten, kam es in Frankreich erst 1944 dazu. Mesalliancen des Adels wurden noch lange geahndet; Offiziere mussten um eine Heiratserlaubnis nachsuchen. Bis zum Ende des Dritten Reiches konnte der Adel seine gesellschaftlichen Positionen im Staat, im Offizierskorps und der Diplomatie verteidigen. Aber die drei K’s galten auch noch in der Adenauerzeit. Und sind die Frauen heute wirklich gleichberechtigt? Haben sie die gleichen Chancen? Immer nur bis zu einem gewissen Grad – aber nicht in den lichten Höhen der Macht.
Die Geschichte ist ein ständiges Auf und Ab – auf die Friedenszeit der deutschen Klassik vor 200 Jahren, nur möglich durch die, von vielen verwünschte, Neutralität Preußens im Kampf gegen die expansionistische Französische Republik und Napoleon, folgten die Niederlagen Preußen 1806 und 1807; der Triumph Napoleons endete in Moskau, Leipzig, Waterloo. Den 50 Jahre Frieden nach der deutschen Einigung durch drei Kriege folgte der erneute Untergang des Reichs durch Weltkrieg I; zarte Ansätze des Wiedererblühens Deutschlands in den „Goldenen Zwanzigern“, trotz Versailles, endeten in der Wirtschaftskrise, dem Dritten Reich und Weltkrieg II; nach der Befreiung 1945 kam es zu dem, was wir gern als „Wirtschaftswunder“ bezeichnen, allerdings getrübt durch die Teilung Deutschlands andererseits. Die euphorisch (auch von mir) begrüßte Wende führte durch die ungeschickte Vereinigungspolitik Kohls zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Ostdeutschlands und zur enormen Verschuldung Westdeutschlands – an der wir heute noch und lange zu knabbern haben werden.
Es kann eigentlich nur aufwärts gehen. Manchmal fühle ich wie Voltaire’s Candide, der immer von der besten aller Welten spricht! Wie weit sind wir davon entfernt im Zeitalter der Globalisierung. Zwar haben wir das erträumte große, (fast) einheitliche Europa, um das wir jahrzehntelang gekämpft haben – aber nun stoßen sich die Positionen hart im Raum: noch ist die Europa-Verfassung nicht in Kraft.
Wir können nur hoffen!
Berlin, im Frühjahr 2005 Bert Böhmer
[1] Minna Pansch geb. Becker, Erinnerungen an meine Eltern, handgeschr. MS im Becker-Archiv Nr.37/136. Der Text wurde von dem Herausgeber Bert Böhmer bearbeitet und 2003 der Familie zugänglich gemacht in „Stürmische Zeiten. Schlaglichter auf eine bürgerliche Familie zwischen 1750 und 1900“
[2] siehe dazu Kapitel Einfluss des Großonkels Domvikar Ferdinand Becker. Vgl. auch Heinz Knab, Zum Inquisitionsprozess Ferdinand Beckers 1798 in meiner Anthologie Stürmische Zeiten, Berlin 2003. BB
[3] Commentario de effectibus caloris et frigoris in corpus humanum vivum
[4] Nanna Stahl-Trendelenburg, Dr. Ferdinand Becker, Tübingen 1814, masch.schriftl. MS
[11] Einzelheiten dazu bei: Heinz Knab, Zum Inquisitionsprozess Ferdinand Beckers – ein Beitrag zur Geschichte des Fürstbistums Paderborn, Weilburg 1951. Vgl. die Bearbeitung des Herausgebers Bert Böhmer, 2003
[12] Georg Weigand, Karl Ferdinand Becker – ein hessischer Sprachphilosoph, Frankfurt am Main, Berlin, München 1966, S.13 f.
Peter Bernard, reicher Seidenfabrikant, Schwager von Georg d’Orville;
Lili Schönemann, Goethes Verlobte; Sophie Laroche, die Großmutter von Bettina Brentano; Spieß, Leiter einer Knabenschule
[18] Das ist nur logisch, wenn er den Hausbau auf 1789 datiert wegen der Wetterfahne… B.B.
[19] Brief vom 18.Juni 1818. Becker-Archiv Offenbach
[20] Johann Paul Richter *1763 in Wunsiedel +1825. Freundschaft mit Herder, Distanz zu Goethe und Schiller. In Berlin lernt er 1800 Henriette Herz und Schleiermacher kennen. 1801 Ehe mit Karoline Meyer, nach Bayreuth. Bewunderter Erzähler seiner Zeit, doch weder der Klassik noch der Romantik zuzuordnen. Aus: Henriette Herz, S.101
[21] Ferdinand Becker an Friedrich Rosen am 5.10.1820. Becker-Archiv Offenbach
[22] Brief der Eltern aus Offenbach an Ferdinand Becker nach Glasgow v.3.12.1820
[23] 1 Pfund Sterling = 100 Pence (seit 1971). Seit dem 8. Jh. bis 1971: 1L = 20 Schilling = 240 Pence
[24] Wilhelm Freiherr von Humboldt *1767 in Potsdam, 1784 mit dem Bruder Alexander im Hebräischen unterrichtet von Henriette Herz, in deren Tugendbund er eintritt. 1791 Heirat, Austritt aus dem diplomatischen Dienst, Studium des Altertums. 1810 gründet er die Universität Berlin als Leiter des preußischen Unterrichtswesens. 1819 Minister des Innern; da er für Verfassung eintritt entlassen. + 1835 auf Schloss Tegel
[25] Henriette Herz, Berliner Salon. Erinnerungen und Portraits, Ullstein TB 1984, S.85. Aus dem Porträt Humboldts stammt auch das nachfolgende Faksimile über dessen Rolle bei der Restauration des Vatikanstaates 1815 auf dem Wiener Kongress.
[26] Alexander Freiherr von Humboldt,*1769, Naturforscher und Geograph. Als Bergassessor in preußischen Diensten 1792-96, 1799-1804 Reise nach Südamerika. Lebte bis 1827 in Paris, wo er seine Reisen auswertet zwischen 1804 und 1834. 1827 Rückkehr nach Berlin, wo er Vorlesungen hält über die physische Weltbeschreibung. 1829 im Auftrag des Zaren Reise ins asiatische Russland. 1830 wieder in Berlin wo er den Kosmos verfasst (1845-1862) in fünf Bänden. +1859 in Berlin
[27] Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) vorher Professor in Jena und Arzt von Wieland, Herder, Goethe und Schiller in Weimar.
[28] Ernst Ludwig Heim (1747-1834), Arzt und Professor in Berlin
[29] nach Ludwig Geiger, Berlins geistiges Leben 1688-1840, Berlin 1895, S.463 ff.
[30] Nanna Stahl, Ferdinand Becker und Friedrich Rosen, Tübingen 1914
[31] Ferdinand Becker an seinen Vater am 11.1.1826. Becker-Archiv
[32] Ludwig Geiger, Berlins geistiges Leben 1688-1840, Berlin 1895, Bd.2, S.470 f.
[33] Brief Ferdinand Becker Nr.16/49, Becker-Archiv Offenbach
[34] K. A.Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, Frankfurt a.M. 1987, BD.3, S.610
[40] Caroline Michaelis, Tochter des Orientalisten J.D.M., *1763 Göttingen +1809 Maulbronn. Sie ging 1792 nach Mainz zu J.G.A.Forster, der mit der Französischen Republik sympathisierte, deswegen inhaftiert 1793 auf dem Königstein/Taunus. 1796 Heirat mit A.W.Schlegel, 1803 Scheidung, Ehe mit F.W.J. von Schelling. Jenaer Kreis
[41] Rahel Levin, Briefe und Tagebücher, München 1983, S.313
[51] Briefwechsel zwischen Rahel und Varnhagen, Leipzig 1875, Bd.5, S.36.
Varnhagen kommentiert diesen Brief zwanzig Jahre später mit der Anmerkung: „In begabten Naturen findet sich leicht Doppeltes. So in Pauline Wiesel, in Bettina Brentano. Solche Begabung und dabei solche Einheit, wie Rahel selbst ist die allergrößte Seltenheit
[52] Henriette Herz *1763 als H. de Lemos, 1777 Verlobung mit dem Arzt Marcus Herz *1746! 1779 Heirat. Herz hält Vorlesungen im Hause über Kant. 1781 Bekanntschaft Henriettes mit Rahel Levin *1770. Reise nach Leipzig. 1783 Dorothea Mendelssohn heiratet Bankier Simon Veit. 1784 Henriette lehrt die Gebrüder Humboldt Hebräisch. Sie entfaltet eigene Salontätigkeit. 1795 Umzug in die Neue Friedrichstraße. 1797 Dorothea Veit trifft bei Henriette Friedrich Schlegel. 1802 + Marcus Herz. 1804 Schiller bei Henriette Herz, ebenfalls Mme de Stael. 1808 Dorothea und Friedrich von Schlegel treten zum Katholizismus über. 1817 Übertritt zum Christentum nach Tod der Mutter. Reise nach Rom zu Humboldts 1819, Rückkehr mit Caroline v.H.: Treffen mit Wilhelm v.H., Börne und A.W. Schlegel. 1828 Henriette diktiert ihre Erinnerungen. 1847 + Henriettes
[53] Rahel Levin *1771 Berlin + 1833 Berlin, Heirat mit Varnhagen von Ense 1814. Ihr Salon wird Treffpunkt der Romantiker und der Anhänger des <Jungen Deutschland>. Ihre Aufzeichnungen und Briefe sind ein wichtiges Dokument der ausgehenden Romantik. Caroline Schlegel ist Salonière in Jena, Johanna Schopenhauer in Weimar; doch gab es die Précieuses schon zur Zeit Molières bei der Pariser Aristokratie <Mme de Rambouillet.
[54] Richard Friedenthal, Goethe – sein Leben und seine Zeit, München 1963
[55] Deborah Hertz, Die jüdischen Salons im alten Berlin, Frankfurt a.M. 1991
[56] Henriette Herz, Zur Geschichte der Gesellschaft und des Konversationstones in Berlin; in: Gert Mattenklott, Jüdisches Städtebild Berlin, Frankfurt a.M. 1997, S.82
[57] Michael A.Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zurz, München 1994, S.128
[58] *Hannover 1772 +Dresden 1829. Kulturphilosoph und Dichter.1801 Habilitation in Jena. Lebte mit Dorothea Veit 1802-1804 in Paris, wo er Sanskrit und Orientalistik studiert, gleichzeitig Vorlesungen über deutsche Literatur und Philosophie. 1804 Heirat mit Dorothea, 1808 Konversion zum Katholizismus, 1815ff im österreichischen Dienst, geadelt. 1819 Reise mit Kaiser Franz I. und Metternich nach Italien. Herausgeber der konservativen Zeitschrift Concordia, was zum Bruch mit dem Bruder führt.
[59] *1767 Hannover, +Bonn 1845. Schriftsteller, Sprach- und Literaturwissenschaftler. 1796-1803 verheiratet mit Dorothea Caroline Albertine Böhmer, die später Schelling heiratet. Reisebegleiter von Madame de Stael; bis zu ihrem Tod ihr Berater, Reisen durch Italien, Frankreich, England, Skandinavien. 1818 Prof. für Kunst- und Literaturgeschichte in Bonn, Begründer der altindischen Philologie.
[62] Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, zitiert nach Debora Hertz, a.a.O. S.22
[63] Kurt Fervers, Berliner Salons, die Geschichte einer großen Verschwörung, München 1940, S.87
[64] Caroline Bauer, Aus meinem Bühnenleben, Berlin 1871, S.117 ff.
[65] *1775 Leonberg, + 1854 Bad Ragaz, Philosoph. 1798 Prof. in Jena, 1803-1808 Heirat mit Dorothea Caroline Albertine Schelling, im Freundeskreis von Caroline Schlegel., die 1803 heiratet und mit ihr nach Würzburg geht. 1827-1841 Prof. in München. 1812 Heirat mit Pauline Gotter. 1841 nach Berlin berufen als Gegengewicht zu Hegel: seine Hörer Engels, Bakunin, Kierkegaard
[66] *Berlin 1781 + Wiepersdorf bei Jüterbog 1831, seit 1811 verheiratet mit Bettina Brentano. Hauptvertreter der jüngeren Romantik, Verschmelzung von Geschichte und Poesie. Volksliedsammlung <Des Knaben Wunderhorn> mit Brentano 1806-1808
[67] Brief vom 19.6.1826 aus Weimar an Friedrich Rosen in Berlin
[68] Arthur Schopenhauer *Danzig 1788, + Frankfurt am Main 1860, Philosoph, Schüler von Fichte und Schleiermacher. 1820 Prof. in Berlin. Flucht aus Berlin wegen Choleraepidemie 1831 nach Frankfurt. Ehefrau Adele. Seine Mutter Johanna Schopenhauer geb. Trosiemer *Danzig 1766 +Jena 1838, war nach 1806 Mittelpunkt eines literarischen Salons in Weimar; schrieb Romane, Novellen Reisebeschreibungen.
[69] Richard Friedenthal, Goethe und seine Zeit, München 1963, S.499
[70] Brief vom 19.6.1826 aus Weimar an Friedrich Rosen
[71] Johanna Schopenhauer, Ihr glücklichen Augen, Berlin 1978, S.425;
Adele Schopenhauer, Tagebuch einer Einsamen, München 1985, S:267
[72] Marianne hatte kurz vorher die Verlobung mit dem Marquis von Marialva gelöst.
[73] Felix Mendelssohn Bartholdy *Hamburg 1809 +Leipzig 1847, Komponist und Dirigent, 1821 Bekanntschaft mit C.M von Weber, Vorspiel bei Goethe in Weimar, 1828 erste Wiederaufführung der Matthäuspassion von J. S. Bach, Bach-Renaissance. 1835 Gewandhaus-Kapellmeister
[83] Froude’s Life of Carlyle, Ohio State University 1979, S.270
[84] Hindi ist eine indo-arische Sprache; seit 1965 neben Englisch offizielle Landessprache Indiens; Sammelname für mehrere indische Dialekte; stark vom Sanskrit beeinflusst. Brockhaus medial 2004. Knab sagt: „Hindustanisch“. Ich ersetzte diesen Begriff. BB
[88] Marianne Saling an Ferdinand Becker am 27.8.1829
[89] Karl Wilhelm Becker (1821-1897) war der zweitjüngste Bruder Ferdinand Beckers.
[90] Julie Becker-Schöffer, Das Leben ist doch schön gewesen, Gelnhausen 1907, S.12. Von Bert Böhmer 2003 bearbeitet und herausgegeben unter dem Titel von 1907: Erinnerungen und Vermächtnis.
[91] Georg Weigand, Karl Ferdinand Becker – ein hessischer Sprachphilosoph des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Berlin 1966, S.21
[92] De Historia Medicinale Explicatione, Berlin 1830, Becker-Archiv Nr.35/134, 47 Seiten
[93]Caledonian Mercury, nach Glasgow Herald vom 21.11.1831, Nr.19/63 Becker-Archiv Offenbach
[110] Carl Heinrich Becker (1876-1933) war Orientalistikprofessor und später preußischer Kultusminister während der Weimarer Republik; er ist der Begründer der akademischen Lehrerbildung für Volksschullehrer. Sein Sohn Hellmut Becker (1913-1993), Jurist und Verteidiger von Staatssekretär im AA Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, verfasste mehrere Bücher zu Fragen von Erziehung und Bildung und war Begründer und Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. BB
[126] Tatsächlich macht Varnhagen die Reise nach Weimar nach der Trennung von Marianne allein. Picked schreibt darüber: „When Varnhagen took his wedding trip alone to Weimar, he was introduced to local society there by Goethe’s daughter in law, Ottilie, and promptly associated by rumour with the romantic young Jenny von Pappenheim, an illegitimate daughter of Jerome Bonaparte. Jenny was much younger than Varnhagen and admired him chiefly as the husband of the sensitive, and by that time, famous Rahel.” Terry H. Picked, a.a.O., S.83
[132] Lowenthal-Hensel, Preußische Bildnisse, Katalog 1981, S.79. Die Widmung lautet: bei Armen bin ich reich, bei Kranken gesund geworden, bei Sterbenden habe ich leben gelernt. Berlin 12ten Juli 1860. Marianne Saling
[133] Julie Becker geb. Schöffer (1839-1917), Erinnerung und Vermächtnis, 1909, von Bert Böhmer bearbeitet und herausgegeben für die Familie 2001. Julie Becker ist die Urgroßmutter von Heinz Knab und vom letzen Bearbeiter Bert Böhmer. Vgl. die Familiengeschichte .BB
[134] Jutta Juliane Raschke, Wir sind eigentlich, wie wir sein möchten, und nicht so wie wir sind – Zum dialogischen Charakter von Frauenbriefen Anfang des 19. Jahrhunderts… Frankfurt a.M. 1988
[135] Diese Erkenntnis aus der Naturwissenschaft hatte der Vater in seinem 1827 erschienenen sprachwissen-schaftlichen Hauptwerk „Organismus der Sprache“ auf die Sprache übertragen. Vergleiche dazu Heinz Knab, Spurensuche, Konstanz 1999, MS. S.81
[138] Carl Friedrich Zelter *Berlin 1758 + Berlin 1832, Liedkomponist, Leiter der Berliner Singakademie; vertonte über 200 Lieder, darunter viele des mit ihm befreundeten J.W. von Goethe. Er war Lehrer Felix Mendelssohn Bartholdys.
[139] Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Band I. Die Grundlagen. Freiburg 5.Aufl.1959, S.248
Persönliche Aufzeichnungen über seine Erlebnisse während des Feldzugs in Russland 1812
Nach der Niederschrift von Heinz Knab, Konstanz 2003
Bearbeitet und herausgegeben von Bert Böhmer 2004
für seine Familie zum Gedenken daran, dass es auch früher schwere Zeiten in Deutschland gab
Vorbemerkung des ersten Bearbeiters
Der Verfasser dieser Aufzeichnungen, Ernst Wilhelm von Baumbach, war als dritter von fünf Söhnen des Landrats Ludwig von Baumbach aus der Tannenberger Linie und dessen Gattin Christine geb. von Wangenheim, zu Nentershausen (Regierungsbezirk Cassel) im Jahre 1791 geboren. Im württembergischen Militärdienst machte er die Feldzüge 1812, 1813, 1814 und 1815 mit und starb 1860, vermählt mit Luise Freiin von der Hoop, als Generalleutnant und Gouverneur von Stuttgart.
Die folgenden Erinnerungen sind in einer für die eigene Familie bestimmten, nicht veröffentlichten Darstellung des Feldzuges entnommen, die er auf Grund seiner persönlichen Eindrücke und der Mitteilungen seines Freundes Wildermuth niederschrieben hat.
Fridolf von Baumbach
Hauptmann und Batteriechef im 2. Rhein. Feldartillerieregiment Nr.23
Aus dem Nachwort des zweiten Bearbeiters Heinz Knab
Im Jahre 1987 habe ich – schon einige Jahre im Ruhestand – im Rahmen meiner Recherchen zur Familiengeschichte Gut Nentershausen bei Rotenburg an der Fulda in Nordhessen besucht. Die Urgroßmutter meiner Mutter, Charlotte von Baumbach (1803-1855) wurde in Nentershausen geboren. Ich wurde freundlich empfangen und konnte die Stammburg Tannenberg sowie die Ahnengalerie und Familienporträts im Herrenhaus ansehen. Das Bild unserer Vorfahrin Charlotte hängt zusammen mit den Bildern ihrer zehn Geschwister in der Ahnengalerie. Eine farbige Fotografie davon konnte ich anfertigen lassen. Alle elf Kinder blieben am Leben und haben z.T. bemerkenswerte Lebensschicksale gehabt.
Der ältere Bruder von Charlotte (und Verfasser des Tagebuchs), Ernst Wilhelm von Baumbach (1791-1860) hatte als junger Offizier an dem Feldzug Napoleons 1812 nach Russland teilgenommen. Ich erhielt auch eine Kopie seines Berichtes über seine Erlebnisse in Russland. (Textgliederung und Anmerkungen stammen von Heinz Knab.)
Die Familie von Baumbach aus Nentershausen bei Rotenburg an der Fulda zählt zu den wenigen hessischen Adelsgeschlechtern, die seit Jahrhunderten ihren Besitz erhalten und bis in unsere Zeit weiterführen konnten. Schon 1330 wurde die Burg Tannenberg in Nentershausen von dem Ritter Ludwig von Baumbach erbaut. Die Baumbachs waren Erb- und Gerichtsherren in Nentershausen und haben zahlreiche Beamte und Offiziere in hessischen Diensten sowie im Dienst anderer deutscher Staaten gestellt. Das Herrenhaus enthält in mehreren Räumen viele Familienporträts und ein umfangreiches Familienarchiv. Sophie (1785-1869), die älteste Schwester von Charlotte, war Hofdame am Hofe des Herzogs Karl-August von Sachsen-Weimar, Goethes Freund und Gönner. Sie war eine auffallende Schönheit. Auf der Rückseite des Bildes zeigte man mir ein kleines Gedicht, das Goethe für sie geschrieben hatte. In dem hier vorliegenden Bericht macht ihr Bruder Ernst Wilhelm auf der Durchreise nach Russland ihr 1812 einen Besuch in Weimar.
Friedrich von Baumbach (1788-1824), ein weiterer Bruder, war als junger Leutnant an dem Aufstand hessischer Truppen 1809 gegen die Herrschaft des Königs Jérôme Bonaparte in Kassel beteiligt. Dieser Aufstand wird in der Novelle „Aufruhr in Hessen“[1] geschildert. Er stand unter der Führung des Obersten von Dörnberg. Friedrich von Baumbach war verlobt mit Bettine von Treysa, die Hofdame am Hofe Jérômes in Kassel war. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, es gab Todesurteile und langjährige Freiheitsstrafen. Auch Friedrich von Baumbach war verhaftet worden, konnte aber fliehen.
Aus dem Inhalt:
… die Zahl der Nachzügler vermehrte sich stündlich – und die Armee bestand schließlich nur noch aus einer verwirrten Masse von Menschen aller Waffengattungen und Nationen… Aus den Trümmern der Armeekorps hatte sich eine Menge Vereine gebildet, aus 6-10 Mann bestehend, in der Absicht, den Weg zusammen fortzusetzen… Diese kleinen, Zigeunerbanden gleichenden Gesellschaften stießen alles, was nicht zu ihnen gehörte, von sich. Wer seine Gesellschaft verlassen hatte, um den kümmerte sich niemand mehr, und er war in der Regel verloren. Ohne Mitleid wurde er von jedem Feuer vertrieben… Jedes Gefühl von Menschlichkeit und Mitleid war in dem instinktmäßigen Trieb zur Selbsterhaltung untergegangen. (S.18/19)
Napoleon I. erklärte am 24.Juni 1812 Russland den Krieg und überschritt mit einer Armee von 608 000 Mann, 187 000 Pferden und 1372 Geschützen die russische Grenze. In Gewaltmärschen wurde am 15.August die Stadt Smolensk erreicht, wo es mehrere Tage zu schweren Gefechten kommt. Die Russen unter General Kutusow weichen ständig zurück, doch kommt es am 7. September bei Borodino zu einer großen Schlacht mit ungeheuren Verlusten auf beiden Seiten. Am 14. September zieht Napoleon mit einer durch Hunger, Krankheiten und Erschöpfung erheblich dezimierten Armee in Moskau ein. Nachdem die Russen ihre weitgehend aus Holz erbaute (alte) Hauptstadt angezündet haben, muss die französische Armee im Winter den Rückzug antreten, der zur Katastrophe wird. Der Untergang der „Grande Armée“ Napoleons war eine der größten militärischen Katastrophen der neueren Geschichte. Von der riesigen Armee konnten schließlich nur 58 000 Mann, 15 000 Pferde und 150 Geschütze aus Russland heraus kommen.
Der hier vorliegende authentische, realistische und ungeschminkte Bericht stellt ein erschütterndes Zeugnis über diese Ereignisse aus der Sicht eines unmittelbar Beteiligten dar. Der Verfasser dieses Berichts ist Ernst Wilhelm von Baumbach (1791-1860). Er ist der Bruder von Charlotte von Baumbach, der Urgroßmutter meiner Mutter.
Ernst Wilhelm war 20 Jahre alt und Oberleutnant im 1. württembergischen Infanterieregiment Prinz Paul, das, wie der größte Teil der Armee des Königreichs Württemberg unter Führung des Kronprinzen an dem Feldzug in Russland 1812 teilnehmen musste. Die Rheinbundstaaten stellten als Verbündete der Franzosen Kontingente für die Hauptarmee, während die ebenfalls mit Napoleon verbündeten Preußen und Österreicher Heere in Nord- bzw. Südrussland stellten, die nichts zur Entscheidung beitragen konnten.
Gerade nach den Erlebnissen des 2. Weltkrieges ist es wohl wert, sich dieses Geschehen vor fast 200 Jahren noch einmal zu vergegenwärtigen, vor allem auch den jüngeren Generationen, die einen Krieg nicht selbst erlebt haben. Heinz Knab, Konstanz 2003
Mobilmachung und Bereitstellung zum Angriff
Im Januar 1812 erhielt der König von Württemberg[2] den Befehl, die zum Ausmarsch bestimmten Regimenter auf den Kriegsfuß zu setzen, was bei den jungen Militärs große Freude erregte. Ich war damals nicht viel über 20 Jahre alt, Oberleutnant und Adjutant des Infanterie-Regiments Nr.1 Prinz Paul und stand in Ludwigsburg in Garnison.
Zu Ende Februar sammelte sich das Truppenkorps in der Gegend von Heilbronn und der Kronprinz[3] übernahm den Oberbefehl. Die Infanterie kommandierte Generalleutnant von Scheler, die Reiterei General von Wöllwarth, die Artillerie Oberstleutnant von Brand. Chef des Stabes war Generalmajor von Kerner. Die Infanterieregimenter Nr.1 und Nr. 4 bildeten die 1. Brigade unter Befehl des Generalmajors von Hügel.
Nachdem der König in der Gegend von Oehringen Revue gehalten und Abschied von uns genommen, brach das Korps am 11. März auf, um in 4 Kolonnen über Mergentheim, Marktbreit, Wiesenheit, Neusass, Stassfurt, wo wir auf Fähren über den Main setzten, nach Coburg zu marschieren. Von da nahm es seinen Weg über den Kahlert, einen Gebirgszug des Thüringer Waldes, nach Saalfeld, Rudolstadt und Leipzig, wo mein Regiment am 26. März eintraf und in der Stadt einquartiert wurde.
In Rudolstadt nahm ich Urlaub nach Weimar, um meine Schwester Sophie zu besuchen, welche Hofdame bei der damaligen Herzogin war.[4] Ich freute mich sehr, vor einer so großartig angekündigten Weltbegebenheit wenigstens ein Glied meiner Familie zu sehen. Ich wurde bei Hofe gnädig aufgenommen und zur Tafel gezogen. Die Erbprinzessin, Großfürstin Maria Pawlowna, gab mir ein in russischer Sprache abgefasstes offenes Empfehlungsschreiben an ihre Landsleute mit, von dem ich jedoch nie Gelegenheit fand Gebrauch zu machen. Es wurde mir auf dem Rückwege in Kowno mit meiner ganzen Habe geraubt.
In Leipzig erhielt das württembergische Korps die Bestimmung, als 25. Division der Großen Armee zu dem III. Armeekorps zu stoßen, zu dem noch die Divisionen Ledru und Ragout zählten. Am 4. April brachen wir gegen die Oder auf, wo wir am 14. im Lebuser Kreis Quartiere bezogen. Bis zum Eintritt in den preußischen Staat waren wir überall freundlich aufgenommen worden. Auch hier konnten wir nicht gerade über schlechten Empfang klagen; aber wenn der Hass der Bevölkerung vor allem die Franzosen traf, so war doch auch den Württembergern ihre Aufführung 1806 und 1807 in Schlesien, wo sie unter dem Befehl des durch seine Raubsucht berüchtigten Generals Vandamme standen, nicht vergessen worden.[5]
Außer einer Revue vor dem Korpskommandanten Marschall Ney fiel zunächst nichts Bemerkenswertes vor. Am 3. Mai bezogen wir recht gute Quartiere in Frankfurt an der Oder, und acht Tage später brachen wir nach der Weichsel auf, wo wir am 21. diesseits Thorn eintrafen.
Die Gegenden Polens, die wir durchzogen, machten den Eindruck der Fruchtbarkeit, ihr Anblick war aber ebenso traurig wie der ihrer Bewohner. Tannenwälder wechseln mit Sandflächen ab. Selten, dass die Eintönigkeit der Landschaft durch einen Berg unterbrochen wird. Kleine Seen finden sich oft; ihre Ufer sind jedoch flach und von keinem frischen Grün belebt. Außer den Edelhöfen sieht man nichts als elende, mit Stroh bedeckte Hütten; und wenn man in den Städten mehr Zivilisation antrifft als auf dem Lande, so herrscht doch die größte Unreinlichkeit.
Der höhere Adel hat wohl einen Anstrich von Bildung, aber auch bei ihm geht neben dem Luxus die Rohheit daher. Der Handel liegt ausschließlich in den Händen der Juden, auch sind sie die Besitzer der Wirtshäuser und Schnapskneipen, treiben alle Handwerke, sprechen durchgängig mehr oder wenig Deutsch und waren trotz ihres Hanges zum Übervorteilen von großem Nutzen für uns. Besonders widrig war mir die Unterwürfigkeit der Landleute. Eine Bitte wurde selten anders als auf den Knien liegend vorgebracht.
Das Land wurde von uns nichts weniger als befreundet behandelt. Es war nicht wohl möglich in Feindesland ärger zu hausen, als von der Großen Armee in Polen und Altpreußen geschah.[6] An der Weichsel angelangt, bekamen wir den Befehl, uns auf dem Wege der Requisition mit Lebensmitteln, Schlachtvieh, Brot, Mehl und Fourage usw. mit Hilfe von beladenen, elenden Vorspannwagen zu versorgen. Bei dieser harten, vom Kaiser selbst angeordneten Maßregel, die, soweit wir in Betracht kamen, unser Oberst möglichst zu mildern suchte, konnte es nicht ausbleiben, dass sich Missbräuche einschlichen, dass Hohe und Niedrige sich Erpressungen aller Art erlaubten, dass bei der gewaltsamen Wegnahme von Lebensmitteln Plünderungen und Betrügereien geschahen und schließlich die Disziplin gefährdet war.
Am 23.Mai kamen wir nach der Festung Thorn und am 5.Juni nach Lebau. Hier zeigte sich bereits ein so großer Mangel an Fourage, dass die Kavallerie auf grünes Futter gesetzt wurde. Am 14.Juni trafen wir in Gerdauen ein, am 17. in Goldap, wo wir zum letzten Male einquartiert wurden. Am 20.vereinigte sich das ganze Armeekorps im Lager bei Kalwari. Wir hofften, hier einige Tage zu bleiben, mussten jedoch schon am 21. abends nach dem Fluss Njemen (Memel) aufbrechen, wo wir am 23. bei Dobelin eintrafen.
Waren die Märsche bis Kalwari anstrengend gewesen, so war es von dort bis an den Njemen noch mehr. Kaum, dass man am Tage einige Stunden anhielt, um abkochen zu lassen. Da jedoch das Schlachtvieh nicht folgen konnte, so fand auch keine regelmäßige Austeilung von Lebensmitteln statt, und wir waren genötigt, den eisernen Vorrat an Zwieback und Mehl anzugreifen. Hinzu gesellte sich eine große Hitze, schlechtes, oft ungenießbares Wasser und tiefe Sandwege, die oft stundenlang durch dichte Tannenwälder führten, wo kein kühles Lüftchen die ermatteten Tiere und Menschen erquickte. Die Folge war, dass unsere in Kalwari noch ganz vollständige Infanterie auf diesem beinahe unausgesetzt drei Tage und drei Nächte dauernden Marsch den sechsten Teil ihrer Leute zurücklassen musste. Hier kam es auch vor, dass wir eine große Strecke durch einen auf beiden Seiten brennenden Wald marschieren mussten, was besonders für die Munitionswagen eine böse Aufgabe war, die einzeln im Galopp durchfuhren.
Vormarsch in Russland
Unser Armeekorps rückte am 24.Juni an den Njemen, defilierte am 25. vor dem Kaiser über die geschlagenen Brücken und marschierte über Kowno nach Kornelo.[7] Am 26. gelangten wir in der allgemeinen Bewegung gegen Wilna bis Skoruli, am 27. nach einem sehr anstrengenden Marsch bis Jewe. Die Truppen waren so erschöpft, dass ihnen am 28. ein Rasttag gegönnt wurde. A. 29. ging das III. Armeekorps bei Kirgaliki auf einer Bockbrücke über die Wilija.
Die bisherige Witterung änderte sich plötzlich, ein heftiger Landregen fiel ohne Unterlass fünf Tage lang, kühlte die Luft empfindlich ab und verdarb die schlechten Wege noch mehr. Die württembergische Division hatte die Nachhut und erreichte erst um 3 Uhr morgens das Lager bei Suderwa. Sie war am Tage zuvor um 4 Uhr morgens abmarschiert, also 11 Stunden unterwegs gewesen.[8] Ich war vorausgeschickt worden, um das Lager für die Brigade abzustecken, aber eine Menge Leute waren zurückgeblieben. Viele von denen, die sich bis ins Lager schleppten, sanken vor Erschöpfung in dem grundlosen Boden um. Es war so schwer, in dem Ort Unterkunft zu finden, dass selbst der Kronprinz nebst dem ganzen Generalstab in einer Scheune vorlieb nehmen musste. Meine monatlichen Rapporte im Format von mindestens 6 Quadratfuß musste ich in einem Schweinestall, vielfach gestört durch den von allen Seiten eindringenden Regen, bei Schein einer Kirchenkerze in der Nacht abfassen.
Am 1.Juli marschierten wir nach Gedrojuzani, am 2. nach Maliäti. Hier, wo wir an einem Walde 4 Tage lang lagerten, wurde ein Spital für die Leichtkranken errichtet, während die Schwerkranken nach Wilna gebracht wurden. Unsere Infanterie zählt bereits über 700 Kranke.
Wir erreichten am 6.Juli Zulandsee und am 14. das Lager von Raskimosi, wo wir bis zum 19.Juli stehen blieben. Auf all diesen Märschen hatten wir zwar nicht mit den Russen, die sich überall zurückzogen, wohl aber mit Ungemach aller Art zu kämpfen. Magazine waren nicht vorhanden, das Fleisch des abgetriebenen Schlachtviehs erregte Ekel, und Brot fehlte beinahe ganz. Was die Russen übrig gelassen hatten, reichte zu unserem Unterhalt nicht aus. Deshalb mussten Requisitionskommandos seitwärts detachiert und von Raskimosi wieder 500 Kranke nach Wilna gesandt werden. Ohne einen Schuss getan zu haben, war unsere Infanterie auf zwei Drittel ihres Bestandes zusammengeschmolzen.
Am 19.Juli marschierten wir nach Okoloki, am 20. lagerten wir bei Bonachon und am 24. nach Kasmirowi gegenüber Polozk… Am 27. betraten wir das Schlachtfeld von Ostrowo; dessen Anblick von der Hartnäckigkeit des Kampfes zeugte, und bezogen nach einem Nachtmarsch zwei Stunden vorwärts Witebsk ein Lager.
In 12 Tagen hatten wir ohne Rasttag 36 deutsche Meilen zurückgelegt. In der brennendsten Hitze führte der Weg oft stundenlang durch dichte Wälder. Der quälendste Durst konnte selten gestillt werden, denn traf man auf einen Brunnen, so war er von den Vorausmarschierenden geleert oder verunreinigt. Kam man an einen See, so hatten die hineingerittenen Pferde ihn weithin in Schlamm verwandelt. Ein großer Übelstand war der immerwährende Kampf zwischen den einzelnen Heeresabteilungen, die einander drängten und abzuschneiden suchten
Für die Verpflegung war nicht besser gesorgt als früher. Was allenfalls noch vorhanden, zehrten die Avantgarden auf, die stets die mehr begünstigten Franzosen bildeten, während uns seit Überschreiten des Njemen fortwährend das Los der Nachhut traf. Der Mangel an Lebensmitteln war so groß, dass man für ein Pfund schlechten Brotes gern einen Taler, für eine Flasche sauren Wein 6-8 Gulden bezahlte.
Bei unserer Ankunft im Lager von Liosna starben nach ärztlichem Zeugnis drei Mann Hungers. Die Ruhe, die wir genossen, hatte auf die Truppe nicht die erhoffte Wirkung. Die heißen Tage und die kühlen, oft kalten Nächte erzeugten neue Krankheiten. Die Spitäler in dem kleinen Liosna waren bald überfüllt. Bei einer Revue, die Marschall Ney[9] am 5. August über unsere Infanterie hielt, fand er sie um die Hälfte ihres Standes vermindert. Viele Leute wurden von einer großen Niedergeschlagenheit ergriffen, es kamen häufig Selbstmorde vor, namentlich bei den jungen Leuten höherer Stände, deren viele kurz vor dem Ausmarsch auf besonderen Befehl des Königs (von Württemberg) den Regimentern als gemeine Soldaten zugeteilt waren.
Am 9.August traf der französische Generalleutnant Graf Marchand in Liosna ein, um anstelle des erkrankten Kronprinzen das Kommando über unsere Division zu übernehmen. Er bewies sich als rechtlicher, artiger Mann, der sich allgemeine Liebe und Achtung erwarb.
Schlacht von Smolensk
Am 11.August verließen wir Liosna und marschierten nach Chomino, wo wir am 14. den Fluss überschritten mit dem Befehl, der Kavallerie unter Murat auf der Straße nach Smolensk[10] zu folgen. Bei dem altpolnischen Grenzstädtchen Ljädi stieß die Vorhut auf Kosaken, die sich nach Krasnoi zurückzogen. Hier kam es zum Zusammenstoß. Wir mussten unseren Marsch sehr beschleunigen; das Gefecht war aber zu Ende, als wir ankamen, und wir sahen nur noch, wie der Kaiser an einem großen Feuer stehend, die eroberten Kanonen an sich vorbeifahren ließ. Wir biwakierten hier und marschierten am 15. bis Lubnjä. Am 16. vormittags erreichten wir die Höhen von Smolensk.
Das III. Armeekorps stand auf dem linken Flügel der Armee, unsere Division lehnte an den Dnjepr. Von unserer Stellung aus erblickte man nichts als die Kuppeln der Kathedrale[11] der Altstadt, einen Teil des Flusses und die auf seinem rechten Ufer sich erhebenden Anhöhen. Am 17.August vormittags wurde ein vorwärts liegendes Hospitalgebäude besetzt und eine Erkundung der Vorstadt Krasnoi unternommen, welche man stark besetzt fand.
Der allgemeine Angriff begann um 2 Uhr nachmittags. Die leichte Brigade rückte gegen ein rechts von der Altstadt befindliches Gebüsch vor, musste aber einer bedeutenden Übermacht weichen. Die Brigade Hügel erhielt nunmehr den Befehl, die Vorstadt im Sturm zu nehmen. Wir rückten in geschlossener Kolonne von der Anhöhe herab und wurden, in der Ebene angekommen, von einem tüchtigen Feuer aus einer in unserer linken Flanke auf dem Flussufer aufgefahrenen Batterie empfangen. Dies veranlasste General von Hügel, vorwärts
Abstand zu nehmen. Der Angriff wurde mit großer Unerschrockenheit ausgeführt, und wir sahen uns bald im Besitz einer großen Kirche, die uns einigen Schutz vor dem Artilleriefeuer gewährte und als Stützpunkt bei dem weiteren Angriff auf die Vorstadt diente.
Wir drängten bis an einen Bach vor, der in einem tiefen Tal herabfließend die Vorstadt senkrecht durchschnitt, mussten aber, von dem bedeutend verstärkten Feind rasch verfolgt, bis an die Kirche zurückweichen. Auf dieser Strecke dauerte das Gefecht mit wechselndem Erfolg den ganzen Nachmittag hindurch. Einmal sogar waren wir genötigt, die Stellung hinter der Kirche aus Mangel an Munition zu verlassen, nahmen sie jedoch schnell wieder. Die Grenadiere unter ihrem Hauptmann von Herwig zeichneten sich ganz besonders aus. Als das
Gefecht in den Gärten gerade am heftigsten war, schickte mich deshalb General von Hügel zu dem Hauptmann, um ihm zu sagen, dass er mit seinem Benehmen sehr zufrieden sei und dies dem Könige melden werde. Während sich die Grenadiere in dem durchschnittenen Gelände decken konnte, diente ich bei der Erfüllung meines Auftrags zu Pferde den auf 50-60 Schritt entfernten Russen zur Zielscheibe, und ich konnte in der Tat von Glück sagen, dass ich mit heiler Haut davon kam.
Gefecht in den Gärten gerade am heftigsten war, schickte mich deshalb General von Hügel zu dem Hauptmann, um ihm zu sagen, dass er mit seinem Benehmen sehr zufrieden sei und dies dem Könige melden werde. Während sich die Grenadiere in dem durchschnittenen Gelände decken konnte, diente ich bei der Erfüllung meines Auftrags zu Pferde den auf 50-60 Schritt entfernten Russen zur Zielscheibe, und ich konnte in der Tat von Glück sagen, dass ich mit heiler Haut davon kam.
Gegen 10 Uhr abends endete das Gefecht. Wir hatten den Bach zwar besetzt, der Feind aber stand jenseits so nahe, dass auf der Straße die beiden Schildwachen nur durch ein brennendes Haus getrennt waren und die Patroullien öfter aufeinander stießen. Ich hatte die Vorposten ausgestellt und war im Begriff, zum Regiment zurückzureiten, als der General von Scheler und später auch Graf Marchand eintrafen, um unsere Stellung zu besichtigen, so dass ich erst um 11 Uhr zu Ruhe kam.
Beim Eintreffen im Biwak, das mein Regiment neben der großen Kirche bezogen hatte, traf ich einen Freund, Oberleutnant Rüdt von den Grenadieren. Ich nahm an seinem Feuer Platz und wir sprachen von den Begebenheiten des Tages. Sein Vordermann war geblieben, und ich äußerte, dass er jetzt wohl Hauptmann werden würde. Er erwiderte: „Heute er, morgen vielleicht ich!“ Seine Worte sollten leider nur zu wahr werden.
Die Russen hatten ihre Schwerverwundeten nicht alle fortschaffen können, und auch wir waren außerstand, uns ihrer anzunehmen, da das ärztliche Personal mit unseren Verwundeten vollauf zu tun hatte. Die ganze Nacht hörten wir ihr Wimmern und Stöhnen, und erst gegen Morgen konnten wir aus der eingetretenen Stille schließen, dass die Ärmsten ausgelitten hatten. Nach Mitternacht stiegen zwei große Feuersäulen in der Stadt auf, deren Ursache wir nicht kannten. Erst am nächsten Tage wurden wir inne, dass sie den Abzug der Russen bezeichnet hatten, die von da ab jeden Ort, den sie verlassen mussten, in Brand steckten. Obgleich ziemlich abgestumpft durch das vielfältige Elend, dessen Zeuge ich seit sieben Wochen war, blieb mir diese Nacht doch lange im Gedächtnis.[12]
Mit dem ersten Morgenrot traten wir unter die Waffen, überschritten den Bach und rückten ungehindert bis an den Kai vor, der sich den Dnjepr entlang zog, und bis wohin uns die Häuser der Vorstadt die Aussicht auf den Fluss entzogen hatten. Hier erblickten wir auf einmal vor uns die brennende hölzerne Brücke und die auf dem jenseitigen Ufer liegende Vorstadt. Ein schmales Tor führte rechts in die Altstadt. Einzelne Russen durchwateten den ungefähr 100 m breiten und etwa 4 Fuß tiefen Fluss und entdeckten uns so eine Furt. Das 2. Bataillon des Regiments Herzog Wilhelm, von dem tapferen Oberst von Baur angeführt, erhielt den Auftrag, ihnen auf demselben Wege zu folgen und den jenseitigen Stadtteil im Sturm zu nehmen. Trotz eines heftigen Feuers aus den dem Ufer zunächst befindlichen Häusern wurde der Brückenkopf ohne Aufenthalt genommen und der Feind bis gegen die Höhe zurückgetrieben. Da er aber hier bedeutende Verstärkung erhielt, musste sich das Regiment bis auf die Verschanzungen zurückziehen.
Während dies jenseits vorging, erhielt unsere Brigade den Befehl, ebenfalls die Furt zu durchwaten, das Bataillon von Herzog Wilhelm aufzunehmen und die Vorstadt zu behaupten. Nach einem mörderischen Gefecht waren auch wir genötigt, uns auf die Verteidigung des Brückenkopfes zu beschränken, den wir, durch zwei Kompagnien Portugiesen unterstützt, gegen die immer stärker werdenden Angriffe der Russen mit Erfolg zu behaupten. Der übrige Teil unserer Infanterie besetzte die Vorstadt Krasnoi abwärts bis an den Bach und unterhielt mit dem Feind ein lebhaftes Gewehrfeuer über den Fluss. Endlich wurde auch eine unserer Fußbatterien mit großer Anstrengung auf den Stadtwall über den Fluss gebracht, und das Gefecht dauerte auf diese Weise bis gegen Mittag. Da gerieten die größtenteils hölzernen und durch die Russen mit Brennmaterial gefüllten Häuser durch feindliche Granaten in Brand, der so schnell um sich griff, dass wir genötigt wurden, den Brückenkopf zu verlassen.
Sechsmal hatte ich, jedes Mal dem heftigen Feuer ausgesetzt, die Furt durchschritten mit dem Auftrag, Meldung über unsere Lage an General von Scheler zu erstatten. Aus dem Brückenkopf führte ein gewölbter Torweg nach dem ungefähr 60 Schritt weit entfernten Fluss, hinter dessen hohem Ufer man eine kleine Strecke hinreiten musste, um an die Furt zu gelangen. Die Russen wussten, dass wir nur diesen Ausweg hatten, und richteten daher dorthin vorzugsweise ihr Feuer. Man war davor nach Erreichen des Ufers bis auf ungefähr die halbe Flussstrecke geschützt, dann begann die Gefahr von neuem. Ich erhielt zum siebtenmale den Auftrag hinüber zu reiten, um zu melden, dass wir des Brandes wegen den Brückenkopf verlassen mussten und brachte die Antwort zurück, wir sollten uns außerhalb der Verschanzung halten.
Die Schwierigkeit war, sie durch den einzigen Ausgang, auf den die Russen ihr vereinigtes Feuer richteten, zu verlassen. Wir zogen die Leute von den Wällen zurück, sammelten sie unter dem Torweg und eilten nun hinaus, um das Gefecht in den Gärten zwischen dem hohen Ufer und einer etwa 150 Schritt entfernten Häuserreihe fortzusetzen. Da wir jedoch genötigt waren, hinter das Ufer zurückzugehen, trat ein höchst kritischer Augenblick ein. Es blieb uns nur die Wahl, ins Wasser zu springen, uns gefangen zu geben oder die Russen von neuem anzugreifen. Ich bat General von Hügel, mir die Führung einer Kompagnie zu geben, deren Offiziere alle tot oder verwundet waren, und befahl dem Tambour, Sturm zu schlagen. Dies elektrisierte unsere Leute. In einem Augenblick hatten wir das Ufer erstiegen, von dem die Russen nur wenige Schritte entfernt waren.
Durch unseren unerwarteten Angriff überrascht, wichen sie bis an die Häuser zurück, die teilweise schon zu brennen anfingen. Was noch nicht brannte, zündeten wir an und bildeten so eine große Feuerwand zwischen uns und dem Feind, so dass das Gefecht an dieser Stelle ein Ende nehmen musste. Abwärts des Flusses dauerte es noch bis in die Nacht fort.
In dem Augenblick, als unsere Leute den Wall verließen, war mein Freund Rüdt, von einer Kugel in den Kopf getroffen, gefallen. Wir betteten ihn auf der Stelle, auf der er gefallen war, zur ewigen Ruhe.
Gegen Abend wurden wir durch Franzosen abgelöst und gingen durch die Furt auf das andere Ufer zurück, wo wir in der Vorstadt Krasnoi biwakierten. Unser Regiment hatte von 500 Mann die Hälfte an Verwundeten und Toten verloren. Zwei Hauptleute und ein Leutnant waren gefallen, ein Major, ein Hauptmann und vier Leutnants verwundet. Von diesen starben drei infolge der Verwundung. Der Brand des Stadtteils auf dem rechten Ufer breitete sich immer mehr aus, und der grässlich-schöne Anblick dauerte die ganze Nacht.
Bis zum Morgen wurden zwei Brücken über den Dnjepr geschlagen, auf denen wir am 19.August früh um 4 Uhr den Fluss passierten, um den Russen den Berg hinauf über die noch rauchenden Trümmer der schönen Stadt auf der Petersburger Straße zu folgen. Zwei Stunden später kam der Befehl, die Straße nach Moskau einzuschlagen. Wir stießen bald auf eine Nachhut, die hinter einem Bach mit waldbewachsenen Ufern Stellung genommen hatte, den linken Flügel an den Dnjepr gelehnt.
In der Mitte und auf dem rechten Flügel lagen zwei Dörfer, von denen eines auf Befehl des Königs von Neapel[13] von unserem Leibchevauxlegers-Regiment[14] angegriffen wurde. Die russische Nachhut zog sich bald darauf zurück. Die Division Ragout folgte auf der großen Straße, indessen wir links derselben vorgingen. Während der sich entwickelnden Schlacht, von den Franzosen Gefecht von Valutina-Gora genannt, kam die württembergische Division mit Ausnahme der Brigade Stockmayer nur in Kanonenfeuer und hatte wenig Verluste.
Hingegen hatten unsere Leute Entbehrungen aller Art in diesen vier Schlachttagen zu tragen. Wir lebten von nichts anderem, als dem, was wir in den Trümmern und Schutthaufen fanden.
Die Nacht vom 19. auf den 20.August brachten wir auf dem Schlachtfeld zu, mitten unter Toten und Verwundeten, und marschierten am 20. eine Stunde weit vorwärts, um neben der Straße ein Lager zu beziehen.
Weitermarsch Richtung Moskau
Nach der Schlacht von Smolensk war jedermann gespannt auf die weiteren Operationen. In der Armee hegte man allgemein um so mehr den Wunsch, dass der Kaiser anhalten und die Eroberung der russisch-polnischen Provinzen vollenden möchte, als bekannt war, dass Macdonnald bei Riga und die Korps die gegen Wittgenstein[15] an der Düna und gegen Tomasow in Wollynien stehen geblieben waren, keine Fortschritte gemacht hatten. Man fürchtete, dass unsere Rückzugslinie gefährdet werden möchte, wenn es diesem Korps nicht mehr möglich sein sollte, dem sich immer mehr verstärkenden Feind die Spitze zu bieten.
Es wurde jedoch weitermarschiert. Am 22. überschritt Murat den Dnjepr auf der Moskauer Straße bei Solewjewa. Wir folgten am 23., die drei Armeekorps, die ganze Kavallerie und die Garde marschierten in gedrängter Kolonne auf der Hauptstraße. Eine unerträgliche Hitze, ein ungeheurer Staub und Wassermangel verursachten die größte Qual. Die Marschstörungen zwischen den einzelnen Truppen, die alle demselben Ziel zustrebten, vermehrten die Beschwerden auf das empfindlichste.
