Deutschland und der Islam (1914)

C.H. Becker, Professor an der Universität Bonn

 

Deutschland und der Islam

Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Berlin 1914

 

In der Reihe Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften

Herausgegeben von Ernst Jäckh

Drittes Heft

 

In dem gewaltigen Ringen der Gegenwart sprechen nicht nur die Geschütze und streiten nicht nur die Millionenheere und Panzerflotten. Es ist auch ein Kampf der Geister um den ganzen Erdball. Wer die herrliche Erhebung unseres Volkes, wer den bewundernswerten Aufmarsch unserer Heere offenen Auges beobachtet hat, der weiß, daß die Zukunft Europas von den un-wägbaren geistigen Kräften entschieden wird, die hinter den Kanonen stehen. Aber neben diesen wirksamen Imponderabilien sprechen in dem Kampf der Gegenwart doch auch noch andere geistige Kräfte mit, deren Wert und Wichtigkeit für uns oder gegen uns es zu betrachten gilt.

……

Durch französisch-russisch-englische Machenschaften haben wir so manche natürliche Sympathie bei Neutralen verloren, ja wir begegnen zuweilen einer ganz unerklärlichen, direkt feindlichen Stimmung, die nichts anderes ist als übertragener französischer Revanchehaß oder englischer Konkurrenzneid. Mit Erstaunen werden wir gewahr, daß wir von Leuten, die kei-nerlei historischen Grund dazu haben, in unseren besten Absichten verdächtigt, ja geradezu gehaßt werden. (S.5)

Haben wir denn in Friedenszeiten nichts getan, das wichtige Imponderabile des Beliebtseins uns für die Stunde der Gefahr zu sichern? Deutschland gilt in der ganzen Welt als der Freund der Türkei , ja der Mohammedaner schlechthin.

Der Kernpunkt unserer Beziehungen zum Islam ist unser Verhältnis zur Türkei. Hier liegt einer der Pole unserer weltpolitischen Stellung; denn die Umstände ergeben eine natürliche Interessengemeinschaft zwischen uns und der Türkei. Unser Interesse ist genügend dokumen-tiert durch die gewaltigen wirtschaftlichen Werte, die wir dort unten investiert haben, die anatolische Bahn, die Bagdadbahn; aber die Türkei? Ist ihre Zukunft nicht besser garantiert unter den Fittichen des meerbeherrschenden England und seiner Bundesgenossen?(6)

Dieser Krieg ist ein Kampf auch um Konstantinopel und die Türkei. Und doch war bei Kriegs-beginn von dieser Frage überhaupt nicht die Rede. Es schien sich als unmittelbaren Anlaß um die panslawistischen Interessen Rußlands zu handeln. Die türkische Frage schien mit dem Bukarester Frieden und der deutsch-englischen Verständigung über die Bagdadbahn für lange Zeit geregelt. Wer die historischen Tendenzen der russischen Politik kennt, konnte diesen Provisorien ein kurzes Leben prophezeien. Aber seien wir gerecht: Rußland kann nicht anders. Es ist für ein Weltreich von der Bedeutung Rußlands unmöglich, auf die Dauer von den großen Kulturstraßen der südlichen Meere ausgeschlossen zu sein. Und so sehen wir sein Vordringen über das Schwarze Meer nach dem Mittelmeer, über Persien nach dem persischen Golf und über die Mandschurei nach den eisfreien Teilen des Stillen Ozeans sich mit unerbitt-licher Naturnotwendigkeit vollziehen. (7)