Die Einwohner waren auf mehrere Stunden weit in die Wälder geflohen, nachdem sie oder die Kosaken die Ortschaften angezündet hatten. Juden, die wir in Polen noch angetroffen hatten, und durch die man für Geld bekommen konnte, was in der beschränkten Lage noch immer möglich war, gab es nicht mehr, weil sie im eigentlichen Russland nicht wohnen dürfen. Auf der Straße fanden wir daher wenig zu leben und mussten wieder zu den Requisitions-
kommandos unsere Zuflucht nehmen, die die Wälder durchstreiften und die dort verborgenen Vorräte aufsuchten, wobei sie öfter mit den Bauern in Kampf gerieten.
Von Smolensk an nahm der Krieg vollkommen den Charakter eines Einfalls der Barbaren an. Auf 5-6 Stunden rechts und links der Straße bezeichneten abgebrannte Dörfer, abgebrannte Kirchen und Greuel aller Art den Marsch der Armee.
Bei Dorogobush verließen wir den Dnjepr, der nicht weit von da auf einer Hochebene seine Quellen hat. Fast täglich hatte unsere Kavallerie mit der russischen Nachhut Gefechte zu bestehen. Nachdem die Armee bei Wjasma in schönen, reifen Fruchtfeldern und am 1. September bei der kleinen Stadt Gshatk[16] gelagert hatte, erschien ein Tagesbefehl des Kaisers, der uns eine große Schlacht ankündigte, zu der wir uns vorbereiten sollten. Dies war sehr nötig, denn wir waren sehr erschöpft. Man hatte das Unmögliche gefordert, um das Mögliche möglich zu machen.
Von Valutina Gora bis Gshatsk hatten wir wieder ein Drittel der Infanterie verloren. Sie zählte nur noch 1456 Mann vom Oberst abwärts, also ungefähr ein Sechstel ihrer ursprünglichen Stärke. Es wurde deshalb für nötig erachtet, als Vorbereitung zu der bevorstehenden Schlacht, jede der drei Brigaden auf ein Bataillon zu vermindern. Hierdurch wurden mehrere Offiziere überzählig, die nun der Division in einiger Entfernung folgten, um entstehenden Abgang zu ersetzen. Den Befehl über diese Hand von Leute übernahm der General von Hügel, unter ihm kommandierte Oberst von Stockmayer.
Ich war eben beschäftigt, ankommende Briefe aus dem Vaterland auszuteilen, als mir der General von Hügel sagen ließ, er wünsche, dass ich die Adjutantenstelle bei diesem Bataillon übernehmen möchte und mir zugleich einen lettre d’annonce übersandte, nach der mich der Kaiser für mein Benehmen in der Schlacht von Smolensk zum Mitglied der Ehrenlegion ernannt hatte.[17]
Am 3. September hatten wir in der Nacht den ersten Frost, der unseren schlecht gekleideten Soldaten sehr fühlbar war.[18] Am 4. marschierten wir weiter, Murat besetzte nach hartnäckigem Gefecht Gridnewo, wo der Kaiser sein Nachtquartier nahm.
Schlacht von Borodino
Die Russen hatten ihre Stellung auf den Höhen hinter dem Flüsschen Kalotschka genommen, dessen tief eingeschnittene Ufer den rechten Flügel und das Zentrum von Borodino bis zur Einmündung der Kalotschka in die Moskwa, an die sich der rechte Flügel anlehnte, beinahe unangreifbar gemacht. Von Borodino aufwärts entfernte sich der linke Flügel von den Ufern der Kalotschka und hatte das Dorf Semenowskoje in seiner Nähe. Hinter Borodino, auf einer Anhöhe, über die die Straße führt, war eine tiefe Verschanzung, links derselben eine zweite und links vorwärts von Semenowskoje waren drei weitere Verschanzungen aufgeworfen, um den linken Flügel zu verstärken.
Am 5. September näherte sich die französische Armee der russischen Stellung. Nachmittags erhielt das I.Armeekorps den Befehl, das Dorf Dorodino und die Schanze zu stürmen. Sie wurde gewonnen und mehrmals wieder verloren. Am Ende aber blieben die Franzosen in ihrem Besitz, und die Russen zogen sich in ihre Hauptstellung zurück. Am 6. rückten die verschiedenen Armeekorps in die für den folgen Tag gegebene Schlachtordnung ein. Am 7. in aller Frühe verfügte sich der Kaiser in die am 5. eroberte Schanze und erteilte seine letzten Befehle an die versammelten Marschälle und übrigen Heerführer. Um 3 Uhr trat die Armee unter die Waffen und vernahm die Proklamation des Kaisers.
Die Schlacht begann um 6 Uhr mit einer gewaltigen Kanonade, während die Truppen nach der gegebenen Disposition vorrückten. Zwei Divisionen des I.Armeekorps griffen ein vor den Schanzen des russischen linken Flügels liegendes Gehölz und die Schanzen selbst an. Zur gleichen Zeit entspann sich rechts zwischen unserer und der russischen Kavallerie ein Gefecht mit wechselndem Erfolg. Nachdem die erste Schanze gewonnen war, besetzte sie das 57. französische Infanterieregiment, und das I. Armeekorps zog sich links zum Angriff der zweiten Schanze.
Marschall Ney, der ursprünglich bestimmt war, Davoust zu unterstützen, befand sich somit in der fechtenden Linie und befahl einen erneuten Angriff der Reiterei auf die angreifende feindliche Infanterie., der aber durch die russische Kavallerie verhindert wurde. In diesem Augenblick kam unsere Division an. Das kombinierte Jägerbataillon eilte in die Schanze, um die bedrängten Franzosen zu unterstützen. Was vom Feinde nicht flüchtete wurde niedergestochen. Mein Bataillon erhielt den Befehl, sich rechts von der Schanze in Linie aufzustellen und war im Begriff, dies durchzuführen, als Dragoner und Husaren[19] auf uns einstürmten, aber mit Verlust wieder zurückgewiesen werden konnten. Wir nahmen die befohlene Aufstellung, den linken Flügel an die Schanze gelehnt. Auf dem rechten Flügel stellte sich eine württembergische Batterie auf.
Nachdem wir kurze Zeit hier gestanden hatten, kam der König von Neapel in seinem theatralischen Aufzug und bestieg das Parapet der Schanze, von wo aus man einen großen Teil des Schlachtfeldes übersehen konnte. Von dort begab er sich zu der Batterie. In diesem Augenblick erhielt unser Leibchevauxlegers-Regiment Befehl, russische Infanterie, die von neuem anrückte, anzugreifen. Staub und Rauch hinderten uns, die Gegenstände deutlich zu erkennen. Wir sahen, dass unsere Reiter zurückkehrten und dass ihnen Kürassiere[20] in weißer Uniform und schwarzen Kürassen folgten. Anfänglich glaubten wir, es seien Sachsen, welche ähnlich gekleidet am Morgen an uns vorübergezogen waren und Schillers Lied „Frischauf Kameraden…“ gesungen hatten. Auch Murat rief uns zu, nicht zu schießen. Aber das Missverständnis wäre ihn beinahe teuer zu stehen gekommen, denn er geriet ins Gedränge der Reiterei und hatte kaum Zeit, sich in den Haken zu retten, den wir schnell durch Zurücknahme der rechten Flügelkompagnie bildeten, um unsere Flanke gegen die nun erkannten russischen Kürassiere zu schützen.
Sie eroberten die Batterie und verfolgten die Chevauxlegers bis zu dem in Reserve stehenden Regiment, wurden von diesem aber geworfen. Unser Feuer, dem sie auf kurze Entfernung ausgesetzt waren, verursachte ihnen bedeutende Verluste. Ein Kürassier, dem sein Pferd erschossen worden war, suchte sich zu Fuß zu retten. Er wurde jedoch von einem Grenadier eingeholt und zu uns gebracht. In großer Aufregung machte er Zeichen, die wir nicht verstanden . Zufälligerweise befand sich ein Unteroffizier beim Regiment, der etwas Russisch verstand und uns übersetzte, dass der Kürassier verlange, totgeschossen zu werden, weil er die Schande, von einem Infanteristen gefangen genommen worden zu sein, nicht ertragen könne.
Kurze Zeit später formierte sich die russische Infanterie zu einem neuen Sturm, weshalb unser Bataillon auch in die Schanze rücken musste. Dieser Angriff, bei dem Generalleutnant von Scheler einen zum Glück nicht gefährlichen Schuss in den Hals erhielt, wurde ebenfalls abgeschlagen.
Davoust befand sich in einem heftigen Gefecht um die zweite Schanze, auf dem rechten Flügel war Poniatowski[21] Meister des Dorfes Utiza und schlug sich mit wechselndem Glück in einem vorwärts gelegenen Gehölz, auf dem linken Flügel hatte Eugen[22] das Dorf Borodino gewonnen und war mit seinen Truppen über die Kalotschka gegangen. Es war 8 Uhr. Die Russen hatten Verstärkung erhalten und griffen uns von neuem an. Ein heftiges Kanonenfeuer belästigte uns in der nur wenig Schutz gewährenden Schanze nicht wenig. Wir suchten uns durch Niederlegen hinter dem Wall etwas zu decken. Während wir hier lagen, blieb eine über die Brüstung herabrollende Granate neben Hauptmann von Löffler und mir liegen. Die Gefahr war groß und dringend. Da sprang ein Soldat auf, packte die brennende Granate und warf sie über die Böschung, wo sie gleich drauf explodierte. Der Soldat wurde zur goldenen Verdienstmedaille eingegeben, kam aber um, bevor ihm Freude über diese Auszeichnung werden konnte.
Beide Teile waren sehr ermüdet. Besonders mein Regiment hatte Mangel an allem, weil ihm von der französischen Garde das Schlachtvieh geraubt worden war. Die Soldaten waren so hungrig, dass sie gierig über die wohlgefüllten Branntweinflaschen und Brotsäcke der gefallenen und gefangenen Russen herfielen. Ich gab für ein Stückchen Zwieback und einen Schluck Branntwein einem Soldaten einen Albrechtstaler. Der Boden war bedeckt mit toten Menschen und Pferden. Selten war eine Schlacht mit so großer Tapferkeit und Ausdauer geführt worden.
Der Verlust der Württemberger bestand in 5 toten und verwundeten Offizieren und 587 Unteroffizieren und Soldaten, also ungefähr dem vierten Teil der zur Schlacht ausgerückten Mannschaft.
Erkrankung an der Ruhr
In unserem Lager blieben wir zwei Tage lang. Es gebrach uns hier an allem. Stroh gab es nicht, und die aus Büschen errichteten Baracken gewährten nur geringen Schutz gegen den Regen und die herbstliche Witterung. An Lebensmitteln war großer Mangel, und wir waren schon hier genötigt, zu Pferdefleisch unsere Zuflucht zu nehmen, woran es nicht fehlte, denn auf dem Schlachtfeld stand eine Menge verwundeter Pferde. Die herumliegenden Gewehre dienten zu Feuerung.
Nach Beendigung meiner Dienstgeschäfte suchte ich am anderen Tag nach der Schlacht an einem Feuerchen auszuruhen, da hörte ich auf einmal meinen Namen nennen. Ich erblickte den Hauptmann von Starck von den westfälischen Jägern, welche nicht weit von uns lagerten. Starck, der Bruder meines nachherigen Schwagers, hatte gehört, dass Württemberger hier lagerten und war gekommen, mich zu suchen. Groß war die Freude des Wiedersehens nach langer Trennung und glücklich überstandenen Gefahren. Sie machte aber bald materiellen Gefühlen Platz, und wir befragten uns gegenseitig nach Mitteln, unseren Hunger zu stillen. Da fand es sich, dass er ein Stückchen Fleisch und ich ein wenig Brot hatte, wovon wir uns ein unter diesen Umständen köstliches Mahl bereiteten.
Mein schon in Gshatsk gefühltes Unwohlsein hatte ich in der Aufregung der letzten Tage wenig beachtet. Es nahm aber immer mehr einen ruhrartigen Charakter an und nötigte mich, den Dienst als Adjutant an Wildermuth zu übergeben. Am 9.September ging ich mit dem Hauptmann von Löffler, um Mittel zu einer besseren Pflege zu suchen. Unser Weg führte uns über das Schlachtfeld. Es bot sich ein grässliches Schauspiel. Überall war der Boden mit Toten und Sterbenden bedeckt. An manchen Stellen, besonders bei den Schanzen, lagen die Leichen der Menschen und Pferde gehäuft, zwischen ihnen Trümmer von Waffen aller Art.
Den schrecklichsten Anblick aber boten die Verwundeten. Die Häuser der Dörfer hatten nicht Raum genug zu ihrer Aufnahme. Viele der Ärmsten legten sich daher außen an die Häuser hin, um wenigstens vor dem Wind geschützt zu sein. Sie blieben es aber nicht vor dem Regen., der uns am Tage nach der Schlacht empfindlich belästigte. Viele Verwundete, namentlich russische, wurden gar nicht verbunden und blieben verlassen auf dem Schlachtfeld liegen. Man hat noch 11 Tage nach der Schlacht solche gefunden, die durch Nagen an toten Pferden ihr elendes Leben zu fristen suchten. Mehrere der an der Straße liegenden Dörfer, in denen eine Menge Verwundeter untergebracht worden war, brannten ab, und die Unglücklichen kamen in den Flammen um. Wir sahen mehrere Brandstätten, wo die verbrannten Körper noch in den Reihen so lagen, wie vorher die Verwundeten auf den Böden der Zimmer. Andere waren wohl den Flammen entkommen, aber entsetzlich verstümmelt und krochen herum, nach Nahrung zu suchen.
Bei uns war besser gesorgt worden. Die Verwundeten hatten alle verbunden und in ein zurückliegendes Dorf gebracht werden können. Auch hier brach Feuer aus, doch gelang es durch große Anstrengung und Geistesgegenwart der Ärzte, die Gefahr des Verbrennens von den Verwundeten abzuwenden.
Unweit der großen Abtei Kolozkoi, die gleichfalls in ein Spital verwandelt worden, trafen wir den Hauptmann von Sattler, der sich uns anschloss. Da aber alle zurückliegenden Dörfer mit Verwundeten angefüllt waren, gingen wir vorwärts gegen Borodino. Nicht weit davon, links der großen Straße, fanden wir in einem Schlösschen, Selosplenzki, ein württembergisches Kavalleriedepot und hinlänglich Raum für uns und unsere Leute. Ich hatte die Ruhr in hohem Grade, doch zum Glück besaß ich durch den vor der Schlacht bewirkten Verkauf meines Pferdes die Mittel, mit bei den Marketendern der in der Nähe befindlichen Hospitäler Lebensmittel und namentlich Kaffee zu kaufen, der mich allein während der acht Tage, die wir hier blieben, von der fatalen Krankheit heilte.
In Moskau
Gegen den 20. September kam ein französischer Offizier zu uns und erzählte, dass die Russen Moskau angezündet hatten.[23] Dies erschien uns zwar wenig glaubhaft, da ich aber meine Kräfte soweit wieder erlangt hatte, dass ich reisen konnte, machten wir uns auf den 30 Stunden langen Weg nach der Stadt, in der wir am 26. September eintrafen und die Erzählung des Offiziers leider bestätigt fanden. Wir erfuhren, dass am 14. in der Nacht an mehreren Orten Feuer ausgebrochen sei, was man dem Zufall zuschrieb. Es hatte sich aber mit Staunen erregender Schnelligkeit ausgebreitet, und schließlich war kein Zweifel mehr gewesen, dass es sich um absichtliche Brandstiftung gehandelt hatte. Am 16. war das Feuer infolge starken Windes fast allgemein geworden. Moskau sollte einem vom Wind bewegten Feuermeer geglichen haben.
Mit der Feuerbrunst hatte die Plünderung gleichen Schritt gehalten. Generale, Offiziere und Soldaten waren, durch die Not getrieben, in den Straßen umhergeirrt, um den Flammen die Beute streitig zu machen. Sie waren in die Keller eingebrochen, hatten sich durch gierigen Trunk berauscht und waren dann hervorgekommen, um jede Abscheulichkeit zu verüben und sich viehischen Lüsten hinzugeben. Die Wohnungen waren erbrochen, jeder Winkel, jedes Behältnis durchsucht worden. Kirchen, ja selbst die Grüfte der Toten waren nicht verschont geblieben. Das schrecklichste Schauspiel hatten die russischen Spitäler geboten, in denen die Schwerverwundeten zurückgelassen worden waren. Die wenigen, denen es gelungen war, sich vor dem Feuer zu retten, waren dem Hunger und Elend erlegen. Mehr als 10 000 Verwundete hatten auf schreckliche Weise den Tod gefunden.
Die Feuersbrunst hatte vom 16. bis 18. gedauert, hatte sich am 19. vermindert und war am 20. erloschen. Neun Zehntel der Stadt und mehr als die Hälfte der Kirchen waren ein Raub der Flammen geworden. Der Kreml, ein Teil der von fremden Kaufleuten bewohnten Häuser und mehrere Vorstädte waren unversehrt geblieben. In dem abgebrannten Teil standen nur die Mauern der steinernen Gebäude mit ihren Rauchfängen, die von weitem wie hohe Säulen aussahen.
Vom 20. an war auch eine gewisse Ordnung in der Stadt eingetreten. Marschall Mortier war zum Gouverneur ernannt worden. Alle unversehrten Gebäude hatte man besetzt und Spitäler eingerichtet. Nur den in und um Moskau stehenden Truppen war erlaubt worden, Abteilungen zum Suchen von Lebensmitteln in die Stadt zu schicken. Als Sattler und ich in der Stadt ankamen, nahmen wir in der ersten auf unserem Wege liegenden Vorstadt Besitz von einem Palast des Fürsten Apraxin. Das Gebäude war zwar abgebrannt, ein Teil der unteren Räume jedoch unversehrt geblieben.
Von außen sah es ganz zerstört aus, und Schutthaufen erschwerten den Eingang. Das gewährte jedoch den Vorteil, dass wir in unserem Gewölbe nicht belästigt wurden, das durch Abbrennen der oberen Räume angenehm erwärmt worden war. Auch ein Hintergebäude hatte das Feuer verschont. Hier fanden wir Instrumente zu einem vollständigen Orchester. Nach den Ruinen zu schließen, muss der Palast äußerst prachtvoll gewesen sein. Er hatte dem Marschall Lefevre zur Wohnung dienen sollen, wie der mit Kreide angeschriebene Name zeigte. Wir machten aus unserem Schlupfwinkel täglich Exkursionen, in der Absicht, uns mit Lebensmitteln zu versehen und Nachricht von unserer Division einzuziehen. Diese war nach dem Brand durch die Stadt marschiert und in einem nahegelegenen Dorf untergebracht worden. Einige Tage nach unserer Ankunft in Moskau wurde ihr ein Teil der vom Feuer verschont gebliebenen deutschen Vorstadt zugewiesen, wohin wir uns auch begaben.
Unter den wenigen zurückgebliebenen Einwohnern zeichnete sich ein lutherischer Geistlicher als gebildeter Mann aus, der uns in mancher Beziehung nützliche Dienste leistete. Kaffee, Wein und Gemüse hatten wir zur Genüge, sogar Kartoffeln, ein damals in Russland seltenes Gewächs. Auch schossen wir uns hin und wieder in dem nahe gelegenen Wildpark einen Braten.
Ein widriger, durchdringender Brandgeruch lagerte über Moskau. Tausende von Krähen erfüllten die Luft mit ihrem abscheulichen Gekrächze. Man konnte stundenlange Strecken in der Stadt zurücklegen, ohne auf etwas anderes als Aschenhaufen, Schutt oder tote Menschen zu stoßen. Dies hinderte mich aber nicht, öfters in diesem Feld der schrecklichen Verwüstung umherzuwandern, teils um die Merkwürdigkeiten, die das Feuer verschont hatte, zu besichtigen, teils um mich für den Winter mit Kleidung und Pelz zu versehen. Aus den Magazinen war zwar das Beste genommen, dagegen hatte die kaiserliche Garde in und vor dem Kreml einen Markt von erbeuteten Sachen eröffnet, wo man für Geld allerhand Brauchbares haben konnte.
So lebte die Armee in den rauchenden Trümmern Moskaus in mancher Beziehung im Überfluss, nur Fleisch und Fourage mangelten täglich immer mehr. Das Fehlende musste in kleinen Gefechten von den bewaffneten Bauern der Umgebung erkämpft werden. Auch war nicht zu verkennen, dass die Begeisterung für die Rettung des Vaterlandes in den Herzen der Russen aller Stände immer höher emporloderte, dass die Geistlichkeit den Hass des Volkes zu heißer Glut anblies und der Kampf immer mehr die grauenvolle Gestalt des Religionskrieges annahm.
Russische Parteigänger umschwärmten das Heer von allen Seiten und beunruhigten seine Verbindungen auf sehr fühlbare Weise. Selbst die ganz nahe an Moskau liegenden Truppen waren vor ihren Streifereien nicht sicher. Die Lage wurde immer gefahrvoller, und auch in unserem Rücken gestalteten sich die Verhältnisse immer ungünstiger. Da auch die angeknüpften Verhandlungen mit den Russen ohne Erfolg blieben, wurde die Armee in Moskau und Umgebung zusammengezogen. Der Rückzug sollte angetreten werden.
Am 18.Oktober hielt der Kaiser im Kreml eine Parade über das III.Armeekorps ab. Er ernannte General von Scheler zum Grafen des französischen Reichs und zum Kommandeur der Ehrenlegion, verlieh auch sonst noch Orden. Unter anderem erkundigte er sich auch, wie viele Jäger noch da wären, welche die Schlacht von Eckmühl mitgemacht hätten. Es waren deren noch drei. Niemand verstand es wie er, durch Fragen, Belobigungen und Belohnungen die Herzen der Soldaten zugewinnen und sie in schwierigen Lagen zu den höchsten Leistungen zu begeistern.
Rückzug aus Moskau
Am 19.Oktober brach die ganze Armee gegen Kaluga auf, nur die junge Garde und 4000 unberittene Kavalleristen blieben unter Mortier vorläufig in Moskau zurück. Zu der württembergischen Division waren am Tag vor dem Ausmarsch 1000 Genesene aus den rückwärtigen Spitälern gestoßen, so dass sie wieder 2300 Mann stark wurde. Die Armee sollte unter Umgehung der russischen Stellung bei Tarutino, über Borowsk und Malo Jaroslawl die Stadt Kaluga erreichen und eine durch fruchtbare, nicht verwüstete Gegend führende Rückzugstraße erreichen.[24]
Unser Armeekorps bildete auf diesem Marsch die Nachhut und folgte langsam der Hauptarmee, die die Pachra bei Gorki überschritt und sich nach der Vereinigung mit dem Korps Murat rechts nach Forminskoje wandte. Am 23. erreichte das Heer Borowsk, die Vorhut Malo Jaroslawl. Am 24. griffen die Russen die Stadt an – sie waren ebenfalls von Tarutino aufgebrochen. Das Gefecht dauerte den ganzen Tag und die Franzosen blieben Herren der Stadt. Trotzdem schien es unmöglich, ohne eine Hauptschlacht, deren Verlust unser Untergang gewesen wäre, die Straße von Kaluga nach Smolensk zu erreichen. Nur der Weg über Moschaisk und Wjasma nach Smolensk blieb übrig, eine Strecke über 40 Meilen[25], auf der alles verwüstet war.
Am 26. wurde der Marsch angetreten, am 29. stand die Armee auf der großen Straße zwischen Moshaisk und Gshatsk vereinigt. Unsere Division erreichte im Verbund des III. Armeekorps am 25. Borowsk. Am 26. wiesen wir einen Angriff auf der Seite von Moskau her ab, das Mortier am 23. geräumt hatte. Es war unverkennbar, dass sich die Kosaken, durch die auf der Straße zurückgelassenen Spuren unseres kläglichen Zustandes ermutigt, weit dreister benahmen als zu Anfang des Feldzugs. Übrigens feuerte die württembergische Artillerie hier ihren letzten Kanonenschuss in diesem Feldzug ab.
Der Zustand der Armee war tatsächlich ein erbärmlicher. Ungefähr 600, mit ermatteten Pferden notdürftig bespannte Geschütze und unermessliche Mengen von Wagen, Karren, Kibitken und Droschken erschwerten den Weg. In jedem unbedeutendem Engpass verursachten sie Stockungen und ermüdeten die Truppen in unnötiger Weise. Vom General bis zur Marketenderin wollte keiner die Beute, die er in Moskau gemacht hatte, im Stichlassen, und der strenge Befehl des Kaisers, das Gepäck zu vermindern, wurde auf alle Weise umgangen.
Die Märsche nach Kaluga und zurück nach Moshaisk auf den schlechten Wegen hatten sich als sehr verderblich erwiesen. Das schöne Wetter beim Abmarsch von Moskau änderte sich am 22.Oktober. Ein feiner, kalter Regen fiel, verschlechterte die Wege noch mehr und führte für die Artillerie große Verluste an Pferden herbei. In Borowsk wurde der württembergische Reservepark aufgelöst. Die Munitionswagen wurden zerstört und die Pferde an die Kanonen gespannt. Trotzdem mussten schon am nächsten Tag zwei Zwölfpfünder aus Mangel an Pferden zurückgelassen werden.
Ich hatte mich, dem allgemeinen Befehl folgend, in Moskau so gut als möglich für den vorauszusehenden Rückzug eingerichtet und den Überresten des 2. zusammengesetzten Bataillons angeschlossen, bei dem mein Freund Wildermuth den Dienst als Adjutant versah. Jeder von uns nahm zwei Soldaten zu sich, und der Korporal Rösch und seine Frau bildeten den Rest der kleinen Familie. Der Mann war unbedeutend, die Frau aber ein wahrer Dragoner und uns in der damaligen Lage von unendlichem Nutzen. In der Garnison hatte sie stets Händel mit anderen Weibern, was ihr öfters Strafen zuzog. Mit dem Beginn des Feldzugs traten aber ihre Lichtseiten hervor. Mit viel natürlichem Verstand und einem kräftigen, gesunden Körper begabt, sorgte sie als Marketenderin unermüdlich für Offiziere und Soldaten. Ein männliches Seitenstück war der Bediente Wildermuths, der Soldat Geiger. Roh und händelsüchtig hatte er schon oft den Stock fühlen müssen. In den Zeiten der Entbehrung war er aber ein wahrer Schatz für seine Kompagnie und voll treuer Anhänglichkeit für meinen Freund und mich.
Auf dem Marsch von Borowsk nach Moshaisk fingen die Nächte an, empfindlich kalt zu werden. Mit dem Eintreffen auf der verheerten Hauptstraße wuchs das Elend in hohem Grad. Die von Moskau mitgenommenen Vorräte waren aufgezehrt und an der Straße alles verwüstet. Von Gshatsk an bestand unsere Nahrung daher in Fleisch gestürzter Pferde, von denen täglich Tausende vor Erschöpfung und Hunger umkamen. Gebrach es an Zeit zum Abkochen, so wurde ein Stück Fleisch an die Säbelspitze gesteckt und über dem Feuer geröstet. Hatte ich dazu ein Stückchen von schwärzestem Brot, das nur selten mit Geld aufzubringen war, und ein wenig Salz, so glaubte ich, ein Göttermahl gehabt zu haben.
Der Weg führte uns über das Schlachtfeld von Moshaisk. Die Toten, deren Verwesung durch die Kälte zurückgehalten war, bedeckten nach wie vor den Boden, auf dem man so verzweifelt gekämpft hatte. Dieser grässliche Anblick machte aber wenig Eindruck auf uns. Hart geworden durch viele Leiden und fortwährendes Elend hatten wir nur noch das Gefühl der Selbsterhaltung, das uns antrieb, in stumpfer Gleichgültigkeit vorwärts zu eilen.
In Moshaisk und dem Kloster Kolotskoi fanden wir noch viele Verwundete, von denen der größte Teil der zweifelhaften Großmut des Feindes überlassen werden musste. Nicht besser erging es den meisten von denen, die mitgenommen wurden. Sie unterlagen bald, oft auf grausamste Weise von ihren eigenen Landsleuten verlassen, die lieber die Beute aus Moskau retten als diesen Unglücklichen helfen wollten. Das entsetzlichste Los war aber den russischen Gefangenen vorbehalten. Wer von ihnen aus Ermattung zurückblieb, wurde in der Regel von der Wache erschossen oder erschlagen. An ihre Verpflegung war nicht zu denken, fand doch die Eskorte selbst kaum etwas zum Leben. Man schleppte ihnen gewöhnlich in die Scheunen, in die sie nachts eingesperrt wurden, einige gestürzte Pferde, von denen sie kümmerlich das Dasein fristeten. Viele starben in diesen Nachtlagern, und nicht selten fand man, dass der Hunger die Überlebenden zu dem fürchterlichen Entschluss getrieben hatte, ihre gestorbenen Kameraden anzunagen.
Am 1. November traf das III.Armeekorps in Wjasma ein. Hier blieb es bis zum 2., um nach dem Eintreffen des Korps von Eugen (Beauharnais), Poniatowski und Davoust die Nachhut der Armee zu übernehmen. Diese drei Korps gerieten jedoch bei Federowskoje mit den Russen in Kampf, während die über die Uliza vorgeschobene Vorhut unseres Korps von der Kavallerie des Generals Uwarow angegriffen wurde. Dieser Angriff wurde jedoch von dem provisorischen 1.württembergischen Bataillon und dem Rest unserer Kavallerie zurückgewiesen.
Am 4. November setzte die Armee ihren Marsch fort. Die Nachhut lagerte bei Semkewo, nachdem sie fortwährend durch Kosakenschwärme angegriffen worden war. In der Nacht vom 5. auf den 6. fing es so heftig an zu schneien, dass in kurzer Zeit die Erde mit fußhohem Schnee bedeckt war. Die Straße wurde so glatt wie ein Spiegel. Die geringste Anhöhe verursachte den größten Aufenthalt. Die abgematteten, nicht geschärften[26] Pferde konnten nur mit unendlicher Anstrengung der Mannschaft Kanonen und Wagen fortbringen. Diese standen verlassen zu Hunderten am Wege.
Die Straße war mit in Moskau geraubten Gegenständen übersät, von denen nur noch Kleidungsstücke Wert hatten. Jeder bedeckte sich mit dem, was einigen Schutz vor der Kälte bot. Die Zahl der Nachzügler vermehrte sich stündlich, und die Armee bestand schließlich nur noch aus einer verwirrten Masse von Menschen aller Waffengattungen und Nationen.
Wieder in Smolensk
Am Morgen des 7. November schied ich von Wildermuth, um nach Smolensk vorauszugehen und je nach Umständen, Anordnungen für unser weiteres Fortkommen zu treffen. Wir hatten beschlossen, uns von dort an nicht mehr zu trennen, sondern gemeinsam zu ertragen, was uns das Schicksal bescheiden würde. Der treue Freund teilte beim Abschied ein Restchen getrockneter Feigen mit mir, die er seit Moskau für den schlimmsten Fall aufbewahrt hatte. Ich nahm zwei Soldaten und drei Pferde mit. Der Schnee fiel in dichten Flocken, so dass man nur auf kurze Entfernung sehen konnte.
Trotz aller Anstrengungen war es nicht möglich, an diesem Tag den Dnjepr zu erreichen. Es blieb daher nichts übrig, als in dem großen Tannenwald, in dem wir den ganzen Tag marschiert waren, einen möglichst guten Lagerplatz zu suchen. Erst andern morgens überschritten wir den Dnjepr und schlugen die Straße nach Smolensk ein. Das Schlachtfeld von Valutina Gora, welches wir zu durchqueren hatten, glich einem großen Friedhof. Es war mit Trümmern der Schlacht und halbverwesten Leichnamen bedeckt, die unter dem Schnee kleine Hügel bildeten. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sie aus dem Weg zu räumen. Fuhrwerke, Pferde und alles war über sie hinweggegangen.
In der Vorstadt von Smolensk angekommen, stieß ich auf die Garde, die im Begriff war, über die Brücke zu marschieren. Ich hoffte, im Anschluss an diese Truppe in die Stadt gelangen zu können, die Wache wies mich jedoch zurück, weil auf Befehl des Kaisers jedem einzelnen Militär der Eintritt in die Stadt verboten sei. Ich sah mich deshalb genötigt, in den Trümmern der Vorstadt, die wir drei Monate früher mit stürmender Hand genommen hatten, eine Unterkunft zu suchen. Kaum dass ich an einer Mauer Schutz vor dem schneidenden Nordwind finden konnte.
Nach und nach versammelten sich Einzelne um mein Feuerchen, darunter mehrere Württemberger. Der Rest eines Hundes, den ich von einem französischen Offizier erbeutet hatte, diente uns zur kärglichen Nahrung. Mein Bärenfell breitete ich auf den Schnee aus und legte mich mit einem abgetragenen Mantel zugedeckt zur Ruhe. Vor dem Einschlafen wurden die Zügel der Pferde um den Arm geschlungen, um ihrer nicht beraubt zu werden.
Am anderen Morgen lag der Schnee noch auf mir, das Feuer war erloschen und um mich herrschte Stille. Die Ermattung hatte alle in tiefsten Schlaf versetzt. Bald waren wir jedoch zum Aufbruch gerüstet, und diesmal gelang es uns, durch das offene Tor einzutreten, da die Wache vor der Kälte Schutz gesucht und den Eingang ohne Aufsicht gelassen hatte. Nach einigem Suchen fanden wir das württembergische Hospital, in dem wir uns einer herzlichen Aufnahme, warmer Zimmer und einer für die Verhältnisse herrlichen Kost erfreuten. Bei dem Versuch am Tage vorher, in die Stadt zu gelangen, sprach ich mit einem der alten Schnurrbärte der Garde. Er erzählte mir, dass in Paris ein Unternehmen, die Regierung des Kaisers zu stürzen, stattgefunden habe, aber misslungen sei. Bei der Armee machte diese Nachricht gar keinen Eindruck.
Mein Freund Wildermuth hatte am 10. November die Erlaubnis erhalten vorauszugehen, weil das 3. provisorische Bataillon so zusammengeschmolzen war, dass einem Hauptmann das Kommando übertragen wurde. Am 11. kam er in Begleitung zweier Soldaten, des Korporals Rösch und dessen Frau an das Tor, wurde aber auch nicht eingelassen und musste die Nacht gleichfalls an der Stadtmauer zubringen. Erst gegen Morgen gelang es ihm, in die Stadt zu kommen. Ein Pochen am Fenster und die wohlbekannte Stimme weckten mich aus dem Schlaf. Groß war unsere Freude, den in den wenigen Tagen der Trennung lagen so viele Gefahren, dass man fürchten musste, einander nicht wiederzusehen.
Die württembergische Artillerie brachte noch 11 Kanonen nach Smolensk, von denen aber acht dort zurückgelassen werden mussten. Die Reiterei war gänzlich aufgelöst, und die 1500 Mann Infanterie waren zwischen Moskau und Smolensk auf 700 zusammengeschmolzen.
Auflösung der „Grande Armée“
Am 13. begann eine Division der Garde und das VIII.Armeekorps den weiteren Rückzug. Am 14. folgte der Kaiser mit dem Rest der Garde. Auch das württembergische Hauptquartier setzte sich mit dem 1. und 2. provisorischen Bataillon in Marsch, während das 3. bei Marschall Ney blieb. Allen nicht eingeteilten Offizieren wurde es überlassen, für ihr Fortkommen nach Minsk, das zum Sammelplatz bestimmt war, selbst zu sorgen. Die Kälte, die auf –18°C gestiegen war, ließ am 14. etwas nach.
Aus den Trümmern der Armeekorps hatten sich eine Menge Vereine gebildet, aus 6-10 Mann bestehend, in der Absicht, den Weg zusammen fortzusetzen und die vorhandenen oder gefundenen Hilfsmittel als Gemeingut zu betrachten. Jede dieser Gruppen hatte ein oder mehrere kleine Pferde, um die Bagage oder Lebensmittel zu tragen. Wo die Pferde fehlten, hingen die Menschen Küchengeräte und Lebensmittel selbst auf den Rücken. Diese kleinen, Zigeunerbanden gleichenden Gesellschaften stießen alles, was nicht zu ihnen gehörte, von sich. Deshalb marschierten auch alle Mitglieder der Familien aufgeschlossen, um nicht im Gedränge getrennt zu werden. Wer seine Gesellschaft verlassen hatte, um den bekümmerte sich niemand mehr. Ohne Mitleid wurde er von jedem Feuer und von jedem Zufluchtsort vertrieben. Das Recht des Stärkeren wurde in vollem Maß geübt.
Es wurde auch wenig oder gar keine Rücksicht mehr auf den Rang genommen. Alle gesellschaftlichen und militärischen Bande waren zerrissen, alle Waffenbrüderschaft, jedes Gefühl von Menschlichkeit und Mitleid in dem instinktmäßigen Trieb der Selbsterhaltung untergegangen. Es gehörte eine kraftvolle Seele und unerschütterlicher Mut dazu, diesem fürchterlichen Jammer zu widerstehen. Man musste sein Herz gegen jedes Gefühl von Erbarmen und Mitleid verschließen, wenn man nicht selbst zugrunde gehen wollte.
Der Verlust von Minsk und die Notwendigkeit, den Russen einige Märsche abzugewinnen, zwangen, den Rückzug unverweilt fortzusetzen. Der Kaiser verließ Orscha am 20. abends, am 21. folgte die Armee. Auch Wildermuth und ich waren am selben Tage in der Frühe mit unserer kleinen Karawane, Rösch, dessen Frau und vier Soldaten aufgebrochen, die Straße nach Borissow einhaltend.
Übergang über die Beresina
Am 23. marschierten wir bis Kochanow und kamen am 24. nach Bohr, wo wir die Reste des 7. württembergischen Infanterieregiments antrafen, das in dem Gefecht bei Borissow so viel gelitten hatte. Am 25. begegneten wir dem Kaiser. Er war zu Pferd, in einem grünen, mit goldenen Schnüren besetzten Pelz gekleidet und trug eine Mütze von gleicher Farbe. Wir biwakierten nicht weit von einem großen Dorf. Es schneite stark und fing an, wieder sehr kalt zu werden.
Am 26. frühmorgens brachen wir nach Borissow auf, durchschritten einen Teil der Stadt und wandten uns danach rechts in Richtung Studjänka. Ungefähr zwei Stunden von letzterem Dorf führte der Weg um einen kleinen, zugefrorenen See herum. Vor uns gingen mehrere Leute über ihn um abzukürzen. Wir hielten das Eis für fest und folgten ihnen. An der Spitze der Karawane befand sich immer Wildermuth, ich schloss den Zug. Als Wildermuth zehn Schritt vom Ufer entfernt war, brach das Eis unter ihm und einigen Franzosen mit Packpferden Die Franzosen verschwanden unter dem Wasser, von Wildermuth ragten nur noch Kopf und Brust heraus, und von seinem polnischen Schimmel sah man nur noch die schnaubende Nase. Das kräftige Tier raffte jedoch alle Kräfte zusammen und erreichte in einigen Sätzen das jenseitige Ufer.
Links vom Weg in dem Dorf Novy Stachow fanden wir eine Scheune und angebaute Fruchtdörre, wo sich Wildermuth, dem die Kleider am Leib angefroren waren, trocknen konnte, indessen ich in dem kurz zuvor von seinen Einwohnern verlassenen Dorf ein Schwein mit einem Pistolenschuss erlegte. Nachmittags hörten wir den Kanonendonner von Oudinots Angriff auf die Stellung jenseits der Beresina. Die Nacht verging ruhig. Am 27. brachen wir vor Tag auf und gingen gerade auf die Brücken der Beresina los. Der Andrang war aber so groß, dass wir den Versuch heranzukommen aufgaben.
Mit dem Oberst Missani, Kommandant des 2. Bataillons unseres Regiments, gingen wir einige Schritte. Er und ich stimmten dafür, in einem nahen Ort Obdach zu suchen, da wir beide uns nicht wohl befanden. Zu unserem Glück bestand jedoch Wildermuth darauf, in der Nähe der Brücke zu bleiben und einigen günstigen Augenblick abzuwarten. Wir wählten eine kleine, mit Gebüsch umgebene Vertiefung, wo uns das Holz eines nahestehenden Kreuzes zur Feuerung diente. Von Zeit zu Zeit sah einer von uns nach, ob man noch nicht über die Brücke kommen konnte.
Bei der argen Kälte und dem heftigen Schneegestöber wurde uns die Zeit sehr lang. Erst gegen Mitternacht konnten wir uns mit unseren Pferden durch das Chaos von Wagen und Menschen durcharbeiten und die Brücke überschreiten. Da es uns unmöglich war, in dem Dorf noch einen Platz zu finden, blieb uns nichts anderes übrig, als in einem Gebüsch den Tag abzuwarten. Wir zählten bis zu seinem Anbruch die Minuten, denn wir lagen im Schnee und konnten kein Feuer anmachen.
Nach dieser schlecht zugebrachten Nacht wendeten wir uns nach dem rechts der Straße gelegenen Dorf Kostruki. Von Studjänka näherte sich indessen das Gefecht immer mehr der Brücke, deren Zugang Victor am 28. besetzt hatte und den die Artillerie der Russen beschoss. Ihr Feuer brachte die Masse der Nachzügler, die vor den Brücken zusammengedrängt war, zur Verzweiflung. Wie im Wahnsinn trieben sich die Menschen umher. Mit Säbelhieben bahnten sich viele einen Weg und stießen alles vor sich zu Boden. Die Wagen fuhren gegeneinander, stürzten um und versperrten den Weg. Die hingefallenen Menschen und Pferde wurden erbarmungslos zertreten, und mitten unter diesem grausigen Lärm hörte man kaum ihr Geschrei und ihre Flüche.
Viele Menschen wurden in den Fluss gedrängt, andere sprangen freiwillig hinein in der Hoffnung, sich schwimmend zu retten. Nur wenigen gelang es, das andere Ufer zu erreichen, die meisten wurden vom Treibeis fortgerissen. Jeder Schuss richtete in dieser gedrängten Masse fürchterliche Verheerung an. Oberst Missani hatte sich von uns getrennt. Wir machten jenseits eines Sumpfes auf einer Wiese halt, wo große Heuhaufen standen, und setzten mit Einbruch der Nacht unseren Weg nach Sembin fort. Da es dort sehr voll war, zogen wir weiter bis in ein Dorf, wo wir beschlossen, den Tag abzuwarten, um nicht in die Hände der Kosaken zu fallen. Die Furcht war nicht unbegründet, denn wir fanden später, dass ein russisches Streifkorps am 29. das unweit gelegene Städtchen Pletschnitza überfallen und beinahe den verwundeten Marschall Oudinot gefangen hatte.
Seit dem Übergang über die Beresina war der Mangel an Lebensmitteln weniger fühlbar. Dagegen steigerten sich die übrigen Leiden auf eine furchtbare Weise: die Kälte stieg am 3. Dezember auf –26°C, später sogar auf –30°C. Das Kopfhaar war mit Reif bedeckt und wie gepudert, am Bart hingen lange Eiszapfen, und sogar in den Augenwimpern setzte sich Eis an. Der Schnee knisterte unter Füßen der Menschen, und die Luft hatte den Anschein, mit lauter Feuerfunken angefüllt zu sein. Es war gefährlich, Branntwein zu trinken, da er zwar augenblicklich anregte, aber Erschlaffung und Neigung zum Einschlafen folgen ließ. Bei der großen Kälte führte dies bei den meisten zu einem schnellen Tode.
Wer hinfiel und sich nicht alsbald aufraffte war verloren. Er war noch nicht tot, so zogen ihn die nächsten aus, um sich mit seinen Lumpen zu bedecken. Charakteristisch war folgendes Beispiel: Ein Grenadier sah seinen Obersten vor Ermattung niedersinken und eilte hinzu, den Leichnam zu entkleiden. Da richtete sich der Oberst auf und stammelte: „Reste, je ne suis pas mort!“ Ehrerbietig trat der Grenadier zurück und erwiderte kalt: „Eh bien, mon colonel, j’attendrai.“
Die Straße wurde so glatt wie ein Spiegel, so dass jeden Tag Bagage- und Artilleriewagen stehen bleiben mussten. Mit untergeschlagenen Armen und tief verhüllten Gesichtern gingen Generäle, Offiziere und Soldaten in dumpfer Betäubung nebeneinander her. Ein jeder hatte das erste beste umgehängt, was er gefunden hatte, um eine Hülle gegen mehr Kälte zu haben. Von Disziplin war keine Rede mehr, alle Häuser und Scheuern wurden niedergebrannt. Auf jeder Brandstätte lagen ganze Haufen von Toten, schlichen noch Lebende wie Gespenster unter ihren Kameraden umher, bis auch sie hinsanken und starben. Mit nackten Füßen, vom Frost geschwollen, hinkten noch manche bewusstlos fort. Andere hatten die Sprache verloren, und viele waren in eine wahnsinnige Betäubung geraten, in der sie freiwillig ins Feuer hineinkrochen und wimmernd verbrannten.
Chaos in Wilna
Mein Anzug bestand aus einem Uniformfrack mit einem kurzen Pelzrock darüber, den ich mir in Moskau hatte verfertigen lassen, und einem schlechten blauen Mantel, halbverbrannten Beinkleidern und zerrissenen Kommissschuhen. Auf dem Kopf trug ich eine ebenfalls in Moskau mitgenommene Zipfelkappe und eine früher sehr schöne, mit Silber besetzte, jetzt aber ganz schmutzige leichte Mütze von blauem Tuch, die ich in Leipzig gekauft hatte. Wäsche hatte ich seit Orscha nicht gewechselt, auch hatte sich das Ungeziefer auf höchst lästige Weise vermehrt. Wildermuth litt nicht weniger daran und war auch nicht besser gekleidet.
In diesem Aufzug kamen wir am 9. nachmittags in Wilna an, die Kosaken dicht hinter uns. Ich war so schwach, dass mich in der letzten Stunde Wildermuth und mein Bursche führten. Der zweite Soldat, den ich bei mir hatte, war am Tag zuvor verschwunden.
Unser Hauptquartier hatte ein Haus in der Wilnaer Vorstadt Minsk in Besitz, neben diesem war das Depot, in das mich Wildermuth brachte. Hier in einem großen Zimmer zusammengedrängt, stand oder lag eine Menge Offiziere auf dem Boden umher. Hauptmann Graf zu Lippe, später General, bot mir ein Glas Punsch an. Ich trank es so heiß wie möglich hinunter, und schlief alsbald ein. Nach einigen Stunden wachte ich auf, noch sehr schwach, aber hell in meinen Begriffen. Ich kroch in dem Saale umher und fand den Oberst von Missani, der mir sagte, dass ich einen Platz in einem Kurierwagen bekommen könnte, der zu seiner und des Prinzen Hohenlohe Disposition gestellt worden sei.
Generalleutnant von Scheler erteilte sehr freundlich seine Erlaubnis, gab mir jedoch den Rat, in dem Spital zu bleiben, welches er mit allen Bedürfnissen habe versehen lassen. Um keinen Preis wäre ich jedoch hierauf eingegangen. Ich fühlte noch so viele Seelenstärke in mir, neuen Entbehrungen und Gefahren zu trotzen, die doch bald ein Ende nehmen mussten. Bis an den Njemen waren nur noch drei Tage, und für mein Fortkommen war einstweilen gesorgt.
Das württembergische Reserve-Infanterieregiment, ungefähr 1400 Mann stark ausmarschiert, war bis Wilna auf 60 Mann zusammengeschmolzen. Diese kleine Häuflein eskortierte am 10. Dezember unser Hauptquartier, an das sich alles anschloss, was von uns noch fortkommen konnte.
Das Schicksal der Zurückgebliebenen war schrecklich. Für die Spitäler wurde in den ersten sechs bis acht Tagen nach unserem Abmarsch gar nicht mehr gesorgt. Tote und Lebende blieben untereinander liegen. Nur die große Kälte errettete die Einwohner Wilnas vor ansteckenden Krankheiten, welche die in den Straßen und Gebäuden umherliegenden Tausende von Leichnamen unfehlbar verbreitet haben würden. Erst im April 1813 wurden die in den Spitälern gewesenen Offiziere und Soldaten in das Innere Russlands abgeführt.
Wieder in Preußen
Ungefähr zwei Stunden von Wilna führt die Straße über einen an sich unbedeutenden Berg, dessen Abhang aber so glatt geworden war, dass unser von vier Pferden bespannter und von zwei Trainsoldaten geführter Wagen unmöglich hätte hinaufkommen können. Zum Glück hatten wir uns dem Wagen des Generals von Kerner angeschlossen, der vom Grafen Scheler den Auftrag erhalten hatte, voraus in das Vaterland zu eilen, um dem König mündlich unser Schicksal zu berichten. General von Kerner hatte einen Juden als Wegweiser mitgenommen, der uns einen ganz mit Schnee bedeckten Seitenweg links den Berg hinauf führte.
Was an württembergischen Soldaten noch übrig war, schlug ebenfalls diesen Seitenweg ein, uns so kamen wir endlich wieder auf die Straße und erreichten am Abend Kowno. Hier war es noch ziemlich ruhig, so dass wir uns am andern Tag in einer Restauration erwärmen und ein ordentliches Mittagessen einnehmen konnten, das erste seit langer Zeit! Aber schon in der folgenden Nacht, als wir bereits über den Njemen gegangen waren und in einem Edelhof Unterkunft gefunden hatten, traf die Nachricht ein, die Kosaken seien uns auf dem Fuße gefolgt und wir nicht mehr sicher vor ihnen.
Das veranlasste uns, noch vor Tag aufzubrechen. Nach manchen Widerwärtigkeiten langten wir in Stallupönen an, dem ersten preußischen Städtchen. Hier übernachteten wir seit sieben Monaten zum erstenmal wieder in Betten! Das Ungewohnte mochte der Grund sein, dass ich trotz großer Ermattung schlecht schlief. Am anderen Morgen kaufte ich für meinen letzten Dukaten ein Hemd, was eine große Wohltat war. Ein höchst angenehmes Gefühl war es, in einem warmen Gasthauszimmer aus anständigem Geschirr Kaffee zu trinken und Milchbrot zu essen. Den Eindruck, den diese in einem ganz gewöhnlichen Wirtshaus zugebrachte Nacht auf mich machte, war so, dass ich noch jetzt das Bett, die Stube und das Frühstück vor mir sehen kann.
Teils mit Vorspann, teils mit Post setzten wir unseren Weg über Gumbinnen, Insterburg, Wehlau, Friedland nach Elbing fort, überall freundlich aufgenommen. Die Franzosen hatten sich in Preußen keines so guten Empfangs zu freuen, denn die Preußen verhehlten nicht mehr die Erbitterung, welche sie gegen ihre Unterdrücker im Herzen trugen.
Die württembergische Division wurde in Thorn unter den Befehl Junots gestellt, der das VIII. Armeekorps, die Westfalen, kommandierte. Er wies unserer Division Inowrazlaw als Sammelplatz an, und Graf Scheler gab mir den Befehl, in Thorn zu bleiben, um alles, was von uns dort noch eintreffe, nach Inowrazlaw zu instradieren.
Heimkehr
Am 10. Dezember verließen die so gesammelten Reste unserer Division dieses, etwa zehn Stunden von Thorn auf der Straße nach Posen gelegene Städtchen. Die Offiziere, welche nicht bei der gesunden Mannschaft eingeteilt worden waren, reisten für sich. Die Kranken wurden in einen Transport vereinigt, der seinen Weg über Frankfurt an der Oder, Leipzig, Gotha und Würzburg nach dem Vaterlande nahm.
Die Familie von Baumbach ist mit den von Blumensteins verwandt. Ernst von Blumenstein heirate die Tochter Emma meines Urgroßvaters Carl Becker aus Gelnhausen. Zum Entsetzen der Familie nahm Ernst am Krieg gegen die „Boxer“1900 in China teil, kam aber heil zurück.
Freund Wildermuth befand sich bei diesem Transport, während wir am 11. unseren Weg nach Posen fortsetzten. Dort wurde uns freigestellt, über Glogau und Dresden oder über Frankfurt an der Oder und Leipzig nach der Heimat zu reisen. Ich wählte den letzteren Weg, weil ich die Absicht hatte, von Eisenach aus die Heimat zu besuchen, und mein Freund Schenk begleitete mich. Wir nahmen den Weg über (Bad) Berka, und es wurde bereits Nacht, als wir durch tiefen Schnee den Stangenpfad nach Nentershausen hinaufstiegen.
Ich fand meine gute Mutter allein in ihrem Zimmer. Die Freude dieses Wiedersehens ist nicht mit Worten zu beschreiben. Wir blieben drei Tage lang in Nentershausen und reisten dann ohne Aufenthalt über Meiningen und Würzburg nach Heilbronn, wo mein Regiment neu errichtet wurde. Schenk begab sich zunächst zu den Seinigen nach Ludwigsburg, Wildermuth aber kam erst am 23. Februar 1813 zurück.
Ich finde, dieses Bild passt gut zu dem Text von Baumbach. Bert Böhmer, Berlin 2004.
Die Fotos der Baumbachs fügte ich Ende 2004 ein.BB
[1] Fritz Martin Rintelen, Aufruhr in Hessen, Berlin & Leipzig 1943
[2] Friedrich I. war zunächst Herzog von Württemberg. 1806 wurde er als einer der Verbündeten Napoleons im Rheinbund König von Württemberg. Gestorben 1816
[3] Kronprinz Wilhelm von Württemberg regierte als König Wilhelm I. von 1816 bis 1864
[4] Luise, Herzogin von Sachsen-Weimar , eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt, war die Gemahlin des Herzogs Karl-August, Goethes Gönner und Freund.
[5] Im Krieg Preußens gegen Frankreich 1806/07 kämpften württembergische Truppen unter französischem befehl in Sachsen und Schlesien gegen Preußen, die in den Schlachten von Jena und Auerstädt vernichtend geschlagen wurden. Württemberg gehörte als Rheinbundstaat wie auch Bayern, Hessen-Darmstadt, Nassau u.a. zu den Verbündeten Napoleons I.
[6] Polen und Preußen waren 1812 offiziell mit Frankreich verbündet und stellten Truppen in dem Krieg gegen Russland.
[7] Am 24.Juni 1812 erfolgte gleichzeitig mit dem Überschreiten der russischen Grenze die Kriegserklärung Frankreichs an Russland. Im Jahre 1941 überschritt die deutsche Armee am 22.Juni die russische Grenze.
[8] Nach Adam Riese wären das 23 Stunden mit wahrscheinlichen Rasten… (Böhmer)
[9] Marschall Michel Ney (1769-1815), ein Saarländer, war der populärste der napoleonischen Marschälle, der „treueste der Treuen“, wie ihn Napoleon bezeichnete. Führte in der Schlacht von Borodino u.a. Diente nach 1813 den Bourbonen, ging 1815 wieder zu dem von Elba zurückgekehrten Napoleon über und wurde nach der Niederlage von Waterloo von den Bourbonen zum Tode verurteilt.
[10] Smolensk, Gebietshaupstadt der russischen Föderation. Der alte Stadtkern am hohen linken Ufer des Dnjepr gelegen. 276 000 Einwohner (1980). Im Dezember 1941 erreichte ich nach Verwundung westlich Moskau mit einem Zug aus erbeuteten z.T. beschädigten Güterwagen, auf deren Bretterboden wir bei strenger Kälte liegen mussten, den Bahnhof von Smolensk. Wir blieben die ganze Nacht in diesem Wagen liegen, ohne dass sich jemand um uns kümmerte. Die Nacht habe ich bis heute nicht vergessen, manche Kameraden haben sie nicht überlebt. Erst am nächsten Morgen wurden wir in einen deutschen Lazarettzug mit weißbezogenen Betten umgeladen, in dem ich bis nach Wien gebracht wurde.
[11] Berühmte Maria-Himmelfahrts-Kathedrale mit fünf Kuppeln in Smolensk, blieb auch im 2. Weltkrieg erhalten.
[12] Die russische Armee praktizierte hier die „Taktik der verbrannten Erde“, die es dem Gegner erschweren sollte, sie bei ihrem Rückzug zu verfolgen. Ähnlich ist auch während des Russlandkrieges 1941-43 von beiden Seiten bisweilen verfahren worden, vor allem während des Winters, wo wegen der großen Kälte nur in festen Unterkünften Überlebenschancen für die Soldaten bestanden.
[13] Joachim Murat (1767-1815), Marschall von Frankreich und König von Neapel, berühmter Reiterführer Napoleons. Er war verheiratet mit Caroline Bonaparte, Schwester Napoleons. Nach der Niederlage von 1815 wurde er standrechtlich erschossen.
[15] Wittgenstein, russischer Heerführer deutscher Abkunft
[16] Gshatsk, Stadt an der „Rollbahn“ nach Moskau gelegen, war auch 1941/42 stark umkämpft. Hier die 7.Division der deutschen Wehrmacht, der ich angehörte, eingesetzt. Heute heißt die Stadt „“Gagarin“, nach dem ersten russischen Kosmonauten, der die Erde umkreist hat.
[17] Ehrenlegion, >franz.Légion d’honneur, wichtigster französischer Orden, wurde 1802 gestiftet. Das fünfarmige Ordenskreuz wird am roten Halsband getragen.
[18] Die fehlende Winterkleidung führte auch 1941 in der deutschen Wehrmacht zu enormen Verlusten durch Erfrierungen. Trotz eilig veranstalteter Sammlungen von Winterkleidung in der deutschen Heimat war es viel zu spät, bis diese an die Front gelangten.
[19] Dragoner und Husaren > Bezeichnungen für Waffengattungen der Kavallerie.
[20] Kürassiere > schwere Reiterei , deren Oberkörper durch einen Kürass geschützt war.
[21] Fürst Poniatowski, Neffe des früheren Königs von Polen, Kommandeur der polnischen Truppen.
[22] Eugen de Beauharnais, Vizekönig von Italien, war der Stiefsohn Napoleons I. (In seinem Pariser Palais befindet sich die Deutsche Botschaft, ursprünglich Preußische Botschaft, in der schon Bismarck residierte. b.b.)
[23] Die Franzosen waren am 14. September 1812 in Moskau kampflos einmarschiert. Vom 15. bis 20. September brannte die zu Dreivierteln aus Holzgebäuden bestehende Stadt.
[24] Napoleon hatte erkannt, dass ein aussichtsreicher Rückzug nur auf einer weiter südlich verlaufenden Straße durch bisher vom Krieg verschonte Gebiete Aussicht auf Erfolg haben würde, nicht aber auf der zerstörten und ausgeraubten Route des Vormarschs über Smolensk – Wjasma – Moschaisk. Deswegen versuchte er , zunächst nach Südwesten Richtung Kaluga zu marschieren.
[26] Hier ist gemeint, dass für die Hufeisen der Pferde keine einschraubbaren Stollen vorhanden waren, die einen Marsch bei Schnee- und Eisglätte ermöglichen. Dieses Problem hatte auch uns bei der bespannten Artillerie 1941-44 zu schaffen gemacht.
Zum Inquisitionsprozess Ferdinand Beckers 1798. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Fürstbistums Paderborn,Weilburg 1951
Prüfungsarbeit am Pädagogischen Institut Weilburg * Sommersemester 1951
Einleitende Bemerkung des Herausgebers Dr. Bert Böhmer * Berlin, Juli 2003
Ein begleitender Brief von Heinz Knab vom 26.Juli 2003 veranlasste mich, den Namen in Ferdinand Becker zu ändern und den von ihm seinerzeit vorangestellten Karl wegzulassen.
Die Anmerkungen Knabs nummeriere ich durch und nicht seitenweise. Sollte ich eigene ergänzende Bemerkungen hinzufügen, so mache ich das kenntlich.
*
Bemerkungen zur Familie
Der Domvikar Ferdinand Becker, 1740-1814, Schulkommissar im Fürstbistum Paderborn, ist ein Ur-ur-ur-Großonkel des Herausgebers.
Sein Neffe Carl Ferdinand Becker, 1782-1838, war zeitweilig „Professor“ am Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Ich fragte mich immer, warum die Beckers lt. Stammbuch auf einmal protestantisch wurden – nach der Lektüre der Studie von Heinz Knab wurde mir das allerdings sehr schnell deutlich. Carl Ferdinand, eigentlich zum Priester bestimmt und entsprechend von seinem Onkel erzogen, studierte deshalb Medizin, war unter Napoleon I. Salinendirektor in Kassel, pflegte die Verletzten in den Freiheitskriegen in Frankfurt am Main und wurde ein begnadeter Sprachforscher und Pädagoge mit eigenem Institut in Offenbach. Er hatte 8 Kinder, von denen drei Pädagogen wurden.
Sein Sohn Carl Wilhelm, 1821-97, war Bankier bei Rothschild in Amsterdam, transferierte für Napoleon III. viel Geld nach Paris, erlebte die Wirren der Einigungskriege mit seiner Frau Julie, Tochter des Kaffeemillionärs Schöffer in Amsterdam, wurde Landtagsabgeordneter In Berlin nachdem er sich mit 50 Jahren in Frankfurt und Gelnhausen zur Ruhe gesetzt hatte. Er hatte 6 Kinder, die alle Karriere machten.
Ferdinand Becker, der Großvater des Herausgebers, war Jurist, Landrat in Osterholz-Scharmbeck bis 1933.
Sein Bruder Carl wurde Orientalist und Staatssekretär im Preußischen Kultusministerium, später dann in der Weimarer Republik Kultusminister. Er starb 1933. Ein einziger Sohn wurde auf Wunsch der Mutter wieder Kaufmann: Alexander, er starb 1939 in Frankfurt/M.
Ein Sohn des Orientalisten war Hellmuth Becker, Jurist und Verteidiger von Weizsäckers in den Nürnberger Prozessen 1945/46, aber mit pädagogischen Interessen: er begründete unter Willy Brandt das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Zum Inquisitionsprozess Ferdinand Beckers 1798. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Fürstbistums Paderborn
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Heinz Knab Sommersemester 1951
I. Paderborn um 1800
Zustand der geistlichen Fürstentümer – Reformbestrebungen der
katholischen Kirche – Struktur und Verfassung des Fürstbistums Paderborn
II. Jugend und Studium
Jugend in Grevenstein – Jesuitengymnasium in Paderborn – Hauslehrer in
Arnsberg – Universität in Köln – Ordination zum Diakon
III. Pfarrer in Hörste
Zustand der Pfarrei – Volkscharakter der Paderborner – Streit mit den
Franziskanern – Kampf mit dem Aberglauben – Zölibatsgesetz
Karte: Paderborn um die Mitte des 18. Jahrhunderts
Tätigkeit – Menschliche und gesellschaftliche Stellung
V. Archidiakonalkommissar
Schulverhältnisse – Schulordnung von 1783 – Verhältnis zu den Juden –
Wahl des Fürstbischofs Franz Egon – Entlassung als Kommissar
VI. Fürstlicher Schulkommissar
Schriftstellerische Tätigkeit – Schulordnung von 1788 – Normalschule und
Normallehrer – Beckers politische Anschauung
VII. Verfahren gegen Becker
Denunziation und Klage – Verhaftung – Im Gefängnis – Die Nonne von
Warschowitz – Befreiung aus dem Gefängnis
VIII. Prozess gegen den Fürstbischof
Becker in Brilon und Arolsen – excommunicatio major – Klage beim
Reichskammergericht – „Pasquillenliteratur“ – Paderborn wird preußisch –
Urteil Friedrich Wilhelms III. – Schwierigkeiten der Urteilsvollstreckung
IX. Erneute Verfolgung und Tod
Die Franzosen in Paderborn – Eingreifen des französischen General-
Gouverneurs _ Neue Verfolgungen – Aufforderung zur Unterwerfung –
Becker geht nach Höxter – Vorstellung am Hofe Jérômes – Tod
X. Schlusswort
Anhang
Zeittafel
Dokumente
Abschaffung der lateinischen Gesänge im Bistum Paderborn 52
Urteil des Reichskammergerichts vom 7. August 1799 53
3./4. Briefe des Generalgouverneurs Gobert an den Präsidenten v. Coninx.
5.-10. Die Kopien wurden hier nicht eingefügt
Stammtafel der Familie Becker 54
Quellen und Darstellungen
Handschriftliche Quellen
Gedruckte Quellen
Darstellungen
Vorwort von Heinz Knab
Im Herbst 1950 stieß ich in Marburg auf das Archiv der Familie Becker. Bei der Durchsicht des Materials zog mich besonders die Person des Paderborner Domvikars und Schulkommissars Ferdinand Becker, des Bruders einer meiner Vorfahren, an. Dieser Mann verdient nicht nur wegen der Eigentümlichkeit seines Lebensschicksals – am Ende des 18. Jahrhunderts wurde ihm ein Inquisitionsprozess gemacht – ein über den Rahmen des Familiengeschichtlichen hinausgehendes Interesse, sondern seine Aufzeichnungen, die zum großen Teil erhalten sind, stellen darüber hinaus ein kulturgeschichtliches Dokument von besonderem Wert dar. Ferdinand Becker hat uns in seinen Tagebüchern und Briefen eine lebendige, anschauliche und oft amüsante Schilderung der Menschen und der Zeitkultur in einem der geistlichen Fürstentümer Deutschlands um 1800 hinterlassen. Das Leben und Treiben im Fürstbistum Paderborn gewinnt beim Lesen seiner Aufzeichnungen auch heute noch deutlich Gestalt.
Das Inquisitionsverfahren gegen Becker erregte zu seiner Zeit in Deutschland erhebliches Aufsehen. Eine größere Anzahl von Streitschriften und Pasquillen[1] ergriff leidenschaftlich für oder gegen Becker Partei. Am genauesten wurde das Verfahren in der 1802 erschienenen „Aktenmäßigen Darstellung des wider …Ferdinand Becker geführten Inquisitionsprozesses“ behandelt. Unter zahlreichen polemischen Ausfällen gegen die katholische Kirche finden sich dort verschiedene Prozessakten. Doch behandeln alle diese Schriften nur den ersten Teil des Verfahrens gegen Becker. Nachdem sein Fall während der preußischen und französischen bzw. königlich-westfälischen Zeit Paderborns allmählich in Vergessenheit geraten war, finden sich nur noch wenige spärliche Notizen. Einige spätere Autoren – Rosenkranz 1852, Schücking 1855 und Richter 1904 – haben den Fall Becker erwähnt, die beiden letzteren allerdings nur im Rahmen sehr summarischer und ungenauer Darstellung. Rosenkranz, der sich eingehender damit befasst hat, sieht den Fall einseitig vom katholischen Standpunkt aus.
Hier soll nun der Versuch gemacht werden, aus Beckers eigenen Aufzeichnungen – aus seinen Tagebüchern, Briefen und Notizen – ein Bild jener Vorgänge zu entwerfen. Damit ist zugleich der Vorzug und die Beschränkung dieser Arbeit gekennzeichnet: Sie erhebt nicht den Anspruch unbedingter Objektivität und kann ihn nicht erheben. Doch habe ich mich bemüht, unter beson-derer Berücksichtigung der nicht von Beckers Hand stammenden Quellen dort nichts zu beschö-nigen, wo Becker seine Aufzeichnungen aus persönlichen Gründen, besonders zum Zweck der eigenen Verteidigung, offensichtlich in einen für sich positiven Sinn gefärbt hat.
Hatte ich mir zunächst die Untersuchung der verschiedenen Prozesse zur Aufgabe gestellt, so ergab sich doch bald, dass der Rahmen weiter gefasst werden musste. Man würde Becker sicherlich Unrecht tun, wenn man mit der Fülle des Prozessmaterials seine lebendige Persön-lichkeit verdecken würde. Wesen und Wert einer geschichtlichen Gestalt zu erfassen gelingt uns nur, wenn wir ihren Weg kennen. Der Schwerpunkt der Arbeit verschob sich so; es galt, die Motive für Beckers Handeln, seine religiösen und politischen Grundanschauungen aufzuzeigen, um dadurch die Ursachen, die zu seiner Verfolgung geführt hatten, erkennen zu können. Eine bisweilen ins Detail gehende Schilderung seines Wirkens und des Milieus wurde dadurch notwendig.
Selbstverständlich konnte im Rahmen dieser Arbeit keine Vollständigkeit erreicht werden. Das gilt insbesondere für die weit über den verhältnismäßig engen Wirkungskreis hinausgehende pädagogische Bedeutung dieses Mannes, die ihn würdig erscheinen lässt, in einer Reihe mit den bedeutenden Erziehern dieser pädagogischen Zeit genannt zu werden. Auch seine theologische Wirksamkeit, die zwar weniger weit über das Niveau des Mittelmäßigen hinaus ging, aber in besonderer Weise zeittypisch war, kann hier nur gestreift werden. Einer späteren Arbeit bleiben diese Aufgaben vorbehalten.
Ein allgemeiner Abschnitt über Zustände und Verfassung des Fürstentums Paderborn am Ende des 18. Jahrhunderts erschien zur Orientierung notwendig. Eine genealogische Tafel der Familie Becker, auf der nur die in der Arbeit erwähnten Personen und ihre nächsten Angehörigen aufgenommen wurden, sowie eine Karte der territorialen Gliederung Westfalens sollen die Darstellung vervollständigen.
Die Aufzeichnungen Ferdinand Beckers bestehen aus seinen sehr umfangreichen Tagebüchern (allein das sog. Große Tagebuch umfasst 1086 Seiten), sonstigen Notizen, geschäftlichen Papieren, Rechnungen, Schadenersatzforderungen und einer Anzahl von Briefen, z.T. im Original, zum größeren Teil in Abschrift. Eine große, zweiteilige Schrift mit dem Titel „Über die katholischeKirche“ macht wichtige Aussagen über Beckers theologische und politische Anschauungen. Die von Anderen an Becker gerichteten Briefe wurden von ihm zum Teil mit Randbemerkungen versehen.
Während des Zweiten Weltkrieges war das Beckerarchiv wegen der Bombengefahr nach Marburg gebracht worden. Beim Einrücken der Alliierten wurde es von amerikanischen Soldaten gefunden und aus dem Fenster geworfen. Erst nach einigen Tagen konnte das Material im Garten zum größten Teil wieder sichergestellt werden. Leider sind dabei eine Reihe von Schriftstücken verloren gegangen, darunter zwei Verteidigungsschriften Ferdinand Beckers.
***
I. Paderborn um 1800
Die vorliegende Arbeit führt uns in das Fürstbistum Paderborn. Sie gibt einen Einblick in die inneren Verhältnisse eines dieser Staatswesen zur Aufklärungszeit. Die deutschen geistlichen Fürstentümer waren mit der zunehmenden Schwäche des Reiches immer bedeutungsloser geworden. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts waren sie im Grunde schon ein Anachronismus. Sie trugen die Symptome ihrer Auflösung bereits in sich. Alles Leben war in einer Fülle von Formen und Traditionen erstarrt.
Dass das Zeitalter der Aufklärung, dessen hier interessierende Spätphase von etwa 1770-1800 begrenzt werden soll, in breiten Schichten lange nicht so aufgeklärt war, wie es nach dem damals publizierten Schrifttum den Anschein haben kann, werden wir im Folgenden erkennen. In Preußen unter Friedrich dem Großen, in Österreich unter Joseph II. und in vielen kleineren weltlichen Staaten hatte sich die neue Zeit allmählich durchgesetzt. Die geistlichen Gebiete des Reiches waren dagegen weit zurückgeblieben. Wir glauben uns in die Zeit des Mittelalters zurück versetzt, wenn wir jene Missstände näher betrachten:
der Schacher mit Reliquien,
der Aberglaube,
die Hexen- und Gespensterfurcht
das Vagieren der Mönche,
ihr Handel mit Ablass und Amuletten,
die Ketzermacherei und Inquisition,
die Ignoranz und der unsittliche Wandel der Geistlichen,
die vielen Feiertage,
die Wallfahrten
– und daneben das unter drückenden Lasten darbende Volk, das in tiefer Armut, ohne Schulen und Unterricht in dumpfer Unwissenheit dahinlebte, in derben sinnlichen Genüssen und im Alkohol Vergessen des Elends suchend.
Der Klerus stellte einen relativ viel zu großen Anteil der Bevölkerung. Er war gespalten in Welt- und Klostergeistlichkeit, innerhalb der letzteren rivalisierten die verschiedenen Orden miteinander. In Paderborn waren besonders die Franziskaner, Kapuziner, Minoriten und Jesuiten tätig. Einig war man sich jedoch in dem Bestreben, den gegenwärtigen Zustand möglichst lange aufrecht zu erhalten. Gegen jeden Reformversuch erhoben sich wütende Proteste, bei denen die Jesuiten und die adligen Domherren die Avantgarde bildeten.
Bei all dem soll aber nicht verkannt werden, dass innerhalb der katholischen Kirche selbst Bestrebungen zur Besserung dieser Verhältnisse bestanden haben. Besonders unter den geistlichen Fürsten und in der unteren Weltgeistlichkeit fanden sich gelehrte, mutige und aufgeklärte Männer, die all ihre Kraft einsetzten, um eine Änderung herbeizuführen. Zu den ersteren gehörte der Kurfürst von Mainz, Emmerich von Breitenbach, der Würzburger Fürstbischof von Erthal und in Paderborn der Fürstbischof Wilhelm Anton[2], zu den letzteren, in seinem beschränkten Kreise wirkend, Ferdinand Becker. Zahlreiche katholische Schriftsteller und Universitätsprofessoren traten in theologischen und pädagogischen Werken für eine Reform ein.[3] Die Losung war überall: Weg mit den Missbräuchen der Religion, setzt an ihre stelle Vernunft und Aufklärung!
Es war nur eine zwangsläufige Entwicklung, dass diese Bewegung sich schließlich gegen den römisch-hierarchischen Klerikalismus insgesamt richten musste. Der Papst, in klarer Erkenntnis der damit dem Katholizismus als solchem drohenden Gefahr, opferte eine seiner stärksten stützen, den Jesuitenorden, um dadurch die Organisation der Kirche zu retten. 1773 wurde der Orden durch päpstliches Dekret aufgelöst. Die Exjesuiten, wie die Ordensmitglieder nun genannt wurden, spielten allerdings weiterhin eine bedeutende Rolle, besonders in den geistlichen Gebieten.[4]
In Deutschland nahmen diese Reformbestrebungen der Aufklärungszeit eine besondere Form dadurch an, dass sie durch die deutschen Erzbischöfe aufgegriffen wurden. Die Durchführung aller Reformen setzte aber eine größere Unabhängigkeit von Rom voraus. So entstand der Gedanke einer deutschen Nationalkirche. 1786 trafen die Erzbischöfe von Mainz, Köln, Trier und Salzburg auf dem Emser Kongress zusammen. Die dort ausgearbeitete Punktation sah eine wesentliche Beschränkung der päpstlichen Befugnisse in Deutschland, Abschaffung der finanziellen Ausbeutung durch Rom sowie innerkirchliche Reformen vor. Der ganzen Bewegung fehlte aber der große religiöse Impuls – sie scheiterte daher bald an der schwachen Unterstützung durch den Kaiser, der ultramontanen Haltung des bayerischen Kurfürsten und nicht zuletzt am Widerstand der deutschen Bischöfe, die einer Machtvergrößerung der Erzbischöfe die päpstliche Herrschaft vorzogen.
Paderborn hatte an diesen Zeitströmungen verhältnismäßig geringen Anteil. Infolge der Rückständigkeit und Armut der Bevölkerung, der rein landwirtschaftlichen Struktur der Wirtschaft, der ungünstigen geographischen Lage abseits von den großen geistigen Zentren und des übergroßen Einflusses des orthodoxen Klerus wirkten sie sich hier weniger aus als in anderen geistlichen Territorien.
Zum Verständnis des Folgenden sei ein kurzer geschichtlicher Überblick des interessierenden Zeitraums, soweit er Paderborn betrifft, gestattet. Auf den Bischof Clemens August von Bayern[5], der durch die Vereinigung vieler geistlicher Fürstentümer in seiner Hand einer der mächtigsten Fürsten seiner Zeit war, folgte 1763 Wilhelm Anton von Asseburg[6]. Gehörte Clemens August, der traditionellen Wittelsbacher Konzeption folgend, der konservativ-ultramontanen Richtung an, so stand Wilhelm Anton einer gemäßigten Aufklärung nahe. Er wird uns von seinen Zeitgenossen als frommer Mann, als offener, deutscher Charakter geschildert.[7] Wilhelm Anton führte eine Reihe von Verbesserungen, die jedoch keinen grundsätzlichen Wandel der Zustände schaffen konnten, ja eigentlich kaum praktische Auswirkungen hatten. Die Schuld dafür lag nicht so sehr am Fürsten als an der Ungunst der Verhältnisse. Auf Wilhelm Anton folgte Friedrich WilhelmvonWestphalen[8], der die Bistümer Paderborn und Hildesheim in Personalunion vereinigte. Sein Nachfolger in beiden Fürstentümern wurde Franz Egon von Fürstenberg,[9] der bereits 1786 wegen Kränklichkeit Friedrich Wilhelms zum Koadjutor gewählt worden war.
1802 wurde das Fürstbistum gemäß den Bestimmungen de Lunéviller Friedens von Preußen besetzt; durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 wurde die Säkularisierung des Landes endgültig. Nach der Niederlage Preußens 1806 rückten französische Truppen ein, ein französi-scher General nahm das Gebiet in die Verwaltung der Grande Armée. Von 1807 bis 1813 gehörte Paderborn zum Königreich Westphalen, um dann endgültig an Preußen zu fallen. – Diese knappen geschichtlichen Daten sollen hier genügen. Im Verlauf der Arbeit wird manche Einzelheit ergänzt werden.
Der besondere Charakter des Landes und seiner Bewohner und die eigentümliche Verfassung Paderborns lassen es notwendig erscheinen, kurz geschildert zu werden. Mit 54 Quadratmeilen hatte das Bistum etwa die Größe der ehem. Hessischen Provinz Starkenburg. 96 000 Einwohner stellten eine sehr schwache Besiedlung dar, die auf den rein landwirtschaftlichen Charakter des Landes zurückzuführen ist. Nur etwa die Hälfte der genutzten Fläche war fruchtbar. Der größte Teil des Bodens gehörte den privilegierten Ständen, dem Adel und der Geistlichkeit. Die Bauern befanden sich in verschiedenem Abhängigkeitsverhältnis. Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es hier noch viele Leibeigene, die weniger dem Adel, als dem Domkapitel hörig waren. Ohne Zweifel war die soziale Struktur der Bevölkerung in Paderborn ungesund. Bei einigen wenigen überreichen Familien gab es so gut wie keinen wohlhabenden Mittelstand. Das ist um so bemerkenswerter, als zu dieser Zeit im sozialen Gefüge der begüterte Mittelstand in anderen deutschen Ländern anfing, ein bedeutender Faktor zu werden.
Die vier Hauptstädte (Paderborn, Warburg, Brakel, Borgentreich) waren eigentlich nur große Dörfer. Paderborn selbst machte einen „unsauberen und leeren Eindruck“[10], seine 4700 Einwohner lebten in der Hauptsache von der Landwirtschaft; die Schweineställe und Misthaufen lagen an der Straße. Die in anderen Teilen Westfalens aufstrebende Weberei fehlte völlig. Der Handel war fast ausschließlich in den Händen der Juden. Die Verkehrsverhältnisse befanden sich in kläglichem Zustand. Viele Straßen konnten bei schlechtem Wetter nicht befahren werden. Die 23 Städte und 150 Dörfer des Bistums waren in 99 Pfarreien eingeteilt. Die Kirche besaß 22 Klöster und Stifte mit mehreren hundert Mönchen und Nonnen. Es bestanden 99 adlige Häuser.[11] Das ganze Gebiet war in 8 – 10 Archidiakonalkreise eingeteilt, die von je einem Domherrn beaufsichtigt wurden. Ihm zur Seite stand ein Archidiakonalkommissar, in dessen Händen die Verwaltung des Bezirkes lag.
Charakteristisch für die Verfassung des Fürstbistums war der ständische Aufbau des Staates. Der Landtag hatte schon eine Jahrhunderte lange Tradition. Er stellte eine Art Verbindung von Legislative und Exekutive dar, alle „wichtigen Angelegenheiten des Landes“ sollten nach der Verfassung von ihm entschieden werden.[12] Vertreten waren drei Stände: Domkapitel, Ritterschaft und die Bürgermeister der 23 Städte. Die Landgemeinden besaßen überhaupt keine Vertretung, die Inter-essen der Bauern sollten durch diejenigen Adligen, zu denen sie sich in einem Abhängig-keitsverhältnis befanden, wahrgenommen werden. Jeder Stand stimmte für sich ab. Da die beiden adligen Stände automatisch immer die Mehrheit hatten, wurde der Landtag zu einem Instrument des Adels. Die Einberufung des Landtages erfolgte durch den Fürsten; traten keine besonderen Ereignisse ein, so trat er einmal im Jahr zusammen. Den Vorsitz führte der Domdechant.[13]
Bei dieser Zusammensetzung der obersten staatlichen Institution nimmt es nicht wunder, dass die Lasten entsprechend verteilt waren. Während der Adel und die Geistlichkeit weitgehend Steuerfreiheit genossen, war der Großteil der Abgaben dem dritten Stande aufgebürdet. Die politischen Auswirkungen der Französischen Revolution waren in Paderborn viel geringer, als man wohl annehmen möchte. Die Bedeutung der Vorgänge von 1789 in Frankreich wurde von der Mehrzahl der Paderborner Zeitgenossen nicht richtig erkannt. Die unmittelbaren Wirkungen auf die Paderborner gipfelte in zwei Forderungen:
Das Domkapitel und die Ritterschaft sollen den 3. Stand nicht überstimmen können.
Die Steuerfreiheit des Adels und der Geistlichkeit muss aufhören, damit sich die Lasten des 3. Standes verringern.[14]
An der Spitze des Staates stand der Fürstbischof. Er wurde vom Domkapitel entweder aus den Reihen des geistlichen Adels des Landes oder aus den jüngeren Söhnen eines der großen regierenden Häuser auf Lebenszeit gewählt. Seine Residenz war das Schloss Neuhaus, nordwestlich von Paderborn gelegen. Seine Hofhaltung muss sich in bescheidenem Rahmen gehalten haben, was schon daraus ersichtlich ist, dass seine jährlichen Nettoeinnahmen sich nur auf 57 000 Reichstaler beliefen.[15] Am Hofe bestanden fünf Erbämter, die sich in der Hand von alten adligen Geschlechtern befanden.[16] Der Absolutismus hatte sich nie recht durchsetzen können. Vielleicht liegt eine der Ursachen dafür in dem Umstand, dass ein gewählter Fürst im allgemeinen nach anderen Maximen handelt als ein im Interesse seiner Familiendynastie denkender Herrscher. Noch ausschlaggebender dafür dürfte aber die Stellung der mächtigen Oligarchie der Domherren im Staat gewesen sein.
Das Domkapitel war beinahe gleich einflussreich wie die fürstliche Macht, da ja der Fürstbischof sogar weitgehend von ihm abhängig war. Das Domkapitel war die „eigentliche Quelle derSouveränität“.[17] Das Kollegium der Domherren oder Kanoniker bestand aus 24 Mitgliedern. Die beiden vornehmsten Prälaten waren der Dompropst und der Domdechant. Außer ihnen gab es 5 andere Würdenträger: den Domkämmerer, Domkantor, Domkellner, Domscholaster und den Domküster. Mit den Domherrnstellen versorgte der katholische reiche Adel seine jüngeren Söhne. Vorbedingung zur Erlangung einer Domherrnpfründe war seit dem 15. Jahrhundert ritterbürtiger Adel. Jeder Bewerber musste vor seiner Aufnahme einen Stammbaum von 16 Ahnen nachweisen. Selbstverständlich musste er in den geistlichen Stand eintreten, es kam aber in Paderborn vor, dass ein Bewerber vor seiner Aufnahme verheiratet gewesen war.[18] Außerdem musste eine Art Prüfung durchgemacht werden, der Bewerber durfte 6 Wochen lang den „Bering“ des Domes nicht verlassen, musste nachts in einer dunklen Zelle schlafen und durfte bei keiner Andacht fehlen.
Die Domherren hatten viele Rechte, aber fast keine Pflichten. Die meisten hatten außer ihren Pfründen in Paderborn noch weitere Präbenden in Münster, Hildesheim oder Osnabrück, viele lebten auf auswärtigen Besitzungen und trugen das Geld außer Landes. Die Einkünfte des Paderborner Domkapitels aus den ihm gehörenden Liegenschaften betrugen etwa 52 000 Taler im Jahr. Dazu kamen die Einnahmen aus Stiftungen und Benefizien, diese letzteren Gelder wurden an den fünf Kirchenfesten des Jahres unter die Domherren verteilt. Es erhielten aber nur diejenigen Kanoniker einen Anteil, die an den betreffenden Tagen am Gottesdienst teilgenommen hatten. Die Anteile der Fehlenden und der zu spät Erscheinenden wurde auf die Anwesenden aufgeteilt.
Die übrige Domgeistlichkeit, der clerus secondarius, bestand aus 6 Domvikaren, 6 Chorälen und 3 Küstern.[19] Außerdem gab es etwa 40 Benefiziaten, die ihre Pfründe bezogen, ohne dafür besondere Pflichten erfüllen zu müssen.
Die übrigen Pfarreien, die meist eine Reihe von Ortschaften umfassten, waren mit einem oder mehreren Weltgeistlichen, Pfarrern oder Kaplänen, besetzt. Während die Domherren reiche Einkünfte hatten – Pfründen von 3-4000 Talern im Jahr waren keine Seltenheit – ,waren die Pfarreien im allgemeinen schlecht dotiert; eine Pfarre mit einer jährlichen Geld- und Naturaleinnahme von 300 Reichstalern galt schon als gut.[20]
Die „Gesellschaft“ Paderborns bestand zu zwei Dritteln aus Geistlichen. Man führte ein ruhiges und beschauliches Leben. In diesen geistlichen Kreisen herrschte heitere und ungezwungene Geselligkeit, bei der Wein und gutes Essen nicht fehlen durften, Man traf sich an der Tafel des Fürstbischofs oder des Dompropstes, man besprach die neuesten Weltereignisse, oder man las des „Intelligenzblatt“, das 1772 in Paderborn zum erstenmal erschienen war. Trotz der allgemeinen Trägheit des Klerus und seiner weitgehenden Befangenheit in engstirniger Orthodoxie gab es weite Kreise, in denen ein freier und aufgeklärter Ton herrschte und mit wissenschaftlichem Interesse gearbeitet wurde. Man nahm am geistigen Leben Deutschlands teil und rechnete es sich in diesen geistlichen Kreisen zur Ehre an, ein Philosoph zu sein.
Die Rechtspflege war nach den meisten zeitgenössischen Urteilen in sehr schlechtem Zustand. Ganz besonders galt das für die Patrimonialgerichtsbarkeit, die in den Händen des Adels lag. Die Richter waren käuflich, bei Prozessen zogen Bürger und Bauern meistens den kürzeren, Winkeladvokaten und Notare bereicherten sich an den Bauern, die meistens nicht lesen konnten, auf schamlose Weise. Ein besonderer bischöflicher Beamter fungierte als Stellvertreter des Bischofs in Sachen Jurisdiktion: der Offizial. Er stand an der Spitze des Offizialatsgerichtes. In den Archidiakonalbezirken lag die geistliche Jurisdiktion den Kommissaren ob.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neben der Unterdrückung der Bauern und Bürger die Käuflichkeit der Verwaltung und Rechtspflege, die Willkürlichkeit in der Handhabung der Verfassung und die große Macht der Domherren die Hauptfehler in der Verfassung des Fürstbistums waren. Wir werden das in Folgendem immer wieder erkennen.
Aus der zeitgenössischen Literatur ist es nicht leicht, sich ein einigermaßen objektives Bild über die damaligen Verhältnisse in Paderborn zu machen. Die meisten Schriftsteller sind nicht ganz unbefangen. Sie ergreifen entweder für die streng klerikale oder für die aufgeklärte Richtung Partei. Soweit sie aus Paderborn selbst stammen, dürfte wohl auch ein bestimmter Lokalpatriotismus mitspielen. So läuft besonders Bessens Geschichte Paderborns im wesentlichen auf eine Verherrlichung der Fürstbischöfe hinaus. Auch Schücking sah die Verhältnisse recht positiv, wenn er schreibt: „So mangelhaft das ganze jetzt erscheinen mag, die Verhältnisse waren immer noch besser, als in sehr vielen der kleinen weltlichen Staaten ringsum…“[21]
Stellt man andere Urteile gegenüber, so möchte man Schückings Feststellung, dass „unter dem Krummstab gut leben war“ nicht unbedingt recht geben.
Nach der preußischen Besitzergreifung urteilte der Freiherr vom Stein folgendermaßen über Paderborn: „Die Menschen dieses Landes sind an intellektueller und sittlicher Bildung sehr zurück. Unwissenheit, grobe Schwelgerei ist hier herrschend, das Ganze wird durch den Einfluss einer verderbten adligen und bureaukratischen Oligarchie regiert.“[22]
Und die Meinung des preußischen Regierungspräsidenten von Kessler war nicht viel besser:
„Im Schoße Westfalens haben wir ein deutsches Irland, allein durch das Übermaß an gutsherrlichen Lasten, welche neben den Staats- und Gemeindeabgaben unerschwinglich sind, und so den Belasteten in dumpfer, bestialischer Indolenz erhalten.“[23]
Damit möchte ich die Schilderung der allgemeinen Verhältnisse in Paderborn, die mir zur Einführung in das Folgende notwendig erschienen, abschließen. Da die Darstellung sich auf das Notwendigste beschränken musste, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
II. Jugend und Studium
Der Mensch wird entscheidend in seiner Jugend geprägt. Frühe Eindrücke und Erfahrungen bleiben das ganze Leben lang haften. Sie bestimmen den Lebensweg des Jünglings und Mannes. So ist es auch hier. Beckers Tagebücher und Briefe, die Aufzeichnungen von Verwandten und Freunden geben hiervon Zeugnis.
Ferdinand Becker wurde am 12.November 1740 in Grevenstein in Westfalen geboren. Eine lange Reihe seiner Vorfahren waren dort Bürgermeister[24], sein Vater bekleidete dazu noch das Amt des Schulmeisters. Die Mutter erzog ihre fünf Söhne streng im katholischen Glauben. Mindestens dreimal am Tage betete sie mit ihren Söhnen den Rosenkranz. Becker schreibt darüber:
„Sie betete mit uns und fluchte auch dann und wann zwischendurch, wenn wir nicht andächtig genug dabei aussahen, oder unsere Arbeit dabei nicht nach ihrem Willen gut machten…“[25]
Ein Minoritenmönch, Buchardus mit Namen, erteilte dem Kinde in Grevenstein den ersten Unterricht. Seinen Vater, der doch Schulmeister war, erwähnt Becker eigentümlicherweise nie. Er scheint großes Zutrauen zu der Erziehungskunst des Mönches gehabt und sich selber um die Ausbildung seiner Söhne nicht gekümmert zu haben. Bei dem Unterricht des Buchardus hatte Becker eines der ersten entscheidenden Erlebnisse: Er musste zusehen, wie der Mönch einen jungen Menschen auspeitschte, der später nach häufigen Misshandlungen starb.[26]
Das Schicksal fasste das Kind bald hart an. Seine Eltern verloren ihr Vermögen, der kleine Ferdinand musste das Elternhaus verlassen. Da man seine hervorragenden geistigen Anlagen bald erkannt hatte, wurde er zum geistlichen Stand bestimmt. Bei diesem Entschluss wird der Umstand mitgesprochen haben, dass die Drostin von Schilder, die den Jungen nach dem Brand seines elterlichen Hauses eine Zeitlang erzogen hatte, ein Benefizium in Paderborn fundiert[27] und für ihn bestimmt hatte, falls er einmal Geistlicher werden sollte.[28]
In den untersten drei Klassen des Prämonstratenser-Gymnasiums in Weddinghausen erhielt der Junge seinen ersten, sehr mäßigen lateinischen Unterricht. Die Klassiker lernte er überhaupt nicht kennen. Ein Bruder seiner Mutter, der Paderborner Dombenefiziat Ferdinand Tilmann, Erzieher bei dem Herrn von Landsberg, nahm den Knaben mit nach Paderborn und schickte ihn auf das Jesuitengymnasium. Bei den Jesuiten wurde damals das beste Latein gelehrt. Der Magister Unkraut, nach Beckers Urteil ein „bedeutender Schulmann und Erzieher“, führte ihn in die Welt der Klassiker ein, er lernte Ovid, Virgil und Cicero kennen. Die „unverständliche Grammatik undunsinnige Syntax“, die er bei den Prämonstratensern gelernt hatte, musste er jetzt vergessen. Außer
der lateinischen Sprache lernten sie aber bei den Jesuiten nichts, denn „deutsch zu lernen war vor Gottscheds Zeiten eine Schande“.[29]
Weit wichtiger als die Schule war für die geistige Entwicklung des jungen Ferdinand die Begegnung mit einem bedeutenden Menschen. Der Herr von Landsberg nahm den begabten Knaben in seinem Hause auf und unterrichtete ihn selber in der lateinischen Sprache und Prosodie. „Auf jeden auffallenden Naturgegenstand musste ich einen lateinischen Vers machen“, berichtet Becker. Seine große Bibliothek stellte Landsberg dem Jungen zur Verfügung, der wissbegierig alles las.[30] Später denkt Becker oft in Dankbarkeit an seinen Gönner und war bemüht, sich ihn zum Vorbild zu nehmen.
In den Unruhen des Siebenjährigen Krieges musste Becker Paderborn verlassen. Er ging nach Arnsberg, wo er im dortigen Gymnasium wegen seiner inzwischen erworbenen Kenntnisse zum Präzeptor der vierten Klasse angestellt wurde. In den höheren Klassen studierte er zugleich Philosophie und Logik. Bei dem Hofrat von Arndts, einem „gelehrten Staatsmann“[31], nahm er eine Hauslehrerstelle für dessen Sohn Engelbert an. Der Hofrat fand Gefallen an dem jungen Mann und nahm sich seiner verständnisvoll an. An seiner Tafel, zu der Becker oft geladen wurde, lernte er sich in der Welt des Adels bewegen. Durch den Umgang mit dem Hausherrn weitete sich Beckers Horizont. Arndts ließ ihm viel Freiheit, sich das Fehlende auf geistigem und wissen-schaftlichem Gebiet anzueignen. In der reichhaltigen Bibliothek lernte er die großen deutschen Gelehrten und Dichter kennen. In den zwei Jahren im Hause Arndts entwickelte sich sein Geist frei aus der orthodoxen Enge der Klosterschule heraus.
In der Erziehungskunst machte Becker in Arnsberg seine ersten Versuche. Bei der Erziehung seines Zöglings verwandte er eine „leichte und angenehme Methode“, besonders kam ihm die Musik zustatten.[32] Diese Tätigkeit als Hauslehrer war von großem Einfluss auf seine Entwicklung, die Grundlagen seiner pädagogischen Neigung scheinen hier gelegt worden zu sein. Er erwarb sich später notwendige Erfahrungen. Seine didaktischen und methodischen Gedanken erinnern an die Badesows, Salzmanns, Campes und anderer Philanthropen, deren Wirken jedoch zeitlich wesentlich später liegt.[33] Becker hatte eigene Gedanken und verfolgte eigene Wege. Entgegen der ihm ungünstigen Darstellungen[34] war er nicht nur Eklektiker, sondern schöpferisch begabt und tätig. Aber auch schon jener Leitgedanke, der dann einmal sein ganzes Leben beherrschen sollte, der Gedanke einer allgemeinen Volksbildung, klingt hier an. Er suchte „jedem Bettelkinde, Hirten, Tagelöhner einen angemessenen Unterricht, so gut er’s vermochte“ zu geben.[35]
Als Becker die Stelle als Hauslehrer aufgeben musste, hatte er sich eine umfassende Bildung angeeignet. „Notiere alles, was du hörst und siehst. Und verwirf nichts, weil man nicht weiß, wozu man es noch einmal brauchen kann“, war sein Wahlspruch in dieser Periode. Der enzyklopädistischen Tendenz der Zeit entsprechend, zu der sein vielseitiges, weitgespanntes Interesse kam, entwickelte sich seine Bildung sehr in die Breite. Diese Vielseitigkeit bleibt auch später charakteristisch für ihn. Neben der Theologie, besonders der Exegese und Kirchengeschichte, brachte er es auf dem Gebiet der Pädagogik, der Musik, der Mathematik, der Astronomie, der Physik und der Philosophie zu einigen Kenntnissen und beachtlichen Leistungen. Doch soll nicht verkannt werden, dass diese Breite der Bildung auf manchen Gebieten einen Mangel an Nachhaltigkeit und Tiefe mit sich gebracht hat. Auf dem Jesuitenkollegium in Köln schloss Becker seine Studien ab. Die Vorlesungen bewegten sich dort in der Enge scholastischer Dogmatik.[36] Becker hatte aber insofern Glück, als er auf der Universität in das Seminar des Kanonikus Rensing aus Düsseldorf eintreten konnte, eines theologisch, juristisch und medizinisch gebildeten Jesuiten von großer Weltkenntnis. Dieser Mann, der inmitten der in Köln herrschenden „inquisitorischen Atmosphäre“ einer gemäßigten Aufklärung zuneigte, machte seine Studenten nicht nur mit den scholastischen Wissenschaften, sondern auch mit der Praxis des katholischen geistlichen bekannt. An viele seiner Ratschläge hat sich Becker später dankbar erinnert.[37] Durch diesen bedeutenden Lehrer, der an der Kölner Universität eine Ausnahme darstellte, bekam Becker zum erstenmal eine Vorstellung von der Stellung des katholischen Geistlichen in der Gemeinde. Er blieb frei von allem „Pastoratsdünkel“ und lernte „einfach und bescheiden seine Würde als Geistlicher“ zu erkennen.[38]
Im übrigen benutzte Becker die Studienzeit in Köln, um die verschiedensten abergläubischen Bräuche, die dort in hoher Blüte standen, kennen zu lernen. Der Aberglauben hatte sich in den geistlichen Gebieten im Volk in fast mittelalterlichen Formen erhalten. Becker nahm sich mit einem Studienfreund täglich eine Straße in Köln vor, um die ausgestellten Reliquien, die verschiedenen Ablasshändel, die „mirakulösen Bilder“ und dergl. zu untersuchen.[39] Becker wurde durch diese Missbräuche, die nicht im einzelnen geschildert werden können, derart abgeschreckt, dass er später ein erbitterter Feind jeder Art von Aberglauben geworden ist.
Zum Abschlussexamen lernte er die Moraltheologie des Minoritenpaters Sasserath auswendig, „weil ich wusste, dass man damit in jedem Examen gut bestehen konnte, denn er und sein Anhang fragten bloß aus diesem Buche.“[40] 1763 ordinierte er titulo patrimonii zum Diakon.[41]
III. Pfarrer in Hörste
Becker war 24 Jahre alt, als er seine erste Pfarrstelle antrat. Durch Vermittlung seines Onkels Tilmann erhielt er die Pfarrei Hörste im Fürstbistum Paderborn. In Paderborn wurde er zunächst noch einmal examiniert und erhielt auf sein Verlangen „facultatem legendi libros prohibitos“, d.h. die Erlaubnis, verbotene und ketzerische Bücher zu lesen.[42] In Hörste stellten sich ihm große Schwierigkeiten entgegen. Der Siebenjährige Krieg, der dem Lande ungeheuren Schaden zugefügt hatte, war gerade zu Ende gegangen. Durch einen gleichgültigen Vorgänger, der die Pfarrei 21 Jahre lang inne gehabt hatte, war alles in einen Zustand völliger Verwahrlosung geraten. Das Pfarrhaus war verfallen und leer, kein Stuhl befand sich darin. Überall regnete es durch. Ähnlich sah die Kirche aus: das Dach war abgedeckt, die Altäre verfault.[43] Die Pfarrei war eine der beschwerlichsten im ganzen Bistum. Sie bestand aus sieben Dörfern, die beiderseits der Lippe lagen. Im Frühjahr trat der Fluss über die Ufer und überschwemmte das Land. Die Dörfer ragten wie Inseln aus dem Wasser heraus.[44] Häufig blieben die Pferde im Sumpf stecken, der Pfarrer war dann gezwungen, zu Fuß durch das Wasser zu waten. Im Winter war stundenlanges Kriechen auf über Pfähle und auf Eis gelegte Bretter notwendig. Die Aufgabe war nur unter Einsatz der ganzen physischen Kraft zu erfüllen. Meist wurde der Pfarrer nachts zu den Kranken gerufen, weil die Bauern wegen der hohen Stolgebühren[45] immer bis zum letzten Augenblick warteten, bis sie den Pfarrer riefen. Manchmal wurde Becker auch zum Narren gehalten.[46]
Der Kulturzustand seiner Pfarrkinder, wie der Paderborner Landbevölkerung überhaupt, kann als fast mittelalterlich angesehen werden. Viele Bauern befanden sich in Leibeigenschaft. Der Paderborner Volkscharakter, der im Gegensatz zu dem kühlen und bedächtigen Münsterländer, heftig und lebhaft ist, äußerte sich einerseits in Hingabe an die Triebe und Leidenschaften, andererseits in Neigung zu Aberglauben und Bigotterie. Die allgemeine Armut des Volkes war groß. Die Männer und Frauen flüchteten sich aus dem Alltagselend zum Alkohol. Schon die Jugendlichen ergaben sich dem Branntweintrinken. Durch die schlechte Amtsführung von Beckers Vorgänger war die Bevölkerung verwildert. Becker entwirft in seinem Tagebuch ein sehr treffendes Bild dieser Zustände.[47]
Durch alle diese Schwierigkeiten ließ sich der junge Pfarrer aber nicht entmutigen. Mit großem Eifer und starkem Selbstvertrauen ging er an die Arbeit. Die Quelle seiner Kraft war die Idee der Volksbildung, die Verbreitung der Aufklärung, die ihn zutiefst erfasst hatte. So sah er seine seelsorgerische Aufgabe vor allem im Kampf gegen die Auswüchse des Aberglaubens, gegen die Hexen- und Gespensterfurcht.