Die Zaren fühlen sich als die Erben von Byzanz, als die wahren Hüter der christlichen Orthodoxie, als die natürlichen Beschützer der heiligen Stätten; denn hinter Konstantinopel winkt Jerusalem. Hier liegt zweifellos eine starke religiöse Energiequelle, aber schon seit den Anfängen des vorigen Jahrhunderts dient die Religion nur noch als Feigenblatt einem nackten Imperialismus. Die massenweisen Pilgerfahrten nach dem Heiligen Lande sind amtlich orga-nisiert und sollen noch heute im Inlande dem Vorwärtsdrängen der Regierung die nötige religiöse Resonanz verleihen. In der auswärtigen Politik ist der Anspruch der Mächte über die Orthodoxen am Widerspruch der Mächte gescheitert (Krimkrieg) und mit dem Erstarken der kirchlich selbständigen Balkanstaaten überhaupt inopportun geworden. So brauchte man eine neue wirkungsvolle Parole im Kampf um die Dardanellen. In der zweiten Hälfte des 19.Jahr-hunderts, im Zeitalter der Rassentheoretiker, wurde dann der Panslawismus[1] erfunden, ein gar nicht bestehendes Volkstum konstruiert –die Bulgaren sind gar keine Slawen -, um nach dem Versagen des religiösen Schlagwortes das zeitgemäßere nationale in den Dienst des russischen Imperialismus zu stellen. Daß der Panslawismus aber nur ein Vorwand war, hat Bulgarien im Balkankrieg zur Genüge erfahren. Nicht den Slawen, sondern den Russen soll Konstantinopel gehören. (S.8)

Die Aufteilung Persiens (1907) war ein völliger Bruch mit Englands politischen Traditionen. Zum ersten Mal schuf es sich eine große Landgrenze gegen eine militärisch starke Kontinen-talmacht. Welche Opfer brachte man nicht dem Haß gegen Deutschland! Aber man sah doch bald ein, namentlich nachdem die Russifizierung Persiens sich mit ungeahnter Schnelligkeit zu vollziehen begann, daß man die Russen um jeden Preis vom Persischen Golf zurückhalten mußte: denn sonst war Indien bedroht.

>Ventil: Dardanellen

Sollte dieser islamische Staat allein seine Selbständigkeit bewahren? Hatte man sich mit Frankreich über Marokko und Ägypten geeinigt, so teilte man sich mit Rußland die Türkei. Rußland in Konstantinopel war einigermaßen saturiert; dafür mußte England ganz Arabien und das Zweiströmeland zufallen, wodurch das englische Weltreich die langersehnte Land-verbindung zwischen Ägypten und Indien erhielt. (S.9)

Solange Englands Flotte der unsrigen überlegen ist, sind wir bei unserer geographischen Lage genötigt, uns im Mittelmeergebiet auf reine Wirtschaftspolitik zu beschränken, deren Schutz wir den Staaten überlassen müssen, in denen sie sich abspielt. Deshalb ist die Erhaltung und Stärkung der Türkei, ihre Umwandlung in einen modernen Rechtsstaat mit Achtung gebieten-dem Heer, eine der Grundforderungen unserer Weltpolitik.

…Deutschlands weltpolitisches Interesse fordert also die Erhaltung der Türkei. Wir werden Rußland niemals an die Dardanellen lassen. (10)

… die Sachlage ist Gemeingut geworden, daß die Zukunft der Türkei unlöslich verknüpft ist mit der Weltgeltung des Deutschen Reiches.

***

Erklärt sich so die Sympathie für Deutschland aus der historischen Tatsache, daß wir der ein-zige natürliche Freund der Türkei sind, wie wir auch als einzige Großmacht dem Sultan noch keine Provinz geraubt haben und nie werden rauben können, so findet damit allein die so erfreuliche deutschfreundliche Stimmung der weiteren nichttürkischen Islamwelt noch keine völlig befriedigende Erklärung.

Zunächst: Wie ist die Stellung der Türkei zum nichttürkischen Islam und wie stellt sich dieser zur Türkei? Seit dem Erstarken des Osmanentums im 15. Jahrhundert (S.12) ist es das Bestreben der türkischen Herrscher, nicht nur Sultane, d.h. Inhaber der Staatsgewalt auf einem bestimmt begrenztem Gebiet zu sein, sondern auch als Kalifen, d.h. Stellvertreter bzw. Nachfolger des Gesandten Gottes, in der weltlichen Leitung seiner Gemeinde, d.h. sämtliches Mohammedaner, überhaupt zu gelten.