Genährt wurde dieser Aberglaube durch die zahlreichen Mönche, die im Lande und auch in Beckers Pfarrei umherzogen und von der Wohltätigkeit der Bauern lebten. Sie suchten auf allerlei Weise, Kapital aus dem Aberglauben zu schlagen.
Beckers an sich nicht sehr starker Körper war den körperlichen Strapazen bei der Erfüllung seines Dienstes auf die Dauer nicht gewachsen. Er war aus gesundheitlichen Gründen häufig gezwungen, sich einen Franziskaner aus dem nahen Kloster Gesecke als Vertreter rufen zu lassen. Obwohl Becker ihm pro Tag einen halben Gulden zahlen musste, machten ihm die Mönche nur Schwierigkeiten, indem sie, anstatt Seelsorge zu treiben, bei den Bauern bettelten. Als sich Beckers materielle Lage etwas gefestigt hatte, nahm er sich einen jungen Weltgeistlichen als Gehilfen und verbot den Franziskanern kurzerhand das Betreten der Pfarrei. Er berief sich dabei auf eine alte Verordnung, derzufolge kein auswärtiger Mönch ohne Erlaubnis des Ortspfarrers betteln durfte.[48] Durch diese Maßnahme, zu der noch weitere Streitigkeiten mit dem Orden kamen, zog sich Becker den bitteren Hass des Franziskanerordens zu. In dem Konflikt mit dem Franziskanerorden hatte Becker an dem Fürstbischof Wilhelm Anton, der ihn besonders schätzte, einen starken Rückhalt. Die Franziskaner aber verfolgten Becker, wie wir sehen werden, zeitlebens und waren schließlich an seinem Sturz maßgeblich beteiligt.
Besser war das Verhältnis zu seinen benachbarten Pfarrbrüdern. Er fand unter ihnen einige, die ihm in Art und Gesinnung nahe standen. Mit einer Reihe von ihnen hatte sich Becker verabredet, den Mönchen die Kanzeln zu versagen.[49] Bei anderen fand Becker aber nur wenig Verständnis und Unterstützung. Der Bildungsstand war teilweise erschreckend niedrig. Da mit den Pfarreien vielfach landwirtschaftliche Güter zu bewirtschaften waren, fielen manche Pfarrer ganz in das Bauernleben zurück, aus dem sie meistens auch entstammten. Einer von Beckers Nachbarn besaß nicht einmal eine Bibel; er kam jedes Mal zu Becker nach Hörste, wenn er einen Text nachschlagen musste. Dabei zeigten sich gerade diese Pfarrer oft hochmütig und ignorant. Becker sagt darüber:
„Alle Geistlichen, die nicht mehr als Mönchstheologie gelernt haben, bleiben im Herzen stolz auf ihr königliches Priestertum, auf den vermeintlich unauslöschlichen Charakter, der ihrer Seele bei der Ordination eingedrückt sein soll, ebenso stolz, wenn nicht stolzer, als ein Edelmann von Geburt auf sein veredelt sein sollendes Geblüte groß tut.“[50]
Der Gegensatz innerhalb des katholischen Klerus zwischen Welt- und Klostergeistlichkeit, beides in einem weitesten Sinne verstanden, spiegelte gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in Paderborn, sondern in allen katholischen Ländern eine Rolle. Wenn dieser Gegensatz schon seit langer Zeit latent vorhanden war und nur bisweilen dann offen zutage trat, wenn er sich an irgendwelchen äußeren Anlässen manifestierte, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gegensatz über die äußeren Dinge viel tiefer geht. Im Grunde stehen sich hier zwei Welten gegenüber: Die scholastisch-mittelalterlich-kirchliche Ordnung der Welt auf der einen, und die neue, aufgeklärte Welt des menschlichen Geistes und der Wissenschaft auf der anderen Seite. Die gewaltige Zeitenwende bleibt auch auf die äußere Ordnung der Kirche nicht ohne Einfluss. Kein Zweifel, die besten und fortschrittlichsten Teile des Weltklerus hatten erkannt, dass es nur gelingen konnte, die katholische Kirche den Zeitverhältnissen entsprechend zu reformieren, wenn es zur Elimination aller mittelalterlichen Residuen kommen würde. Das Gebäude der Kirche schwankte unter dem Ansturm der neuen Ideen. Frankreich bot ein warnendes Beispiel. Noch war es in Deutschland vielleicht Zeit, durch Reformen von innen heraus dem drohenden Unheil zu entgehen. Becker gehörte zu denjenigen, die diese Entwicklung erkannt hatten, die fühlten, dass sie an der Schwelle einer neuen Zeit standen. Mit Wort und Tat wirkte er in seinem beschränkten Kreise im Sinne dieser Erkenntnis. „Wenn es zu Gewaltmaßnahmen der weltlichenStaaten kommt, wird man das Kind mit dem Bade ausschütten“, schrieb er 1798.[51]
In Paderborn trat der Streit zwischen dem Mönchstum und der fortschrittlichen Weltgeistlichkeit häufig bei geringfügigen Anlässen zutage. So hatten die Mönche z.B. Veränderungen der Gottesdienstordnung in ihren Kirchen vorgenommen. Dagegen wandte sich Becker und schrieb, dass „die Mönche den Pfarrgottesdienst zerstört und die Pfarrer selbst um ihre Gerechtsame gebracht haben.“[52]
Wenn Becker die Mönchsorden auch immer wieder angriff, so war es doch keineswegs so ungerecht, nicht auch ihre unbestreitbaren Verdienste anzuerkennen. Von den Franziskanern in Geseke sagte er, dass ihre Magister und Lektoren recht gut seien,[53] und über die wissenschaftlichen Leistungen gelehrter Jesuiten urteilte er immer voller Hochachtung. Doch entwickelte Becker sich im Laufe seines Lebens mehr und mehr zu einem grundsätzlichen Gegner der Idee des Mönchtums in seiner Zeit. Die historische Berechtigung und Bedeutung der Mönchsorden ließ er dagegen gelten.
Durch seine leutselige Art gelang es Becker bald, das Vertrauen seiner Gemeinde zu erwerben. Durch Ausschaltung der Mönche, durch Abschaffung unnützer Zeremonien und Prozessionen im Gottesdienst und stärkeres Einschalten der Predigt, durch Sorge für die Volksbildung, Anschaffen von Büchern auf eigene Kosten und andere Verbesserungen wurden die schlimmsten abergläubischen Bräuche allmählich abgestellt. Bei allen diesen Veränderungen holte Becker aber zuvor das Einverständnis des Fürstbischofs ein.[54] Allerdings musste Becker dem Volksgeschmack auch Zugeständnisse machen. In seiner Pfarrkirche in Hörste baute er einmal ein „Heiliges Grab“, um damit zu verhindern, dass „das Volk in der Karwoche in die Kirchen der Franziskaner läuft“. Es musste also ein Grab sein, wie „es die Mönche zur Schau stellten“, d.h. mit funkelnden Glaskugeln, bunten Lampen usw. Alle diese Gegenstände stellte Becker selbst her. Aber – „es war nicht weitdavon, dass die Figur des Lammes meine ernsthaften Anstalten nicht lächerlich gemacht hätte“, man hielt es nämlich für einen Esel.[55] Dazu verfasste Becker passende deutsche Lieder, die mit Orgelbegleitung gesungen wurden, „vermischt mit Betrachtungen und Vorbereitungen zum Osterfest.“ Der Erfolg war entsprechend, der Hass der Mönche, die die Gefährlichkeit der „Konkurrenz“ erkannten, wurde noch größer.
Als Becker glaubte, seine Pfarrkinder fest in der Hand zu haben, konnte er es wagen, das öffentliche Branntweintrinken zu verbieten. Das war um so schwieriger, als sein Vorgänger immer mit den Bauern gespielt und getrunken hatte. Bei den Prozessionen, die von Haus zu Haus gingen, war es üblich, sich in jedem Hause mit einem Glas Branntwein zu stärken. Nur den Chorsängern wurde fortan das Branntweintrinken gestattet, jedoch nur vor dem Singen in der Kirche, damit sie „ihre Stimmen geschmeidig machten“.[56] Die Sittenlosigkeit mancher Geistlicher erfüllte Becker mit Empörung. Auch ihm selbst als jungem Mann blieben Konflikte mit dem Zölibatsgesetz nicht erspart. Er spricht offen darüber:
„… denn mit den jungen Frauenzimmern an der Lippe, die die Natur als ein Meisterstück ihrer Kunst mit allem dem, was nur Reiz heißen kann, in vollem Maße ausgerüstet hat, in Freundschaft zu treten, ist für einen jungen Geistlichen eben nicht schwer. Ich kann es auch nicht leugnen, dass mir, der ich nicht zu den evangelischen Eunuchen gehöre, die vom Mutterleibe her verschnitten sind, das Zölibatsgesetz oft einen schweren Kampf verursacht hat.“[57]
Seine seelsorgerische Aufgabe, seine Arbeit und die mit ihr verbundenen körperlichen Anstreng-ungen, und nicht zuletzt das Studium der Wissenschaften, das er eifrig fortgesetzt hat, gaben ihm die Kraft, diese Sturm- und Drangperiode durchzustehen. Bisweilen wurde er in eines der umliegenden adligen Häuser eingeladen, wo er als angenehmer und unterhaltender Gesellschafter geschätzt wurde. Besonders beliebt machte ihn sein Harfenspiel, in dem er es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte.
Nach siebenjähriger Tätigkeit in Hörste war Becker den Anstrengungen des Dienstes nicht mehr gewachsen. Seine Gesundheit war zerrüttet. Er vertauschte seine Pfarrei mit einer Domvikarie in Paderborn. Der Fürstbischof Wilhelm Anton willigte nur ungern in diesen Tausch, denn er hatte Beckers Tüchtigkeit als Seelsorger und Volkslehrer erkannt und hätte ihn gerne auf der schwierigen Pfarrei Hörste gewusst. Die Pfarrkinder der Gemeinde bewiesen Becker ihre Dankbarkeit und Anhänglichkeit dadurch, dass sie ihn noch nach vielen Jahren in Paderborn besuchten, auch dann noch, als man ihn schon verfolgte.
IV. Domvikar in Paderborn
Niemand hätte etwas dabei gefunden, wenn Becker nun, dem Beispiel vieler Kollegen folgend, in Paderborn ein beschauliches und ruhiges Leben geführt hätte. Seine Einkünfte waren relativ hoch, aus seinen beiden Pfründen bezog er etwa 330 Reichstaler im Jahr,[58] ungerechnet die Einnahmen beim Lesen besonderer Messen, Andachten usw. Seine Pflichten waren als Domvikar, verglichen mit seinem Dienst in Hörste, minimal. Sie bestanden in der Hauptsache darin, dass er morgens in der Messe anwesend sein musste, um im Chor mitzusingen. Doch eine solche Sphäre des Müßiggangs war nichts für Becker. Sein reger Geist brauchte die Möglichkeit einer Betätigung. Wenn seine Gegner behaupteten, er habe seine Pfarre in Hörste verlassen, weil er keine Lust zur Seelsorge mehr gehabt habe,[59] so dürfte diese Behauptung schon durch seine Tätigkeit in Paderborn widerlegt sein. Nicht ganz unrecht hat vielleicht Rosenkranz,[60] wenn er meint, dass Becker „das bewegte Stadtleben mehr angezogen hat, als die Einsamkeit auf demLande.“ Er war kein Mann, der sich auf die Dauer mit einem so beengten Wirkungskreis zufrieden gegeben hätte. Er war auch kein Mann der Studierstube, sondern ihn verlangte danach, seine Erkenntnisse und sein Wissen anderen nutzbar zu machen. Insofern war er ein echter Sohn der Aufklärung, ein „Mitarbeiter an der Entwicklung der Menschheit zur Glückseligkeit.“
Die ihm jetzt reichlich zur Verfügung stehende freie Zeit benutzte Becker besonders zum Studium theologischer Schriftsteller. Er beschränkte sich dabei nicht auf die katholische Konfession, sondern las ebenso die Werke protestantischer Theologen und beschäftigte sich sogar, wie seine Aufzeichnungen erkennen lassen, mit chinesischen und indischen Religions-lehren, besonders mit der Gestalt des Konfutse. Die herrschenden theologischen Anschauungen der katholischen Kirche unterzog er einer strengen, bisweilen radikalen Kritik. Es würde hier zu weit führen, Beckers theologische Anschauungen, die er in seinen Schriften verstreut nieder-geschrieben hat, im einzelnen zu untersuchen. Es sei nur das Wichtigste herausgehoben.
Mit der ganzen seiner Zeit eigenen rationalistischen Gründlichkeit und Umständlichkeit ging er daran, alle religiösen Fragen vor das Forum seines Verstandes zitieren. Nur das erkannte er als wahr an, was ihm die Natur bestätigte. Einziges Formalprinzip war für ihn die eigene Vernunft und Erfahrung. Sein Geist hatte sich aus der Enge der Scholastik frei gemacht, die alte Welt der kirchlichen Ordnung war in ihm zusammengebrochen: kann man es Becker verdenken, dass er in das andere Extrem verfiel, im Rationalismus ebenso einseitig wurde und unvollkommen blieb?
Was verstand Becker nun unter Religion? Er sagt es uns:
„Der Glaube an die moralische Welt, an Gott und an die Unsterblichkeit, das ist die einzig wahre Religion, die es gibt. Der Grund ihrer Wahrheit und unserer Gewissheit ist nicht, wie bei der Erkenntnis der Natur, die Anschauung der Dinge oder die auf anschauliche Erkenntnis der Gegenstände gebauten Schlüsse, sondern das moralische Gesetz in uns und der ernstliche Wille, ihm zu folgen.“[61]
In diesen Worten, die Becker in sein Tagebuch schrieb, spiegelt sich auch seine religiöse Grundanschauung. Auf einen einfachen Nenner gebracht, wird das Generalprinzip Tugend mit den beiden anderen Abstraktionen Gott und Unsterblichkeit in Verbindung gebracht. Damit sagt Becker im Grunde nichts anderes als Schiller, der mit seinem Glaube – Liebe –Hoffnung den Extrakt der Vernunft- und Naturreligion der Aufklärung schlechthin gibt.
Besonders kam es ihm auf die reine Lehre Jesu Christi an. Er versuchte, das Christentum in seiner ursprünglichen Gestalt zu erkennen, ohne alle menschlichen Zutaten und Verzerrungen. So ging er daran, das „mystisch-scholastisch-dogmatische Gestrüpp“ zu durchdringen, um zu der einen Offenbarung Gottes zu gelangen. Auf welchem Wege konnte das aber geschehen?
„Wenn wir also wahre Christen sein wollen, so müssen wir vorerst untersuchen, was Christus eigentlich gelehrt habe, und wie die ersten Christen seine Lehre verstanden haben. Dies können wir aber nicht anders erfahren, als durch eine unparteilisch geschriebene Kirchengeschichte und durch gelehrte Exegese der heiligen Bücher.“[62]
Kirchengeschichte und Exegese wurden seine theologischen Spezialgebiete. Wenn es darum ging, die „ursprüngliche Reinheit der Religion im Gegensatz zu den missgestaltetenscholastischenSchuldogmen wiederherzustellen“,[63] zitierte er besonders gern Johannes und Paulus, seine beiden Lieblingsapostel.
Die Gestalt Christi sah er ohne große Problematik. Christus war ganz einfach ein hervorragender Mensch, der nach einem vorbildlichen und guten Leben aus Liebe zu den Menschen in den Tod ging. „Er starb freimütig für die Wahrheit seiner beglückenden Lehre.“[64] Gelegentlich sah er Christus sogar als eine Art „Aufklärer“ an, dessen „aufhellende Lehren ihn ums Leben brachten“.[65] In späterer Zeit fühlte sich Becker ihm dadurch, dass man ihn verfolgte, weil er die reine Lehre Jesu vertrat, in besonderer Weise verbunden.
Im Hinblick auf die Offenbarung durch die Auerstehung Christi behalf er sich freilich mit einem Kompromiss, indem er die These aufstellte: „Die göttliche Offenbarung kann nie der Vernunftzuwider sein.“[66] Die Religion stammt von Gott, er hat sie den Menschen als vernünftigen Geschöpfen ins Herz gelegt. Niemals kann die Religion von Menschen geschaffen werden, sie können sie höchstens entsprechend der Eigenartigkeit ihres Verstandes, Charakters und ihrer Fähigkeiten verändern. Es scheint eine gewisse Inkonsequenz in Beckers denken zu liegen, wenn er nun weiter schließt: Also rührt auch Christus von Gott her, – ist er Gottes Sohn. In diesem Sinne erkannte er die Gottheit Christi an und wandte sich in Konsequenz dessen gegen den Vorwurf, ein Sozinianer zu sein.[67] Er bekannte sich ausdrücklich zu der Auffassung von Brentanos, der einer der „eifrigsten Verteidiger der Gottheit Christi unter den neueren Exegeten“ sei. Die vonBrentano’sche Bibelübersetzung hatte Becker bearbeitet und ein Realregister darüber herausgegeben für alle diejenigen, die sich keine eigene Bibel anschaffen konnten.
In der Kirchengeschichte setzte sich Becker ausführlich mit dem Anspruch des Papsttums auf die Vorherrschaft innerhalb der christlichen Kirche auseinander. In scharfen Formulierungen wandte er sich gegen die katholische Kirchenhierarchie und stellte ihr das Urchristentum gegenüber. In welchem Widerspruch manche kirchlichen Praktiken zur Lehre Christi standen, wies er u.a. am Beispiel der Heiligenverehrung nach:
„…denn es ist gegen meine Grundsätze, einen verstorbenen Menschen für heilig, d.h. für vollkommen zu halten. Gott allein ist heilig.“[68]
Ausführlich setzte sich Becker mit den Stiftern der Mönchsorden auseinander, vor allem mit Franz von Assisi. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, doch gipfelt seine Untersuchung in der Feststellung, dass sowohl Franz als auch die anderen Ordensstifter die Lehre Jesu nicht richtig verstanden haben. Bei allen geschichtlichen Untersuchungen Beckers machte sich aber deutlich ein Mangel an historischem Verständnis bemerkbar. Es fehlt ihm das Einfühlungsvermögen in andere geschichtliche Epochen. Mit einer gewissen Oberflächlichkeit legte er meistens die Maßstäbe seiner eigenen Zeit an.
Es ist auffällig, dass Beckers Anschauungen in vielem dem Protestantismus sehr nahe kamen. Und tatsächlich hat Becker mehrfach ausgesprochen, dass er Luther und Calvin nicht verdammen würde, dass sie die „Religion Christi nicht verdarben, sondern wieder auf den ursprünglichen alten Fuß setzen wollten.“[69] Huss bezeichnete er an der Tafel des Dompropstes öffentlich als einen „frommen, echten undeifrigen Katholiken.“[70] Becker lehnte sich auch an protestantische Theologen, wie Semmler, Henke, Badesow u.a. an, und doch spürt man immer eine trennende Kluft zwischen ihm und dem Protestantismus, bis zum Ende seines Lebens legte er trotz aller Gegensätze zu der Lehre der Kirche Wert darauf, Katholik zu sein:
„Die wahre katholische Religion, die da lehrt, man solle keinen beleidigen, sondern jedem Gutes tun, wo man kann, verehre ich und wünsche als ein würdiges Mitglied derselben zu sterben.“[71]
Und damit kommen wir zu dem, was in Beckers religiöser Überzeugung die zentrale Stellung einnimmt: Gutes tun! Die tätige Liebe, das praktische Christentum ist der Kern seines Wesens, ist die Kraft, die sein Leben beherrschte, und nach der er handelte. Auch in der Gestalt Jesu stellte er diese tätige Liebe für den Nächsten über alles:
„…denn in Christus gibt es nichts, als den Glauben, der durch die Liebe tätig ist.“[72]
Bei aller menschlichen und durch die Zeit bedingten Unzulänglichkeit und Beschränktheit erreicht Beckers Lehre hier zeitlose Bedeutung. In seiner praktischen Religionsausübung wird echte menschliche Größe offenbar. Zahlreiche Äußerungen zeugen von dieser Haltung:
„Ich betrachte die Religion nicht anders als eine Herzenssache, welche ich aus der sittlichen Handlungsweise eines Menschen erkenne.“[73]
„Ich habe auf das scholastische Christentum nichts, auf das dogmatische wenig, und auf das praktische alles gehalten.“[75]
In diesen Jahren war Becker auch als pädagogischer Schriftsteller tätig.[76] Es entstanden folgende drei Schriften:
Sammlungen merkwürdiger Meinungen und Handlungen aus der Religionsgeschichte, mit dem Motto: Prüfet alles, das Gute behaltet![77]
Über Gregor VII. und Franz von Assisi, zwei Beiträge zur Würdigung dieser Männer.[78]
Vorschrift für Seelsorger über die anständige Verwaltung der Sakramente, in specie der Beichte und des Abendmahls. Paderborn, Junfermann o.J.
Ferner übersetzte er mehrere Bücher, deren Titel allerdings nirgendwo angegeben sind, ins Deutsche, um dem Mangel an Büchern in der katholischen Bevölkerung beheben zu helfen.
Becker scheute sich nicht, seine religiösen Überzeugungen öffentlich bei allen möglichen Gelegenheiten zum Ausdruck zu bringen. Auch in der Praxis ging er gegen eklatante Missbräuche, z.B. im Gottesdienst, vor: Nach Beendigung der Messe wurde von einem der Seitenaltäre des Paderborner Domes der Segen erteilt, wobei der Priester mit der Monstranz die Figur des Kreuzes beschrieb. Beim Zurückbringen der Monstranz zum Hochaltar musste der Segen wiederholt werden, wenn sich ein Domherr im Dom befand. Anderenfalls unterblieb die Wiederholung. „Da muss also der liebe Gott vor einem Paderborner Domherrn sein Kompliment machen“, stellte Becker fest und ließ nicht locker, bis der Domdechant diesen Missbrauch der Monstranz untersagte.[79] Dass sich Becker durch solches Verhalten unter der orthodoxen Geistlichkeit Paderborns viele Feinde machte, sollte sich bald herausstellen.
Schon während seines Studiums hatte die Pädagogik große Anziehungskraft auf Becker ausgeübt. Als Hauslehrer hatte er seine ersten Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. In seinem ersten Paderborner Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 stürmte nun eine pädagogische Welle über Deutschland hin. Sie wurde ausgelöst durch das Auftreten Basedows, Campes, Salzmanns u.a.[80], nachdem sie schon durch Rousseaus „Emile (ou de l´Education)“ vorbereitet worden war. Becker wurde von dieser neuen Bewegung tief erfasst. Durch die nun in schneller Folge erscheinenden erzieherischen Werke wurde er in eine wahre Begeisterung versetzt, hatte er doch in seinen pädagogischen Gedanken selbst schon ähnliche Wege eingeschlagen. Es lag an und für sich schon im Wesen der Aufklärung, alle Welt zur Glückseligkeit und Tugendhaftigkeit führen zu wollen. Einer der charakteristischen Züge des Jahrzehnt war der Glaube an die Universalkraft des Erziehens.
Becker erprobte die Grundsätze Basedows in seiner Umgebung. Er modifizierte sie den lokalen Verhältnissen und seiner eigenen Erfahrung entsprechend. Einen Teil seiner Einkünfte verwandte er darauf, Bücher zu beschaffen. Viele Eltern schickten ihm ihre Kinder, deren Erziehung er sich mit großer Uneigennützigkeit widmete.[81] Oft sah man ihn in seiner Wohnung oder auf Spaziergängen in der Natur, in Begleitung von Kindern und Studenten.
Durch seine Bemühungen erwarb er sich bald die Liebe und Dankbarkeit der Eltern und die Anerkennung eines großen Teils der Paderborner Öffentlichkeit. Der Benefiziat Becker wurde eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt. Auch der ihm sonst nicht wohlgesinnte Rosenkranz kann nicht umhin, das festzustellen:
„Er gefiel durch seine gemütliche und feine Umgangsweise, worin der Priester gewöhnlich hinter dem Menschen zurücktrat, und die Ansichten von höherer Aufklärung, welche er mit einer gewissen Vorliebe in gesellschaftlichen Zirkeln geltend zu machen suchte, verschafften ihm ein Ansehen, wie es wenige seiner geistlichen Kollegen genossen.“[82]
Mit der Zeit bildete sich um ihn ein Kreis gleichgesinnter Geistlicher, Juristen, Ärzte und Offiziere. Mittags aß man im Weinhaus Allard, nachmittags traf man sich im Kaffeehaus am Wiesenteich. Dieses Lokal, in dem immer „vornehme, gelehrte und aufgeklärte Männerversammeltwaren“, nannte man in Paderborn die „Freiheitsinsel“. Bei den Franziskanern war sie „wie Sodom undGomorra verschrieen“.[83] Beckers Verhältnis zu den Franziskanern war durch die Vorgänge in Hörste ohnehin noch gespannt. Unter dem Schutze des ihm wohlwollenden Fürsten Wilhelm Anton lebte er aber unangefochten.
V. Archidiakonalkommissar
Es war nur eine Frage der Zeit, dass ein so über dem Durchschnitt der Geistlichen stehender Mann auch eine seinen Fähigkeiten entsprechende Wirkungsmöglichkeit erhielt. Der Dompropst Freiherr von Weichs, ein kluger, aufgeklärter, aber schon alter Prälat, ernannte den Vierzigjährigen zu seinem Archidiakonalkommissar.[84] Der Distrikt des Dompropstes umfasste außer der Stadt Paderborn die Pfarreien Hörste, Büren u.a. mit insgesamt rund 30 000 Menschen. Zu Beckers Aufgaben gehörte die Aufsicht über die Geistlichkeit und über das Vermögen der Kirchen und Pfarreien, die Leitung des Volksunterrichts und die geistliche Jurisdiktion.
Für Becker öffnete sich damit ein Wirkungskreis, der ganz seinen Neigungen entsprach. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Abschaffung der lateinischen und die Einführung deutscher Messgesänge. Diese Neuerung wurde auch in den Paderborner Stadtkirchen mit Beifall aufgenommen.[85] Becker selbst gab eine Sammlung deutscher Messgesänge heraus, die in Paderborn gedruckt und mehrfach aufgelegt wurden.
Auf dem Gebiet des Erziehungswesens hatte er jetzt viel größeren Spielraum. Er bemühte sich vor allem um die Landschulen, die sich in einem trostlosen Zustand befanden. Häufig unterrichtete er selbst, um den Lehrern ein Beispiel zu geben. Durch Unterricht der Lehrer versuchte er, ihnen die Grundzüge seiner neuen Methode beizubringen. Mit welcher Art von Lehrern er es in seinem Bezirk zu tun hatte, geht aus seinem Visitationsbericht hervor. Da heißt es:
„…alt, kann nicht schreiben und rechnen; … eine alte Witwe, kann nicht schreiben; …alt, trinkt, hat alle Achtung verloren, scheint zum Unterrichten nicht besonders fähig;…Vater und Sohn, beide trinken, wer von beiden zum Schullehrer bestimmt ist, unbekannt… usw.[86]
Da Bücher fast völlig fehlten, verfasste Becker ein Lesebuch für die Landjugend, ein Elementarbüchlein und eine Geschichtstabelle.[87] Anschauungsmaterial war unbekannt, die einzige Methode bestand im Vorsprechen des Lehrers und nachsprechen und Auswendiglernen der Kinder. Becker ließ Wandtafeln anfertigen, zeichnete Landkarten und sorgte für weitere Verbesserungen, die im einzelnen nicht aufgeführt werden sollen. Von seiner Wirksamkeit in dieser Zeit zeugt eine Schulverordnung, die Becker am 3.Dezember 1783 in seinem Bezirk erließ, um seinen pädago-gischen Maßnahmen den nötigen Nachdruck zu verleihen. Wir finden diese Verordnung in Weddingens Neuem Westfälischen Magazin von 1789 abgedruckt. Sie wurde beispielhaft für das ganze Bistum. Den recht lakonischen Inhalt kann man in drei Punkten zusammenfassen:
Alle Erwachsenen, die noch nicht lesen können, haben durch die Pfarrer und Schulmeister sofort Lesen und die wichtigsten Religionslehren zu lernen.
Vor der Heirat sind die Brautleute zu prüfen, ob sie fähig sind, Kinder zu erziehen.
Den Schulmeistern wird mit der Drohung der Entlassung (sub poena cassationis) befohlen, sofort Lesen, Schreiben und Rechnen in den vier Species zu lernen. Innerhalb von vier Wochen haben sie sich darin zu qualifizieren.
Die Verordnung schließt: „… solches zu jedermanns Wissenschaft gelange, soll gegenwärtiges in kleineren Ortschaften in der Früh- und Hochmesse, in großen Kirchspielen aber dreimal von der Kanzel publizieret werden.“
Unterschrift: Ferd.Becker. Com.arch.Praep.maj.
Dass Beckers Wirken auch über die Grenzen Paderborns hinaus bekannt wurde, beweist eine Zuschrift an das Westfälische Magazin über die „geistigen Strömungen und Persönlichkeiten in Paderborn.“[88] Darin wird nur eines einzigen guten Pädagogen „mit Ruhm“ gedacht: Ferdinand Becker. Weiter heißt es dann:
„Gedachter Commissarius Becker ist nicht nur ein Mann von vielen pädagogischen Kenntnissen, sondern auch von einem wirklich edlen Herzen; wendet erstere auf die uneigennützigste, beste Art zum Wohl seiner Mitbrüder an, und verbindet mit diesen vortrefflichen Eigenschaften des Geistes und des Herzens den ordentlichen Lebenswandel.“
In den weiteren Ausführungen wird darauf hingewiesen, dass Becker Lesebücher verfasst hat, dass er die Landschulmeister selbst unterrichtet und vor allem eine „den besonderen Bedürfnissen der Paderborner Landschulen entsprechende Lehrart“ habe, und dass er sich schließlich auch von Wider-stand und Undank nicht in seinen Bemühungen abschrecken lasse.
„Alles dies“, so schließt der Verfasser, „hat ihm nicht nur die Achtung und Liebe von Paderborns gut denkenden, einsichtsvollen Einwohnern zugezogen, sondern auch im Hochstift Münster und im Herzogtum Westphalen bey manchen rechtschaffenen Pfarrern, die ich selbst bei meiner Reise durch die Provinzen gesprochen habe, und die den Wunsch äußerten, dass sie Beckers Erziehungsart in ihrer Gemeinde einführen dürften, den größten Beyfall gefunden.“
Beckers tolerante Einstellung kam sehr deutlich in seinem Verhalten gegenüber den Juden zum Ausdruck. Die sehr starke jüdische Gemeinde in Paderborn lebte noch unter strengen Gesetzen. Kein Jude durfte mit einem Christen unter einem Dach wohnen, über einen Kirchhof gehen, freundschaftlichen Umgang mit Christen haben usw. Becker ließ alle diese Gesetze außer acht. Er ging in ihren Häusern aus und ein, aß und trank mit ihnen und unterrichtete die jüdischen Kinder genau so wie die christlichen.[89] Er macht dabei nie Versuche, sie zu bekehren, wie das „auf billigeArt in Paderborn zu geschehen pflegte.“ Den jüdischen Vorstehern lieh Becker Bücher „zum nützlichen Gebrauch in der Synagoge.“ Damit wollte er „die Toleranz der Religionen auch von dieser Seite her befördern.“[90]
Das völlige Einvernehmen, das zwischen Becker und dem Dompropst bestand, gab auch nach dem Tode des Fürsten Wilhelm Anton den zahlreichen Feinden Becker keine Möglichkeit, etwas gegen ihn zu unternehmen. 1786 kam er durch einen anderen Vorgang zu vielen Domherren in ein äußerst gespanntes Verhältnis, das später eine der Hauptursachen seiner Verfolgung werden sollte. Es handelt sich um die Wahl eines Koadjutors, der dem kränklichen Fürsten FriedrichWilhelm beigegeben werden sollte. Dabei bildeten sich zwei Parteien. Ein Teil der Domherren war für den Kurfürsten Max Franz von Köln, sie bildeten die Maxpartei. Die „FürstenbergischePartei“ bevorzugte den anderen Bewerber, den Domherrn Franz Egon von Fürstenberg.[91] Der Dompropst von Weichs und der Domdechant von Forstmeister gehörten der „Maxpartei“ an. Die Mehrzahl der Domherren stand auf der anderen Seite. Keine der beiden Parteien ließ es an Eifer und Intrigen fehlen, die andere zu sich herüber zu ziehen. Diese Bemühungen hatten insofern Erfolg, als der Domdechant zur Fürstenbergischen Partei überschwenkte. Der Dompropst dagegen blieb unbeirrbar bei seiner Meinung. Er äußerte Becker gegenüber einmal über den Domherrn und späteren Bischof von Fürstenberg: „… er ist ein gleichgültiges Faultier, welches sich um nichts bekümmert, es mag gehen, wie’s geht.“[92] Becker geriet in den Verdacht, dem Dompropst, auf den er bekanntermaßen großen Einfluss besaß, zu seiner Meinung gebracht oder ihn zum mindesten darin bestärkt zu haben, was ihm die Feindschaft vieler Domherren, besonders aber des Domdechanten einbrachte. Die beiden ersten Prälaten, die bis dahin Freunde gewesen waren, entzweiten sich durch diese Wahl auf Lebenszeit. Becker aber hatte von nun an unter den kleinlichen Schikanen des Domdechanten zu leiden, gegen die ihn wegen der eigentümlichen Kompetenzverhältnisse im Klerus der Dompropst nicht schützen konnte. Becker unterstand ihm nämlich nur in seiner Eigenschaft als Archidiakonalkommissar, während der Domdechant als Stellvertreter des Bischofs in den priesterlichen Funktionen in der Domkirche sein Vorgesetzter als Domvikar war.
Einmal belegte ihn Forstmeister mit 8 Reichstalern Strafe, weil er wegen der Visitation seines Bezirkes 8 Tage lang nicht an der Frühmesse teilgenommen hatte.[93] Das geschah zu Unrecht, denn den Archidiakonalkommissaren war vom Domkapitel „Chorfreiheit“ zugestanden worden, wenn sie in ihrem Amte beschäftigt waren. Der „notari chori“ hatte sie in solchen Fällen im Chornotaturbuch als in der Kirche anwesend zu notieren. Forstmeister, dem das Buch vorgelegt werden musste, strich Beckers Namen immer wieder aus. Becker rief daraufhin das Domkapitel an und erreichte, dass der Domdechant die Strafgelder zurückerstatten musste. Becker musste sich dagegen wegen „ungebührlicher Ausdrücke“ in seiner Klageschrift bei ihm entschuldigen, wobei „Se. Hochwürdige Excellenz furiös wie ein Puterhahn kollerte.“[94]
Wie schon erwähnt, mussten die Domherren an den fünf Kirchenfesten im Dom erscheinen, wenn sie die dafür ausgesetzte Stiftung erhalten wollten. Im Dom war eine besondere Uhr angebracht, auf der eine kleine Figur Trompete blies und eine Glocke schlug. Diese Uhr war 10 Minuten vorgestellt worden, damit die Domherren sich danach richten konnten, um bei der „Präsenz“, d.h. der Augenblick, an dem der Segen erteilt worden war und die Prozession begann, anwesend zu sein. Kamen sie nur eine Minute zu spät, so erhielten sie kein Geld, ihr Anteil wurde aufgeteilt. Um das zu verhindern, hatte Forstmeister nun befohlen, dass die Prozession nicht eher eröffnet werden durfte, bis der letzte Domherr aus seinem Hause herbeigerufen war. Die ganze Gemeinde und der Vikar, der mit der Monstranz in der Hand nach erteiltem Segen vor dem Altar stand, musste also warten, damit den Domherren ihr Verdienst nicht entging. Diese empörende Anordnung traf auf heftigen Widerstand des clerus secundarius, bei dem sich Becker zum Sprecher machte. Die Folge war, dass Forstmeister sie zurücknehmen musste.
Seiner Kuriosität wegen sei noch ein anderer Fall erwähnt, der die Feindschaft zwischen beiden Männern vertiefte. Im Hause des Domdechanten hatte ein junges Mädchen aus vornehmem Hause das Kochen gelernt. Anscheinend lernte sie aber auch noch anderes, denn eines Tages war sie schwanger. Der Fall wurde Stadtgespräch in Paderborn, so dass Becker als Kommissar des Domkirchspiels sie auf Anordnung des Dompropstes mit 40 Reichstalern Strafe belegte. Darüber war der Vater der „Exjungfer“[95], dessen Name nicht genannt wird, sehr erbost. Der Domdechant nahm sich darauf der Sache an und schickte aus seiner Tasche die 40 Taler mit einem beleidigenden Brief an den Dompropst, der darüber außer sich geriet. Auf Beckers Anraten revanchierte er sich dadurch, dass er durch seinen Schreiber dem Domdechanten eine Quittung über „richtig bezahlte H…strafe“ ausstellen ließ. „Dieser Gedanke munterte den alten und kränklichen Dompropst wieder auf und ward vollzogen. So paradierte also der Herr Domdechant nun im Bücherregister.“[96]
Dieser sann natürlich seinerseits auf Rache. Er versuchte, Becker zum Niederlegen des Kommissariats zu bringen, um den Dompropst damit zu treffen. Doch sollte es nicht dazu kommen, denn im Jahre 1788 starb der Dompropst von Weichs, Beckers Gönner. Sein Nachfolger Franz Arnold von Asseburg[97] entließ Becker und machte zu seinem Nachfolger im Kommissariat den Exjesuiten Hannemann, der in kurzer Zeit alle Maßnahmen Beckers in seinem Bezirk wieder rückgängig machte oder einschlafen ließ.
VI. Fürstlicher Schulkommissar
Durch seine Entlassung als Archidiakonalkommissar war Becker nun wieder auf seinen ursprünglichen kleinen Wirkungskreis beschränkt. Er nahm vermehrt seine Studien und seine schriftstellerische Tätigkeit auf. Ganz besonders beschäftigte er sich mit der Pädagogik.
In Paderborn bestand seit dem Mittelalter eine Domschule, einst die wichtigste Stätte mittelalterlicher Erziehung am Bischofssitz. Jetzt war sie völlig vernachlässigt und verfallen, von über 100 schulpflichtigen Kindern nahmen nur neun am Unterricht teil. Weil ihn diese Zustände besonders empörten, hatte Becker schon als Kommissar des Domkirchspiels versucht, auf diese Schule Einfluss zu nehmen. Sie unterstand jedoch der ausschließlichen Aufsicht des Domscholasters, der sich zwar nicht um sie kümmerte, aber auch nicht duldete, dass sich ein anderer ihrer annahm. Nach dem Tode dieses Domscholasters forderte sein Nachfolger, der Freiherr von Elverfeld, Becker auf, die Schule zu reformieren. Becker nahm an, in seinem Tagebuch beschrieb er diese etwa ein halbes Jahr dauernde Reformtätigkeit in allen Einzelheiten.[98] Seine Schilderung ist methodisch und didaktisch äußerst interessant, doch kann sie hier nicht ausführlich wiedergegeben werden.
Nachdem er den Dommagister, der sein Amt einst für 100 Dukaten erkauft hatte, aber außer Katechisieren und etwas Jesuitenlatein nichts gelernt hatte, abgesetzt hatte, unterrichtete er selbst. Es kam ihm darauf an, Lust und Liebe für die Schule bei den Kindern zu erwecken. Er vermied alle körperlichen Strafen. Ohne Anwendung von Zwang erreichte er es, dass sich die Anzahl der zum Unterricht erscheinenden Kinder von 9 auf über 90 erhöhte. Nach einiger Zeit verzichteten die Kinder freiwillig auf ihre nachmittäglichen Freistunden und kamen, anstatt auf den Spielplatz zu gehen, in seinen Unterricht. Sogar die Kleinen, die noch nicht schulpflichtig waren, kamen mit.
Mit seiner „leichten und spielenden Methode“ hatte Becker ausgezeichnete Erfolge. Doch scheint er, wie viele Pädagogen dieser Zeit, nicht ganz frei von der Überbewertung der Methode gewesen zu sein. In seinem Glauben an die Allmacht der Methode schrieb er utopische Bemerkungen wie diese in sein Tagebuch:
„Nach meiner Lehrmethode brauchen die Kinder kaum 5 Minuten täglich im Buchstabenlernen geübt zu werden.“[99]
Nach sechs Monaten hielt Becker ein öffentliches Examen der Domschule ab, zu dem alle einflussreichen Persönlichkeiten des Fürstbistums eingeladen wurden.[100] Das allgemeine Urteil über das Ergebnis der Prüfung war derart günstig, dass „alle, sogar die auf alles Neue in diesem Fache eifersüchtigen Exjesuiten, öffentlich oder gezwungen bekannten, ich habe meine Meisterstück gemacht.“[101]
Im Anschluss an das Examen führte Becker ein interessantes und bezeichnendes Experiment durch: Er legte dieselben „genealogischen, chronologischen, historischen und geographischenFragen“, die er seinen Schülern in der Prüfung gestellt hatte, einigen Kandidaten der Theologie vor, mit dem Ergebnis, dass kein einziger imstande war, sie zu lösen.[102]
Selbstverständlich hatte Becker auch den Religionsunterricht nach seinen eigenen Ideen umgestaltet. Er schaffte das geistlose Katechisieren ab und stellte Erzählungen aus dem Leben Jesu in den Mittelpunkt des Unterrichts.[103] Das gab seinen Feinden die Möglichkeit, ihn zu verdächtigen. Man behauptete, dass er die Trinität leugne, die Gottheit Christi nicht anerkenne, – kurz, dass er den Kindern ketzerische Lehren beibringe. Der Domscholaster wurde schließlich gegen ihn eingenommen und verklagte Becker als Ketzer bei Domkapitel. Die Klage wurde zwar abgewiesen, doch war Beckers Tätigkeit an der Domschule damit zu Ende.
Auf ähnliche Weise nahm sich Becker später der Armen-Mädchenschule und der Schule der Französischen Nonnen[104] an. Der Erziehung der jungen Mädchen, die damals sehr vernachlässigt wurde, legte Becker überhaupt große Bedeutung bei. „Von der Erziehung der jungen Mädchen hängt das Wohl und Wehe der Menschheit ab,“ schrieb er einmal.[105] Er dachte sich die Mädchenschulen als sog. Industrieschulen, der Unterricht sollte in ihnen mit handwerklichen Tätigkeiten verbunden werden. Ob Becker von Pestalozzis ähnlichen Bestrebungen etwas gehört hatte, lässt sich nicht feststellen, er erwähnt ich nie.[106] Wahrscheinlicher ist, dass Becker durch die in den österreich-ischen Ländern von Ferdinand Kindermann eingeführten Industrieschulen beeinflusst worden ist. In diesen Jahrzehnten lässt sich überhaupt manche Verbindung in pädagogischer Hinsicht zwischen Österreich, Bayern und Westfalen als den katholischen Hauptgebieten des Reiches feststellen.
Durch Sammlungen in der Stadt wurde das erforderliche Nähmaterial, Wolle, Spinngarn usw. beschafft. In einem „Industriegarten“ sollten die Mädchen die Kunst des Gartenbaus erlernen. Wenn Becker auch seine Vorhaben nicht alle durchsetzen konnte – dazu waren die Nonnen zu konservativ und unbeweglich – so erreichte er doch wesentliche Verbesserungen in der Art des Unterrichts. Bisher hatten sich über 100 Kinder in einem großen Raum befunden. Einzeln mussten sie vor einer der drei Nonnen, von denen jede in einem ringsum geschlossenen Stuhl saß, niederknien und ihre Lektion vorlesen. Währenddessen lasen und sprachen die anderen Mädchen laut, so dass das an der Reihe befindliche Kind kaum von der Lehrerin verstanden werden konnte.
Becker trennte den Raum in drei kleinere Abteilungen und bildete Klassen nach dem Alter der Kinder. Dann zeigte er den Nonnen, dass man nicht nur ein Kind, sondern 20 bis 30 gleichzeitig unterrichten kann.
Mit besonderer Sorgfalt nahm sich Becker der Erziehung seiner beiden Neffen an. Sein Neffe Carl Ferdinand Becker, später selbst ein bedeutender Erzieher und Schriftsteller,[107] hat in seiner Selbstbiographie[108] über den Unterricht bei dem Onkel berichtet. Zusammen mit seinem jüngeren Vetter Ferdinand Gottschalk Becker[109] ging er täglich zum Hause seines Onkels, der sie in allen Fächern unterrichtete: Die Erziehung durch den Onkel musste um so stärker auf die Knaben wirken, als der Unterricht, den sie auf dem Gymnasium genossen, ganz anderer Art war. Dort mussten sie den Katechismus des Canisius auswendig lernen, man stopfte ihr Gedächtnis mit Dingen voll, die sie nicht verstehen konnten. Stellten sie Fragen, so beantworteten sie die Lehrer – meist Exjesuiten oder in den niederen Klassen unter ihrem Einfluss stehende Weltgeistliche – entweder überhaupt nicht, oder machten leere Ausflüchte. Kritik und selbständiges Denken wurde nicht geduldet.
Wie verstand es Becker, die Knaben psychologisch richtig zu behandeln:
„Dann stieg der gute Alte in unsere Kinderwelt herab, redete unsere Sprache, reihete neue Kenntnisse an die schon vorhandenen, setzte durch eine reizende Darstellung die Phantasie in Schwung… Ohne mühsame Anstrengungen erweiterte sich das Gebiet unserer Kenntnisse. Ehrfurcht und kindliche Liebe fesselten uns an unseren Onkel. Was aus seinem Munde ausging, hatte für uns den Stempel der Wahrheit und der Heiligkeit. An unseren Spielen nahm er gern teil: er verstand es, auch in diesen unsere Kräfte zu entwickeln… Es war die Allgewalt der Wahrheit,die ihm zur Seite stand und die unwiderstehlich den Jüngling anzieht.“[110]
Ein neuer, starker Impuls zur Verbesserung des Schulwesens ging von der Tätigkeit des Ministers Franz von Fürstenberg in Münster aus. Dort war unter Overberg eine „Normalschule“ errichtet worden. Man verstand darunter eine Art Lehrerbildungsanstalt, in der Lehrer unter der Leitung eines Normallehrers ausgebildet bzw. fortgebildet wurden. Franz Egon war für diese pädagogischen Bestrebungen durch seinen Bruder, den Minister interessiert worden. 1797 beschloss der Paderborner Landtag eine Normalschule einzurichten. Der Minister von Fürstenberg schlug als Normallehrer einen Franziskaner aus Münster vor, den sowohl die Landstände, als auch der Fürstbischof aber ablehnten.[111] Seibertz behauptet, dass sie Becker für diesen Posten wegen seiner Verdienste um das Schulwesen und die Erziehung in Paderborn vorgeschlagen hätten. Nach der „Aktenmäßigen Darstellung“[112] ist Becker von einigen Domherren als Direktor für das Schulwesen in Vorschlag gebracht worden. Der Minister von Fürstenberg soll damit zufrieden gewesen sein und Becker in einer Unterredung versichert haben, dass sein Bruder (Franz Egon) ihn „von einer guten Seite kenne und ihm wohlgewogen sei.“[113]
Am 31. August 1788 wurde in Paderborn die „Verordnung für das Landschulwesen“ erlassen. Diese neue Schulordnung, die eine Weiterentwicklung von Beckers Schulverordnung von 1783 darstellte, hatte trotz ihres großen Umfangs manche Mängel. Besonders nachteilig war die zeitweilige Befreiung der Kinder vom Unterricht. Die Landjugend konnte sowohl im Sommer und Herbst bei der Ernte, als auch im Winter wegen Kälte der Schule fernbleiben. Becker stellte fest, dass die Kinder, dem Wortlaut der Verordnung nach, 10 bis 11 Monate im Jahr zu Hause bleiben konnten.[114]
Zum Normallehrer wurde vom Fürsten wider alles Erwarten nicht Becker, sondern der Franziskaner P. Felix Enshoff bestellt. Zur Überwachung der gesamten Schulreform wurde nach den Bestimmungen der Verordnung eine vierköpfige fürstliche Schulkommission eingesetzt. Zu ihren Mitgliedern wurden ernannt:
Der Generalvikar Dierna,
der Offizial Glesecker,
der Propst Wennecker und
Ferdinand
Zum Aufgabenbereich der Kommission sollten Visitationen und Prüfungen der Schulen, Einführung entsprechender Lehrbücher und die Überwachung des Normallehrers gehören.
Schon die erste Sitzung der Schulkommission, in der über die einzuführenden Schulbücher verhandelt wurde, ergab erhebliche Auseinandersetzungen. Enshoff wollte veraltete und unzweckmäßige Bücher einführen, die z.T. von Franziskanern verfassten Bücher wurden von Becker als „ein unsinniges Geschmiere, aus dem die Schulmeister keine fassliche Methode lernen können“ bezeichnet. Er schlug an ihrer Stelle als Lesebuch Rochows „Kinderfreund“ vor,[115] doch wurde dieses Werk von Enshoff als sozinianisch und ketzerisch verworfen. Becker bemerkt dazu in seinem Tagebuch:
„Gewiss hätten hundert Schulmeister darin eine herrliche Anleitung, aber kein einziger von denselben einen Sozianismus gefunden.“[116]
Becker stand mit seinen Widersprüchen gegen den Normallehrer nicht allein, doch setzte der Franziskaner jedem Einspruch der Kommissare entgegen: „Der Fürst will es so haben!“ Da jeder wusste, welch großen Einfluss dieser Mann beim Fürsten hatte – er hatte ohne Anmeldung jederzeit Zutritt zu ihm – schwiegen Beckers Kollegen aus Furcht, sich unbeliebt zu machen.[117]
Die Schulkommission hatte Prüfungen an den Schulen durchzuführen. Auch der Fürstbischof fand sich häufig dazu ein. Enshoff stellte bei derartigen Prüfungen so spitzfindige theologische Fragen an die Kinder, dass sogar der Fürst häufig unwillig eingriff und die Fragen erklärte.[118]Franz Egon scheinen gewisse Zweifel an den Fähigkeiten seines Normallehrers gekommen zu sein, denn als Becker einmal bei ihm zur Tafel geladen war, zog ihn der Fürst in ein Seitenkabinett, wo er eine längere Unterredung mit ihm hatte. Auf die Frage, wie es mit der Erfüllung des Schulreglements stehe, legte Becker ausführlich die Vernachlässigung und Nicht-ausführung der Verordnung dar. Franz Egon hörte ihn ruhig an, warf nur ab und zu „Ja, ja,der Enshoff“, oder „Ja, ja, der Propst Wennecker“ dazwischen – irgendein Ergebnis hatte diese Aussprache aber nicht.[119]
Das Grundübel des Lehrerstandes war schon damals die völlig unzureichende Bezahlung.[120] Um dem abzuhelfen und zugleich für die Lehrer einen Anreiz zu höherer Leistung zu bieten, sollten alle Schulmeister, welche die Normalschule mit Erfolg besucht hatten, eine Zulage erhalten. Bei der Bewerbung zum Normalschullehrgang hatten die Lehrer eine Art Führungszeugnis ihres Ortspfarrers über ihren Charakter und Lebenswandel, ihre Fähigkeiten und Leistungen vor-zulegen. Nach diesem Zeugnis entschied die Schulkommission über die Zulassung. Nach einiger Zeit legte Enshoff die Zeugnisse nicht mehr der Kommission vor, sondern nahm einfach alle Lehrer, die sich bewarben, auf. Das hatte seinen Grund darin, dass der Normallehrer außer seinem Gehalt für jeden Teilnehmer 2 Reichstaler erhielt. Sein Verdienst wurde also mit jedem, der eventuell abgewiesen wurde, geringer. Die Kommission bekam die Zeugnisse der Pfarrer daher erst beim Abgang der Lehrer aus der Normalschule zu sehen. Becker deckte dabei offensichtlichen Fälschungen der Führungszeugnisse durch Enshoff auf, der damit die Aufnahme völlig ungeeigneter Lehrer nachträglich rechtfertigen wollte. Aber auch diese Tatsache genügte nicht, den Normallehrer zu entfernen.[121]
Die Arbeit in der Schulkommission wurde mit der Zeit immer unerfreulicher für Becker. Er erkannte seine Überflüssigkeit als Kommissar und zog sich allmählich von dieser Tätigkeit zurück. Statt dessen erteilte er denjenigen Lehrern, die mit dem Unterricht des P.Enshoff nicht zufrieden waren und sich weiterbilden wollten, in seinem Hause privaten Unterricht.. Er stellte ihnen auch seine private Bibliothek zur Verfügung, aus der sie besonders gern die Texte von Basedow, Campe, Sailer und die von Brentano’sche Bibelübersetzung entliehen. Das Ausleihen dieser Bücher musste allerdings heimlich geschehen, weil sie als ketzerisch in Paderborn verworfen waren.[122]
Der Ruf Beckers als Pädagoge war zu dieser Zeit bereits weit über die Grenzen Paderborns hinaus gedrungen. So finden wir in den „Anmerkungen auf einer Reise von Straßburg an die Ostsee im Sommer 1791“ (vonSchreiber, Leipzig 1793/94) folgende Bemerkung:
„In den hiesigen Bürgerschulen scheint es etwas lichter zu werden, indem einige der hiesigen Geistlichen, unter denen sich besonders der Domvikar Becker durch hellen Kopf und redliche Tätigkeit sehr auszeichnet, richtige Begriffe und nützlichere Lehren in Umlauf zu bringen, und eine zweckmäßigere Methode als die bisherige einzuführen suchen. Der Segen des Himmels komme über deine Bemühungen, verkannter Edler! Und wenn du deine Hände an dem Dornengesträuche, welches du zu entwurzeln bemüht bist, wund ritzest! Von deinem Blute gedüngt wird der Boden schönere Früchte tragen.“[123]
Auch von Campe soll nach derselben Nummer der Nationalzeitung die Verdienste Beckers gewürdigt haben.[124] Doch scheint hier der Zeitung ein Irrtum unterlaufen zu sein. Campe hatte während eines Aufenthaltes in Paderborn einen sehr polemisch gehaltenen Artikel über die Stadt und ihre Bewohner geschrieben, der in Weddingens Magazin veröffentlicht worden war.[125] U.a. hatte er der Geistlichkeit Müßiggang und Ignoranz vorgeworfen. Darauf erschien eine Apologie in derselben Zeitschrift, in der Becker und drei andere Geistliche als Beweis des Gegenteils angeführt werden. Es heißt da:
„Herr Vicarius Becker ist zuverlässig ein Mann von vielen Kenntnissen, der für den Staat mehr tut, als beten und singen…“[126]
Wenn der Zustand der Paderborner Schulen nach Einführung der Normalschule und der fürstlichen Schulkommission genau so schlecht blieb wie vorher, so war das nicht die Schuld Beckers. Er hatte in der Schulkommission getan, was er tun konnte. Erst als er die Unmöglichkeit eingesehen hatte, sich bei der Lethargie seiner Kollegen gegen Enshoff durchsetzen zu können, hatte er sich zurückgezogen. Wenn er auch an den Sitzungen und Visitationen nicht mehr teilnahm, so arbeitete er doch weiter – immer von dem Gedanken an die Hebung der Volksbildung geleitet. So war es mit sein Verdienst, wenn sich die Landstände 1799 noch einmal der Schulreform annahmen und verlangten, dass der Normallehrer kein Ordensgeistlicher sein dürfe und dass er sich die modernen Methoden aneignen müsse.[127] Becker selbst hatte zu diesem Zeitpunkt Paderborn jedoch bereits verlassen müssen.
In Beckers letzte Periode fiel die Französische Revolution. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte er sie als erstes Anzeichen einer neuen Zeit zunächst begrüßt. Doch trifft die Ansicht späterer Darstellungen[128] keineswegs zu, dass er erst unter dem Eindruck der Französischen Revolution eine kritische und ablehnende Haltung gegenüber den Zuständen seiner Umgebung einge-nommen habe. So schreibt Schücking, dass Becker „durch die Französische Revolution mit antiklerikalen und antichristlichen Ideen infiziert“ worden sei und legt ihm Aussprüche, wie „Bonaparte sei der Messias“ und „Rom sei der Sitz des Aberglaubens und Luzifers“ in den Mund.[129] Und Rosenkranz führt aus:
„Becker wurde von ihren Ideen (Französische Revolution)aufs lebhafteste ergriffen. War er schon früher ein Anhänger der falschen Philosophie seines Jahrhunderts und dem Skeptizismus ergeben gewesen, so öffnete er jetzt, vom Geist der Zeit getrieben, kühner den Mund und sprach sich leider mit zu unbedachter Freimütigkeit über seine von den herkömmlichen Ansichten abweichenden Grundsätze…aus.“
Lesen wir in Beckers Aufzeichnungen nach, so ergibt sich ein anderes Bild. Er war keineswegs ein Freund der Revolution. Gewiss, er hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Er lernte aus den Ereignissen der Französischen Revolution, dass der Zusammenbruch der geistlichen Höfe und das Ende der Priesterherrschaft nicht mehr fern sein konnte. Er sah, dass das politische System, in dem er lebte, ein Anachronismus war, dass an seine Stelle etwas Neues treten musste. Es wurde ihm klar, dass eine entschiedene Verbesserung der unhaltbar gewordenen Verhältnisse des Volkes nun dann eintreten konnte, wenn die Unterdrückung durch den Adel und die geistliche Hierarchie ein Ende nehmen würde. So war Becker im Grunde seiner politischen Anschauungen Demokrat. Er war damit seiner Zeit weit voraus. Durchaus Idealist, verlor er doch nicht den Blick für die politischen Gegebenheiten und war auch keineswegs einseitig:
„Ich kenne die Mängel der demokratischen Verfassung ebenso wohl, als jene der aristokratischen und monarchischen. Ich wünsche nur, dass die Vorgesetzen in allen diesen Verfassungen rechtschaffene Männer seien und ihren Pflichten nachkommen möchten, so bin ich versichert, dass das Volk in allen diesen Verfassungen glücklich leben wird.“[130]
Im Zentrum seiner politischen Anschauung stand nicht das System, sondern immer der Mensch. Er hatte sich innerlich frei gemacht von dem Wust der Vorurteile seiner Zeit, von Devotion und Speichelleckerei. Nicht nach Stand und Herkunft, nicht nach äußerem Glanz beurteilte er die Menschen, sondern allein nach ihrer Gesinnung und nach ihrem inneren Wert.
Durch den weiteren Verlauf der revolutionären Ereignisse in Frankreich wurde Becker – hier ging es ihm wieder wie vielen seiner Zeitgenossen – tief enttäuscht. Er betrachtete die Vorgänge als Theologe vor allem von der religiösen Seite her und versuchte, sie von hier aus zu deuten. In den Auswüchsen der Französischen Revolution glaubte er, einen Beweis mangelnden Christen-tums sehen zu können. Wie könnten solche Grausamkeiten sonst unter Christenmenschen verübt werden? Haben nicht Jahrhunderte falsch angewandter christlicher Lehre im französischen Volk einen ungeheuren Hass gegen den Klerus angestaut? War nicht letzten Endes der Klerus schuld am Tode von Hunderttausenden in den blutigen Albigenser- und Hugenottenkriegen? Mit welcher Bitterkeit wandte sich Becker gegen die französische Geistlichkeit:
„Die Geistlichkeit hat ihre Pflicht nicht getan, sonst hätte sie dem Volk bessere Begriffe vom Christentum beigebracht.“[131]
Und welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser Erkenntnis? Becker zog sie klar für das Gebiet der Politik:
Nicht durch Anwendung von Gewalt, sondern durch Einsicht und Liebe zum Mitmenschen musste es im politischen Leben besser werden.
Und damit kam er nun auch von politischen Erwägungen und Betrachtungen zu demselben Resultat, das seine theologischen Untersuchungen ergeben hatten: zum praktischen Christentum.
Allen Auswirkungen der Revolution auf das Paderborner Volk, die allerdings nie ernsthafte Formen angenommen haben, trat er energisch entgegen.
„Den Pöbel, der gegen alles, was nur Adel und Geistlichkeit heißt, vorgehen wollte, habe ich mehr als einmal zur Räson gebracht…“[132]
Beckers politische Anschauungen, deren kurze Charakteristik hier eingefügt werden sollte, waren also alles andere, als umstürzlerisch und allgemeingefährlich. Für einen Geistlichen in einem Kirchenstaat mussten sie aber schließlich zum Konflikt mit dem herrschenden System führen.
VII. Verfahren gegen Becker
In diesen Jahren erschienen in der Nationalzeitung der Teutschen und in anderen Zeitschriften anonyme Beiträge, in denen die Zustände im Fürstbistum Paderborn, insbesondere auf dem Gebiet des Erziehungswesens, gegeißelt wurden. Man hielt Becker für den Verfasser dieser Zuschriften, weil man wusste, dass er einen Briefwechsel mit auswärtigen Gelehrten unterhielt, sich schriftstellerisch betätigte und zudem nie ein Hehl aus seiner aufgeklärten Einstellung gemacht hatte. Da in den Zeitungsnachrichten viele einflussreiche Domherren und sogar der Fürstbischof Franz Egon heftig angegriffen oder lächerlich gemacht wurden, richtete sich ihre Rachsucht gegen Becker. Doch verhinderte teils das Fehlen offener Handhaben, teils Furcht vor Beckers bedeutendem Anhang ein offenes Vorgehen. Becker hat später übrigens nachweisen können, dass er nicht der Verfasser dieser Zuschriften gewesen ist, er hat mehrfach Angebote, für auswärtige Zeitungen zu schreiben, abgelehnt.[133]
So hatte sich der Konfliktstoff seit Jahren angehäuft, es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis, durch eine scheinbar belanglose Kleinigkeit verursacht, ein offenes Vorgehen gegen ihn stattfinden würde. 1796 verklagte ihn der Kanonikus und spätere Offizial Schnur beim Fürsten, weil er den Schulmeistern „ketzerische und schädliche Bücher“ geliehen habe. Es handelt sich um Seilers Religion derUnmündigen und die Abendgespräche von Pastor Huber.[134] Schnur war wegen eines Streites um die Verzinsung einer Obligation auf Beckers Pfründe an der Kollegiatkirche im Bustorf schon seit langem Beckers Feind. Der Fürstbischof beauftragte auf diese Klage hin den Domdechanten von Forstmeister, Becker zur Rede zu stellen und, falls notwendig, einen Verweis zu erteilen.[135] Becker gelang es aber unschwer nachzuweisen, dass es sich bei den angeführten Büchern nicht um solche ketzerischen Inhalts gehandelt hatte, und die Sache war damit abgetan.
Becker fühlte sich noch immer sicher. In dem Bewusstsein, an der Schwelle einer neuen Zeit zustehen und in dem Gefühl der Verbundenheit mit Gleichgesinnten in Paderborn und darüber hinaus in ganz Deutschland unterschätzte er die Möglichkeiten seiner Gegner. Er vergaß, dass er als Geistlicher in einem kirchlichen Staate lebte. Zwei Jahre nach der ersten Anklage schritten sie zur Gewalt. Am 8. Juni 1798 gegen 22 Uhr erschien Assessor Hölscher in Begleitung eines Trupps Soldaten vor seinem Hause. Als auf wiederholtes Klopfen nicht gleich geöffnet wurde, erbrachen sie die Haustür und drangen in die Wohnung ein. Becker, der zunächst an einen Raubüberfall dachte, wollte sich mit einem Messer zur Wehr setzen, doch erkannte er hinter den Soldaten rechtzeitig den ihm bekannten Assessor. Er wurde verhaftet und von einem Unteroffizier und vier Mann in das Franziskanerkloster abgeführt. Seine Wohnung wurde versiegelt.[136] Man sperrte ihn in eine Zelle, nachdem ihm Hölscher vorher erklärt hatte, dass er auf Befehl des Fürsten ad exercitia geschickt würde.[137]
Der Verhaftung war, allerdings ohne dass Becker davon erfahren hatte, eine Klage des Exjesuiten Hannemann, Beckers Nachfolger im Amt des Archidiakonalkommissars, an den Domdechanten vorausgegangen. Als procurator sacri officii beschuldigte Hannemann Becker, in Gesellschaft von Domgeistlichen beim Kirchweihfest im Kloster Abdinghof ketzerische Reden geführt zu haben. Einige dieser Ketzereien wurden in der Klageschrift angeführt:
Jesus sei eines Zimmermanns Sohn gewesen,
Die Mönchsorden seien Ausgeburten der Schwärmerei und dergl. mehr. Außerdem wurden allgemeine Anschuldigungen gegen Becker erhoben:
Als Zeugen für diese Behauptungen wurden mehrere Geistliche angeführt, die alle Beckers Feinde waren.
Der Domdechant hatte aufgrund dieser Anklageschrift einige der angegebenen Zeugen summarisch vernommen und daraufhin die Klage dem Fürstbischof übergeben. Forstmeister hatte seinerseits die Bitte angefügt, der Fürst möchte das Religionsvergehen Beckers durch eine Kommission untersuchen lassen. Franz Egon setzte am 3. Juli eine Spezialkommission ein, die aus dem Offizial Schnur als Vorsitzenden und dem Assessor am Offizialgericht Hölscher und dem Lizentiaten Gronefeld als Beisitzern bestand. Schnur war Geistlicher, Hölscher und Gronefeld Laien. Diese Kommission war am 4. Juli zusammengetreten und hatte die Zeugen unter Eid vernommen, wobei sich nach ihrer Ansicht hinreichend belastendes Material ergeben hatte, um Becker verhaften zu lassen.
Becker war es bei der Verhaftung durch einen Zufall gelungen, unbemerkt einen Bleistift, sein Brevier und einige, meist schon beschriebene Blätter Papier zu sich zu stecken. Damit schrieb er in den nächsten Wochen seiner Gefangenschaft mit winzig kleinen Buchstaben, oft zwischen die Zeilen, sein Tagebuch. Diese Blätter sind im Original erhalten und liegen dem Folgenden zugrunde.[139]
Beckers Zelle lag im ersten Stock des Klosters in unmittelbarer Nähe der Uhr, die ihn durch ihr dröhnendes Schlagwerk immer wieder aufschreckte. Das Fenster ging auf den Klosterhof hinaus, der durch eine hohe Mauer von der Straße abgeschlossen war. Die Zelle lag so im inneren Winkel des Gebäudes, dass kein Windzug hereindringen konnte. Bei der großen Julihitze herrschte tagsüber Treibhaustemperatur darin. Die Zelle war möbliert mit einem Bett, das „halb verfault“ war, einem Tisch, zwei Stühlen, einem Pult und dem Nachtstuhl. Dieser war notwendig, weil Becker die Zelle nicht verlassen durfte. Da er nur selten geleert wurde, verbreitete er einen unerträglichen Geruch. Alles war derart verschmutzt, dass Becker, wie er schreibt, sein Nachtgeschirr mit aufgefangenem Regenwasser reinigen musste, was er aber erst konnte, als ihm die Fingernägel lang genug gewachsen waren. Die Zelle wurde nie gereinigt. Am 12. Juli vermerkte Becker, dass er sich freut, weil er zwei Gläser Wasser erhielt, um sich einmal „überher“ waschen zu können.
Sein Gesundheitszustand war stark geschwächt, er litt an Krämpfen und Koliken, besonders aber an Hämorrhoiden. Nach vier Wochen gab man ihm neue Beinkleider, weil die alten ihm „amLeibe verfault“ waren. Seine von der Nacht durchschwitzte Wäsche trocknete er im offenen Fenster. Ab und zu wusch er sein einziges Paar Strümpfe im Nachtgeschirr, in dem er Regen-wasser aufgefangen hatte. Um sich etwas Bewegung zu machen, versuchte Becker, „denHolzhacker und allerlei Sprünge und Tänze in Pantoffeln“. „Dies müsste Demoiselle Allard[140] sehen, dachte ich dabei, sie würde die pas besser machen, als ich.“ Um sich etwas aufzumuntern, pfiff oder summte er das Lied „Freut euch des Lebens.“
Aus der Klosterküche erhielt er lieblos zubereitetes, sehr fettes Essen, das seinem schwachen Magen nicht zuträglich war. Da er das Fleisch nicht beißen konnte, bewahrte er es unter seinem Bett solange auf, bis es durch Fäulnis mürbe geworden war. Dagegen fehlte ihm selten sein tägliches Glas „Schnapps“ oder Wein, das er sich auf eigene Kosten aus der Stadt holen ließ.
Während der ganzen Gefangenschaft wurde er nie verhört. Man hat ihm nicht einmal den Grund seines Arrestes bekannt gemacht. Es war Becker klar, dass es sich hier nicht um exercitiaspiritualia handeln konnte, denn es wurde ihm weder ein Pater spiritualis beigegeben, noch entsprechende Bücher zur Erbauung und Belehrung zur Verfügung gestellt. Auch ging den geistlichen Übungen keine Verhaftung durch Soldaten, sondern eine mündliche oder schriftliche Aufforderung des Vorgesetzten voran. Die geistlichen Übungen sollten keine Strafe, sondern ein Besserungsmittel sein. Es musste also mit seiner Haft eine andere Bewandtnis haben.
Nach einiger Zeit forderte man von ihm den Schlüssel zu seiner Wohnung und zu seinen Schränken. Kurz darauf wurde sein Haus vermietet, seine Sachen weggeschafft und seine Einkünfte gesperrt. Schließlich drangen Gerüchte zu ihm, dass man in Hildesheim in einem Kloster ein Gefängnis vorbereite, in das er überführt werden solle.[141] Aus allen diesen Anzeichen kam Becker zu dem Schluss, dass man entweder beabsichtige, ihn lebenslänglich einzukerkern oder seine Angelegenheit so lange verschleppen zu wollen, bis er unter den Entbehrungen der Gefangenschaft vor Entkräftung gestorben wäre. Inwieweit er mit dieser Vermutung recht gehabt hat, lässt sich nicht feststellen. Eine Unterredung mit dem Franziskaner-Provinzial Molkenbuhr,[142] dem einzigen Besuch, den er während seiner Gefangenschaft hatte, war jedenfalls geeignet, seinen Verdacht zu verstärken. Molkenbuhr war ein alter Bekannter Beckers, als Lektor im Kloster Gesecke war er Nachbar des Pfarrers von Hörste gewesen. Becker hat diese Unterredung wörtlich festgehalten, sie sei wegen ihres bezeichnendes Inhalts in den wichtigsten Teilen wiedergegeben:
Molkenbuhr:
Ich bedaure sehr, dass ich sie hier antreffe. Wie geht’s ihnen?
Becker:
Wie sie sehen, schlecht…. Was hat man gegen mich?
Molkenbuhr:
Ich kann es eigentlich nicht sagen, es werden doch Ursachen vorhanden sein. Man hat manchmal errares vircibiles.
Becker:
Ich weiß wohl, dass alle Menschen dem Irrtum unterworfen sind. Indessen glaube ich doch nicht, dass ich in grobe Irrtümer verwickelt sein sollte.
Molkenbuhr:
Wenn es aber doch plures dafür halten?
Becker:
Es kommt auf die Qualität der plures an. Wenn ich aber noch mehr gelehrte und rechtschaffene Männer dagegen stelle? – Warum behandelt man mich ärger, als einen Mörder und Straßenräuber, dem man doch zu sagen pflegt, warum er eingesperrt sei? Man behandelt mich gegen die Menschenrechte.
Molkenbuhr:
Ha, Menschenrechte! Man muss sich in den Willen Gottes fügen.
Becker:
Es kann der Wille Gottes nicht sein, dass Schurken und Ignoranten aus Bosheit einen ehrlichen Mann misshandeln. Der Domdechant handelt offenbar aus Passion gegen mich, und Hannemann aus Dummheit und Bosheit.
Molkenbuhr:
Von dem Herrn Domdechanten sollte ich das doch nicht vermuten. Was Hannemann anbetrifft – nun ja, er ist so ein Hannemann…
Becker:
Der Fürst hat mich ohne alle Ordnung durch Soldaten arretieren und ins Gefängnis werfen lassen.
Molkenbuhr:
Das ist eben nichts ungewöhnliches. Solches geschieht oft bei großen Herrn, ohne vorher eines Verbrechens überführt zu sein.
…
Sie treten ans Fenster, so dass sie das große Kruzifix im Hof vor sich sehen.
Becker:
Sagen sie mir, warum hat man den Herrn Jesus ans Kreuz genagelt?
Molkenbuhr:
Sie können sich doch nicht mit Christo vergleichen!
Becker:
Was die Ursache der Verfolgung betrifft, so findet sich doch viel ähnliches in meinem Schicksal. Er ward von der Hohen und Niederen Priesterschaft bis zum Tod verfolgt, weil er durch seine Wohltätigkeit ihre Habsucht beschämte und durch seine Lehre ihre Heuchelei bloßstellte. Ich habe nichts anderes gelehrt, als die reine Lehre Jesu. Dadurch habe ich es bei der Hohen und Niederen Priesterschaft verdorben. Die christlichen Pharisäer denken und handeln um kein Haar besser, als vormals die jüdischen. – Warum verhört man mich nicht?
Molkenbuhr:
Das wird noch geschehen.
Becker:
Wenn ich tot bin! Mein Leben kann bei diesem barbarischen Verfahren nicht mehr lange währen.
Molkenbuhr:
Was liegt daran? Ob sie etwas früher oder später sterben? Die Schuhmacher, Matrosen, Soldaten und Tagelöhner verkürzen sich auch ihr Leben durch Arbeit und Strapazen. Man muss sich nichts daraus machen, wenn es Gottes Wille ist.[143]
Becker glaubte nach dieser Unterredung, das Schlimmste befürchten zu müssen. Unter diesen Umständen war es verständlich, dass er an Flucht dachte. Er knüpfte versuchsweise die Betttücher aneinander, sie reichten aber nicht bis zum Boden. Auch musste er sich sagen, dass ihm die Kräfte fehlen würden, die Klostermauer zu übersteigen. So blieb ihm nur die Hoffnung auf Rettung von außen.. Um für alle Fälle gerüstet zu sein, blieb er oft bis gegen Morgen wach und angekleidet. Das Fenster ließ er nachts auf und stellte einen Stuhl davor. Doch es geschah nichts.
Mit zunehmendem Schwinden der Körperkräfte fiel er immer häufiger in Depressionen. Gelegentlich auftauchende Selbstmordgedanken wurden ebenso schnell wieder verworfen, da er sie nicht mit seiner religiösen und ethischen Einstellung in Einklang bringen konnte. Häufiger kamen Tage, an denen ihn seine Selbstbeherrschung verließ, an denen er „seiner Sinne nicht mehr mächtig“ war. Wenn er in solchen Augenblicken einen Menschen sah, und wenn es der
Guardian des Klosters war, so stieß er wilde Flüche aus, nannte den Domdechanten einen Schurken und rief alle Donnerwetter an, die „ganze Mönchstyrannei zu zerschmettern.“[144] Ja, er drohte, allen seinen Peinigern „das Messer in den Leib zu bohren.“ Becker hat seine Flüche alle sauber notiert und bemerkt dazu, dass er das Fluchen nicht „nach den Regeln gelernt“, sondern sich erst im Kerker „darauf geworfen“ habe.[145]
Währenddessen hatte man Becker in Paderborn nicht vergessen. Bereits am 28.Juni 1798 war in der „Nationalzeitung der Teutschen“[146] eine längere Notiz über seine Verhaftung erschienen, in der es abschließend hieß:
„Also wäre es möglich, dass man in Paderborn noch jetzt blos wegen Verschiedenheit der Meinungen einkerkerte?“
In einer weiteren Zeitungsnachricht[147] wurde an Franz Egon als Bischof und Reichsfürst appelliert, „offen zu Werke zu gehen, das Verfahren einer strengen Prüfung zu unterziehen und ein heimlich vorbereitetes Autodafé nicht zu dulden. Seine bekannte helle Denkungsart und der ihm eigene Scharfblick lässt das mit Sicherheit erwarten!“ Durch Freunde waren Becker diese Notizen in seine Zelle geschmuggelt worden. Er schöpfte aus ihnen wieder neue Hoffnung.
Beckers Bruder, der Kaufmann und Weinhändler Joseph Anton Becker, legte wenige Tage nach der Verhaftung Beckers Protest gegen das Inquisitionsverfahren und gegen die Personen der zur Untersuchung eingesetzten Kommissare beim Fürsten ein. Er erhielt keine Antwort und erhob daraufhin eine „Provokationsklage“ gegen den Domdechanten von Forstmeister beim Offizialgericht, die zum Zweck hatte, diesen zu veranlassen, den Denunzianten und die erhobenen Beschuldi-gungen gegen Becker anzugeben.[148] Das Offizialgericht, zu dessen Jurisdiktion der Fall Becker eigentlich gehört hätte, erließ an Forstmeister die Aufforderung, einen Bericht zu erstatten. Der Domdechant weigerte sich aber nicht nur, diesem Dekret nachzukommen, sondern beschwerte sich auch beim Fürstbischof über den Gerichtsbeschluss. Franz Egon erteilte darauf dem Offizialgericht einen Verweis und erklärte unter Hinweis auf ein Landesgesetz von 1779, dass die Berufung gegen die Entscheidung einer vom Fürsten eingesetzten Sonderbehörde nur an den Fürsten selbst, nicht aber an die ordentliche richterliche Instanz gerichtet werden könne.[149]
In einer Art von Sippenhaft ging der Fürstbischof gegen Beckers jüngeren Neffen FerdinandGottschalk Becker vor, der auf dem Seminar in Paderborn Theologie und Pädagogik studierte. Er wurde im Zusammenhang mit dem Fall seines Onkels verdächtigt und durch fürstliches Reskript vom 13.Oktober 1798 aus dem Seminar entlassen. Eine Entlassung ohne vorhergehende Warnung und ohne Angabe von Gründen widersprach den Statuten des Seminars. Um seine Handlungsweise nachträglich zu legalisieren, erließ Franz Egon später in einer neuen Seminarordnung einen besonderen Artikel:
„Art. 8. Von dem Gutbefinden des Bischofs soll es ebenfalls abhangen, ob er einen Seminaristen sine ulla forma juris, salvo tamen ipsius honore aus dem Seminarium entlassen will.“[150]
Der andere Neffe Beckers, Carl Ferdinand Becker, der inzwischen Professor am katholischen Gymnasium in Hildesheim geworden war, wandte sich ebenfalls mit einer Fürbitte für seinen Onkel an den Fürstbischof.[151] Als Antwort ließ man ihn wissen, dass er sich den Fall seines Onkels zur Warnung dienen lassen solle und dass es besser gewesen wäre, wenn ihn der Onkel nicht in seinem aufklärerischen Sinne erzogen hätte.
Während Becker im Gefängnis saß, versuchte man, seinen Fall gegen die aufgeklärten Kreise in Paderborn auszunutzen. Am Liboriusfest, einem der höchsten Kirchenfeste im Dom, an dem das Volk von weither nach Paderborn kam, hielt ein Franziskaner eine Predigt gegen den Verfall der Religion durch Aufklärung und Bücherlesen und rief:
„Ihr Freigeister, euer Apostel und Erbketzer sitzt da, (auf das Kloster, in dem Becker gefangen saß, deutend) und wird seinen verdienten Lohn erhalten. Ihr werdet ihn nicht mehr wiedersehen…“[152]
Durch solche Angriffe erreichte man aber das Gegenteil, Beckers Anhänger wurden erst recht auf den Plan gerufen. Anscheinend hatte man schon Anfang Juli seine Befreiung geplant. Am 6. Juli erhielt er einen Zettel von unbekannter Hand, in dem er von naher Hilfe benachrichtigt wurde.[153]
Becker bewahrte diesen Brief in seinen Beinkleidern auf, mit Bleistift hat er seine Antwort auf die Rückseite geschrieben:
„…keiner wird mich einer bösen Handlung überführen. Meine Seelen- und Körperkräfte nehmen täglich ab. …ich werde also dem Pharisäismus bald ein erwünschtes Opfer werden…“
Am 12.Juli erreichte ihn ein zweiter Brief. Das eng beschriebene, vergilbte Blatt trägt außen den Vermerk:
„…ohne Maske erscheine ich jetzt vor Ihnen. Ich bin Nonne und muss durch andere wirken… Sie sollen, Sie müssen gerettet werden, selbst meine eigene Freiheit soll mir nicht zu teuer sein… Für kurze Zeit noch ertragen Sie Ihre traurige Lage. Mir ist noch keine Handlung misslungen, und so bauen Sie fest auf die Versicherung einer Nonne, die Ihnen schwört: Despotie und Pfaffenwuth sollen ihren Zweck nicht erreichen, solange noch ein Funken Kraft glüht in Ihrer Freundin
Am Rande des Papiers findet sich von Beckers Hand folgende Bemerkung:
„13.Juli erhalten, mit Thränen benetzt!“
Ähnliche Eintragungen finden sich auch an den folgenden Tagen in seinem Tagebuch:
„…bei Berührung des Warschowitz’schen Briefes fließen Thränen…“[156]
„Wieviel Gutes würde sie Christus erwiesen haben, wenn sie ihn gekannt hätte, wo sie so edel gegen mich Unbekannten gesinnt ist. Hier ergoss sich mein wehmutsvolles Herz in Thränen…“[157]
Wollte man von diesen Sentimentalitäten auf eine besondere Charaktereigenschaft Beckers schließen, so würde man wahrscheinlich fehlgehen. Extremer Rationalismus auf der einen Seite – übersteigerte Sentimentalität auf der anderen kennzeichnen in ihrer Gegensätzlichkeit diese Übergangsperiode, die bei aller Betonung der „Natur“ etwas durchaus Unnatürliches, ja fast Krankhaftes hat. Die einseitige Verstandesherrschaft kompensierte sich in einem bisweilen konvulsiv hervorbrechenden Gefühl, in bewusster und gewollter Rührseligkeit. Die Korrespondenz der Baronin von Warschowitz mit Becker, die sich noch jahrelang fortsetzte, ist ein typisches Beispiel eines solchen schwärmerischen Verhältnisses mit Personen, die man niemals persönlich kennen gelernt hatte.[158] Man weinte über jeden Brief, den man erhielt, man brachte endlose Ergüsse zu Papier, ja, man verliebte sich sogar brieflich.
Becker sah nach diesen Mitteilungen zuversichtlich seiner Befreiung entgegen. Er wurde ruhiger und begann, das Markusevangelium auswendig zu lernen. Schon vor seiner Gefangenschaft hatte Becker eine Arbeit über dieses Evangelium begonnen, in der er den Versuch machen wollte, aus diesem Urevangelium die „Grundlehren des christlichen Glaubens“ zu formulieren.[159] Gelegentliche Äußerungen seines Wärters Joseph, wie: „Es wird wohl bald ein Ende haben!“ und dergl. bestärkten Becker in seiner Hoffnung. Mehr war aus Joseph aber nicht herauszubringen, obwohl sich Becker stundenlang mit diesem einzigen Menschen, mit dem er sprechen konnte, abgab. Er belehrte ihn über Napoleons Zug nach Ägypten; um eine Karte zeichnen zu können, besorgte Joseph Feder und Papier.
In der Nacht vom 25. auf den 26.Juli 1798 wurde Becker aus dem Gefängnis befreit. Über die Befreiung selbst liegen nur wenige Unterlagen vor. Es ist weder etwas über die Personen der Befreier, noch über ihre Gründe überliefert. Becker selber hat die Namen seiner Befreier nicht genannt, vermutlich, um sie nicht der Verfolgung auszusetzen. Er nennt sie „edeldenkende Menschenfreunde“. Den Verfassern der anderen Darstellungen der Befreiung werden sie nicht bekannt gewesen sein. Schücking spricht von „einer Anzahl junger Leute gleicher Sinnesart“,[160] Archenholz, Seibertz, Richter sprechen lediglich von „guten Freunden“.[161] Die Nonne vonWarschowitz scheint jedenfalls führenden Anteil an der Befreiung gehabt zu haben, wahrscheinlich war die Initiative dazu von ihr ausgegangen.[162]
Über die Durchführung der Befreiung erschienen bald nachher phantastische und verzerrte Berichte, der unsachlichste findet sich wohl bei Henke,[163] der Becker auch noch einen Abschiedsbrief zuschreibt, den dieser nie geschrieben hat. Schücking beschreibt die Flucht folgendermaßen:
„…Sie (die Freunde) veranstalteten in dem Franziskanerkloster ein Gastmahl und sorgten dabei, dass die guten Brüder samt und sonders so voll süßen Weines waren, dass man von ihrer nächtlichen Wachsamkeit nichts weiter zu befürchten hatte. Um Mitternacht wurde Becker auf einer hohen Leiter aus dem Bett geholt.“[164]
Becker selbst erzählt über den Hergang der Flucht nur, dass er so geschwächt war, dass ein starker Mann ihn beim Abstieg auf der Leiter halten und stützen musste. Nach dem Übersteigen der Klostermauer war er frei, doch galt es, möglichst schnell das Gebiet des Fürstbischofs von Paderborn zu verlassen. Die Flucht gelang unbemerkt. Noch in derselben Nacht überschritt Becker, von seinen Freunden geleitet, die Grenze und begab sich nach Brilon im kurkölnischenHerzogtum Westfalen. Im Hause des Peter Ulrich wurde er gastfreundlich aufgenommen.
VIII. Prozess gegen den Fürstbischof
In Brilon sollte Becker bald merken, dass er sich noch auf geistlichem Territorium befand. Man warnte ihn, vor die Stadttore zu gehen, weil die Mönche unter der Bevölkerung ausgestreut hatten, Gott würde die Stadt untergehen lassen, wenn der Magistrat den Ketzer nicht wegschaffe.[165] Auch bestand die Gefahr einer Auslieferung an Paderborn. Um dem zu entgehen, begab sich Becker unter den Schutz des aufgeklärten und menschenfreundlichen Fürsten vonWaldeck, in dessen Residenz Arolsen er fast sieben Jahre bleiben sollte.
Bereits von Brilon aus hatte Becker dem Domdechanten als seinem unmittelbaren Vorgesetzten geschrieben, die Gründe seiner Flucht und seinen Aufenthaltsort mitgeteilt und um eine gesetzliche Untersuchung der gegen ihn erhobenen Klage gebeten. Er erhielt keine Antwort. Im September 1798 wandte er sich daraufhin an den Fürsten selbst. Er bat ihn ebenfalls um Durchführung einer ordnungsgemäßen Untersuchung und erbot sich, unter der Bedingung frei in Paderborn wohnen zu können, nach dort zurückzukehren. Seine in ehrerbietigem Ton gehaltene Bittschrift endigte folgendermaßen:
„…Ich habe das Vorurteil allemal mehr für als wider mich, denn drei Landesfürsten waren mit mir zufrieden, das Publikum liebt mich – und, was die Hauptsache ist, ich tat meine Pflicht!“[166]
Beckers Bitte wurde durch ein fürstliches Reskript vom 19. Oktober 1798 abgelehnt und ihm befohlen, sich binnen 14 Tagen im Franziskanerkloster in Paderborn zu stellen, widrigenfalls eine öffentliche Ladung gegen ihn erfolge. Bei Nichterscheinen würde in contumaciam gegen den Beklagten verfahren. Die öffentliche Vorladung erfolgte wenige Wochen später im Arnsberger und Paderborner Intelligenzblatt. Becker erschien nicht, sondern wandte sich im Januar 1799 direkt an die gegen ihn eingesetzte Untersuchungskommission, von deren Existenz er erst durch das fürstliche Reskript erfahren hatte, und erbot sich erneut, sich unter Gewährung eines Freibriefs in Paderborn zu stellen. Vor allem wollte er von der Kommission die ihm zur Last gelegten Vergehen erfahren, um sich dagegen verteidigen zu können. In seinem Schreiben findet sich der Satz: „Bedenken sie, dass sie einen Geistlichen im Jahre 1799 richten!“[167] Die Antwort der Kommission, von Gronefeld unterzeichnet, war selbstverständlich ablehnend.
Am 1.Juni 1799 wurde in contumaciam der „größere Kirchenbann“ (excommunicatio major) gegen Becker verhängt. Das bedeutete Ausstoßung aus der kirchlichen Gemeinschaft, Verlust der geistlichen Würde und aller kirchlichen Ämter und Pfründen. Das Exkommunizierungsdekret wurde an den Türen des Doms und der Kollegiatkirche in Bustorf öffentlich angeschlagen. Man sollte annehmen, dass der Bann am Ende des 18.Jahrhunderts seine Wirkung verloren gehabt hätte, doch zeigte sich bald, dass das nicht einmal in dem überwiegend protestantischen Waldeck der Fall war. Eine Anzahl von Katholiken in Arolsen, das zum geistlichen Sprengel des Bischofs von Paderborn gehörte, begann Becker zu verfolgen. Unter Führung eines Kapuzinermönches, Marcellinus Rüde, der in Arolsen die Stelle des katholischen Geistlichen bekleidete, fassten sie den Plan, den Exkommunizierten zu misshandeln, wenn er die Kirche betreten sollte. An der kurkölnischen Grenze stellten sie Aufpasser auf, die Becker ergreifen und nach Paderborn abtransportieren sollten.[168]
Mit der Verhängung des Kirchenbanns musste Becker die Hoffnung, seine Angelegenheit in Paderborn regeln zu können, aufgeben. Er erhob infolgedessen schon im Juli 1799 die Klage beim Reichskammergericht in Wetzlar. Anfang Juli hatte er sich für einige Wochen nach Kassel begeben, vermutlich, um mit Hilfe erfahrener Juristen seine umfangreiche Klageschrift fertig zu stellen.
In einer für das damals schon in den letzten Zügen liegende Reichskammergericht unglaublich schnellen Zeit von nur 9 Tagen erfolgte ein vorläufiges Urteil,[169] dessen wesentlicher Inhalt war, dass der Fürst zur Abgabe eines „umständlichen Berichts“ aufgefordert wurde. Insbesondere sollte er darüber Rechenschaft ablegen, warum er den Fall Becker einer von ihm eingesetzten Spezialkommission und nicht der ordnungsgemäßen Gerichtsbarkeit des Offizialgerichts in Paderborn übertragen habe. Alle Maßnahmen gegen Becker, die einer Entscheidung des Reichskammergerichts vorgreifen würden, wurden dem Fürsten verboten. – Diese vorläufige Entscheidung wurde als durchaus günstig für Becker angesehen, der Fürst von Waldeck, der regen Anteil an seiner Sache nahm, gratulierte Becker am 16.August1799 zu seinem Erfolg.[170]
Am 14. September 1799 legte Franz Anton seinen Bericht über das gegen Becker geführte Verfahren beim Reichskammergericht vor.[171] Der sehr umfangreiche Bericht bestand aus 35 Paragraphen, als Anhang war ihm das Inquisitionsprotokoll beigefügt. Im wesentlichen ging es bei dem Bericht darum nachzuweisen, dass Becker ein gefährlicher und aufrührerischer Ketzer und der Fürstbischof daher befugt gewesen sei, gegen ihn wie gegen einen kriminellen Verbrecher einzuschreiten. Um diesen Beweis zu führen, hatte man alles gegen Becker irgendwie zu verwendende Material zusammengetragen. In § 18 der Anklageschrift hieß es:
„Unter den geistlichen Verbrechen ist doch wohl eins der größten, wenn ein katholischer Geistlicher und Priester
sich zur Rotte der jüdischen Pharisäer schlägt,
die Gottheit Christi in öffentlicher Gesellschaft leugnet,
ihn zum Zimmermanns Sohn machet,
die französische Religion anrühmt
und den Buonaparte für den Messias hält,
und somit sich den gegründeten Verdacht zuzieht, dass er sich zu der Klasse jener Menschen gesellet habe, welche die christliche Religion untergraben und eine bloße natürliche Religion einführen und nach ihrer Vernunft modeln wollen.“[172]
Im übrigen werden ihm die schon bekannten Vorwürfe gemacht, dass er mit Protestanten und Freigeistern im Briefwechsel stehe, protestantische Bücher (Herder, Campe, Henke u.a.) ausgeliehen, die Ordensstifter als Schwärmer bezeichnet habe usw. Im Inquisitionsprotokoll waren 19 Zeugen aufgeführt, die ihre Angaben unter Eid bestätigt hatten. Wie sich aus dem Bericht ergab, waren Beckers Bücher, Manuskripte, seine Korrespondenz von der Kommission nach der Beschlagnahme den Franziskanern übergeben worden, die darüber ein Gutachten ausgestellt hatten.[173] Damit hatte die Kommission unrechtmäßigen Gebrauch von dem beschlagnahmten Material gemacht. Später erwies sich diese Tatsache erneut, als der Franziskaner-Provinzial Molkenbuhr in seinen Streitschriften sich auf Einzelheiten in Beckers Schriften bezog.
Franz Egon erkannte in seinem Bericht die Kompetenz des Reichskammergerichtes als der höchsten weltlichen Instanz nicht an, sondern machte geltend, dass der Fall Becker als „geistliche Kriminalsache“ ausschließlich der kirchlichen Jurisdiktion unterliege. Er reichte daher seinen Bericht „unter feyerlichster Verwahrung von Meinen Bischöflichen und Meiner Kirche Gerechtsamen nicht im mindesten abzuweichen oder darin etwas zu vergeben…“[174] an das Reichskammergericht ein. Damit wurde freilich der Kern des ganzen Falles berührt, doch soll darauf unten näher eingegangen werden.
Dem Bericht waren als Anlagen die Aussagen des P. Guardians des Franziskanerklosters in Paderborn und des Becker im Gefängnis behandelnden Arztes Dr. Schmidt beigefügt, die besagten, dass Becker gut behandelt worden und nicht ernsthaft erkrankt sei.[175] Schließlich stellte Franz Egon fest:
„Wo sind nun die Nullitäten, deren sich mein Unterthan, ein räudiges Schaaf meiner christlichen Heerde, bey diesem Hochpreißlichen Kayserlichen Kammergerichte zu beschuldigen, sich erfrechet hat?“[176]
Becker erhielt die bischöfliche Anklageschrift und das Inquisitionsprotokoll zur Beantwortung zugestellt. Hierdurch erfuhr er, welche Vergehen ihm zur Last gelegt wurden und konnte sich entsprechend verteidigen. Er ließ durch seinen Anwalt, den Lizentiaten Flach, in einer ebenso umfangreichen, 16 Paragraphen enthaltenden Verteidigungsschrift auf die Anklagepunkte antworten.[177]
Die Zeugen betreffend machte er geltend, dass die Kommission grundsätzlich nur diejenigen vernommen habe, deren feindselige Einstellung Becker gegenüber von vorn herein bekannt war. Positive Aussagen seien bewusst nicht aufgenommen worden, und auch die übrigen seien aus dem Zusammenhang herausgerissen und verstümmelt. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen wurde bestritten, insbesondere die des Kronzeugen, eines in ganz Paderborn berüchtigten entlaufenen Mönches namens Spanke. Nach den kanonischen Gesetzen, so führte Beckers Anwalt aus, seien bei Beschuldigungen in Religionssachen immer zwei „unverwerfliche Zeugen“ notwendig. Die gegen Becker erhobenen Anwürfe waren aber nur von jeweils einem, noch dazu nicht immer einwandfreiem Zeugen bestätigt worden. Die 19 angeführten Zeugen hätten nämlich alle über verschiedene Tatbestände ausgesagt. – Die Kommissare Schnur und Hölscher perhorreszierte[178] Becker erneut, weil sie seine persönlichen Feinde seien.[179]
Außer dieser juristischen Verteidigung durch seinen Anwalt antwortete Becker selbst in zwei großen Verteidigungsschriften, die leider nicht mehr vorhanden sind,[180] vom theologischen Standpunkt aus auf die Vorwürfe in religiösen Dingen. Auch seine Schrift „Über die katholische Kirche“ hatte ursprünglich diesen Zweck. Er machte, seiner religiösen Einstellung entsprechen, kein Hehl aus seinen, von der orthodoxen Richtung abweichenden Ansichten, belegte seine Ausführungen aber immer aus der Bibel. Besonders hob er aber hervor, dass theologische Meinungsverschiedenheiten kein Grund für eine kriminelle Verfolgung sein könnten.
Mit der Anfechtung der Kompetenz des Reichskammergerichts durch den Fürstbischof war das Kernproblem des Verfahrens angeschnitten worden. Franz Egon hatte den Fall als eine rein kirchliche Rechtssache hingestellt, die unter die Jurisdiktion des Bischofs, bzw. im Berufungsfall des geistlichen Gerichts des Metropoliten in Mainz zu fallen hätte. Er führte für diese Ansicht an, dass die Anklagepunkte – Unglauben, Verbreitung falscher Lehren, Ketzerei – rein theologischer Art seien. Das Verfahren gegen Becker sei also völlig ordnungsgemäß durchgeführt worden und könne nur in Paderborn weitergeführt werden. Dagegen argumentierten Becker und sein Anwalt, dass die gewaltsame Inhaftierung, die menschenunwürdige Behandlung im Gefängnis, die unrechtmäßige Enteignung des Eigentums und die Forderung der Genugtuung für das erlittene Unrecht und den Schaden rein weltliche Streitpunkte, aber keine theologischen seien. Dafür sprach auch der Umstand, dass der Fürst eine Untersuchungskommission über Becker eingesetzt hatte, die aus zwei Laien und nur einem Geistlichen bestand. Nach Beckers Ansicht konnte also allein das Reichskammergericht für die Entscheidung seines Falles zuständig sein.
In diesem Sinne überreichte Beckers Anwalt am 16.September 1800 eine Vorstellung an das Reichskammergericht, die den Nachweis der alleinigen Zuständigkeit dieses Forums erbringen sollte. Beckers Forderungen wurden noch einmal zusammengefasst: Rückkehr nach Paderborn vor einem unparteiischen Gericht, Rückgabe seines Eigentums und seiner Einkünfte.
Noch während das Verfahren am Reichskammergericht lief, richtete Becker eine direkte Bittschrift an den Fürstbischof, in der er einen gütlichen Ausgleich anbot. Unter Bewilligung der oben angeführten Bedingungen sei er bereit, „die Hand zu einer gütlichen Aussöhnung zu bieten und sich seinem gnädigsten Landesherrn in die Arme zu werfen.“[181] Es ist anzunehmen, dass Becker, als er sich zu diesem Schritt entschloss, bereits von dem wenig aussichtsreichen Stand seines Prozesses überzeugt war. Wie zu erwarten, wurde diese Bittschrift nicht beantwortet.
Der Fürstbischof von Paderborn hatte aber nicht nur die Zuständigkeit des Reichskammer- gerichtes bestritten, sondern darüber hinaus – wohl um sicher zu gehen – den Sachbearbeiter des Becker’schen Falles perhorresziert.[182] Dieser Referent, der Freiherr von Schmidts, hatte das Dekret vom 7. August 1799 erlassen, woraus der Fürst wohl auf ein gewisses Wohlwollen Becker gegenüber schließen zu können glaubte. Das Wort eines Bischofs und Reichsfürsten wog anscheinend in Wetzlar so schwer, dass der Fall einem anderen Referenten übergeben wurde. Am 18. Januar 1801 erfolgte die endgültige Entscheidung des Reichskammergerichtes. Becker wurde abgewiesen und ihm anheim gestellt, sich mit seiner Klage an den Metropoliten von Mainz zu wenden. Das Gericht hatte sich auf den Standpunkt gestellt, dass seine Sache als rein theologischer Art anzusehen sei. Beckers Anspruch auf das von den Benefizien unabhängige Eigentum wurde aber ausdrücklich anerkannt. Falls der Fürstbischof es ihm nicht freiwillig überlassen würde, sollte „dem Implorenten der Recurs an das Reichskammergericht unbenommen“ bleiben.[183]
Mainz war schon im Ersten Koalitionskrieg von den Franzosen besetzt worden. Das erzbischöfliche Gericht hatte daher keinen festen Sitz. Abgesehen davon besaß Becker keine Mittel mehr, um seine Sache weiter zu verfolgen. Wenn er seinen Prozess beim Metropolitan-gericht nicht anhängig machte, so mag dabei wohl auch die geringe Aussicht, die für seine Sache dort bestand, mitgewirkt haben. Die Person des Erzbischofs Karl Joseph von Erthal, der als einer der zügellosesten dieser letzten geistlichen Fürsten geschildert wird,[184] ließ Becker wohl wenig Vertrauen zu seiner Entscheidung fassen. Sein in Paderborn beschlagnahmtes Eigentum wurde ihm trotz mehrfacher Aufforderung nicht zurückerstattet.[185] Becker musste seine Sache infolge völligen Fehlens finanzieller Mittel vorläufig auf sich beruhen lassen.
Beckers Lebensverhältnisse in Arolsen gestalteten sich inzwischen immer schwieriger. Sein Tagebuch gibt darüber Aufschluss. In der ersten Zeit waren ihm viele Spenden, oft von unbekannter Seite, zugegangen.[186] So finden wir am 10. Mai 1800 den Eintrag: „Coupon von 10Gulden erhalten, von Wem?“ Becker erhielt viel Besuch, der oft von außerhalb kam. Durchreisende unterbrachen ihre Fahrt, um ihn kennen zu lernen.[187] Häufig wurde er in der Stadt zum Essen geladen, auch vom Fürsten von Waldeck und von der Fürstin. Liest man Beckers Aufzeichnungen, so ist man erstaunt, welches Interesse ein Vorgang von relativ geringer allgemeiner Bedeutung wie dieser fand, während sich zur selben Zeit größte politische Umwälzungen vollzogen, während sich der Krieg am Rhein abspielte. Das Leben floss für breite Schichten des deutschen Bürger-tums beschaulich im steten Gleichmaß dahin. Wie gering war die Teilnahme dieser Kreise an den großen politischen Ereignissen! Man fühlte sich nicht als Teilnehmer, sondern gleichsam als „Beschauer des Welttheaters“. Die Auffassung Friedrichs des Großen, dass der Bürger nicht merken soll, wenn der König Krieg führt, hatte sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt und wirkte bis zu den Befreiungskriegen nach. Becker kommentierte das Weltgeschehen gelegentlich, ganz in diesem Sinne, in seinem Tagebuch zwischen persönlichen Notizen. So schrieb er im November 1800: „Révolution francaise – un corce la finira!“[188]
Allmählich wurde das allgemeine Interesse für seinen Fall aber geringer. Es finden folgende Eintragungen.