Die Osmanen gingen bei ihrer Eroberung Ägyptens (1517) aufs Ganze, sie zwangen den letzten dort amtierenden Abassidenkalifen, das Kalifat auf das Haus Osmans zu übertragen. Seitdem fühlen sich die Türkensultane als Kalifen, sie erfüllen die vornehmste Pflicht des Kalifen durch Schutz der heiligen Stätten von Mekka und Medina, und sie haben jahrhun-dertelang den Heiligen Krieg geführt und den Islam bis tief in Europa hineingetragen.

(S.13)

Die Revolution und die Einführung der Verfassung brachten hier eine gewisse Änderung. Der bisher islamisch-patriarchalische Staat sollte ein moderner Rechtsstaat werden mit Gleich-berechtigung aller Religionen. Der rein islamische Charakter des Staates mit der Vorkämpfer-tendenz im Sinn des heiligen Gesetzes war unhaltbar, seitdem der Christ gleichberechtigt im osmanischen Heere diente, aber man ließ den Kalifatsgedanken und den Islam als Staats-religion nicht fallen.

So wie die europäischen Staaten sich seit langem um die Interessen der Armenier und anderer türkischen Christen als ihre Glaubensbrüder kümmerten, so begann die modernisierte Türkei ihrerseits den Anwalt der mohammedanischen Untertanen europäischer Kolonialgebiete deren Regierungen gegenüber zu spielen (S.14)

Der Panislamismus ist deshalb auch keine neue Organisation, sondern ein Gefühl, ein Bewußtsein. Sein Unterton ist dabei die Reaktion Asiens gegen Europa. Die Wirkung der Modernisierung Japans, sein Erfolg über die Russen war ungeheuer. Die Japaner haben…ganz Asien mit japanischen Kinofilmen überschüttet. Da sah selbst der ungebildete Orientale, der nicht lesen und schreiben konnte, unwiderleglich den Sieg Asiens über Europa vor sich. Konnte da der Islam zurückbleiben. Mit dem Umschwung in der Türkei schien die Wieder-geburt des Islam sich zu vollziehen. (16)

Die Türkei ist die letzte Hoffnung des ganzen modernen Orients. (17)

Ja, man kann direkt sagen, daß der Pressefeldzug unserer Gegner uns bei den Mohamme-danern nur genutzt hat. Wir haben mit reinen Waffen gekämpft und unseren Gegnern in ihren Kolonien niemals durch Agitationen Schwierigkeiten bereitet, sie selbst aber haben durch ihre Gereiztheit die Eingeborenen erst darauf aufmerksam gemacht, daß Deutschland doch ein ernster, wenn nicht der gefürchtetste Feind Englands und Frankreichs sein muß, und schon deshalb verfolgen ihre Blicke mit besonderer Spannung Deutschlands Stellung zu den anderen Mächten. (22)

…Unsere Politik hat sich stets davor gehütet, Länder mit hochstehender mohammedanischer Bevölkerung unserem Kolonialbesitz einzuverleiben. Schon aus diesem Grund hätten wir nie ein Stück von Marokko gewollt, das wir ja einst hätten haben können. Unsere amtliche Islam-politik war eben eine Politik des Vermeidens islamischer Empfindlichkeiten und im übrigen Türkenpolitik.(23)

Das oben Gesagte beweist, daß die Verhältnisse etwas komplizierter liegen (als daß der Kalif nur den Heiligen Krieg auszurufen brauche!) und daß auch die Türkei, deren wirtschaft-liches Rückgrat die christlichen Griechen, Syrer und Armenier bilden, vielerlei Rück-sichten zu nehmen gezwungen ist.[2]

 

[1] Fette Hervorhebungen vom Herausgeber.

[2] Hervorhebung vom Herausgeber. Mit der Vertreibung der Griechen, der Vernichtung der Armenier und der Abtrennung Syriens ergibt sich für die Türkei nach 1918 gewiß ein Problem!

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