„Kein Feuer im Ofen… muss frieren wie ein Hund…bekam einen Schweinsknochen zu nagen und die zusammengesuchten Brocken von Schellfisch, während er und sie (seine Wirtsleute) noch einmal so große Portionen hatten.[189]
Der Kredit, den Becker in Erwartung einer großen Entschädigung durch den Fürstbischof bereitwillig bei allen Geschäftsleuten fand, wurde ihm nach dem verlorenen Prozess nicht mehr gewährt.
Das Aufsehen, das dieses Inquisitionsverfahren am Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in Westfalen, sondern in weiten Teilen Deutschlands machte, lässt sich aus der großen Zahl zeitgenössischer Schriften, die sich damit beschäftigten, ersehen. Man ergriff teils für, teils gegen Becker Partei. Diese Pasquillen-Literatur war natürlich sehr polemisch. Vieles davon ist verloren gegangen, bzw. war mir nicht zugänglich, doch lässt sich der Inhalt oft durch Bezugnahme an anderer Stelle rekonstruieren. Richter[190] gibt eine Zusammenstellung dieser Literatur, die hier folgen soll:
Mönchstyrannei in Paderborn, dem Friedenskongress in Rastatt vorgelegt. Frankfurt und Leipzig 1798. (Anonym)
Marcellin Molkenbuhr, Erste Antwort auf die vorgebliche Mönchstyrannei. Münster und Paderborn 1799
Erste Beantwortung der ersten Antwort des Paters M. Molkenstein, vor dem Richterstuhl der gesunden Vernunft gebracht von Bruder Bonizius… Von einem Wahrheitsfreunde. Münster und Paderborn 1800[191]
Gründliche Verteidigung der vom Benefiziaten Becker in seiner Druckschrift „Geschichte meiner Gefangenschaft“ angegriffenen und offenbar beleidigten Herren… von Hermannus N.N., Paderborn 1800
Vorläufige Zurechtweisung des Franziskanerprovinzials M.Molkenbuhr in betreff der von ihm verfassten Schrift „Antwort auf die vorgebliche Mönchstyrannei in Paderborn, von einem Wahrheitsfreunde. 1800
Marcellin Molkenbuhr, Zweite Antwort auf die vorgebliche Mönchstyrannei in Paderborn, Münster und Paderborn 1801
Gespräch zwischen einem Leutnant und einem Geistlichen in Paderborn über die gewaltsame Arretierung des Kommissärs und Benefiziaten Becker, von einem diePublizität und Wahrheit liebenden Domherrn. 1801
Marcellin Molkenbuhr, Dritte Antwort auf die vorgebliche Mönchstyrannei in Paderborn, 1802
Aktenmäßige Darstellung des wider Ferdinand Becker geführten Inquisitionsprozesses…, von einem Paderbornischen Rechtsgelehrten, Mengeringshausen 1802, 2 Bände[192]
Becker hatte 1799 die „Geschichte meiner Gefangenschaft“ geschrieben, die in Rudolstadt im selben Jahr erschien. Zu den verschiedenen Veröffentlichungen über seinen Fall hatte er in dem 136 Quartseiten umfassenden „Berichtigungen und Erläuterungen über die eingesandten Nachrichten“[193] Stellung genommen. Diese Schrift ist anscheinend nicht veröffentlicht worden, sie ist auch im Archiv nicht handschriftlich vorhanden. An der „Aktenmäßigen Darstellung…“ hatte Becker wahrscheinlich persönlichen Anteil, zumindest hat er seine Aufzeichnungen teilweise zur Verfügung gestellt. Unter seinen Papieren finden sich Abrechnungen des Verlegers F.C. Weigel aus Mengeringshausen bei Arolsen, sowie Subskriptionsverzeichnisse dieses Werkes. Er hat es auch in einigen Fällen an einflussreiche Persönlichkeiten verschenkt, von denen er sich Unterstützung erhoffte.
Beckers Sache sah noch völlig aussichtslos aus, als große politische Ereignisse eintraten, die seinem Fall eine plötzliche Wendung geben konnten. 1802 wurde Paderborn von Preußen besetzt. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 machte den meisten geistlichen Fürstenhäusern ein Ende. Außer Paderborn kam noch Münster an Preußen, während das kurkölnische Herzogtum Westfalen (Brilon, Arnsberg) an Hessen-Darmstadt fiel. Durch die Säkularisation war die Kirche arm geworden. Franz Egon wurde vom König von Preußen mit einer jährlichen Pension von 50 000 Reichstalern abgefunden. Die Eingliederung und Übernahme der neuen Gebiete wurde von Friedrich Wilhelm III. dem Minister von der Schulenburg übertragen, dem der Freiherr vom Stein beigegeben wurde. Schulenburg nahm seinen Sitz in Hildesheim. In Paderborn wurde eine Königlich-Preußische Zivilkommission eingesetzt, die preußische Regierung erhielt das Recht zur Säkularisierung aller geistlichen Güter. Doch blieb in der inneren Verwaltung vorerst alles beim alten.[194]
Becker hatte unter diesen neuen Verhältnissen wieder Hoffnung geschöpft. Er wandte sich an den Grafen von der Schulenburg, der ihn an die preußische Zivilkommission verwies. Durch seinen Rechtsanwalt, den Lizentiaten Stamm, machte Becker im Oktober 1802 eine Eingabe an die Kommission und bat um Revision seines Falles. Doch Becker wurde auch hier abgewiesen. Die Kommission schloss sich im wesentlichen dem Urteil des Reichskammergerichts von 1801 an. Da der Fall rein kirchendisziplinarischen Charakter trage, lehnte sie jede Einmischung ab. Becker wurde nahe gelegt, sich nach Paderborn zu begeben und sich dem Bischof zur Verurteilung zu stellen. Mit dieser Entscheidung gab sich Becker aber nicht zufrieden. Er erhob als letzten Versuch am 1. Januar 1805 Beschwerde gegen das gegen ihn geführte Verfahren beim König von Preußen. Warum er mit diesem Schritt solange gezögert hat, lässt sich aus seinen Aufzeichnungen nicht feststellen – vermutlich fehlten ihm die Geldmittel, die zu einer derartigen Rechtssache notwendig waren.
Durch den Großkanzler von Goldbeck wurde die Beschwerde dem König vorgetragen. FriedrichWilhelm befahl daraufhin durch Kabinettsordre vom 8. Mai 1805 die Wiederaufnahme des Verfahrens und beauftragte mit der Durchführung der Untersuchung das Regierungskollegium in Paderborn.[195] Es erschien den preußischen Behörden notwendig, dass Becker selbst bei der Untersuchung anwesend war. Es wurde ihm von der Regierung freies Geleit zugesagt. Am 30.Juni 1805 fuhr Becker nach Paderborn. Die preußischen Behörden waren korrekt und liebenswürdig gegen ihn, Becker stand unter ihrem Schutz, die kirchlichen Stellen konnten es nicht wagen, gegen ihn vorzugehen. Am 13. Juli wurde Becker dem preußischen Kammerpräsidenten von Vincke vorgestellt und hatte Gelegenheit, ihm seinen Fall ausführlich darstellen zu können.[196] Der Oberst von Quitzow und andere preußische Offiziere luden ihn zur Tafel.
Das Interesse, dass Becker bei der preußischen Regierung fand, erweckte auf der Gegenseite die Befürchtung, dass seine Sache eine überraschende Wendung nehmen könnte. Man suchte ihn daher durch List zum Verzicht auf seine Ansprüche zu bringen. Durch Mittelsmänner wurde Becker im Auftrag eines gewissen Fuxius gewarnt, den preußischen Versprechungen zu trauen und ihm geraten, sich freiwillig dem Bischof zu unterwerfen. Wenn er sich jetzt als wahrer Christ zeige, würde er alles wiedererhalten. Man ließ auch durchblicken, dass „bereits alles vom Offizial eingerichtet sei“ und fügte die Drohung an, dass die Paderborner ihm sonst feind sein würden.[197] Becker ließ sich aber nicht auf eine Unterwerfung ein, durch die er alle Rechtsansprüche aufgegeben hätte, sondern war entschlossen, seine Sache auf dem Rechtswege durchzufechten.
Am 4. September wurde der Fall Becker dem Dezernenten Regierungsrat Schwarz übertragen.[198] Das Urteil erfolgte am 22. September 1805 durch das Paderborner Regierungskollegium im Namen Friedrich Wilhelms III. Die Untersuchung scheint ohne eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden zu sein. Ohne eine ordentliche Gerichtsverhandlung wurde allein auf dem Verordnungsweg nach Prozessakten entschieden. Rosenkranz, der dieses Urteil „ein Beispiel einer auffallender Verletzung aller Rechtsformen“ nennt,[199] hat damit, was die Art seines Zustandekommens anbetrifft, recht. Das Urteil hatte folgenden Wortlaut:
„In Sachen des Domvicarius Ferdinand Becker zu Paderborn, Kläger wider den fiscus ecclesiasticus Beklagten,
erkennen Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen den Akten gemäß für Recht:
dass das unterm 8ten Junii 1798 wider den Kläger wegen angeblicher Ketzerei und Vorbereitung irriger Religions-Grundsätze eingeleitete peinliche Verfahren, sowie das am 1ten Juni 1799 eröffnete wider den Kläger den größeren Kirchenbann verhängende Contumacial Erkenntniß als null und nichtig aufzuheben, der Kläger in Gefolge dessen in den Besitz seiner geistlichen Pfründe, und ungestörten Genuß aller davon abhangenden Rechte wieder einzusetzen, auch Fiscus ecclesiasticus in alle dem Kläger seit dem 8ten Junii 1798 verursachte gerichtliche und außergerichtliche Kosten und sonstige Schäden mit Einschluß der Gerichtskosten dieser Instanz zu verurtheilen.
Von Rechts Wegen.
Königlich Preußische Paderbornische Regierung
Das Urteil löste in den aufgeklärten und mit Becker sympathisierenden Teilen der Paderborner Öffentlichkeit Befriedigung aus. Becker schreibt in seinem Tagebuch, dass er von allen Seiten beglückwünscht wurde, alte Frauen „küssten und herzten“ ihn, weil sie ihn vor ihrem Ableben noch einmal sahen.[200] Ebenso groß war die Enttäuschung auf der anderen Seite. Schücking urteilte 1855:
„Welchen Eindruck eine solche unbegreifliche Sentenz der Herren von der neuen Regierung machen musste, braucht nicht geschildert zu werden.“[201]
Mit der Entscheidung der preußischen Regierung war zwar eine eindeutige Rechtslage geschaffen, doch stellten sich der Vollstreckung des Urteils erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Die Problematik lag darin, dass es fraglich erschien, ob durch die Entscheidung einer weltlichen Institution ein Beschluss der kirchlichen Behörde, in diesem Fall die Exkommunizierung Beckers, aufgehoben werden konnte. Konnte die Kirche einen aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgestoßenen Geistlichen wieder in seine kirchlichen Ämter einsetzen? Beckers Pfründe war anderweitig vergeben, besaß er einen Rechtsanspruch darauf? Und wenn er ihn besaß, was sollte mit den neuen Inhabern der Pfründe geschehen, die doch auch einen rechtlichen Anspruch erhoben? Und schließlich: der fiscus ecclesiasticus bestand nach der Säkularisierung nicht mehr, wer sollte also Becker die Entschädigung zahlen?
Becker beantragte nachdrücklich die Vollstreckung des Urteils bei der preußischen Regierung. Diese sah Franz Egon als den in diesem Fall entstandenen Schaden Schuldigen an. Das Urteil wurde daher dem pensionierten Fürstbischof zugestellt und die Ausführung von ihm gefordert. Franz Egon weigerte sich jedoch, als geistlicher Fiskus zu gelten. In einem Immediatschreiben an den preußischen König vom 19.Oktober 1805 wies er das Urteil als inkompetent zurück und verwahrte sich dagegen, für den Becker zugefügten Schaden haftbar gemacht zu werden.[202]Beyme, der als Kabinettsrat eine Zwischenstellung zwischen dem König und den Ministern einnahm, machte zu diesem Schreiben folgende Randverfügung:[203]
„31.Okt.1805. Da die Verfügung des Großkanzlers auf Sr. Majestät unmittelbaren Befehl, der sich auf das landesherrliche jus circa sacra gründet, erlassen ist, so muß derselben Folge gegeben werden.“
Nach der Weigerung des pensionierten Fürstbischofs sah sich die preußische Regierung vor die Wahl gestellt, entweder zu weiteren Maßnahmen gegen ihn zu greifen, oder aber selber als Rechtsnachfolger des fiscus ecclesiasticus aufzutreten. Preußen legte Wert darauf, in den säkularisierten Gebieten durch Milde die öffentliche Meinung allmählich für sich zu gewinnen, insbesondere den Bischof, der doch erheblichen Einfluss auf die Volksmeinung besaß, nicht zu verletzen. So wollte man auf der einen Seite nicht zu drastischen Maßregeln gegen Franz Egon greifen, sah sich aber andererseits auch nicht verantwortlich für dessen Verpflichtungen an. Die Vollstreckung wurde immer wieder hinausgeschoben, bis man schon im nächsten Jahr – 1806 – durch den Ausbruch des Krieges mit Frankreich einer Entscheidung enthoben wurde. Preußen verlor das Bistum Paderborn, und damit schwand für Becker auf unbestimmte Zeit die Hoffnung auf Entschädigung.
Becker musste sich – inzwischen 65 Jahre alt – in ärmlichen Verhältnissen durchschlagen. 1805 finden wir diese Eintragungen in seinem Tagebuch: „…die meisten Freunde haben mich verlassen…keine warme Bekleidung.“[204] Etwas später: „…weil ich nicht ordentlich gekleidet bin, um bei honetten Leuten zu erscheinen,…ließ den letzten Laubthaler wechseln, wobei ich dachte: Gott wird mir wohl wieder einen bescheren. Um 12 Uhr fand ich einen, nebst 6 Hemden zugeschickt.“[205] Von der preußischen Regierung hatte Becker gelegentlich kleinere Zahlungen erhalten. Dabei handelte es sich vermutlich um teilweise Rückzahlungen seines früheren Eigentums, soweit es von den Pfründen unabhängig war. Doch reichten diese Summen in keiner Weise, um den Lebensunterhalt davon zu bestreiten. Becker war gezwungen, Unterricht in Galvanismus, Astronomie und Elektrizität zu erteilen, um leben zu können. Außerdem unterrichte er Kinder in Lesen und gab sogar den bischöflichen Reitknechten private Bibelstunden.[206] Auf der Straße begegnete Becker mehrfach dem Bischof. Franz Egon sah ihn jedes Mal starr an und ging, ohne seinen Gruß zu erwidern, an ihm vorüber.
IX. Erneute Verfolgung und Tod
Nach dem Abzug der preußischen Truppen[207] wurde Paderborn von den Franzosen besetzt. Das Gebiet kam zunächst unter die Verwaltung der Grande Armée, Kommandant des Fürstentums wurde der Oberst Ducasse.[208] Im Frieden von Tilsit hatte Preußen Paderborn abtreten müssen. Das „Erbfürstentum“ kam zu dem neugebildeten Königreich Westfalen unter Jérôme. Es bildete einen Teil des Gouvernements Minden mit dem Generalgouverneur Gobert. In Paderborn selbst wurde unter Übernahme fast aller preußischen Beamten eine Paderborn’sche Landesregierung für den Bereich des Fürstentums gebildet, deren Vorsitz der Präsident von Coninx führte. Obwohl sich die preußische Verwaltung einer toleranten und vorsichtigen Eingliederungspolitik befleißigt hatte, war ein Teil des Klerus und von ihm beeinflusste Kreise der Bevölkerung aus einem gewissen Ressentiment gegen Preußen heraus bestrebt, die zurückgebliebenen preußischen Beamten entgelten zu lassen, was ihnen durch die „Annexion“ durch Preußen an vermeintlichem Unrecht geschehen war. Becker kommentierte die antipreußische Tendenz dieser Tage so:
„…die Nationalpreußen sind vom Pöbel auf alle Art insultiert worden… Die Preußen sind genug gezüchtigt worden. Ich halte es für unchristlich, ihnen noch mehr Leid zuzufügen. Ich glaube, dass an der Verstimmung der Bürger die Exmönche schuld sind…“[209]
Becker betrieb trotz des politischen Umschwungs seine Sache mit allem Eifer weiter. Zu Beginn des Jahres 1807 ließ er mit kaiserlicher Erlaubnis Napoleons seine „Ehrenrettung“, d.h. das Urteil des Königs von Preußen von 1805 in den französisch besetzten Gebieten Westfalens veröffentlichen.[210] Zu der selben Zeit ordnete der Präsident der Paderborn’schen Regierung, vonConinx, erneut die umgehende Vollstreckung des Urteils vom 22.September 1805 an. Das bedeutete die Wiedereinsetzung Beckers in seine Rechte und Zahlung einer Entschädigung für alle erlittenen Schäden. Aus einem Briefe des Gouverneurs Gobert an den Präsidenten von Coninx[211] vom 12. März 1807 geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt der Fall Becker bereits dem Kaiser Napoleon zur Entscheidung vorgelegt worden war. Gobert tadelt den Präsidenten, weil er seine Vollstreckungsanordnung getroffen hat, ohne diese Entscheidung abzuwarten und schreibt dann:
„…Ich beabsichtige nicht, mich in die jurisdiktionellen Angelegenheiten einzumischen, deren freien Verlauf ich achten muss. Da aber die Vollstreckung Ihres Urteils die Aufrechterhaltung der Sicherheit und öffentlichen Ordnung in Frage stellt, und ich unterrichtet bin, dass die Wiedereinsetzung Beckers in seine Funktionen Unruhen in der Kirche von Paderborn verursachen kann, würden Sie, Herr Präsident, besser daran tun, jenen Teil des Urteils, der ihn in seiner Kirche wieder einsetzt, gar nicht vollstrecken zu lassen.“
Gobert drückte dann sein Erstaunen aus, ein im Namen des Königs von Preußen erlassenes Urteil zu lesen und forderte vom Präsidenten Rechenschaft, „par quelle raison on se sert encore d’un pareil protocol dans les actes de la Régence de Paderborn.“
Dieser Brief war auf die Bemühungen des Klerus und des Bischofs zurückzuführen, den Wechsel des Regimes dazu auszunutzen, die Vollstreckung des Urteils zu verhindern. In einem anonymen Brief wurde Becker mitgeteilt, dass es dem Generalvikar Langen gelungen sei, den französischen Kommandanten Ducasse gegen ihn „in Bewegung zu setzen.“[212] Über diesen Ducasse hatte der Klerus Einfluss auf den Gouverneur Gobert gewonnen. Ein weiterer Brief des Generalgouverneurs an den Präsidenten von Coninx vom 29. April 1807[213] gibt Aufschluss darüber, dass es dem Klerus durch Intervention des Erzbischofs gelungen war, die Vollstreckung des Urteils zunächst einmal aufzuschieben. Die (ehemals preußische) Paderborn’sche Landesregierung mit dem Präsidenten von Coninx stand auf Beckers Seite, sie war aber bei ihrer Abhängigkeit von der Besatzungsmacht, deren Gouverneur und Kommandant eindeutig den Bischof unterstützten, bei aller Sympathie für Becker unfähig, etwas für ihn zu unternehmen. In diesem zweiten Brief heißt es u.a.:
«Le Prince Evêque d’ Hildesheim m’a communiqué, Monsieur, une nouvelle note du Prince Primat à Sa Majesté l´Empereur et Roi relativement à l’affaire du Sieur Becker. J’ai moi-mêmes écrit conformément à cette note à Son Altesse le Prince Ministre de la Guerre en lui faisant observer, que je n’avois crû devoir suspendre l’exécution de votre sentence que relativement à l’installation de Becker, mais qu’aujourd’hui je pensois par respect pour Sa Majesté devant laquelle l’affaire a été portée, devoir arrêter toute l’exécution jusqu’á Sa décision, que je demandois d’autant plus prompte qu’il s’agissait des droits d’un particulier que vous croyiez juste… »
Wenn Gobert in seinem ersten Brief nur von der Aussetzung eines Teiles des Urteils, nämlich von der Wiedereinsetzung Beckers in seine alten Rechte gesprochen hatte, so forderte er hier bereits die Aussetzung aller Bestimmungen des Urteils. Leider lässt sich über die Entscheidung Napoleons in dem mir zur Verfügung stehenden Material nichts in Erfahrung bringen. Der weitere Verlauf des Verfahrens unter der französischen Herrschaft lässt jedoch erkennen, dass sie, wenn sie überhaupt gefällt worden ist, negativ für Becker gewesen sein muss. Eine seltsame Fügung des Schicksals, dass gerade der Mann ein Verfahren entschieden haben soll, in welchem dem Beklagten – wenn auch zu Unrecht – zu einem der Hauptanklagepunkte gemacht worden war, ihn als Messias bezeichnet zu haben.
Wo mögen die Ursachen dieser Haltung der Franzosen zu suchen sein? Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Joseph Anton Becker in einem Brief an seinen Bruder Ferdinand[214], in dem er von Bestechung Goberts durch die bischöfliche Partei spricht – eine Behauptung, die nicht mehr bewiesen werden kann -, sondern hat die Ursache der Tendenz der französischen Verwaltung, mit dem Klerus gute Beziehungen zu unterhalten, darin zu sehen, dass sie sich damit die Unterstützung der Geistlichkeit auf anderen Gebieten sichern wollte. So arbeitete die orthodoxe Geistlichkeit mit den durchweg antiklerikal eingestellten Franzosen Hand in Hand. – und nicht nur in Beckers Fall… Wir finden in Beckers Tagebuch eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Geistliche, besonders Exjesuiten, das Volk in Paderborn gegen Preußen und für die Franzosen beeinflussten.[215]
Schwieriger wird die Frage zu beantworten sein, was die Geistlichkeit zu der ausgesprochen pro-französischen Haltung veranlasst hat. Setzte der Bischof von Paderborn damit eine gewisse traditionelle Linie in der Politik westdeutscher Kirchenfürsten des 18. Jahrhunderts Frankreich gegenüber fort? War die Abneigung gegen das protestantische Preußen so groß, dass alle Gegensätze zu dem revolutionären Frankreich vergessen werden konnten? Es ist anzunehmen, dass man für die Säkularisation weniger Frankreich als Preußen verantwortlich gemacht hat. Wahrscheinlich haben aber weniger grundsätzliche Überlegungen die Geistlichkeit zu dieser Haltung veranlasst, als vielmehr die utilitaristische Erwägung, wie sie durch geschickte Ausnutzung der französischen Besatzungsmacht von Fall zu Fall eigene Ziele erreichen könne.
Um in Beckers Fall ganz sicher zu gehen, begannen seine alten Feinde Schnur und Hannemann in der Stadt eine erneute Verfolgung Beckers durchzuführen. Sie ließen Becker überwachen und stellten unter der Bevölkerung Verhöre an, um auf diese Weise neues belastendes Material zu sammeln.[216] Becker wurde von Freunden mehrfach vor solchen „Spionen“ gewarnt. Man warf ihm vor, dass er auf den Fürstbischof geschimpft und ihn „einen schlechten Kerl“ genannt habe und dergleichen mehr.[217]
Wenn man die Verbitterung über das ihm zugefügte Unrecht und den Hass gegen seine Feinde berücksichtigt, erscheinen bei seiner temperamentvollen und unvorsichtigen Art die ihm zur Last gelegten Aussprüche glaubhaft. Durch Beeinflussung der Geschäftsleute wurde ihm aller Kredit genommen, so dass er bei seiner Mittellosigkeit keine Lebensmittel mehr erhalten konnte. Beckers Wirtin kündigte ihm auf Betreiben seiner Gegner die Wohnung. Sein Bruder, der Kaufmann und Weinhändler Joseph Anton, unterstützte ihn zwar, so weit es in seinen Kräften stand,[218] doch hatte auch er unter den Machenschaften von Beckers Feinden zu leiden. Durch eine Art Boykott seines Geschäftes suchte man ihn zu bewegen, sich von seinem Bruder loszusagen. Zur selben Zeit wurde Becker wieder von verschiedenen Seiten geraten, zu „submittieren“. Man ließ ihn wissen, dass der Fürst, wenn er selbst zu ihm ginge und sich unterwerfe, zu vergeben geneigt sei.
Die ganze Aktion hatte nur den Zweck, ihn durch Not und Versprechungen zum Verzicht auf seine Ansprüche zu bringen. Von der Gerechtigkeit seiner Sache überzeugt, schrieb Becker am 15.Juli 1807 in sein Tagebuch:
„…dies sind Handlungen, die mich nicht mehr von meinem Grundsatz abbringen können. Meine Tage sind bald zu Ende, aber die tyrannische Ungerechtigkeit meiner Gegner wird denselben noch lange zur Schande dienen.“[219]
Um allen weiteren Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, vor allem auch aus Rücksicht auf die Familie seines Bruders, verließ Becker am 15.September 1807 Paderborn. Er hat es nie wieder betreten.
Bei seinem Neffen, dem Arzt Dr. Carl Ferdinand Becker in Höxter fand er Aufnahme.[220] Wie wenig im übrigen Beckers sonstige Verwandtschaft zu seiner Unterstützung getan hat, mag das Verhalten seines dritten Bruders, des Kaplans Johann Franz Becker,[221] zeigen, der öffentlich erklärte, dass sein Bruder wegen seiner Lehre verdient hätte, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.
Der 64jährige war zu oft enttäuscht worden, als dass ihn diese letzten Vorgänge gebrochen hätten. Mit großer Liebe nahm er sich der Erziehung seines kleinen Großneffen Ferdinand an,[222] verfasste ein großes Lehrbuch für ihn in der Art der damals üblichen Elementarbücher, in dem er mehr oder weniger alle Stoffgebiete behandelte. 1811 verzog Carl Ferdinand mit seiner Familie nach Karlshafen und später nach Göttingen, Becker blieb allein in Höxter zurück. Rührende Kinderbriefe des 6-8jährigen Ferdinand an seinen Großonkel,[223] z.T. in lateinischer Sprache, zeugen von der Anhänglichkeit des Kindes. Als Hinweis auf die Notlage Beckers finden wir in einem dieser Briefe: „…Du brauchst die Briefe nicht zu frankieren.“ Auf der Rückseite dieses Briefes steht, von der Hand des Großonkels geschrieben:
„…schenkte mir bei der Abreise einen Loisdor. Sollte ich mit meinen Forderungen reüssieren, so schenke ich dem Ferdinand von meiner Hinterlassenschaft 100 Pistolen, ohne dass er dadurch in seinem Anteil verkürzt werden soll.“[224]
Seinen Prozess konnte Becker als Untertan des Königreiches Westfalen jetzt nur noch bei der einzigen dafür zuständigen Instanz betreiben: am Hofe in Kassel… Carl Ferdinand, der eine Anstellung als sous-directeur der Salpeterbereitung in Göttingen bekommen hatte, hielt sich eine Zeit lang am Hofe Jérômes auf, um Beckers Sache dort zu betreiben. Der Briefwechsel, den er in dieser Zeit mit seinem Onkel in Höxter führte, gibt Aufschluss über diese Bemühungen. Er hatte die Bekanntschaft mehrerer einflussreicher Personen am Hofe gemacht, darunter die eines Prinzen zu Salm, der eine Nichte Napoleons zur Frau gehabt haben soll. Durch ihre Unterstützung wollte er die Sache Beckers befördern. Becker hat die Absicht gehabt, die Hälfte seines Schadensersatzes[225] dem König anzubieten, der ja bekanntlich immer sehr viel Geld gebrauchen konnte. Davon rieten aber die Bekannten ab, weil „Jerome es übel nehmen würde, wenn man ihm ein Geschenk auf solche Weise anbieten wollte.“ Man versprach sich in Kassel überhaupt von einer direkten Eingabe an den König wenig, weil „dieser dergleichen Vorstellungen meistens nicht lese.“[226] Ferner wurde empfohlen, dass das Ministerium des Inneren zunächst feststellen sollte, wer nach dem Urteil von 1805 als fiscus ecclastiacus anzusehen sei. Becker solle die Schadensersatzforderung nicht über-trieben hoch stellen, wenn er seiner Sache von vornherein schaden wolle. – Alle Versuche und Vorstellungen am Kasseler Hofe scheinen aber letzten Endes erfolglos gewesen zu sein. Becker lebte weiter in bitterer Notlage in Höxter.
Mit dem Zusammenbruch des Königreichs Westfalen und dem Einrücken der Preußen im Oktober 1813 lebten Beckers Hoffnungen wieder auf. Sie waren nicht unbegründet, denn die preußischen Behörden zahlten ihm alsbald eine Pension, die nun wenigstens seinen Lebens-unterhalt sicherstellte.[227]
Um seine Sache, die inzwischen in der Öffentlichkeit mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war, wieder zu aktualisieren, wollte er die „Aktenmäßige Darstellung“ neu auflegen lassen. Da ihm die Mittel dazu fehlten, bat er einen Bekannten, den Domänenreceptor Bohn in Höxter, ihm dabei mit Geld zu helfen.[228] Er fügte in seinem Brief hinzu, dass er die Absicht habe, die Verlagskosten zu ersetzen, und, falls seine Schadenseratzforderungen genehmigt würden, den Gewinn aus dem Verkauf des Buches für die Anschaffung „allgemeinnütziger Lesebücher für die arme Schuljugend (ausgenommen Katechismen) zu verwenden.“ Es ist anzunehmen, dass die preußische Regierung dem 74jährigen durch eine – wenigstens teilweise – Vollstreckung des 1805 von Friedrich Wilhelm III. ergangenen Urteil zu seinem Recht verholfen haben würde. Doch setzte da der Tod seinem Leben ein Ende.
Sein letzter uns erhaltener Brief, einige Wochen vor seinem Tode geschrieben, war an seine Nichte Amalie[229], die Frau Carl Ferdinands gerichtet. Aus ihm geht hervor, dass sich seine Lebensverhältnisse durch die Zahlung der Pension etwas gebessert hatten. Die lange Zeit der Entbehrungen hatte ihn aber stark entkräftet, „alle Nahrungsmittel konnten den durch viele Jahre hindurch ausgehungerten Magen nicht wieder in Tätigkeit setzen.“ Den nahen Tod sah er voraus:
„Weil ich voraussehe, dass ich irgendwo wegen Entkräftung in einen Todesschlaf geraten werde, so habe ich den Müller Pammel ersucht, falls er mich in dieser Lage in seiner Gartenlaube antreffen sollte, mich darin einzuscharren und meine Kleidungsstücke an arme Leute zu verschenken.“
Einsam, wie er die letzten Jahre gelebt hatte, starb er am 14. Dezember 1814.
Schlusswort
Der äußere Ablauf der Ereignisse, die das Leben Ferdinand Beckers bestimmten, lässt eine innere Entwicklung erkennen. Fassen wir noch einmal zusammen und sehen wir, welche Ursachen das Leben Beckers in diese Richtung gelenkt haben.
Das Milieu, in welches ihn sein Schicksal hineingestellt hatte, erlaubte seinen Anlagen nur, sich in einer bestimmten Weise zu realisieren. In dem Spannungsfeld, das sich zwischen seinen spezifischen Anlagen und der Umwelt entwickelte, wurde seine Persönlichkeit geformt. Becker war Westfale mit allen charakteristischen Eigenschaften seines Stammes. Eigenwillig bis zur Starrköpfigkeit ging er seinen Weg, wenn er eine Möglichkeit sah, die festgefahrene Schein-bildung und pharisäische Selbstgerechtigkeit seiner Zeitgenossen durch eine aufgeklärte, fortschrittliche Geisteshaltung zu verdrängen. Die Spannungen waren vielfältig: Wo er Wahrheit und den ernsten Willen zum Guten suchte, fand er Heuchelei und Verstellung. Seiner Offenheit und Klarheit setzte seine Umgebung Intrigen, Niederträchtigkeiten und glatte Diplomatie entgegen. Es gab nur eine Alternative: Entweder sich diesen Verhältnissen zu fügen, im Gefühl eigener Ohnmacht zu resignieren, oder aber sich kämpfend mit ihnen auseinander zu setzen – und dabei vielleicht zu zerbrechen. Eine dritte Möglichkeit, den Weg des ausgleichenden Kompromisses, schloss sein offener und gerader Charakter, dem alle Umwege verhasst waren, von vorneherein aus.
Becker wählte den Weg des Kampfes. Er versuchte, seine Pläne auszuführen, ohne dabei die Folgen zu bedenken. Dass er es nicht verstanden hat, seine weitgestreckten Pläne in kluger Beschränkung den Verhältnissen von Zeit und Umwelt anzupassen, liegt in seiner Unkompliziertheit und seinem großen Optimismus sich selbst und der Welt gegenüber begründet, die ihn glauben ließen, dass sich die Wahrheit auch ohne Kompromisse durchsetzen müsste. Darin lag seine Tragik, an der alle seine Pläne, die gegen die zahlreichen Missstände seiner Umgebung gerichtet waren, schließlich scheitern mussten.
Durch diese Diskrepanz zwischen seinen Vorstellungen und den Realitäten des Lebensraumes, in den er gestellt war, musste sich Becker in dem Beruf des Geistlichen, zu dem ihn mehr äußere Umstände als innere Berufung geführt hatten, eingeengt und unbefriedigt fühlen. Daher nahm die Beschäftigung mit politischen Ideen einen breiten Raum in seinem Leben ein. Er suchte den scheinbaren Gegensatz zwischen Politik und Moral zu überwinden, indem er von den Machthabern in allen politischen Systemen ein Handeln nach moralischen und ethischen Gesetzen forderte. Allein die Pflege der Gerechtigkeit und die Sorge für das Wohlergehen der Staatsbürger hielt er für das Kriterium bei der Beurteilung von Wert und Unwert eines Staatswesens. Verfassung und politisches System spielten daneben nur eine untergeordnete Rolle. Zu sehr hatte er selbst erlebt, wie das Recht in Paderborn nach dem Willen und den Bedürfnissen des Souveräns oder der Adelsclique gebeugt worden war, als dass er an ein Fortbestehen seines so korrupten Staatswesens glauben konnte.
Um seine politischen Ideen in der Praxis durchführen zu können, fehlten Becker die entsprechenden Möglichkeiten. Doch suchte er in seinem kleinen Bereich, vor allem, als er an verantwortlicher Stelle stand, nach diesen Maximen zu handeln. Altruistisch griff er bei allen Notständen ein, als Geistlicher und als Mensch wirkte er im Sinne eines praktischen Christentums unter seinen Mitmenschen.
Die Geistlichkeit in seiner Umgebung war von einer solchen Haltung weit entfernt. Sie er-schöpfte sich in theologischen und dogmatischen Spitzfindigkeiten. Aberglauben und menschliche Schwächen hatten das Gute und Ursprüngliche der kirchlichen Lehre überwuchert. Indem sich Becker gegen diese Auswüchse wandte, rief er nicht nur einen tiefen Gegensatz zu den damals herrschenden theologischen Auffassungen hervor, sondern schließlich auch einen offenen Konflikt mit der Kirche selbst. Damit aber geriet er im Laufe der Zeit nicht nur zu einer äußeren, sondern auch zu einer inneren Loslösung von der überkommenen transzendenten Wertwelt. Die rationalistische Philosophie konnte Becker diese Gebundenheit nicht ersetzen. So kam es zwangsläufig zu einer gewissen Bindungslosigkeit. Das scheint ihm – wenn auch undeutlich – bewusst gewesen zu sein, denn er suchte seinen Ausgleich, einen Halt in einem anthropo-zentrischen Weltbild zu finden. Fehlte ihm so die letzte Verwurzelung und eigentliche Geborgenheit als Quelle seines Schaffens, so mussten die andauernden Reibereien und Kämpfe seine Kraft vorzeitig verbrauchen. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens, auch schon vor seiner Verhaftung, gelang es Becker nicht mehr, produktiv tätig zu sein.
Überschauen wir das Leben Ferdinand Beckers unter dem Gesichtspunkt der Spannungen zwischen Anlagen und Umwelt, zwischen aufgeklärter Philosophie und überkommener religiöser Wertwelt, zwischen Aktivität in christlicher Nächstenliebe und theologisch-dogmatischer Enge, so erkennen wir – wie mir scheint -, dass dieses Leben, einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend, schließlich zum Bruch mit der katholischen Kirche mit allen seinen Folgen führen musste.
Zeittafel
12. November 1740
Geburt Ferdinand Beckers in Grevenstein
1763
Ordination zum Diakon
1763-1770
Pfarrer in Hörste
1770-1798
Domvikar in Paderborn
1780-1788
Archidiakonalkommissar
8. Juni 1798
Verhaftung, Beginn der Gefangenschaft im Franziskanerkloster zu Paderborn
25. Juli 1798
Befreiung aus dem Gefängnis
1799-1805
Becker in Arolsen
September 1798
Vorstellung an den Fürstbischof, Bitte um gerechte Untersuchung
19. Oktober 1798
Antwort des Fürstbischofs, Aufforderung an Becker, sich in Paderborn zu stellen
1. Juni 1799
Verhängung des „Größeren Kirchenbanns“ gegen Becker
25. Juli 1799
Klage Beckers gegen den Fürstbischof beim Reichskammergericht in Wetzlar
7. August 1799
Vorläufiges Urteil des RKG
18. Januar 1801
Endgültiges Urteil der RKG, Abweisung Beckers
1802
Paderborn von Preußen besetzt
1803
Klage Beckers bei der königlich-preußischen Zivilkommission, Abweisung
1. Januar 1805
Beschwerde an Friedrich Wilhelm III.
4. September 1805
Urteil des Königs von Preußen, Einsetzung Beckers in alle seine Rechte
19. Oktober 1805
Immediatschreiben Franz Egons an den König von Preußen, Zurückweisung des Urteils vom 4. September 1805
1806
Besetzung Paderborns durch die Franzosen
15. September 1807
Becker verlässt Paderborn
1807-1814
Becker in Höxter
14. Dezember 1814
Tod Beckers in Höxter
Dokumente (Anhang)
Abschaffung der lateinischen Gesänge im Bistum Paderborn
(Verordnung Ferdinand Beckers, abgedruckt in „Neues Westfälisches Magazin“ von 1790, 2.Band, S.252 ff., hg. von P.F. Weddigen)
Das Singen beym öffentlichen Gottesdienste ist ein wichtiger Theil der Anbetung, weil es das laute Gebet der Gemeinde ist, welches sie mit mehr Lebhaftigkeit bewegt, und zu längerem Anhalten erhebt; als das still nachgesprochene oder nur gedachte Gebet.
Daher hat die katholische Kirche für gut befunden, auch bey dem heiligen Meßopfer, als dem vorzüglichsten Theile aller gottesdienstlichen Handlungen den Gesang einzuführen; damit das Volk gleichsam mit einem Munde des Priesters Gebet einstimmig begleite, und mit demselben Gott ein gefälliges Opfer bringe.
Der Gesang ist zwar so, wie die ganze Einrichtung des heiligen Messopfers, in lateinischer Sprache abgefasset, und in selbiger zu Uns Deutschen sowol, als übrigen europäischen Nationen gekommen, weil Wir dieselbe von den Römern (Bey welchen damals das Latein eine Muttersprache war, und auch jetzt von anderen Nationen allgemeiner verstanden ward, als jetzt) erhalten haben; allein, da jetzt die lateinische Sprache so allgemein nicht mehr im Gebrauch ist, als ehemals, und auch die Kirche in keinem Gesetze die Vorschrift gemacht hat, dass die Gemeine nur in lateinischer Sprache ihre Andacht verrichten solle; so haben schon längst gelehrte und einsichtsvolle Männer sich Mühe gegeben, die Meßgebete sowol, als Psalmen und Hymnen in andere Sprachen zu übersetzen, und deren Gebrauch statt der lateinischen anzurathen; weil durch ein verständliches Gebet das Herz und wahre Andacht mehr gewinnet, als durch ein unverständliches. Auch der Ausspruch Christi bei Matthäus am 18. Cap.. v. 19 uns so leicht nicht trifft: Dieses Volk ehret mich mit seinen Lefzen, aber ihr Herz ist weit von mir. Aus gleicher Ansicht sind bereits im verflossenen Jahre den sämtlichen Pfarreren des Dompropsteylichen Archidiaconats-Bezirks, die Messelieder und Gebete in deutscher Sprache zugestellet, und auch von ein und andern eifrigen Seelsorgern schon eingeführtet; hingegen von andern bis hieher theils vernachlässigt, theils auch, wo sie schon eingeführet waren, von blödsinnigen Fanatikern hinwieder zerstöret, und gänzlich unterlassen worden.
Da nun aber des Domprobsten und Archidiaconi Freyherrn von Weichs hochwürdigen Gnaden ernstliche Willensmeinung ist, daß belobte deutsche Lieder in Hochdere Archidiaconats-District statt der lateinischen gesungen werden sollen;
Also wird Namens Hochdesselben allen Pfarreren und Seelsorgern anbefohlen, sofort besagte Lieder einzuführen; die in einigen Orten noch gebräuchliche lateinische Metten und Vespern abzustellen, und an deren statt dem gemeinen Mann verständliche und auf Zeit und Andacht passende Lieder zu gebrauchen. Zu diesem Ende wird die Lesung des gelehrten Ludewig Anton Muratori wahre Andacht sämmtlichen Seelsorgern bestens anempfohlen.
Urteil des Reichskammergerichtes vom 7.August 1799
Urkund
am Kayserl. Kammer-Gerichte
übergebener Supplic und darauf ertheilten
Decrets
in Sachen des
Paderbornischen Dom-Vicarii
Ferdinands Becker
wider Franz Egon, Bischof und Fürsten zu
Paderborn und dessen nachgestellte Commission
Wir Franz von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kayser etc. Bekennen und thuen kund mit diesem Unserm Kayserl Briefe bezeugend, dass an unserem Kayserl. Kammer-Gerichte, desselben Advocat und Procurator der Ehrsame gelehrte Unser und des Reichs lieber getreuer Jacob Rasor der Rechten Doctor in außen bemerkter Sache am 31. d.M. eine untertänigste Supplic übergeben habe, und darauf nachstehendes Decret ertheilt worden sey.
Tenor Decreti
N.Z.Z. abgeschlagen, sondern solle beklagtem Herrn Fürsten aus Paderborn, um über der Sache Beschaffenheit seinen umständlichen Bericht, zugleich aber auch insbesondere seine standhafte Verantwortung darüber, wie er in gegenwärtigem Falle dazu gekommen sey, gegen die ausdrückliche und motivierte Behauptung seines eigenen Offizialat-Gerichtes eines zu der letzteren Gerichtsbarkeit gehörige Sache an eine Special-Kommission zur Entscheidung in viajuris zu verweisen, und wie er sogar in Rescipto sub Nr.4 dieses Verfahren sowohl nach gemeinen Rechten als der dortigen Landes-Verfassung in geist- und weltlichen Sachen in Thesi gegründet ansehen möge, mit Beyfügung des vorgeblichen Landesgesetzes vom 17.März 1799 in passuconcernente an dieses Kayserl. K.G. binnen 4 Wochen von Zeit der Insinuation und zwar ohentgeldlich einzuschicken, zugeschrieben werden, damit es in Entstehung desselben nicht der Exitation des Kayserl. Fiscal und anderer zur Handhabung unverrückter Justizpflege im Reiche vorgeschriebenen offenkundigen Gesetze nöthigen Verfügungen bedörffe.
Dann wird beklagtem Herrn Fürsten inzwischen und bis zur erfolgenden näheren dieses Kayserl. Kammer-Gerichts Entscheidung mit allen präjudicirlichen Verfahren gegen des Supplicanten Prinzipal Person an sich zu halten, allen Ernstes befohlen.
Schließlich ist dieses Kayserl. K.G. Canzley gegenwärtige Expedition einstweilen gratis erga annotationem verabfolgen zu lassen, angegeben. In Consilio 7ten August 1799.
Zu Urkund dessen haben Wir gegenwärtigen mit Unserem Kaiser. Insiegel bekräftigten Schein ausfertigen und mittheilen lassen. Gegeben in Unserer und des heil. H.R. Stadt Wetzlar am achten Tage des Monats August nach Christi unsers lieben Herrn Geburt im siebenzehnhundert neun und neunzigsten Jahre.
Ad Mandatum Domini Electi
Imperatoris proprium
(L.S.) Herrmann Theodor Moritz Hoscher
Kayserl. K.G. Canzley-Verwalter.
Gotthart Eder
Kayserl. K.G. Protonotar.
Brief von Generalgouverneur Gobert an den Präsidenten der Regierung von Paderborn, Herrn von Coninx
Grande Armée Minden le 12 Mars 1807
Gouvernement de Minden
A M. de Coninx
Président de la Régence de Paderborn
J’apprends, Monsieur le Président, que quoique vous soyez instruit, qu´on a appelé de votre sentence pour le bénéficié Becker à sa Majesté l’Empereur des Français, vous avez ordonné qu’on exécutât de suite cette ordre.
Quoique je ne veuille pas me mêler des affaires judiciaires, dont je dois respecter le libre cours, cependant comme l’exécution de votre sentence tient au maintien de la police et de l’ordre public et que je suis instruit que l´installation de Sieur Becker dans ses fonctions peut occasionner des troubles dans l’église de Paderborn, vous voudrez bien ne point faire exécuter la partie de la sentence, que l’installe dans cette église. J´ai vu avec surprise le nom du Roi de Prusse à la tête de cette sentence. Je ne veux pas juger sans entendre le crime d’un homme, qui se permet une pareille violation de mes ordres et des volontés de l’Empereur. Rendez-moi compte, Monsieur le Président, par quelle raison on se sert encore d´un pareil protocol dans les actes de la Régence de Paderborn.
Je vous salue avec une considération très distinguée
Le Gouverneur Général
Gobert
Brief von Generalgouverneur Gobert an den Präsidenten der Regierung von Paderborn, Herrn von Coninx
Grande Armée Minden le 29 avril 1807
Gouvernement de Minden
A M. de Coninx
Président de la Régence de Paderborn
Le Prince Evêque d’Hildesheim m’a communiqué, Monsieur, une nouvelle note du Prince Primat à sa Majesté l’Empereur et Roi relativement à l’affaire du Sieur Becker. J’ai moi-même écrit conformément à cette note à son Altesse, le Prince Ministre de la guerre en lui faisant observer, que je n’avois crû devoir suspendre l’exécution de votre sentence que relativement à l’installation de Becker, mais aujourd’hui je pensois par respect pour sa Majesté devant laquelle l’affaire a été portée, devoir arrêter toute l’exécution jusqu’à sa décision que je demandois d’autant plus prompte qu’il s’agissait des droits d’un particulier que vous croyez justes.
Je vous invite en conséquence à suspendre toute démarche ultérieure entre le chapitre et le Sieur Becker jusqu’à une décision, qui ne peut se faire attendre encore longtemps.
Je vous salue, Monsieur le Président
Avec une considération distinguée
Le Gouverneur Général
Gobert
Kopie des sog. „Kleinen Tagebuchs aus dem Gefängnis“. (Originalgröße) Becker schrieb seine Notizen mit Bleistift zwischen die Zeilen schon beschriebener Blätter, die er bei seiner Verhaftung unbemerkt hatte zu sich stecken können.
Seite 640 des „Großen Tagebuchs“ Ferdinand Beckers (Originalgröße). Dieses umfasst insgesamt 1086 Seiten. Geschrieben im Jahre 1799.
Erster Brief der Baronin von Warschowitz an Becker. Der Brief ist nicht von ihrer Hand geschrieben, er wurde diktiert. Becker erhielt den Brief am 6. Juli 1798 im Gefängnis, am unteren Rand skizzierte er seine Antwort. Er trug diesen Brief während seiner Gefangenschaft und Flucht in seiner Hose verborgen bei sich.
Brief des 8jährigen Ferdinand Becker (1805-1834) an seinen Großonkel Ferdinand Becker (den Älteren). Originalgröße)
Brief Ferdinand Beckers an seinen Großneffen Ferdinand Becker vom 31. Dezember 1811.
Letzter Brief Ferdinand Beckers an Amalie Becker geb. Schmincke vom 11. September 1814 (Erste und letzte Seite. Originalgröße)
Die Kopien 5-10 habe ich nicht reproduziert um das Original zu schonen. BB
Stammtafel der Familie Becker (ergänzt von Bert Böhmer, 9.2003)
Jodokus Joseph Becker
oo Maria Antonetta Tilmann
Bürgermeister und Schulmeister
*1710
*1710
Franz Anton
Ferdinand
Joseph Anton
Johannes Franz
Franz Matthias
Bergmeister
Domvikar
Schulkommissar
Kaufmann
Weinhändler
Kaplan
Stiftsamtmann
1739-97
1740-1814
1744-1809
1747-1819
1750-1829
oo
Maria Anna Sartorius
1772-1836
Carl Ferdinand
Ferdinand Gottschalk
Dr. med., Sprachforscher
Dr. med., Hofarzt
oo
Amalie Schmincke
1782-1838
Ferdinand
Sophie
Minna
Ferdinande
Friedrich
Bernhard
Carl Wilhelm
Theodor
Dr.med.
Schuldir.
Gymn.Lehr.
Kaufmann
Schulrat
oo
oo
oo
oo
oo
oo
oo
v.Roedlich
Helmsdörfer
Pansch
Trendelenburg
Nietzsch
Schöffer
Maurer
Zilliaris
Dr.Georg
Dr.Christian
Prof.Adolf
Clara
Julie
Marie
1815-73
1803-56
1802-72
1822-1902
1839-1917
*1822
Quellen und Darstellungen
Handschriftliche Quellen
Tagebücher Ferdinand Beckers
Das kleine Tagebuch aus dem Gefängnis (Kl.Tgb.)
Das große Tagebuch aus dem Gefängnis (Gr.Tgb.) 2 Teile
Tagebuch 2, von 1799 – September 1800
Tagebuch 3, von November 1800-Dezember 1802
Tagebuch 4, von Dezember 1802-Dezember 1805
Tagebuch 5, von Mai – August 1807
Ferdinand Becker, Über die katholische Kirche, 2 Teile Große Verteidigungsschrift
Briefe
Briefe Ferdinand Beckers
Briefe Carl Ferdinand an seinen Onkel Ferdinand 1811-1814
Briefe Ferdinand Beckers an seinen Großonkel Ferdinand 1811-1814
Briefe Joseph Anton Beckers an seinen Bruder Ferdinand 1806 – 1809
Briefe Ferdinand Gottschalk Beckers an seinen Onkel Ferdinand Becker 1809-1810
Briefe der Baronin von Warschowitz an Ferdinand Becker 1798 – 1803
Briefe von Aug. Bernstein, Alanus Neukirch und Wachenfeld an Ferdinand Becker
Briefe des französischen Generalgouverneurs Gobert an den Präsidenten von Coninx, 1807
Selbstbiographie Carl Ferdinand Beckers1798 (Bruchstück)
Erinnerungen der Minna Pansch, geb. Becker (ca. 1864)
Gedruckte Quellen
Greuel der Mönchsherrschaft in Paderborn, in: Archiv für die neueste Kirchengeschichte, hg. von Hrch.Phil. Conrad Henke, 6 Bände, Weimar 1798
Der Vikar Becker, eine Inquisitionsgeschichte im Anfang des 19ten Jahrhunderts, in: Minerva, Journal historischen und politischen Inhalts, hg.v. J.W.Archenholz, Hamburg, 4. Band 1803, S. 418 ff.; 1. Band 1804, S. 42
Aktenmäßige Darstellung des wider den Fürstlichen Schulkommissarius und Benefiziaten am Dom …Ferdinand Becker geführten Inquisitionsprozesses bis zudem Reichskammergerichte in seiner Sache gefällten Endurtheile. Bearbeitet von einem Paderborner Rechtsgelehrten, 2 Teile, Mengerichshausen 1802
Ferdinand Becker, Geschichte meiner Gefangenschaft im Franziskanerkloster in Paderborn, Rudolstadt 1799
Marcellin Molkenbuhr, Erste Antwort auf die vorgebliche Mönchstyrannei in Paderborn, Münster & Paderborn 1799
Vorläufige Zurechtweisung des Franziskanerprovinzials M. Molkenbuhr, von einem Wahrheitsfreunde, Paderborn 1800
Paderborn’sche Schulverordnung vom Jahre 1783, erlassen von Ferdinand Becker (neues Westfälisches Magazin, hg. von P. F. Weddigen, Bückeburg, 1. Band 1789, S. 164 ff.
Verordnung die Landschulen betreffend, vom 31.8.1788. (Neues Westfälisches Magazin, Bückeburg, 1. Band 1789, S. 192 ff.)
Abschaffung des lateinischen Gesanges im Fürstbistum Paderborn. Verordnung erlassen von Ferdinand Becker (Neues Westfälisches Magazin, 2. Band 1790, S.252 ff)
Schreiben eines Ungenannten an den Herausgeber des Westfälischen Magazins über Paderborn (Neues Westfälisches Magazin, 1. Band 1789, S. 175 ff.)
Etwas über Paderborn, von Educationsrat von Campe (Neues Westfälisches Magazin, 2. Band 1790, S. 137 ff.)
An den Erziehungsrat von Campe in Braunschweig. (Antwort auf Nr. 11) (neues Westfälisches Magazin, 2. Band 1790, S.248 ff.)
von Campe, Antwort auf das Schreiben eines Ungenannten aus Paderborn an den Schulrat Campe (Neues Westfälisches Magazin, 2. Band 1790, S. 334 ff.
Nationalzeitung der Teutschen, Jahrgang 1798, S. 533 ff.; 552 f.; 578 ff.; 637 ff.; 603 ff.; 877
Paderbornsches Intelligenzblatt vom 31. Januar 1807
Waldeck’sches Intelligenzblatt vom 28.Oktober 1806
Arnsbergisches Intelligenzblatt vom 24.Februar 1807
Frankfurter Journal vom 5.September 1803
Nachrichten aus dem Publikum über den Plan zur Errichtung einer Freischule für die Armen in Paderborn
Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 110 vom 30.Juli 1800, S.950
Darstellungen
Joseph Ahlhaus, Civitas und Diözese, in „Aus Politik und Geschichte, Gedächtnisschrift für Georg von Below, Berlin 1928, S.1ff.
Georg Joseph Bessen, Geschichte des Bistums Paderborn, 2 Bände, Paderborn 1820
Georg Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 2 Bände, Berlin 1928
Joseph Hartmann, Geschichte der Provinz Westfalen, Berlin 1912
Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig & Berlin 1928
C. von Moser, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland, Frankfurt & Leipzig 1787
Richter, Der Übergang des Hochstifts Paderborn an Preußen, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, hg. vom Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, 62. Band, Münster 1904
J. Rosenkranz, Eine Inquisitionsgeschichte, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde Westfalens, hg. vom Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, 13. Band, Münster 1852
Johannes Schäfers, Geschichte des Bischöflichen Priesterseminars zu Paderborn vom Jahre der Gründung 1777 bis zum Jahre 1902, Paderborn 1902
Johannes Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Stuttgart1948
Levin Schücking, Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen, Leipzig 1855
Johann Suibert Seibertz, Westfälische Beiträge zur Deutschen Geschichte, 2 Bände, Darmstadt 1819-1823
Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1879 ff.
[1] Pasquill, das (ital.) veraltet für: Schmäh-, Streitschrift
[2] Emmerich von Breitenbach, Kurfürst von Mainz 1763-1774; Franz Ludwig von Erthal, Fürstbischof von Würzburg und Bamberg 1779-1795; Wilhelm Anton Freiherr von Asseburg, Fürstbischof von Paderborn und Hildesheim 1763-1782
[3] Sailer, von Brentano, Overberg, Fellinger u.a.
[4] In Paderborn wurde das Auflösungsdekret zwar formell durchgeführt, entgegen seinen Bestimmungen führten die Exjesuiten aber auf Kosten ihres früheren Eigentums, das in einen „Exjesuitenfonds“ umgewandelt worden war, ein gemeinsames Leben und behielten ihre Stellungen als Professoren bei. (Schäfers, Geschichte des bischöflichen Priesterseminars zu Paderborn. Paderborn 1902. S.31 f.)
[5] Clemens August von Bayern (1719-1761) war der Bruder Kaiser Karls VII. Er war Erzbischof von Köln, Bischof von Münster, Osnabrück, Paderborn und Hildesheim, Großmeister des Deutschen Ordens.
[6] Nach einem zweijährigen Interregnum (1761-63) auf Verlangen Friedrichs des Großen, der während des Siebenjährigen Krieges keine Neuwahl wünschte.
[7] Bessen, Geschichte des Bistums Paderborn. Paderborn 1820. S. 353.- Auch Becker äußert sich in seinen Aufzeichnungen in ähnlichem Sinne.
[8] Friedrich Wilhelm Freiherr von Westphalen (1782-89)
[9] Franz Egon Freiherr von Fürstenberg (1789-1802), Bruder des bedeutenderen Ministers Franz von Fürstenberg in Münster. Die Fürstenberger hatten in Paderborn schon eine Reihe von Bischöfen gestellt.
[10] Richter, Der Übergang des Hochstiftes Paderborn an Preußen, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, 62. Band. Münster 1904, S.182
[13] Lewin Schücking, Eine Eisenbahnfahrt durch Westfalen, Leipzig 1855, S.38 f.; Bessen, a.a.O. S.393f.
[14] 1792 veröffentliche der Bürgermeister von Paderborn, Dr. Neukirch, eine Schrift, in der diese Forderungen gestellt wurden. (Hartmann, Geschichte der Provinz Westfalen, Berlin 1912, S.240)
[36] „Hier hörten wir nur die scholastischen Meinungen eines Tamburin, Gobat, Busenbaum – und nichts über Jesus, Paulus, Petrus.“ (Großes Tagebuch S.262)
[39] Becker, Über die katholische Kirche, S.506. Becker besaß später eine ganze Sammlung von Reliquien, die z.T. schon aus seiner Kölner Zeit stammten. In einer Kapelle in Köln wurden z.B. Rosenkränze besonders gesegnet und mit kleinen Zetteln versehen, um ihnen größere Wirkungskraft zu verleihen.
[45] „wovon der Pfarrer meistens leben muss…“ (Großes Tagebuch S.231)
[46] „… bin ich zu Kranken gerufen worden, die weniger krank waren als ich selbst, die nach abgelegter Beichte, ohne die Absolution abzuwarten, um Almosen begehrten. Dies geschah sehr oft um Mitternacht von Sonnabend auf den Sonntag, wo ich nach katholischem Gebrauch nüchtern bleiben musste, bis ich um 12 Uhr das Hochamt und Predigt zu halten anfangen konnte…“ (Großes Tagebuch, S.232 f.)
[58] Becker besaß ein Benefizium am Dom, das er von seinem Onkel Tilmann geerbt hatte, und eines an der Kollegiatkirche in Bustorf in Paderborn, das von der Drostin von Schilder für ihn fundiert worden war.
[59] P. Marcellin Molkenbuhr, Erste Antwort auf die vorgebliche Mönchtyrannei in Paderborn, Paderborn 1799
[60] G. J.Rosenkranz, Eine Inquisitionsgeschichte, enthalten in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde Westfalens, 13. Band, Münster 1852
[61] Großes Tagebuch, S.165. Der Einfluss Kants scheint hier erkennbar. Becker erwähnt ihn allerdings nur einmal, aber zu einem späteren Zeitpunkt.
[67] Die Sozinianer waren eine in der Reformationszeit in der katholischen Kirche entstandene Geistesströmung, die die Gottheit Christi nicht anerkannten, sondern in ihm einen übernatürlich gezeugten, vorbildlichen Menschen sahen. Becker setzte die Sozinianer den Arianern gleich, die im 4. Jahrhundert auf dem Konzil von Nicäa der Gottheit Christi widersprachen
[97] Becker charakterisiert ihn folgendermaßen: „…bigotter Sonderling, der sich dreimal in den Kapuzinerorden hatte aufnehmen lassen und jedes Mal vor Beendigung des Prüfungsjahres die Kuttr wieder ausgezogen hatte.“ Becker hielt jede Zusammenarbeit mit ihm für unmöglich. Später erfuhr er, dass der Fürst befohlen hatte, ihm das Kommissariat zu belassen.
[106] Pestalozzi hatte von 1775-1780 in Neuhof eine Armenanstalt in der Art einer Industrieschule betrieben.
[107] Carl Ferdinand Becker (1775-1849) war der Sohn des älteren Bruders Beckers. Er wurde nach Theologiestudium Professor in Hildesheim. Später Dr.med. und Arzt in Höxter. Gründete eine Erziehungsanstalt in Offenbach (Main). Als Sprachforscher wurde er durch eine Reihe von Werken bekannt: Deutsche Sprachlehre(1827-19), Ausführliche deutsche Grammatik (1836-39), Der deutsche Stil (1848)
[108] Selbstbiographie Carl Ferdinand Beckers, im Original (handschriftlich) im Becker-Archiv vorhanden (Fragment).
[109] Ferdinand Gottschalk Becker, Dr. med. und Hofarzt. Sohn eines jüngeren Bruders Beckers, der Weinhändler und Kaufmann in Paderborn war.
[110] Selbstbiographie Carl Ferdinand Beckers ,S.13
[112]Aktenmäßge Darstellung des wider den Fürstlichen Schulkommissar und Benefiziaten am Dom und derKollegiatkirche zum Bustorf Ferdinand Becker geführten Inquisitionsprozesses…, Mengeringshausen 1802
[113] Seibertz, a.a.O.,, 1. Bd., S. 39. Becker erwähnt diese Unterredung nicht, es scheint mir daher zweifelhaft, ob sie stattgefunden hat.
[114] Die Schulverordnung ist enthalten im Neuen Westfälischen Magazin von 1789, 1. Bd., S. 192 ff.
[115] Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund, 1776/79
[125]Neues Westfälisches Magazin von 1790, 2.Bd., S.137 ff.
[126] Der Educationsrat von Campe hatte darauf in derselben Zeitschrift ausführlich erwidert (ebenda, S.334 ff.) und Beckers Verdienst durchaus anerkannt.
[133] Nach dem Großen Tagebuch, S. 68, lehnte Becker ein Angebot Weddingens ab, für das Westfälische Magazin zu schreiben. Auch Carl Ferdinand Becker berichtet von Ablehnungen seines Onkels.
[135] Becker, Geschichte meiner Gefangenschaft, Rudolstadt 1799, S. 25
[136] Becker, Geschichte meiner Gefangenschaft, S.33ff; Richter, a.a.O., S. 207 ff; Henke a.a.O., S. 325 ff.
[137]exercitia spiritualis, geistliche Übungen. Sie haben den Zweck, bei Fehltritten und kleineren Vergehen von Geistlichen diese zum Erkennen und Bereuen zu bringen.
[139] Bezeichnet als „Kleines Tagebuch aus dem Gefängnis“. Becker-Archiv, Nr.2
[140] Die Tochter seines Hauswirts, eine Schülerin Beckers.
[141] Nach Henke, a.a.O., S.349, soll es sich um das Kloster Ringelheim gehandelt haben, und zwar um eine Zelle, die sich „oben in der Kirche mit nur einem Fenster zum Altar hin“ befunden haben soll.
[142] Der Provinzial (magister provincialis) ist das Oberhaupt des Ordens innerhalb einer Ordensprovinz. Er untersteht dem Ordensgeneral. Molkenbuhr unterstanden zahlreiche Klöster mit 700 bis 800 Mönchen.
[146]National-Zeitung der Teutschen von 1798, 26. Stück, S. 533 f.
[147] Außer diesen Notizen finden sich in demselben Jahrgang der Nationalzeitung Notizen und Aufsätze über Beckers Fall auf den Seiten 552, 578, 693, 877. Obige Nachricht S. 637
[148] Wortlaut der Provokationsklage bei Henke, a.a.O., S. 328 ff.
[149] Minerva, a.a.O., S.58 f; Henke, a.a.O., S. 333 f.
[150] Schäfers, Geschichte des Bischöflichen Priesterseminars zu Paderborn von 1777 bis 1902, Paderborn 1902, S.229
[158] Eine größere Anzahl von Briefen der Baronin von Warschowitz an Becker aus den Jahren 1798 – 1803 sind im Archiv vorhanden. C.v.W trat später aus dem Kloster aus, verliebte sich vorübergehend in Beckers Neffen, nahm den lutherischen Glauben an und heiratete 1803 den Arzt Dr. Werne in Osnabrück.
[162] Auch Minna Pansch-Becker spricht in ihren Erinnerungen von der „Nonne, die bei der Befreiung des Onkelsmitgewirkt hatte.“. (Erinnerungen der Minna Pansch-Becker, S. 10 meiner Bearbeitung. BB)
[186] Unter den Papieren findet sich eine Liste von 124 „Benefactores“, unter ihnen Namen von katholischen Pfarrern, Domherren, Beamten, Offizieren. (Becker-Archiv Nr. 9)
[198] ebenda, S. 135 Schwarz hat in seinen Erinnerungen (Denkwürdigkeiten aus dem Leben eines Geschäftsmannes, Dichters und Humoristen, Leipzig 1828, S.366 ff) den Fall Becker geschildert. Nach Richter, a.a.O., S.207 Anmerkung. Die Denkwürdigkeiten waren mir leider nicht zugänglich.
[203] Karl Friedrich von Beyme (1765-1838), späterer preußischer Justizminister. Nach Richter, a.a.O., S.211 ist das Immediatschreiben abgedruckt bei: Granier, Preußen und die katholische Kirche, Nr. 874
[220] vgl. S. 34 (im MS.S.62) Er war seinerzeit „Professor“ am Josephinum Hildesheim und studierte dann aus gegebenem Anlass Medizin in Göttingen, obwohl von seinem Onkel dem geistlichen Stand bestimmt! (Anmerkung des Herausgebers Bert Böhmer)
[221] Über die katholische Kirche, S. 534. Johann Franz Becker (1747-1819) war Kaplan in Stukenbrok in der Senne. Laut Westfälischem Volksblatt vom 27.11.1913 hat er sich besondere Verdienste um das Schulwesen in diesem ärmsten Teil der Senne erworben.
[227] Wann und durch wen die Pension zugesprochen worden ist, geht aus dem Material nicht hervor. Becker erwähnt sie in einem Brief von 1814 ; er fürchtet danach, dass er „nach dem neuen Tarif jährlich 28 Taler verliere.“
[228] Brief Beckers an Bohn vom 15.November 1813. 4/1
[229] Brief Beckers an Amalie Becker vom 11.September 1814
Erinnerungen an ihre Eltern Carl Ferdinand Becker und Amalie geb. Schmincke, etwa aus dem Jahre 1864
Bearbeitet von Bert Böhmer im Jahre 2003
Familienübersicht
Carl Ferdinand Becker 1775-1849(Arzt und Sprachforscher) & 1804 Amalie Schmincke 1782-1838
Ihre Kinder:
Ferdinand 1805-34 Arzt & Zilli von Roedlich
Sophie 1807-71 & Dr. Georg Helmsdörfer
Minna 1809-84 & Dr. Christian Pansch
Ferdinande 1811-95 & Adolf Trendelenburg 1802-72 Prof. der Archäologie
Friedrich Schuldirektor 1815-87
Bernhard 1817-46 Gymnasiallehrer & Clara Nietzsch 1822-1903
Carl Wilhelm 1821-97 Kaufmann und Konsul& 1856 Julie Schöffer 1839-1917
Theodor 1822-95 Schulrat & Marie Maurer * 1822
Die Verfasserin ist also das 3. , Bert Böhmers Urgroßvater das 7. Kind.
Quelle. Handgeschriebene Erinnerungen Minna Pansch-Beckers. Becker-Archiv Offenbach
Leben in bewegter Zeit
Unsere Eltern waren bedeutende Persönlichkeiten, und es musste ihr Einfluss auf unsere Kinderjahre deshalb ein mehr als gewöhnlicher sein; besonders bei den vier ältesten Geschwistern, deren Unterricht ganz ausschließlich von den Eltern geleitet wurde. Außer diesem Vorteile haben sie auch den vor den jüngeren Brüdern, dass bei äußerer Not und Beschränkung der geistige Reichtum, den unsere Eltern entfalteten, weit glänzender hervortrat, als in den späteren Jahren, wo die äußeren Verhältnisse sich günstiger gestalteten.
Ich werde versuchen für die Brüder niederzuschreiben, was in meinem Gedächtnisse als Erlebtes oder aus der Eltern Munde Vernommenes ruht.
Um Ostern 1830 begleitete ich den Vater auf einer Reise in die alte Heimat. Bei Lippstadt[1]verließen wir die Chaussee quer über die Heide nach Delbrück[2]. Die Gegend war öde, Sandhügel und Morast wechselten ab, zu hören war nichts als der Sturmwind und das Geschrei des Kiebitzes. Da zeigte mir der Vater in der Ferne die Nachtigall, den väter-lichen Hof, auf dem er seine erste Kindheit verlebt hatte.
Später habe ich viele solcher Höfe gesehen, wie in der armen Heidegegend das alte Volk der Sachsen sie bewohnt, oft seit tausend Jahren, vielleicht dieselbe Familie auf demselben Boden, auf dem sich die Menschen und die Sitten erhalten haben, dass man glaubt, tausend Jahre Geschichte zurück zu blicken.
Auf diesem einsamen, von Bäumen umringten Hofe, in den einfachsten, natürlichsten Verhältnissen und im innigen Verkehr mit den Höfen wuchs unser Vater bis zu seinem siebten Jahre heran, und Besonderes weiß ich darüber nichts zu berichten, als das er der Mutter von einem großen Kranich erzählt hat, dessen Tod wohl der erste Schmerz, aber ein nachhaltiger, in des Kindes Leben war.
Dass unser Vater an der Mosel[3] geboren ist, war fast Zufall, die Großeltern hielten sich dort eine Zeitlang auf, ich meine, der Großvater hatte dort irgendeine Stellung bei einer Fabrik, dem Fürstbischof von Paderborn[4] gehörig. Vielleicht sollten damit die Vermögens-umstände gehoben werden, die in Folge von verfehlten Experimenten – Spinnmaschinen perpetuum mobile und dergleichen – sehr schlecht waren. Seine Vorfahren mögen sich besser gestanden haben, eine lange Reihe von ihnen waren Bürgermeister in Gravenstein. Auch lebt in all den Familiengliedern, die ich kennen lernte, ein gewisses Selbstgefühl, wie es sich in alten Familien immer ausbildet.
Unser Großvater starb sehr früh. Sein Bruder, ein Geistlicher an dem Dom zu Paderborn, nahm den 7jährigen Ferdinand zu sich, der auch zum geistlichen Stande bestimmt war. Er trat damit aus dem Kreise der Familie, und die Geschwister redeten ihn mit Sie an. Hierin allein haben wir den Grund zu sehen, warum später der Vater nicht in dem Maße in und mit der Familie lebte, wie es sein Charakter und auch seine Veranlagung sonst wohl hätten mit sich gebracht, und wie seine Kinder – glaube ich – alle es jetzt tun.
Vater zeigte mir in Paderborn das Haus, wo er und ein Vetter gleichen Alters bei dem guten Onkel wohnten; dicht davor fließt ein Arm der Pader, die in die Stadt aus mehreren reichen Quellen hervorströmt; und er erzählte mir, wie sie in dem munteren Wasser sich Mühlen gebaut haben. Über der Hauptquelle der Pader ist eine Kirche gebaut – ich meine von Kaiser Karl – der wunderschöne Dom erhebt sich über der alten Kirche. Zu jener Zeit hielt der Fürstbischof einen glänzenden Hof in Paderborn, und es mochten sich viele vom alten Adel Westfalens dort sammeln. Vater führte mich zu Herrn von Brandes. Wir schritten durch ein Tor, unter alten Linden hindurch, durch den Hof nach dem Hause zu, wo die hohen Bäume, in den einige alte Zweige sich bewegten, einen beruhigenden Eindruck auf mich machten. Am besten gefielen mir aber die Bewohner, ein alter freundlicher Herr, und eine hohe, noch schöne Matrone. Das ganze Bild ist mir unvergesslich, es war die Erklärung des Rätsels, warum unser Vater, der mehr geistige Freiheit besaß als die meisten Menschen, mit denen er in Berührung kam, warum gerade ihn das echt Vornehme, besonders bei Frauen, so sehr imponierte.
Aus des Vaters Knabenzeit haben wir wenig erfahren, wahrscheinlich hat der Onkel selbst ihn unterrichtet, der mit großer Vorliebe sein Amt als Kanonikus für die Laufbahn verwaltete, und später unseren Bruder Friedrich noch zum Schüler hatte. Doch hat Vater auch die Schule besucht, denn er erzählte uns viel von den feierlichen Umzügen am Hl. Liboriusfeste[5], wo der Sarg des Heiligen mit gar mancherlei Zubehör in Prozession um die Noot getragen wurde. Die Schüler folgten mit Gesang; in den Pausen belustigte man sich damit, die Juden in den Straßen mit Knütteln zu verfolgen…[6] Auch wusste Vater manche Anekdoten über die Passionsspiele zu erzählen, bei deren Aufführung er als Schüler tätig sein musste (glaube ich). Das frische Knabenleben, in welchem Gesundheit, Körperkraft und physischer Mut frei und kräftig sich entwickelte, scheint unserem Vater ganz vorenthalten zu sein – er erzählte wohl, wie er ganz heimlich aufs Eis gegangen wäre, sich auf ein loses Stück Eis gestellt, den Mantel als Segel ausgespannt, sich vom Winde über die glatte Fläche habe treiben lassen. Das ist aber auch der einzige Knabenstreich, von dem ich jemals gehört habe. Geistliche Übungen in Kirche und Schule, sehr strenge Zucht und fleißiges Studium sollten ihn wohl am besten zu seinem Berufe befähigen. Doch ist bestimmt schon damals der Keim zu dem körperlichen Übel gelegt, das dem Vater selbst und allen, die ihn lieb hatten, so manche schwere Stunde gemacht hat.
Im 18ten Jahre wurde Vater als Lehrer des Lateinischen und der Mathematik am Jesuitenseminar in Hildesheim[7] angestellt. Es scheint ein sehr inniges Verhältnis zwischen dem Direktor der Anstalt (Lütgens?) und Vater bestanden zu haben, das noch in späteren Jahren fortgedauert hat. Beide Eltern haben einmal den 70jährigen Greis besucht, und Mutter wunderte sich über seine Wohnung; eine einfache Zelle mit zwei tannenen Stühlen und einem gleichen Tisch. Er muss seinen Zöglingen ein Vorbild gewesen sein in der Strenge und Enthaltsamkeit, die von ihm verlangt wurde.
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Wir haben Grund zu glauben, dass unser Vater mit Freude und Erfolg sein Amt verwaltet hat, in dem er ohne äußeren Anstoß vielleicht fest auf dieser Bahn geblieben wäre. Es lag in Vaters Charakter nicht allein eine völlige, ausschließliche Hingebung an das, was seine Seele einmal mit Liebe erfasste; er besaß neben dieser kindlichen Begeisterung auch die ganze ausdauernde Treue, ohne welche jene Begeisterung nichts Großes, Tüchtiges bewirken kann. Schon wie nun trotz dieser Beharrlichkeit, des Vaters Lebensweg über sehr verschiedene Felder des Forschens und Wirkens einen – scheinbaren – Umweg machen, so müssen wir dabei fest ins Auge fassen, dass nicht Wankelmut und Überdruss, sondern jederzeit ein äußerer Zwang, oft eigentliche Not ihn auf eine neue Bahn führten. Und so sehen wir in beider Eltern Leben ungewöhnlich klar, wie eine höhere Hand sie zu ihrer Bestimmung leitet, während beide geistig frei sich bewegend in einem Maße, wie die Mehrzahl der Menschen es nicht erreicht, und mit geistiger Kraft sich immer über die drückenden Verhältnisse erhebend; der Vater in das Reich der Wissenschaft, der Wahrheit und der Gesetzlichkeit der Lebenserschei-nungen mehr und mehr zu erforschen; die Mutter unermüdlich in warmer, tätiger Liebe, Behaglichkeit und allen Freudigkeit verbreitend in ihrem Wirkungskreis, der ihr nie groß genug zu sein schien für ihr reiches warmes Herz.
Meine Mutter ist in Karlshafen[8] an der Weser geboren. Die kleine Stadt ist von französischen Refugiés gebaut, welche der Landgraf von Hessen gastlich aufnahm. Noch zu der Mutter Zeit hatten sie ihren französischen Gottesdienst abwechselnd mit den Deutschen und den Katholiken in derselben Kirche. Hohe Berge schließen die Weser hier ein, verfallene Burgen in der Nähe und steile Klippen geben der Gegend etwas Romantisches, während der Handelsverkehr nach Bremen hier früh schon Fleiß und Wohlfahrt beförderte.
Mein Großvater (Schmincke) verlor früh seine Eltern; er sollte das Malerhandwerk lernen. Wohlwollende Menschen halfen ihm später auf den Weg, Kaufmann zu werden. Mutter erzählte von ihm als von einem stattlichen, wohlhabenden Manne. Er verschiffte viel Korn nach Bremen, die ältesten Töchter gewannen ein schönes Taschengeld aus den Groschen, die er ihnen für das Nähen der Kornsäcke gab. Zugleich hatte er einen Kolonial-Laden, in welchem die Invaliden (der nach Amerika und Kapland geschickten Truppen)[9] viel aus- und eingingen und gewiss dem lebhaften kleinen Malchen oft erzählen mussten. Großvater war Bürgermeister, er hatte für sieben Wochentage sieben vollfrisierte Perücken im Schranke stehen; und für jedes Kind – das zehnte wurde nach seinem Tode geboren – schaffte er gleich nach der Geburt eine Uhr an. Wenn er Sonntags zur Kirche ging, folgten die Kinder ihm paarweise. Mittags kam jeden Sonntag eine Flasche Lunel auf den Tisch, und alle mussten (auf) des Landgrafen Gesundheit trinken – derselbe, der seine Landeskinder verkaufte – aus Dankbarkeit, dass er das französische Theater in Kassel abgeschafft hatte. Meine Mutter erinnerte sehr gern daran, wie sie unter seinem Arbeitstisch an der Erde saß und im Gesangbuch las. Sie war acht Jahre alt, als ihr Vater starb.
Meine Großmutter war aus Uslar[10] gebürtig, wo die Schuhmanns noch in mehreren Familien wohnen. Sie heiratete mit 16 Jahren, wurde mit 34 Jahren Witwe, Mutter von 10 Kindern und Vorsteherin eines bedeutenden Handelsgeschäftes. Heiter, lebhaft und unerschöpflich wohlwollend und nachsichtig, war sie dieser Aufgabe nicht gewachsen. Es war die Zeit, als allerorten nicht nur dem Zwange, sondern auch der strengen Sitte der Krieg erklärt wurde. Aber auch ohne solchen Einfluss hätte sie schwerlich das Herz gehabt, den heranwachsenden Kindern einen Lebensgenuss zu versagen. Nicht die Töchter, wohl aber der Sohn haben darunter gelitten. In ihren Händen ging das Geschäft rasch zurück. Die Großmutter hat endlosen Kummer und Sorgen gehabt, hat sich dabei aber ihr freundliches Gemüt bewahrt, und ist hoch in den Neunzigern gestorben, nur die letzten Jahre leidend. Sie war etwa 60 Jahre alt, als sie uns in Offenbach besuchte, rüstig und bereit zu jeder Arbeit und empfänglich für jede Freude, am meisten für das Suchen und Finden der jugendlichen Welt – eine reine, warme Menschenseele.
Nach dem Tode des Großvaters Schmincke kam Mutter mit ihrem jüngsten Bruder nach Uslar zu ihrer Großmutter Schuhmann. Diese war schon lange Witwe, stand sorglich ihrem größeren Haushalt und einem Laden vor, in welchem namentlich die reichen Bäuerinnen gern die Aussteuer kauften, da sie in allen Dingen guten Rat in den Kauf bekamen. Meine Urgroßmutter mag etwas mährig[11] gewesen sein. Sie saß im Unterrock an ihrem Spinnrad, und jedes Mal, wenn ein Kunde in den Laden kam, zog sie erst ihr Kleid an. Das Haus stand am Markte, wo die schönsten Kirschen feil waren, die Kinder bekamen aber keine anderen, als die spätreifenden aus dem eigenen Garten. Der Knabe klagte oft der Schwester seinen Hunger, welche ihm dann getrocknetes Obst mitbrachte, welches in großen Mengen dort hing.
Der pädagogische Sinn findet leicht in diesen, nur auf heimlichen Wegen gestillten Begierden, den ersten Schritt zu einer Laufbahn, die durch Leichtsinn und Genusssucht gelenkt, sich in die Jura (?unleserlich) verlor. Aufmerksamer als das Seelenheil der Enkel beobachtete die gute Frau das irdische Wohlergehen ihres Nachbarn des Bäckers. Sie sah kein Brot mehr auf dem Laden und hörte, dass ihm das Geld fehle, Mehl zu kaufen. Sogleich war sie bereit ihm vorzuschießen, ließ sich aber jeden Sonnabend das Geliehene wiederbringen, um es ihm wieder auf 8 Tage anzuvertrauen, bis der Mann gut im Gange war.
Sie selbst mag ein schönes Vermögen gesammelt gaben, denn obwohl der Großmutter Geschäft in Karlshafen bankrott war, und sie später noch vielfache Verluste erlitt, hat sie doch nach ihrem Tode noch so viel hinterlassen, dass ihre vielen Enkel eine Kleinig-keit erhielten. Auch scheinen andere Glieder der Familie weder der Eleganz noch dem Luxus fremd geblieben zu sein. Meine Mutter pflegte in ihrem 14ten Jahre eine Tante, welche sich die Schwindsucht dabei geholt hatte, dass sie sechs Stunden weit nach Kassel auf einen Ball geritten war. Eine andere Tante war an einen Major verheiratet, und eine elegante Dame. Es war eine Jugendliebe, aber durch der Eltern Machtwort getrennt, die sie anderswie verheirateten. Lange nachher wurde der Geliebte schwer verwundet (bei Hohenlinden[12]) und verlangte, bei ihr zu sterben, die unterdessen Witwe geworden war. Er starb nicht, sondern genas, und wurde der versammelten Familie feierlichst als Bräutigam vorgestellt. Aus der Urgroßmutter Nachlass kamen zwei schwerbrokatene Seidenkleider in unser Haus, von einer Façon, wie sie jetzt ganz modern wäre. Auch sie starb mit 96 Jahren, ich weiß, dass ich sie noch gesehen habe.
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Mit 14 Jahren kam Mutter zu ihrer ältesten Schwester, die dem Inspektor Bernstein auf der Färbermühle verheiratet war. Sie war sehr schön, so weich und nachgiebig, dass ihr Mann sie oft flehentlich bat, ihm doch einmal zu widersprechen. Bernstein war ein großartiger, genialer, leidenschaftlicher Charakter, wie jene Zeit wohl viele aufgezogen hat. Er hat jedenfalls großen Einfluss auf die geistige Entwicklung des jungen, empfind-samen Mädchens gehabt. Mutter sprach allzeit mit großer Liebe und Dankbarkeit von ihm, erzählte aber auch viele einzelne Züge, dass uns klar wurde, wie sie mit der Schwester oft unter seinen Schwächen gelitten hat.
Es war ein geselliges, gastliches Leben auf der Färbermühle, davon erzählte noch mein Vater, als wir 1830 an dem Garten mit seinen Lauben vorbeikamen. Es verkehrten dort aber auch solche, welche den Hausherrn zu Spiel und Trunk verleiteten. Ein paar solcher Freunde fanden einst in seiner Abwesenheit das Haus geschlossen, und erhielten auch an den Fenstern keine Antwort. Die beiden Schwestern hatten sich glatt auf die Erde gelegt, um nicht gesehen zu werden, und erreichten es, dass die unwillkommenen Gäste wieder abzogen. Bei einer anderen Gelegenheit hängte sich die junge Schwägerin dem Hausherrn von hinten um den Hals, und ließ sich so lange von ihm herum-schleppen, bis er ihr die Erfüllung eines Wunsches versprach, der sicher nichts mit dem eigenen Behagen zu tun hatte, sondern sich auf die Tränen der jungen Frau bezog.
Außer der Arbeit in Haus, Garten und Küche, die bei den häufig improvisierten Festmahlen nicht gering war, hatte Mutter großen Teil an der Kinderpflege. Linchen (nachher an Katenhusen verheiratet) ist voll mit auf ihrem Arm groß geworden. Oft ging sie mit dem Kinde und einem Buch nach der Ruine (an der Diemel?) und machte sich dort heimisch. Oder sie setzte sich in die Rumpelkammer, wo ein altes Klavier stand, mit nur wenigen Saiten, und versuchte mit der einen freien Hand sich Melodien herauszufinden. Bernstein, der unerwartet nach Hause kam, überraschte sie dabei, hatte aber so große Freude daran, dass er sie die Noten lehrte und ein besseres Klavier anschaffte. Er selbst spielte sehr schön Violine, und hatte oft Quartette im Hause. Warme Freundschaft hielt sie auch mit dem 7jährigen Sohn der ersten Frau, um den die Eltern bei dem sehr geselligen Leben sich nicht viel kümmern konnten. Im Sommer 1834 hat Mutter ihn noch besucht, und aus seiner Messinghütte[13] brachte sie einiges Hausgerät zu meiner Aussteuer mit. Die Tante selbst hatte drei Kinder, von welchen die beiden Jüngsten den ganzen Unsegen der nahen Verwandtschaft beider Eltern geerbt.
Linchen war 1814 bei uns in Göttingen, wo sie ihren späteren Mann kennen lernte. Dorthin kam dann auch ihre Mutter, krank schon, und starb bei meiner Mutter.
Über eigentliche Erziehung unserer Mutter ist also wenig zu sagen, sie ging in die Kantorschule, wo Bibellesen die Hauptsache war, die Kinder aber auf ihren Tafeln ziemlich nach Gefallen zeichnen und schreiben durften. Das Weitere tat das Leben. Zum Beispiel: eine Tante zeigte ihr zwei moderne Strohhüte, um den schönsten daraus für die Tante zu wählen, den anderen sollte dann Mutters Schwester haben – da aber diese dem Kinde viel lieber war, bezeichnete sie den falschen Hut als den schönsten und bekam ihn dann selbst geschenkt. Diese kleine Begebenheit machte tiefen Eindruck.
So umsichtig nun unsere Großmutter war, so lebhaft, vielleicht sogar keck ihre kleine Amalie, so erlaubte doch die damalige Sitte nicht die Vertrautheit zwischen Eltern und Kindern. Die Großmutter wurde von den eigenen Kindern immer mit Sie angeredet, während wir Enkel Du zu ihr sagten. Auch erinnert sich Mutter, wie sie als Kind oft so sehnsüchtig zu ihrer Mutter schönem Gesichte aufgeblickt habe, und gar zu gerne sie geküsst hätte, nie aber gewagt, es zu tun.
Unser Großonkel in Paderborn hatte seine beiden Neffen siebenjährig[14] zu sich genommen, unterrichtet und erzogen. Es mögen damals die meisten denkenden Menschen erkannt haben, auf welchen Irrwegen die Menschheit sich verloren hatte, und dass es erst einer anderen Generation gelingen werde, wieder einzulenken auf die geraden Wege. Außerdem mag der alte Herr persönlich die pädagogische Anlage schon besessen haben, die in unserer Familie ziemlich erblich ist. Er hatte die Dorfschulen zu inspizieren; in seinem Bestreben, die tiefe Finsternis etwas zu lichten, erregte er den Unwillen seines Vorgesetzten, und es kam so weit, dass der Fürstbischof von Paderborn ihn als Ketzer anklagen und festnehmen ließ. Mein Vater zeigte mir den Turm, wo der 70jährige, kränkliche Mann Monate lang gefangen saß. Da es seinem Freunde nicht gelang, auf gesetzlichem Wege sein Los zu lindern, so erschienen eines Nachts verlarvte Männer[15] an seinem Fenster, holten ihn auf einer Leiter herab und brachten ihn über die Grenze in Sicherheit. Von hier aus wandte er sich klagend an das Reichskammergericht[16] zu Wetzlar, und seine Sache musste gut und einfach sein, denn es kam schon bald das Urteil, welches dem Fürstbischof auferlegte, ihn für die erlittene Unbill Schmerzensgelder zu bezahlen, so dass der Onkel selbst die Summe zu bestimmen habe. Die Summe, die er verlangte, war aber so hoch, dass sein Landesherr in Wetzlar Protest einlegte – und darüber kamen die Franzosen und warfen die Akten in Wetzlar mitsamt dem ganzen Reich über den Haufen.
Die Hoffnung, reich zu werden, gab er nicht auf. Er wohnte einige Jahre bei meinen Eltern in Höxter[17], wo er sich namentlich viel mit dem 3-5jährigen Ferdinand beschäftigte. Sie machten zusammen eine Erdkugel, auf der das Meer vertieft, die Berge erhöht waren; an dieser und einigen Quartbüchern, in welche er Betrachtungen und Auszüge für ihn niedergeschrieben – habe ich meine erste Weltkunde gelernt. Die Entdeckungsreisen waren damals – durch Campe[18] – eines der Hauptinteressen aller Gebildeten.
Das Schicksal ihres Onkels und Erziehers gab den beiden jungen Männern eine andere Lebensrichtung[19]. Beide haben darauf Medizin studiert. Dazwischen fällt vielleicht des Vaters Reise nach Holland als Hauslehrer in einer adligen Familie, und auch ein kühner Plan beider Vettern, nach Mainz zugehen und sich dort den Freiheitshelden (Clubbisten)[20] anzuschließen. Es hatte sie dazu begeistert eine Nonne, die bei der Befreiung des Onkels mitgewirkt hatte, und welcher die jungen Männer persönlich dafür dankten. Es scheint, dass die Nonne Wohlgefallen an ihnen fand, und ihr junges Herz gern zwischen dem schwarzen und dem blonden geteilt hätte, jedenfalls ernstlich vorhatte, mit ihnen in Mainz die Freiheit zu leben. Mutter deutete dergleichen an, und Vater mag aus jenen Erlebnissen wohl sein Grauen vor phantastischen, exaltierten Frauen sich angeeignet haben. Wenn später in seiner Gegenwart das Klosterwesen gerühmt wurde, dann tauchten jedenfalls Erinnerungen in ihm auf, welche ihn zu einem sehr harten Urteil darüber berechtigte. Auf der Universität dagegen ist Vater wohl das eigentliche Geistesleben erst auf-gegangen, als er 24 Jahr alt war[21], sich frei in der Wissenschaft, der Natur und in jugendlichen Kreisen bewegen durfte. Auch die jüngeren Brüder werden sich seiner leuchtenden Augen erinnern, wenn er von der Zeit sprach, und das tat er oft und gern. Blumenbach, Richter und Andrä nannte er oft, und ein schöner Kreis von Freunden schloss sich ihm an, unter welchen auch Hausmann wohl der bedeutendste war. Eine Preis-schrift: Über den Einfluss der Kälte und Wärme auf den menschlichen Körper gewann er damals, Adolf hat sie als Eigentum. Nach drei Jahren promovierte er als Doktor der Medizin und wurde in Höxter angestellt.
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Unsere Mutter war unterdessen mannigfach angeregt und beschäftigt. Ihr Bruder Wilhelm studierte Medizin und brachte oft andere Studenten und Freunde in die gastlichen Häuser der Mutter und des Schwagers. Unter ihnen Brede, der sich mit der zweiten Schwester verlobte, und später in Uslar Bürgermeister war. Die ganze Jugend war in jener Zeit gehoben und erregt, und der Freiheit Hauch mochte viele Schranken niedergeworfen haben, die vorher wie nachher das gesellige Treiben beengten. Was Mutter von ihren Mädchenjahren erzählte, wie neben und nach tüchtigem Arbeiten in Haus und Garten die jugendlichen Scharen Feld, Wald und Gebirge durchwanderten, in Scherz und Spiel nicht nur, sondern in anregenden Gesprächen über die höchsten und heiligsten Interessen – das hörten wir allzeit gar zu gern mit an. Da war ein Herrnhuter[22] aus Kurland (ein vonUngern–Sternberg[23]), der sie für seine Religion begeisterte und von der Missionierung in Grönland erzählte. Dann wurde eine Art Tugendbund unter mehreren geschlossen, dessen Symbol die Lorenzodose war. Es war die Zeit, wo jede neue Erscheinung in der Literatur ein lebhaftes Echo in allen jungen Herzen fand und ewig neuen Stoff zu Gesprächen gab.
Bürgermeister Brede lud zu seiner Hochzeit auch seinen Freund, unseren Vater, ein, und es fanden sich die beiden lebhaft erregten, nach dem Lichte strebenden Seelen schnell zusammen. Das Brautpaar mag manche schöne Stunde im Garten der Färbermühle oder oben auf den Klippen zugebracht haben. Der Anblick beider machte meinen Vater wehmütig, es lag nicht nur in dem Charakter beider Brautleute, sondern auch in der ganzen Zeit, die Liebe so ideal zu empfinden, sich ihr so ganz hinzugeben, dass es zur Unmöglichkeit geriet, sie durchs ganze Leben auf dieser Höhe zu erhalten. Der Brief-wechsel beider aus jener Zeit, den ich noch nicht gelesen, wird dies sicherlich belegen.
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Am 2ten April 1804 war die Hochzeit unserer Eltern. Onkel Bernstein fehlte dabei; obwohl er Vormund war, denn er konnte sich nicht drein finden, einen Katholiken zum Schwager zu haben. Doch besuchte er sie einige Monate später in Höxter, wo völlige Versöhnung war. Mutter, die eine sehr gute Aussteuer an Leinen bekommen hatte, trug als Brautkleid einen schwarz und gelb geblümten Kattun mit gelbseidenen Ärmeln. Vaters Hauptstück waren die schwarzseidenen Doktor-Strümpfe, deren Anschaffung ihn gewiss sehr schwergeworden war. So fuhren sie auf der Weser nach ihrem neuen Wohnort.
In Höxter bildete sich zunächst eine intime Freundschaft mit dem jungen Pastoren-Ehepaar Sasse. Sie kamen, wenn ihr Ofen rauchte abends zu den Eltern und aßen mit ihnen Pellkartoffeln. Bei entgegengesetztem Wind rauchte hier der Ofen und die Eltern zogen dann zu Sasses. Vater bekam 200 (Reichstaler) Gehalt, hatte dafür aber die Apotheke für die Armen zu bezahlen. Da nun Vater sehr gewissenhaft war, und zudem ein eifriger Anhänger Browns war, der sehr für stärkende – sehr teure – Arzneien schwärmte (?), so wanderte mitunter die ganze Besoldung in die Apotheke… Die übrige Praxis war viel auf dem Lande, weshalb ein Pferd gehalten wurde, aber ein recht frommes, welches von dem Dienstmädchen besorgt wurde.
Die Eltern mögen in jener Zeit sehr gesellig gelebt haben, schon die Stellung als Arzt bringt es mit sich, zudem wurde in jener Zeit, wo die strenge Form sich gelöst hatte, wo aber die allgemeinen menschlichen Interessen sich geltend machten – mächtig bis zu gewaltsamen Ausbrüchen – es wurde in jener Zeit eine Art Kultus getrieben mit der Freundschaft. Für Freundschaft aber wurde gar oft schon ein gefälliges Anklingen der Seelen gehalten, in welches äußere Verhältnisse oder innere Gesinnung nur zu bald einen Missklang brachten.
Die Familie von Haxthausen scheint in dieser Hinsicht für beide Eltern bedeutend gewesen zu sein. Es waren gegen 12 Geschwister. Eines der ältesten war die Mutter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Einer der Jüngsten – August – ist als Schriftsteller bekannt, vermutlich durch seine Studien der russischen Verhältnisse. Sie gehörten zu dem alten, streng-katholischen westfälischen Adel, waren wohl alle geistig bedeutend und den neuen Ideen zugänglich. So kam es, dass der Älteste eine Protestantin heiratete; dafür wurde dann ein Jüngerer – Werner – zum Chef der Familie bestimmt, der auf den Erbsitz Bökenburg wohnte. Dort habe ich mit meinem Vater Ostern 1831 einige Tage zugebracht. Die beiden Männer vertieften sich immer aufs neue in tiefe philosophische Gespräche, denen ich horchte, natürlich nicht folgen konnte, nur soviel daraus ersah, dass diese Art Philosophie meinem Vater zu unklar und phantastisch war. Der Burgherr war übrigens zur französischen Zeit entflohen und hatte sich in England in die Deutsche Legion[24] aufnehmen lassen, die so ruhmreiche Kämpfe bestanden. Eine ritterliche Erscheinung war er, und seine sanfte, liebliche Frau gefiel mir besonders. Ein einziges Töchterlein wurde von derselben Kinderfrau gepflegt, die mich vor Zeiten gewartet hatte (neben Vaters Pferd natürlich).
Zu den Persönlichkeiten auf Bökenburg passte aber nun gar nicht das Gut selbst. Der sehr fette Boden hinderte uns bei Regen an allem Wandern, hat aber seinen Besitzern jetzt nach 40 Jahren die Kassen gefüllt, und bei sorgsamem Pflügen – zu welchem auch damals schon der beste Wille war – hat das unscheinbare Haus mit seiner Umgebung auch wohl ein freundlicheres Ansehen gewonnen. Damals war es nicht lockend für junge Gemüter, die vom Main und Rhein kamen: Wir fuhren erst durch das Dorf, d.h. einzelnen Lehmhütten, an deren seltenen trüben Fenstern keine Blume, kein Blatt, aber auch kein Menschenantlitz zu sehen war. Statt der Gärten mit Obst, Gemüse und Blumen, wie ich sie immer auf den Dörfern gesehen, erstreckte sich vor jeder Hütte nur ein großer Mistpfuhl. Endlich erreichten wir das Herrenhaus, klein, alt, uninteressant, ein kleines Gebüsch dahinter, sonst nur Wiesen und Felder. Die Waldungen sind – wie Vater erzählte – nicht sowohl dem Kriege zur Beute gefallen, als vielmehr zur Aussteuer der jüngeren Söhne und Töchter nach den verschiedenen Stiften und Klöstern[25].
So mag damals manches alt-adlige Gut ausgesehen haben, dessen Besitzer an den kleinen Höfen oder in Garnison die Einkünfte verschwendet hatten, ohne sich um Land und Leute zu kümmern, die immer tiefer verfielen. Doch war damals schon der Anfang zur besseren Verwaltung gemacht: die Frau des Landrats von Metternich zu Verden[26] an der Weser war auch eine geborene Haxthausen. Diese hatte eine heiße Liebe zu meiner Mutter gefasst, und wollte durchaus den engsten Freundschaftsbund mit ihr schließen, wozu auch das Du gehörte. Das war aber der Schwiegermutter nicht recht, denn die Metternichs waren stolz darauf, dass aus ihrer Familie schon Fürstbischöfe von Paderborn gewählt waren Ich habe in Verden noch selbst das Zimmer gesehen, mit goldverzierter Pergamenttapete, wo der Bischof in blau-damastenem Himmelbett ruhte; und dann seine Toilette aus silbernem Waschgeschirr machte. Meine Mutter sollte also unter vier Augen mit Frau Metternich auf Du stehen, vor der Welt den Abstand zwischen Adel und Bürgertum beachten. Diese Zumutung war aber zu stark für die offene Natur und den freien Sinn meiner Mutter, welche sich dadurch Achtung und Liebe auch nicht verscherzt hat. Metternich war nicht nur ein guter, sorgsamer Landwirt, sondern auch als Landrat der preußischen Regierung und den neuen Einrichtungen derselben treu ergeben. Das wurde ihm sehr verübelt von einem großen Teile des Adels, der nicht nur aus Treue für die Kirche und alte Sitte widerspenstig sich zeigte, sondern auch wegen der Befreiung der Bauern und Hörigen, wie ich mich erinnere aus manchen Gesprächen (1831).
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Wenn nun in den katholisch-aristokratischen Kreisen der Familie Haxthausen die geistreiche, romantische Richtung jener Zeit vorzugsweise hervortrat, so herrschte auf der altertümlichen Burg der Freifrau von Oeynhausen ein ganz anderer Geist, jedenfalls in reinerem Einklang mit dem was beide Eltern liebten und ehrten. Von drei Brüdern von Oeynhausen, die als Junggesellen auf der alten Burg ihrer Väter lebten, war der Jüngste – das Kind benannt – 60 Jahre alt, als im Familienrate beschlossen wurde, dass er sich verheiraten müsse. Zu der Zeit, da mein Vater als Arzt hinberufen wurde, war die Erwählte schon lange Witwe, und lebte für ihre beiden Knaben – Zwillinge. Als Hauslehrer unterstützte sie Klaiber, früher Karlsschüler[27], später Konsistorialrat in Stuttgart. Die Knaben gediehen frisch und fröhlich, es war ihr besonderer Spaß, wenn mein Vater kam, ihn zu fassen an jedem seiner Beine, und ihn so herumzutragen. Im Jahre 1814 sah ich sie in Göttingen auf dem Wege zum Kampfe fürs Vaterland – mir eine teure Erinnerung an jene Zeit. Sie hatten beide als Bergleute studiert, der eine vertiefte sich später in Studien über Dante. Er besuchte uns öfters in Offenbach, und sein schlichtes Wesen zu den zarten Versen und der sanften innigen Stimme imponierte mir auch damals. Der andere blieb seiner Mutter Erde treu. Mit dem Ränzel auf dem Rücken, den Hammer in der Hand, durchwanderte er die Gebirge; so sah ich ihn bei Somervilles auf seinem Wege nach dem schottischen Hochland. Es ist derselbe, der später bei Rehme den Brunnen gebohrt hat, zu dem aus Nah und Fern die Kranken und Lahmen ziehen und Heilung suchen. Von dieser Familie also erzählte unsere Mutter oft und gern. Der echte evangelische Geist lebte tatkräftig in dieser Frau zu einer Zeit, wo den meisten Gemütern die guten Regungen in anderer Gestalt erschienen. Man schwärmte für Freiheit, für Natürlichkeit, für den Nutzen; ruhigere Gemüter zogen sich in das stille Reich ihrer Empfindungen zurück, und die große Menge der Frauen hatte ein weiches Herz und offene Hand, wo Not oder Leid an sie heran trat – wie das gottlob! auch jetzt ist und wohl zu allen Zeiten war. Den richtig gebildeten Frauen der Gegenwart erscheint es als einfache Christenpflicht, die Brüderlichkeit auch in weiterem Kreise zu üben, nur immer vom engeren ausgehend; und so muss der Sinn der Frau vonOeynhausen gewesen sein, so fasste unsere Mutter ihn auf und wirkte darin als eine der Vorläuferinnen in der Arbeit, die wir alle jetzt vorzugsweise wollen, wenn auch das Tun nicht gleichen Schritt hält.
Die Burgfrau erbarmte sich der Kinder, die damals auf den Dörfern noch roh und wild aufwuchsen, wenigstens in ihrer Nähe. Sie hatte keine Mittel, eine Schule zu gründen, verkaufte zu dem Zweck einen kostbaren Ring, der ihr zweimal wiedergebracht wurde. Als er zum dritten Male verkauft war, konnte sie ihre Schule anfangen. Dergleichen geschieht jetzt alle Tage, damals gehörten seltene Geistesgaben zu solchen Schritten. Sie scheint viel von beiden Eltern gehalten zu haben. Nach einer schweren Krankheit gab sie ein großes Genesungsfest, wo Vater viel Ehre erwiesen wurde.
Zu einer anderen Zeit wurde er spät abends auf die Burg geholt, und ihm nach ärztlicher Beratung eine Schlafstätte in einem anderen Flügel des Gebäudes angewiesen. Dort wurde er aus dem tiefen Schlaf geweckt durch Kettengerassel und schlagende Türen, immer näher und näher, bis die Tür aufging, eine abenteuerliche Gestalt mit großer Laterne eintrat und vor seinem Bette kräftig ins Horn stieß. Es war der Nachtwächter, dessen Amt es war, die leeren Gänge und Zimmer zu besuchen, und der nichts vom Besuch erfahren hatte. Frau von Oeynhausen hat Gevatter gestanden zu Schwester Sophie; sie nahm dieses Amt sehr ernst, und versprach unserer Mutter, auch nach ihrem Tode werde ihr Geist noch um ihren Paten sein mit Hülfe und Segen. Mutter erzählte dies später in Gegenwart von Frau Nieß, welche darauf sich erbot, die Stellvertreterin dieses Paten zu sein.
In Höxter selbst mag auch vieler und munterer geselliger Verkehr gewesen sein. Sonntags nachmittags ging man nach Corvey – sonst das alte Kloster -, wo lustig getanzt wurde. Die Frauen nahmen ihre kleinen Kinder mit dorthin. Die hannöverschen und braunschweigischen Domänenpächter, Amtmann genannt, verkehrten auch dort. So war ich mit Vater bei einem alten Bekannten in der großen Porzellanfabrik Fürstenberg zu Besuch, wo die Familie den Eindruck soliden Wohlstands machte. Solide waren auch die Tassen etc. mit den Eichenkränzchen aus dieser Fabrik, von denen noch lange einige existierten. In gleicher Form und Masse sind aus dem Trendelburg’schen Hausstande mehrere Kannen etc. in den unseren übergegangen, auch fest und dauerhaft. Aus diesen Amtshäusern liefen willkommene Geschenke an Lebensmitteln für den Hausarzt ein, und Vater scheint damals eine sehr gute Praxis gehabt zu haben. Namentlich als 1809 der Typhus epidemisch auftrat, soll er mit sicherem Blick und gutem Glück siegreich dagegen gekämpft zu haben. Während des Sommers machte er sich daran, die Erfahrungen mehrerer Monate dieser Krankheit schriftlich zu behandeln; und mitten in dieser Arbeit wurde auch er davon ergriffen, und lag viele Wochen schwer krank. Ferdinand war vier, Sophie zwei Jahre alt, und ich wurde im November darauf geboren. Die Mutter durfte kaum das Krankenbett verlassen, meistens ruhte Vaters Kopf auf ihrem Arm. Die Genesung kam spät und langsam, namentlich scheint Vater ängstlich und Hypochonder gewesen zu sein, den alten Lebensmut nicht mehr findend. Wie ihm durch den Doktor Faust in Bückeburg dieser wieder angeregt wurde, das erzählte Vater selbst oft und gern, und hat treulich anderen denselben Liebesdienst erwiesen, wo es galt, die mutige Freudigkeit zu Hilfe zu rufen gegen den lähmenden Druck trüber Gedanken.
Faust war ein Vorkämpfer unter den tief denkenden und warm fühlenden Männern jener Zeit, die sich das Ziel setzten, die Menschheit zu befreien von den Fesseln der Weich-lichkeit und Unnatur. Dies gelang selten bei denen, welche darin aufgewachsen waren. Um so wärmer nahmen sie sich der Kindheit an; und wenn in den Zeiten der Freiheits-kriege, wenn in unserer Zeit Tausende junger Männer mit rüstiger Kraft durchführen konnten, was die Seele mit Begeisterung ersehnte – so gebühret ein großer Teil des Dankes dafür Männern wie Heim, Hufeland, Faust und ähnlichen Strebenden. Nicht gewaltsam brachen sie die abgestorbenen leeren Formen, aber sie traten ein für das Recht freier Begegnung und naturgemäßer Entwicklung jedes Menschen von seinem ersten Atemzuge an. Sie lehrten die Mütter, nicht nach reichlichen Genüssen die Begierde ihrer Kleinen zu lenken, sondern im Umgang mit der Natur und in der freien Übung ihrer Kräfte die Freude zu suchen, welche jedem Menschenkinde ein Bedürfnis ist. In diesem Sinne sind auch wir Geschwister aufgezogen worden von unseren Eltern, denen wir es überdies zu danken haben, dass sie uns bewahrt haben vor den Aus-schreitungen, zu denen mancher sich verleiten lässt, dem die Freiheit oder Ähnliches zum Götzen wurde. Wir alle haben gesehen, wie einige die Abhärtung ihres Körpers so weit trieben, dass diese nicht mehr Mittel, sondern Zweck wurden, und die so gestärkte Körperkraft zuletzt nur der eigenen Eitelkeit dienste. Andere wuchsen in der unbe-dingten Freiheit des eigenen Willens auf, und wie sie niemals lernten, sich einer Autorität unterzuordnen, so gehorchte auch später der ungezügelte Eigenwille nicht mehr der eigenen Vernunft.
Das Nervenfieber und seine Folgen muss große Störung in Vaters ärztlicher Praxis bewirkt haben. Er war allzeit ein denkender, philosophischer Arzt; und es wurde ihm der sichere Blick nachgerühmt, der eine Gabe von oben ist, und oft dem Fleißigen und Gewissenhaften versagt bleibt. Bei ernstlichen Krankheiten, und da, wo es galt durch seine Persönlichkeit zu imponieren, muss Vater – soweit ich mich erinnere – meistens sehr viel Glück gehabt zu haben. Es war rührend, wie noch in den 30er Jahren die Bauern aus Dietzenbach in schweren Fällen seine Hilfe nachsuchten. In anderer Hinsicht passte hingegen seine Eigentümlichkeit nicht zum ärztlichen Beruf: Einmal hatte er so gar keine Geduld mit den kleinen Plagen und Leiden, wie müßiges und üppiges Leben sie hervorruft gerade in den Kreisen, aus welchem dem Arzte die beste Einnahme zufließt. Außerdem war feste Ordnung und regelmäßiges Leben seiner Natur geradezu ein Bedürfnis, er ließ sich von vielen kleinen Gewohnheiten beherrschen sogar – und so denke ich mir, dass auch in früheren Jahren gestörte Nachtruhe, unterbroch-ene Mahlzeiten und wirklich unbescheidene Ansprüche ohne Not ihn oft mögen verstimmt haben, so dass die Patienten bei der nächsten Veranlassung zu einem anderen Arzte schickten, der vielleicht geduldiger und geschmeidiger war. Gewiss ist, dass Vaters Einnahme in Höxter sehr gering war, und als er dann auch die Besoldung verlor, war unseres Bleibens nicht mehr dort. Das kleine Land war nämlich nacheinander unter mehrere Herren gekommen. Ferdinand wurde unter preußischer Herrschaft geboren, wir Schwestern haben aber nicht erfahren können, welchem Fürsten unser erster Gehorsam gebührte – Oranien, Frankreich? Wir hatten also doppelt Grund, zum großen Vaterlande zu halten.
Am 22ten November 1811 wurde Schwester Ferdinande geboren. 14 Tage später wurde Auktion gehalten über einen Teil des Hausrats; dann brachte Vater Frau und Kinder zur Großmutter nach Karlshafen, und ging nach Kassel. Vaters treuer Freund Hausmann galt viel bei Johannes von Müller, der damals von großem Einfluss war in Kassel (als Minister?) Die Wochen oder Monate, welche Vater in der Hauptstadt des damaligen Königreichs Westfalen zubrachte, haben genügt, ihm aufs ganze Leben einen Widerwillen gegen das französische Regiment in Deutschland zu erregen. Ich erinnere mich mancher Andeutungen darüber. Damals schloss er wohl auch Freundschaft mit Schomburg, einem entfernten Verwandten unserer Mutter, der später, 1830, für die Rechte des Landes gegen den Kurfürsten auftrat, und nachher so unter dem Hasse desselben zu leiden hatte. Hausmann wurden brillante Stellen in der Residenz angeboten, er aber blieb in Göttingen, treu der Wissenschaft und begeistert für die Pflege derselben bei der deutschen Jugend. Vater aber wurde Pulver- und Salpeterdirektor in mehreren Departe-ments des Königreichs Westfalen, und Göttingen ihm als Wohnsitz zugewiesen.
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Der dreijährige Aufenthalt in Göttingen muss für die Eltern von großer Bedeutung gewesen sein, da dort so vielfache geistige Anregung zu teil wurde. Vater scheint sich zunächst ganz in die Chemie vertieft zu haben. Was seines Amtes war, das ergriff er immer ganz und tief. Noch lange Jahre später hatte er einen offenen Blick für jede Salpeterbildung in alten Gemäuern, wie auch für die Baumarten, welche auf Napoleons Befehl gepflegt wurden zur Kohlenbereitung. Die großen Körbe voller Bücher, die zwischen der ehrwürdigen Bibliothek und seinem Hause hin- und herwanderten, beschäftigten oft der Mutter Erinnerung. Uns erzählte Vater gern von seinen Inspektionsreisen nach den Pulvermühlen, besonders von einer, wo er den ganz verstümmelten Müller vor seiner Haustür antraf, der ihm dann erzählte, wie er schon mehrmals mit seiner Mühle aufgeflogen sei – nächstens werde es wieder losgehen, er höre schon immer das Gerumpel wieder, das jedes Mal vorhergehe. Vater hatte viel Interesse und viel Verständnis für Leute aus dem Volke, obgleich er sich meist zurückhielt vom Verkehr mit denselben. Er war sanft und freundlich gegen sie, was den Kindern um so mehr auffallen musste, da er uns meist nur die ernste, strenge Seite seines Charakters zeigte.
Die Mutter ging wohl im geselligen Verkehr mit vielen bedeutenden Männern ein reiches Leben auf. Indessen ließ sie sich weder durch Gelehrsamkeit noch durch Genialität über den wahren Wert eines Menschen täuschen. Sie erzählte uns oft, wie auch in diesen Kreisen die kleinen Leidenschaften sich breit machen, und wie namentlich der Gelehrtenstolz unerträglich werden könne. Die nächsten Freunde blieben doch Hausmanns, dessen mutiger Frau ich erinnere ich mich von späteren Besuchen, es waren aber auch mehrfach seine Schwestern im Hause, später verheiratet mit Brandis in Bonn und Wedekind in Hannover. So waren auch zeitweise zwei Freundin-nenrunden bei Hausmanns, deren eine sich lebhaft interessierte für die Weise, wie unsere Eltern die Kinder behandelten, und das Gesehene später verwendete in einer Erziehungsanstalt vorzüglich an der eigenen Nichte. Diese Nichte ist die Mutter unserer lieben Amalie geb. Schloifer, an der die Großtante Christiane Runde noch ihre große Freude hatte.
Die erste Einrichtung in der Göttinger Wohnung bekam einen reichlicheren Zuschnitt als das bescheidene Doktorhaus in Höxter. Aus ihm stammen die hübschen Möbel aus Birkenmaserung, der Nähtisch, an dem wir unsere Studien getrieben haben. Bruder Ferdinand bekam außer dem elterlichen Unterricht noch Privatstunden in Englisch und Zeichnen, und zwar mit der Mutter zugleich, die damit einen heißen Wunsch ihrer Kinderjahre erfüllte. Die dritte Schülerin dabei war Louise Hübner, die Tochter von Vaters Universitätsfreund, der von seiner Frau geschieden lebte, und sein Kind ganz den Eltern anvertraut hatte. Sie kam später mit nach Offenbach, und lebt wohl noch als Frau Fentiner in Goslar.
Eines schönen Weihnachtsfestes bei Hausmanns erinnere ich mich, wo die ganze Stube aus Kindern verwandelt schien in einen Garten – einer von den Eindrücken, wie sie später oft in Träumen wieder aufleben. Ein andermal waren wir nachts zu den Freunden geflüchtet, als uns gegenüber drei Häuser abbrannten. Ich weiß noch, wie ich auf dem Arm der Magd jauchzte, als ich all die hellen Sterne zum Himmel hinauffliegen sah. Die Studenten hatten treulich unser ganzes Haus geleert, den Schlüsselkorb zuerst gerettet.. Morgens kam aber alles wieder, auch Louisens kleiner Reisekasten, in den ein halber Kalbsbraten und ein Laubfrosch gepackt war, der sein Gefängnis gesprengt hatte.
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Mit den Studenten waren wir Kinder sehr befreundet, sie holten uns oft auf ihre Stuben oder nahmen uns mit. Einmal – weiß ich – wurden wir in Ulrichs Garten mit Himbeeren traktiert. Die eigenen Erinnerungen aus jener Zeit sind kleine Bilder ohne Bedeutung, desto entscheidender waren die Erlebnisse der Eltern im Jahre 1814.
Im Jahre vorher waren über den kriegerischen Ereignissen die Besoldungen der Angestellten ausgeblieben, und nach der Schlacht von Leipzig hatten die Kosaken die Kasse mitgenommen. Im Januar 1814 wurde uns ein Brüderchen geboren, es war weder Holz noch Geld im Hause, und es war das fünfte Kind. 14 Tage später erklärte Vater, dass er entschlossen sei, nach Frankfurt zu gehen an die Lazarette, wo der Typhus schon mehrere Ärzte hingerafft hatte. Der schwere Entschluss mochte wohl die einzige Möglichkeit bieten, herauszukommen aus der Not, die nur durch aufopfernde Freundeshilfe erträglich sein konnte. Diese Freunde standen dann auch der Mutter treu bei in der Zeit, wo sie allein mit fünf Kindern in Göttingen blieb. Es waren aber schwere Tage. Das Knäblein starb bald darauf, und Krankheit aller Art kehrte ins Haus ein. Der Mutter älteste und liebste Schwester Caroline Bernstein kam, um die Ärzte zu konsultieren und starb nach längerem Leiden. Auch die Kinder kränkelten, vielleicht in Folge der engen ungesunden Wohnung. Schwester Ferdinande hatte Monate lang die Augen gegen das Licht verbunden. In jener schweren Zeit aber sind die Keime gelegt zu der mannigfaltigen Blüte und (den) Früchten, die der Eltern und unser Leben schmückten.
Ferdinand ging nun zur öffentlichen Schule und wurde – neunjährig – in die Sekunda[28] gesetzt, weil nur nach dem Lateinischen geurteilt wurde. Von größerem Einfluss als die Schule wurde für ihn aber die Bekanntschaft mit Fritz Rosen, den früh verstorbenen Orientalisten. Sein Vater, damals noch Ballhorn (er gab den Namen auf und nahm den seiner Frau oder Mutter an), begleitete als Lehrer den Prinzen von Lippe-Detmold zur Universität, und unterrichtete zugleich den eigenen sehr begabten Sohn, den ältesten von Vieren, deren einer auch Orientalist wurde und deutscher Konsul – jetzt wohl in Belgrad ist. Fritz Rosen las mit 8 Jahren den Homer, beide Knaben passten schon wegen des früh angeregten Wissensdurstes, und den eifrigen selbstständigen Arbeiten zueinander. Die Freundschaft ist später in Berlin erneuert.
Die beiden Knaben wurden mächtig erfasst von den Eindrücken jener großen Jahre. Sie lernten exerzieren, und wir Schwestern sangen mit ihnen schon damals viele der schönen Lieder, die später so wunderbar wirken sollten: Vater, ich rufe dich; Leb wohl, mein Bräutchen schön; Mit dem Pfeil dem Bogen; Auf, auf ihr Brüder und seid stark – dazu freilich auch noch viele andere Lieder. Denn Mutter fand bei aller Arbeit und viel Geselligkeit doch immer eine Dämmerungsstunde, wo sie uns singen, wohl auch tanzen ließ. Sie weihte uns früh ein in die reiche Welt der Dichtung, aus welcher das Beste den Kindern meist am besten gefällt. Goethe, Schiller, Herder, dazu Rückert und Hebel wurden uns in einzelnen Gedichten vertraut, zunächst wohl für Ferdinands regen Geist bestimmt, aber von den kleinen Schwestern in treuem Gedächtnis aufgefasst, so dass sich einzelne derselben mit bestimmten Orten verbinden, die auf Göttingen hinweisen. Die Aufsicht über Ferdi-nands Erziehung hatte Vater einem jungen Freunde übertragen, Lücke, später Professor in Bonn, dann Abt in Göttingen. In der Biographie von Bunsen sowie in gedruckten Briefen Brandes ist vielfach die Rede von dem bedeutenden Kreise wissenschaftlicher und strebsamer Männer, die sich namentlich um Bunsen sammelten. Es war eine große, schöne Zeit, wo im ganzen Deutschland eine Anzahl tüchtiger Männer ans Licht trat. Die Erniedrigung des Vaterlandes hatte sie an die Wissenschaft gewiesen, hier fanden sie Anfangs Trost, dann aber die Kraft und die Begeisterung zum Großen, zum Glauben, zum Handeln. Lücke zog unseren Ferdinand öfters in den Freundeskreis hinein, unter diese Männer, welche das Vaterland, die Wissenschaft und die Religion mit einer starken Liebe umfassten. Ihnen war es klar, dass Preußen dazu berufen sei, Deutschland wieder zu Ehren zu bringen. Als sie im Jahre 1814 des Königs von Preußen Geburtstag feierten, da hat unser Ferdinand mit ihnen feiern dürfen, und ist diesem Eindruck nie untreu geworden. Aber auch Mutter und Töchter hatten Gewinn von diesem Freunde, der noch gar manches Mal in späteren Jahren im Elternhause einkehrte, an dessen gastlichem Tisch ich 1827 in Bonn noch war. Die Eltern hielten es für einfache Pflicht, die Kinder so weit als möglich selbst zu unterrichten, und haben es mit den vier ältesten durchgeführt. Es trat aber eine große Schwierigkeit hervor, da wir nach dem Vater katholisch werden sollten, Vater selbst aber – wie die meisten Männer – nicht über Religion sprach. Ich erinnere mich nur des einen Wortes von ihm in dieser Beziehung: sei fromm! Vaters sittliche Strenge und der Mutter unerschöpfliche Herzens-güte waren sicherlich gute Lehrer. Außerdem wird es wohl Lücke gewesen sein, der unserer Kindheit so manche liebe Freude ins Haus brachte, d.h. Bücher, deren Wert wir später noch an den eigenen Kindern erprobten. Das von Krummacher mit seinen Parabeln und dem Festbüchlein[29]; Kohlrausch mit seiner biblischen Geschichte, die wir wieder und wieder bei der Mutter durchlasen, bis die kräftige Sprache der Bibel uns unentbehrlich war – dann lasen wir auch den erklärenden Teil dazu, meist Auszüge aus Reisebeschreibungen, die erst das Leben der Patriarchen, der Könige und Apostel lebendig und verständlich machten. Grimms Hausmärchen (eben erst erschienen) und Hebels Alemannische Gedichte, beides ein guter Anfang zu Sprachstudien, und dazu Robinson und Raffs Naturgeschichte nebst einem recht prosaischen Liederbuch. Diese alle hatten und lasen wir schon in Göttingen oder hörten sie dort lesen.
Sonnabends kam Lücke oft, und ich erinnere mich noch der feierlichen Stimmung, in der wir Kinder, eben gebadet, stille horchten auf Namen und Dinge, die später als sehr bedeutend mir wieder ins Gedächtnis kamen. In den drei Jahren in Göttingen hatte die lebenskräftige Seele unserer Mutter mehr durchzumachen, als wohl sonst ein ganzes Frauenleben ausfüllt. Da war neben der schweren Sorge ums tägliche Brot ein unge-wöhnlicher Reichtum an geistigen Gütern, der ihr von lieben Menschen entgegen-gebracht wurde. Im Hause die Sorge um den fernen Vater, der großer Gefahr ausgesetzt war, um die oft kränkelnden Kinder nicht nur, auch der Tod der Schwester, und daneben sammelte sich täglich eine Anzahl Kinder um sie, die den ersten Unterricht von ihr erhielten. Viele Namen klingen mir noch aus der Zeit.
Dazwischen wurde eine Fußreise nach Uslar unternommen, Mutter und Sohn gingen, daneben ein Esel mit zwei Körben beladen, in einem Schwester Sophie, im anderen wir zwei Jüngsten. Einzelne Bilder aus dieser Reise sind mir noch lebendig, nicht die Urgroßmutter selbst, aber unsere drei Cousinen Brede, deren eine ein Gedicht aufsagte, das ich noch weiß. Tante Louise Brede starb bald nachher. Der Onkel war von der französischen Regierung (als maire?)[30] angestellt. Als die Kosaken die kleine Stadt überfielen, fragten sie gleich nach ihm. Während er durch den Garten flüchtete, empfing seine Frau die wilden Reiter, bewirtete sie und holte die Kinder, das sicherste Mittel, die bärtigen Männer zu begütigen. Sie war eine begabte, entschlossene Frau; aber die Angst damals mag wohl den Grund gelegt haben zu dem Nervenfieber, das ihrem Leben bald ein Ende machte.
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Vater war im Frühjahr 1814 nach Frankfurt gegangen, von wo damals die Verpflegung der Armee und wohl noch vieles andere geleitet wurde. Es waren bedeutende Männer, mit denen er alsbald in Beziehung trat, und seine Briefe aus jener Zeit, die ich freilich nie gelesen habe, müssten interessant sein. Stein[31] und Arndt[32] waren damals in Frankfurt. Unter den Ärzten waren Soemering, Wedekind, Neuburg, die sicherlich auch zu dem Kreise gehörten, welcher im Geiste ein Vaterland aufbauten, wie jetzt nach einem halben Jahr-hundert[33], nach schweren Prüfungen und blutigen Kämpfen die Enkel dieser Männer es vor Augen und im Herzen haben.
Vater sprach allezeit gern von dieser großen Zeit, und hat im Jahre 1848 im Verkehr mit Arndt und Uhland[34] wieder daran angeknüpft. Dies frische Geistesleben mag ihm auch der beste Schutz gewesen sein gegen die Ansteckung. Das Lazarett war im Deutsch-Herrenhaus an der Mainbrücke, und enthielt Kranke aus wohl allen europäischen Völkern, auch aus dem asiatischen Russland. Mit Hilfe von Dolmetschern konnte Vater sich mit allen verständigen, nur nicht mit einem Baschkiren, dessen Sprache nur ein Brüllen war. Die vielen Russen hatten sämtlich ein kupfernes Heiligenbild auf der Brust hängen, an das sie ihre Gebete richteten. Vater, der in allen Stücken viel Sinn für systematische Ordnung hatte, waltete seines Amtes mit großer Treue, was namentlich bei der Beköstigung der Kranken oft schwierig war. Die allgemeine Sitte war, dass jeder aus dem öffentlichen Gute sich selbst gut bedachte, und darin auch Nachsicht übte. Das konnte Vater seiner Natur nach nicht, den Wein, der für die Kranken gekauft wurde, sollte nur ihnen zugute kommen. Der Mann, gegen welchen er so strenge Aufsicht zu üben hatte, wurde nach Auflösung des Lazaretts mit mehreren Orden bedacht, von denen sich keiner zu Vater verirrte. Das erzählte uns Mutter mehrmals, es war für meinen Kopf das erste, was ich von Orden hörte, wohl infolge davon haben dieselben nie in allzu hoher Verehrung gestanden bei Vaters Kindern.
Im Jahre 1815 wurde das Lazarett nach Heusenstamm verlegt, einem Dorfe mit einem großen Schlosse, dem Grafen Schönborn gehörig, welche bei den letzten Kaiserwahlen den Gewählten auf seinem Wege nach Frankfurt zu bewirten hatte. Etwa ein Jahr noch fuhr Vater täglich hinaus, bis auch die letzten geheilt entlassen werden konnten. Da führte er die kleine Schar in die Dorfkirche zum Dankgottesdienst. Wir Kinder durften oft mitfahren nach Heusenstamm, blieben dann im Walde, und sahen von ferne die Kranken im Schlossgarten gehen. Wir gingen auch wohl in die Kirche, wo eine sehr schöne Orgel war. Am 17. August 1815 waren wir auch mit der Mutter hinaus gefahren, saßen an dem stillen Weiher und pflückten Heideblumen, die die Mutter zum Kranze wand, wie später möglichst jedes Jahr Sophie ihn zum Geburtstag bekam.
Am 15. März 1815 waren Mutter und vier Kinder nach Offenbach[35] gekommen, wo Vater kurz vorher als Arzt angestellt war. Vater kam uns bis Friedberg entgegen und brachte uns Offenbacher Pfeffernüsse mit, deren ich mich deutlich erinnere. Die Eltern traten in ein heiteres, geselliges Leben ein, beider bedeutende Persönlichkeit imponierte und zog an, wie es aus tausend kleinen Erinnerungen mir jetzt klar wird. Als Arzt hatte er anfangs nur einen Rivalen, den grünen Doktor, einen unstudierten Juden mit viel Geschick und Erfahrung, aber sonst eine lächerliche Erscheinung.
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Offenbach[36] hatte damals etwa 8000 Einwohner, war die Residenz des Fürsten vonIsenburg[37], der als Günstling von Napoleon aus der Reihe der Souveräne ausgestrichen wurde auf dem Wiener Kongresse. Den Kern der Bevölkerung bildeten die meist reformierten Landbauern, fleißige, solide Leute, von denen später einer als religiöser Schwärmer von sich reden machte. Es hatten sich aber schon viele andere Elemente dort gesammelt, da in Frankfurt strenger Zunftzwang herrschte, und keinerlei Fabriken aufkommen ließ. So war 10-20 Jahre früher die Kutschenfabrik entstanden, zwei Sattlergesellen aus Frankfurt, Dick und Kischten, die in London gearbeitet hatten, waren ihre Gründer. Der Dritte im Bunde, Ackermann, gründete in London den ersten Stationers Shop. Die Portefeuillefabrik von Mönch haben wir entstehen sehen, unser Ferdinand hat sich von ihm, dem einfachen Buchbinder, manches Stück Pappe geholt, manchen Kunstgriff zeigen lassen. Die bedeutendste Unternehmung vor Ort war aber die große Schnupftabakfabrik von Bernard. Dieser und die verschwägerte Familie Dorville gehörten zu den Refugiés, die nach Aufhebung des Edikts von Nantes in großer Zahl sich in Frankfurt angesiedelt hatten, und die bedeutende Mittel an Geld und Kenntnissen dem neuen Vaterlande wie dem eigenen Behagen zu Gute kommen ließen. Die meisten ließen ihren Adel ruhen und wendeten sich dem Handel und der Industrie zu. Die anerzogene feine Sitte sowie die ernste Körperlichkeit machten einen sehr gewinnenden Eindruck. Es ist der Kreis, in welchem Goethe oft verkehrte und wo er seine Lili fand. Der Komponist André gehörte auch zu dieser französischen Gemeinde und für viele derselben war Offenbach ein beliebter Sommeraufenthalt, so wird eine Sophie Laroche genannt und Bettina Brentano. Bernard hatte viele der Musiker um sich gesammelt, die sonst an den kleinen Höfen Geld verdienten, und nun durch den Krieg brotlos geworden waren. In seinem schlossähnlichen Hause wurden Konzerte und Festlichkeiten aller Art aufgeführt, wo alle Künste beschäftigt waren.
Als wir nach Offenbach kamen, lebte Bernard selbst nicht mehr, seine Witwe aber stand noch wie eine gefeierte Fürstin, und der Glanz des Hauses ging mit über auf die ganze Familie Dorville.
Verfasst etwa 1864, d.h. 20 Jahre vor dem Tode von Minna Becker-Pansch.
Nachwort des Bearbeiters Dr. Bert Böhmer
Die Erinnerungen Minna Becker-Panschs sind eine fesselnde Lektüre und in eine Linie zu stellen mit jenen Julie Becker-Schöffers. Bei Beiden fühlt man sich veranlasst zu sagen: Schade, dass diese Erinnerungen nicht weitergeführt wurden!
Minna hatte echt eine literarische Begabung; mit scharfem Blick vermag sie die Menschen zu beschreiben, ohne sie zu verletzen. Es gelingt ihr, ein fesselndes Bild jener Zeit des Umbruchs zwischen 1800 und 1815 zu entwerfen, die geistigen Strömungen Göttingens aufzugreifen. Gewiss war es ein Glücksfall, gerade in jener Zeit tiefer „deutscher“ Erniedrigung durch Napoleon I. in Göttingen zu leben. Sie war eine äußerst gebildete Frau, man nannte sie in der Familie „die Gelehrte“ (Heinz Knab) – obwohl sie nur ein Mädchen war. Carl Ferdinand wie seine Frau Amalie haben allen ihren Kindern eine gute Erziehung und Bildung zukommen lassen, entweder selbst oder durch Freunde oder auch durch Hochschulstudien – natürlich nur vier der fünf Jungen. Es sollte noch fast 100 Jahre dauern, bis in Deutschland Frauen studieren durften, was in der Schweiz und vor allem in den USA und in Frankreich schon möglich war. Da sollte der arme Vater wohl immer finanzielle Sorgen haben! Urgroßvater Carl musste auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter Kaufmann werden. Dessen Geschichte kennen wir aus den Erinnerungen von Julie Becker.
In sofern hat Karl Schöffer natürlich mit seiner Bemerkung recht, die nachfolgenden Beckers hätten es nicht soweit gebracht wie der Vater. Aber es kann eben nicht jeder Kaufmann und Millionär werden – weder Ärzte noch Lehrer oder Juristen haben in den meisten Fällen die Gabe, alles in Gold zu verwandeln. Obwohl – es gibt auch Ausnahmen…
Außerdem muss man wohl berücksichtigen, dass wir seit dem Tode des Urgroßvaters Carl Becker 1897 zwei Weltkriege und zwei Inflationen überstehen mussten. Das einzige, was man oft aus dieser Epoche hinüberretten konnte, waren geistige und moralische Werte, die schließlich auch nicht zu verachten sind, wie wir bereits an der Pädagogik Carl Ferdinands bemerken können. Damals, 1815, waren die Verhältnisse in Deutschland in ähnlicher Weise katastrophal wie nach 1945. Millionen von Menschen mussten ihr Leben wieder ganz neu aufbauen. Damals ging der Krieg mehrmals über die deutschen Staaten hinweg, im Zweiten Weltkrieg kam zu den jahrelangen Bomben-angriffen dann noch die direkte Eroberung.
Wie oft musste Carl Ferdinand von vorne beginnen: Höxter, Göttingen, Frankfurt, Offenbach. Arzt, Salinendirektor, Militärarzt – und Schulleiter seiner eigenen Schule.
Was musste seine Frau Amalie durchmachen in den Jahren des Alleinseins – das sind alles Erfahrungen, die unsere Eltern ebenfalls durchstehen mussten. So findet man immer wieder erstaunliche Parallelen zwischen den Jahren 1815 und 1945, weswegen ich die Lektüre der Erinnerungen Minnas so fesselnd fand.
Es geht doch nichts über die Überlieferung auf Papier! Unsere Nachkommen in 200 Jahren (ja, so lange ist es bald her, dass sich Deutschland mit Hilfe Russlands und Großbritanniens von der Hegemonie Frankreichs befreite!) werden ihre Probleme mit uns haben. Die Filme werden zerfallen sein; die Tonbänder der 60er Jahre werden keine Geräte mehr vorfinden außer vielleicht im Museum, die Kassetten sind ebenfalls schon Vergangenheit, und mit unseren CD-Playern sehen wir auch bald alt aus! Und die CD-ROM, wie werden sie halten, auf denen ich für meine Kinder meine Erinnerungen kopierte?? Die Disketten kann man ohnehin vergessen, weil da kaum etwas draufpasst – vielleicht würden sie sogar länger halten…Jetzt gibt es bereits DVD – und so wird es weitergehen. Und was ist mit unseren Texten, die wir mühsam in den PC tippen? Wie lange hält so eine Festplatte? Die Entwicklung überschlägt sich: als ich vor fast drei Jahren den meinen kaufte, waren 700 Megahertz fast das beste, es gab schon 800er. Heute im Jahre 2003 sind wir bereits bei zwei Gigabyte angelangt! A quoi bon?
Mit den Büchern gibt es ebenfalls Probleme. Gut hält sich nach wie vor Pergament. Aber wer hat schon eine Handschrift auf Pergament?? Das Papier aus Lumpen bot über Jahrhunderte einen guten Ersatz. Aber seit 150 Jahren benutzen wir Papier aus Holzfasermasse. Lasst einmal eure neueste Zeitung eine Woche auf dem Rückablage eures Autos liegen, dann werdet ihr sehen, was ich meine! Die großen Bibliotheken kämpfen heute schon verzweifelt um die Erhaltung alter Buchbestände, d.h. jener aus dem 19.Jahrhundert.
Und wer kann die alten Bücher lesen? Ich spreche von deutschen, in Fraktur gedruckten? Ich musste diese Schrift noch von 1939-41 lesen und schreiben lernen, doch 1941 entschied die Reichsregierung, wir müssten nun alle die lateinische Schrift lernen, alle Schulbücher wurden umgestellt. Nur gut, dass die Bücherschränke noch voll mit alten Büchern waren – nur sorgte der britische Luftmarschall Harris dafür, dass viele verbrannten.
Ich kopierte hier einmal eine Geschichtskarte, die die Zerrissenheit Deutschlands vor der Französischen Revolution 1789 zeigt. Leider liegt mir keine Karte von Hessen vor, das wiederum in sich zerrissen war in verschiedene Herrschaften und eifersüchtig gehütete Souveränitäten (Hessen-Kassel, Großherzogtum Hessen-Darmstadt, Herzogtum Nassau, Freie Reichsstadt Frankfurt).
Wenn Georges W. Busch, US-Präsident im Jahre 2003, gerne eine Telefonnummer möchte, um mit Europa zu sprechen, so ist das heute genauso unmöglich, wie im damaligen Deutschland, das mit vielen Zungen sprach und vor allem schrieb..
Auch der Wiener Kongress[38] schuf da keinen grundlegenden Wandel. Erst die Gründung des Deutschen Reiches 1871 brachte entscheidende Veränderungen, denn nun waren Militär und vor allem Außenpolitik Domänen des Reiches.
Wahrscheinlich werden unsere Urenkel darüber lachen, wie eifersüchtig noch Anfang des 21. Jahrhunderts die einzelnen europäischen Staaten auf ihre Souveränität achten…
[1] Lippstadt, Stadt im Landkreis Soest, heute NRW, an der Lippe. 66 600 Einw. (2001)
[2] Delbrück, Stadt im Landkreis Paderborn, NRW, im SO der Westfälischen Bucht, 28 000 Einw. (2001)
[4] Paderborn, Kreis im Reg.Bezirk Detmold, NRW, auf halbem Wege zwischen Göttingen und Münster, an der Lippe und am Rand des Teutoburger Waldes. Erzbistum, bis 1803 Fürstbistum *806 von Karl dem Großen, gehörte zur Kirchenprovinz Mainz. 1803 an Preußen. Sitz von Nixdorf Computers, heute zu Siemens seit 1990
[5] Liborius, Bischof von Le Mans 308, Freund Martin von Tours, Heiliger, Patron des Erzbistums Paderborn. Die Stadt feierte das achttägige Liborifest
[6] Der kirchliche Antisemitismus entstand bereits im Mittelalter, zur Zeit der verheerenden Pest im 14.Jh. Juden wohnten zumeist in Ghettos, trugen oft „gelbe Flecken“, – durften aber Zins nehmen und waren deshalb recht verhasst. Andererseits hatten sie durchaus auch einen Mauerabschnitt zu verteidigen und eine hohe Kopfsteuer zu zahlen. Variation von Stadt zu Stadt.
[7] Hildesheim, Kreisstadt in Niedersachsen, an der Innerste, etwa 104 000 Einw. (2001) Sitz des katholischen Bischofs für Norddeutschland, bereits 815 Fürstbistum bis 1803, zeitweilig, nach der Hildesheimer Stiftfehde 1519-23, kam das Territorium an das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, dann 1643 zurück an den Fürstbischof; 1803 kam das Hochstift an Preußen, 1813 an Hannover und 1866 wieder an Preußen, einschl. Hannover… Berühmt ist der Dom Sankt Maria 1054-1079 mit den Bronzetüren des Bischofs Bernward 1015 und der Bernwardssäule von 1020. In der Krypta befindet sich der Godehardschrein. St. Michael stammt aus dem Jahre 1010 und sticht durch seine hölzerne Mittelschiffsdecke hervor. Die spätgotische Andreaskirche schließlich stammt aus dem Jahre 1389. Hildesheim ist einer der Schwerpunkte der sog. Ottonischen Kunst, der Frühromanik, deren Spuren wir von der Reichenau über Regensburg, Trier, Köln nach Essen, Hildesheim und Magdeburg verfolgen können. Buchmalerei!
Die Stadt erhielt 1000 das Marktrecht, 1217 das Stadtrecht und wurde 1367 Mitglied der Hanse.
Das genannte Jesuitenseminar ist heute noch ein Gymnasium in kirchl.-kathol. Trägerschaft, das Josephinum. In Himmelsthür am Gymnasium hatte ich einmal einen Kollegen, der musste diese fromme Anstalt wegen seiner Scheidung verlassen, seine Tochter wohnt benachbart zum Münchhausenweg 19
[8] Karlshafen, Stadt im Landkreis Kassel, an der Diemel, aus dem Hochsauerland kommend, wo sie in die Weser mündet. Gegründet 1699 vom Landgrafen Karl von Hessen, der einen Weserhafen wollte und dort Hugenotten ansiedelte, die dort eine moderne (Barock-)Stadt errichteten. Die Rolle der Weser wird heute etwas unterschätzt – doch viele Handels- und Gewerbestädte folgten dem Strom von Hannoversch Münden nach Karlshafen, Höxter, Holzminden, Bodenwerder und Hameln bis zur Porta Westfalica, den Rest vernachlässige ich hier bis auf Bremen!
[9] Der Verkauf der Landeskinder an die Briten zum Kampf gegen die Amerikaner ist ein trauriges Thema, jedoch nicht das unsere. Hessen war ein armes Land und versilberte seine Soldaten, von denen viele in den späteren USA, aber auch in Kanada blieben, viele Kranke kamen jedoch zurück.
[10] Uslar, Stadt im Landkreis Northeim, 17 000 Einw. (2001), Stadtrecht seit 1269
[12] Die Schlacht von Hohenlinden war am 3.12.1800; der französische General Moreau besiegte damals die Österreicher unter Erzherzog Johann. (Heinz Knab)
[13] Den gut leserlichen Ausdruck konnte ich bei bestem Willen mir nicht erklären, noch dazu im Original mit einem S. Doch von Vetter Heinz Knab kam Hilfe: In der Messinghütte wurden wohl Messinggegenstände produziert, von denen auch Minna einige Stücke zur Aussteuer erhielt.
[15] Die Befreiung des Paderborner Domherrn Ferdinand Becker erfolgte durch „verlarvte“ Männer, d.h. eine Gruppe junger Adliger, zu denen auch eine Nonne gehörte, die B. aus dem Kloster befreite und noch in der Nacht über die Grenze nach Arolsen unter den Schutz des Fürsten von Waldeck brachten. in Sicherheit brachte und wo er fast 7 Jahre blieb. (Heinz Knab 2.2003) „1798 erreicht Becker ein Zettel. Auf dem eng beschriebenen, vergilbten Blatt heißt es: >…ohne Maske erscheine ich jetzt vor Ihnen. Ich bin Nonne und muß durch andere wirken… Sie sollen gerettet werden. Selbst meine eigene Freiheit soll mir nicht zu teuer sein… Für kurze Zeit noch ertragen Sie ihre traurige Lage. Mir ist noch keine Handlung misslingen, und so bauen Sie fest auf die Versicherung einer Nonne, die Ihnen schwört: Despotie und Pfaffenwuth sollen ihren Zweck nicht erreichen, solange noch ein Funken Kraft glüht in Ihrer Freundin Constantie von Warschowitz.“ Dieser und zahlreiche weitere Briefe der lebhaften Nonne liegen im Becker-Archiv Offenbach. Die Dame verliebte sich in Beckers Neffen, nahm den lutherischen Glauben an und heiratete 1803 den Arzt Dr. Werne in Osnabrück. Vgl. S.69 Heinz Knab, Inquisitionsprozeß Ferdinand Becker, Weilburg 1951 (Diss,)
[16] Das Reichskammergericht bestand zwischen 1495 und 1806; es war Oberstes Berufungsgericht, zuständig für Landfriedensbruch, Reichsacht, fiskalische Klagen, Besitzstreitigkeiten zwischen Reichsunmittelbaren
[17] Höxter, Reg.Bezirk Detmold, NRW, 155 000 Einw.(2001), an der Weser, östlich von Paderborn. Stadtrecht seit 1235. In der Nähe liegt das Kloster Corvey, von Luwig dem Frommen 822 von Corbie hierher verlegt
[18] Johann Heinrich Campe *1746, Pädagoge, Sprachforscher und Verleger, lehrte am Dessauer Philanthropinum, Hauslehrer der Gebrüder Humboldt, Reformer des Schulwesens in Braunschweig, Herausgeber von Daniel Defoes Robinson Crusoe.
Der Philanthropismus war eine pädagogische Reformbewegung mit Basedow, Campe, Salzmann, Trapp, die die natürlichen Kräfte des Kindes und die Ausbildung der Vernunft sowie eine praktische Weltorientierung zum Ziel hatte. Der Einfluss auf Wilhelm von Humboldt, aber auch auf Becker ist eklatant.
[19] Sie sollten natürlich den Wünschen des Onkels Kanonikus entsprechend Theologie studieren
[20] In Mainz ergriffen 1792/3 die Jakobiner die Macht und riefen mit der Mainzer Republik den 1. deutschen Freistaat (unter franz. Schutz) aus. Noch 1793 verhandelte Georg Forster als Mainzer Beauftragter mit dem Pariser Konvent über den Anschluss an Frankreich – da wurde Mainz von preußischen Truppen zurück erobert. – Mainz, heute die Hauptstadt von Rheinland-Pfalz, liegt am linken Rheinufer an der Einmündung des Mains. Seit dem 4. Jh. ist es Bischofssitz, der Erzbischof wurde schon unter Bonifatius und Lullus zum Primus Germaniae, Hofbischof des Kaisers, seit dem 12. Jh. auch Kurfürst und herrschte über die „größte Provinz der Christenheit“ mit 15 Suffragan-Bistümern von Konstanz bis Brandenburg, von Worms bis Prag und Olmütz. Auch Erfurt und das Eichsfeld gehörten dazu. Rückgang der Macht durch die Reformation, 1803 säkularisiert.
[22] Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine aus dem Pietismus hervorgegangene Evangelische Brüderunität, beeinflusst von den exilierten Böhmischen Brüdern, die seit 1772 auf dem Gut des Grafen Zinzendorf (1700-1760) in der Oberlausitz Zuflucht fanden. Grundlage Bibellesen und tägliche Losungen. Starker Einfluss auf den Theologen und Philosophen Schleichermacher (1768-1834)
[23] Die von Ungern-Sternberg sind ein baltisches Adelgeschlecht. (Anmerkung von Heinz Knab 2.2003)
[24] Deutsche Legion bestand weitgehend aus Hannoveranern, die sich dem preußischen wie dem französischen Zugriff entzogen hatten. Das Kurfürstentum Hannover wurde bis 1837 weitgehend von Großbritannien aus regiert, wenn auch in Hannover ein Vizekönig residierte. Nach dem Machtantritt Queen Victorias 1837 wurde Hannover selbstständig bis 1866, denn in Deutschland durfte keine Frau die Krone erben…
[25] Als Adlige(r) hatte man eine gehörige Mitgift ins Kloster mitzubringen.
[26] Im Manuskript mit h (Vehrden) geschrieben, das es aber wohl nicht gibt. Verden, Kreisstadt im Bezirk Lüneburg (Niedersachsen),131 000 Einw. (2001), an der Mündung der Aller in die Weser. Nachweisbar seit 810(Ferdi=Furt), 849 Bischofssitz, 985 Marktrecht, 1292 Stadtrecht, 1566 reformiert, 1648 säkularisiert und Schweden,1712 an Hannover, 1866 an Preußen
[27]Die Karlsschule *1770 von Herzog Eugen von Württemberg auf Lustschloss Solitude als Militärwaisenhaus gegründet, 1773 Militärakademie, jedoch 1775 nach Stuttgart. 1781 wird die Anstalt zur Hohen Karlsschule durch Kaiser Joseph II. erhoben (bis 1794).Friedrich Schillers Vater wurde nach dem Militärdienst Hofgärtner auf Solitude und musste auf Druck des Herzogs seinen Sohn auf die Militärschule schicken, wo Friedrich Jura studieren sollte, doch konnte er 1775 zur Medizin wechseln. 1780 wurde Friedrich Schiller Regimentsmedikus in Stuttgart. 1781 erschienen Die Räuber, 1782 im Ausland (!), in Mannheim, uraufgeführt. Nach Arrest und Verbot nichtmedizinischer Tätigkeit Flucht nach Mannheim, Frankfurt, Oggersheim. Misere. Rettung durch Karoline Freifrau von Wohlzogen, Mutter eines Stuttgarter Kameraden und späteren Schwagers nach Meiningen. 1789 Uni Jena. 1790 Heirat mit Charlotte von Lengefeld. Leipzig. Weimar. Fruchtbare Zusammenarbeit mit Goethe. Klassik. Viel krank, Tod 1805
[28] Die Zählung folgte auf die Grundschuljahre: Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda, Obersekunda, Unterprima, Oberprima. Man zählte also gewissermaßen rückwärts. Ein Neunjähriger hätte also vom Alter her eher in eine „Septima“ gehört…
[29] Nach Ansicht von Heinz Knab wohl „eine beliebte Lektüre bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen.; das gilt dann wohl auch für das Werk von Kohlrausch.
[31] Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein 1757-1831, preußischer Minister und Reformer, aus nassauischem Reichsrittergeschlecht, Karriere im preußischen Staatsdienst, 1807 leitender Minister, Einleitung der Reformen, deswegen Sturz durch Napoleon. Exil in Österreich, dann Russland. Für kompromisslosen Kampf gegen Napoleon. 1815 auf dem Wiener Kongress für Stärkung des Deutschen Bundes, aber gegen Burschenschaften und Liberalismus
[32] Ernst Moritz Arndt 1769-1860, deutscher Dichter und Publizist, nach Aufruf zum Kampf gegen Napoleon 1805 Flucht nach Schweden, 1812 Privatsekretär Steins in Russland („Der Gott der Eisen wachsen ließ…“), gegen schwachen Deutschen Bund; 1815 Prof. in Bonn, 1819 nach Karlsbader Beschlüssen suspendiert, von Friedrich Wilhelm IV.1840 rehabilitiert; 1848 in Paulskirche
[33] Hierauf beruht meine Schätzung der Entstehung der vorliegenden Erinnerungen im Jahre 1864.
[34] Ludwig J. Uhland 1787-1862, aus Tübinger Gelehrtenfamilie, 1811 Anwalt, 1812 Justizminister in Stuttgart, 1819-26 liberaler Abgeordneter im Württembergischen Landtag, 1830 Professor für deutsche Literatur, 1833 Niederlegung des Amtes, da Abgeordnetenurlaub verweigert wurde, 1848 in Nationalversammlung, 1850 Privatgelehrter. Bedeutendster Dichter der schwäbischen Romantik, Gedichte von 1815 in 42 Auflagen!. Patriotische Gedichte, Sagenforschungen 1836. Kritik am Despotismus. Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder 1844/5
[35] Interessant die Bemerkungen der Verfasserin zu dem Zunftzwang in Frankfurt und der industriellen Blüte Offenbachs, wo es diesen nicht gab.. Im Verlauf der Stein-Hardenberg’schen Reformen wurde dieser Zunftzwang aufgehoben. Im Königreich Hannover indessen wollte man in der Hauptstadt auch kein „Manchester“, deswegen siedelte sich die Industrie in Linden an – das man sich später einverleibte…
[36]Offenbach am Main, Kreisfreie Stadt, Sitz des Landkreises Offenbach, nach W und N mit Frankfurt zusammenwachsend, 116 000 Einw. (2001), Zentrale des Deutschen Wetterdienstes, Bundesmonopolverwaltung für Branntweinproduktion, Internationales Leder- und Schuhmuseum, früher auch Schriftgießereien (ich besichtige als junger Schriftsetzer eine solche 1953), Internationale Ledermessen; Renaissance-Schloss 1570-78.977 zuerst genannt, 1486 an den Grafen Isenburg, Residenz der Grafen von Isenburg-Birstein 1741-1816, Ende des 17. Jh. Aufnahme von Waldensern und Hugenotten, erst 2. Hälfte 18..Jh. Stadt
[37] Die Grafen von Isenburg, auch Ysenburg, rheinisch-hessisches Fürsten- und Grafengeschlecht; Burgruine Isenburg noch bei Neuwied; seit 963 belegt, 1442 Reichsgrafen. Linie Isenburg-Birstein 1744 Reichsfürsten, 1806 zum Rheinbund, 1815 mediatisiert. Linie Isenburg-Büdingen 1865 in hessischen Fürstenstand erhoben.
Toleranzedikt von 1712 garantiert religiös Verfolgten eine Zuflucht (Anmerkung 33).
Neu-Isenburg im Landkreis Offenbach, südlich von Frankfurt, 35 000 Einw. (2001), seit 1699 Hugenottensiedlung, erst 1894 Stadtrecht.