Fritz Sell, 1915-1933

Aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin

35. C.H.Becker an Fritz Sell Berlin, Continental Hotel, 4.1.1915

Mein lieber Fritz!

Ich darf wohl diese familiäre Anrede gebrauchen, wenn ich Ihnen zum ersten Male zum Geburtstag schreibe. Selbst in der Fülle meines Reisedaseins mit den stündlich wechselnden bunten Eindrücken will ich mir ein par Minuten ersparen, um an den 6.ten zu denken und Ihnen im Geiste herzlich die Hand zu drücken. Das alte Jahr hat für Sie so schwer und traurig abgeschlossen, daß man von dem für Sie so wichtigen neuen Lebensjahr einen sonnigen Einschlag erhoffen möchte. Das Jahr wird Ihnen den Abschluß Ihrer Studien bringen. Damit hört eine der schönsten Lebensperioden auf. Aber Sie werden Ihre jugendliche Frische mit hinübernehmen. Möge Sie Ihnen so lange erhalten bleiben wie Ihrem Vater. Ich habe noch manch andere Wünsche für Sie auf dem Herzen, Sie kennen diese ja. Wir werden ja noch oft davon reden, nach dem der Bann einmal gebrochen ist und nachdem wir uns persönlich nahe getreten sind. Haben Sie nur immer Vertrauen zu mir. Ich setze es in Sie. Und möge unserer Freundschaft alles Konventionelle fern bleiben. Das Schönste ist dabei doch immer die innere Selbstverständlichkeit, die das Gehen lassen ebenso erleichtert wie die ausgesprochene Wahrheit. Und damit alles Gute und einen festen Händedruck!

Meine Reise hat sich bisher sehr gelohnt. Man hört hier doch recht viel, das nicht in den Zeitungen steht, freilich nicht nur Erfreuliches. Einiges werde ich Ihnen mündlich erzählen oder andeuten können. Auch wissenschaftlich war mein hiesiger Aufenthalt nicht ohne Ertrag. Denken Sie, daß ich einen Vertrag aus Nubien in die Hände bekam vom (Jahr) 1320, also gerade aus den Jahren seiner Eroberung durch die Araber und der Vertrag spiegelt deutlich die Verhältnisse wider, die ich Ihnen aus literarischen Quellen im Colleg dargelegt habe. Ein merkwürdiger Zufall. Es gibt sonst gar keine Urkunden aus dieser Zeit.

Morgen gehe ich nach Hamburg, wo es auch wieder viel Neues geben wird.

Empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Mutter und grüßen Sie unseren Freund Rohde, den ich leider nicht mehr sah.

In herzlicher Zuneigung Ihr getreuer CHBecker

 

36. C.H.Becker an Fritz Sell. Frankfurt am Main, 10.9.1915

(Vorangestellt ist eine Collage aus einer Zeitung:

Möbl. Wohnung

4 Zimmer und Küche zu mieten gesucht.
F. Sell, Drachenfelsstr.12)1
Fritz, mein Fritz, wie soll ich deuten
Die Annonce von den Leuten?—
Hält Dich meine Frau zu knapp?
Hält sie Dich zu sehr in Trab?
Ist das Essen Dir zu minder?
Chikanieren Dich die Kinder,
Mädchennot und Hauspalaver?
Oder – sticht Dich bloß der Hafer?—
Oder ist es gar die Wohnung,
Die zu ihrer Nerven Schonung
Meiner Gattin dar sich bot
Von der Domestikennot?
Fritz, ich denke Spielmannslieder
Treibst in Bonn Du, schlicht und bieder.
Spielmannssitten, Styl Bohème
Wäre mir weniger bequem.
Muß ich Dir die Freundschaft künd’gen,
Gar gerichtlich Dich entmünd’gen?
Soll die Kur ich unterbrechen,
Meines Hauses Ehre rächen?—-
Oder gibt es einer alten
Tante oder Anverwandten?
Der mit Pietät und Rührung
Du geliehen kund’ge Führung,
Daß sie, wenn schon einmal da,
Eurem Haus nicht allzu nah?
Oder gibt’s, sie zu erreichen
Und ein wenig erbzuschleichen?—
Doch ich rege mich nicht auf,
Laß den Dingen ihren Lauf.
Werde lieber fett und fetter
Und genieß das schöne Wetter.
Und ich sag wie Wallenstein:
Max, laß diese Possen sein!
Sei’, wie auch sei, sei’s Ernst sei’s Witz:
Bleib bei mir, geh’ nicht von mir, Fritz!

CHB

 

37. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin, 9.8.1916

Lieber Fritz!

11 Uhr Abends. Zwei Kondolenzbriefe gerade beendigt, der prachtvolle junge meines Hamburger Freundes und Collegen Franke und der treffliche Diener meiner Mutter, der mit seiner Frau im Haus bei uns wohnte. Etwas Furchtbares ist doch dieser Krieg! Ich mag so nicht den Tag beschließen. So wende ich mich in Gedanken zu Dir, der Du mir ja in Person so oft wohlgetan hast, wenn, nun ja, wenn ich es eben gebraucht habe. Dein Brief hat mich gefreut. Ich hoffe fast, daß Du mich hie und da einmal vermißt hast. Gelitten wirst Du nicht darunter haben. (Randbemerkung Beckers: Logikschreck!) Um so mehr freut mich, daß es sich mit Curtius gut gemacht hat. Auch aus seinen Briefen sprach das. Er ist mir überhaupt in seinen schriftlichen Äußerungen sehr sympathisch gewesen. Ein erlebtes Interesse wirkt oft stärker als eine herbe Kritik. Smend ist dagegen vor meinen Blicken verschwunden. Ich bat ihn schriftlich um etwas, doch hat er sich vor Beantwortung offenbar auf seine Jagd zurück-gezogen.

Von unserem Wohnungsprozeß hast Du gehört. Es ist trostlos. Dabei habe ich einfach keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich habe enorm zu tun. Eigentlich alles ist interessant. Umschalten muß man allerdings lernen. Nimm nur mal einen Normaltag wie heute:

  • Vor ½ 10 Uhr im Amt, ein Stoß Briefe,
  • Diktieren von Antworten,
  • 5 Telefongespräche
  • auch eines privat, Ordinarius aus dem Feld,
  • Vorbereitung einiger Vorträge beim Minister usw.
  • Dann kombinierter Vortrag beim Minister mit Fritz Trendelenburg im Beisein des Unterstaatssekretärs und des Ministerialdirektors über Ethnologisches Institut,
  • Deutscher Kunstbesitz im feindlichen Ausland,
  • Auslandstudien – ich soll Denkschrift für den Landtag machen.
  • Um 1 Uhr fertig, Unterschriften.
  • Besuch eines juristischen Ordinarius. Der sich mit seiner Fakultät verkracht hat und beinahe in Thränen ausbricht.
  • Um 2 Uhr entschlüpfe ich mühsam zum Essen, treffe dort Ernst Trendelenburg, mit dem sehr interessante politische Unterhaltung.
  • Um ½ 4 Uhr empfange ich einen Abgesandten der bulgarischen Gesandtschaft, Sondierung wegen Semesteranrechnung; etwa eine Stunde französische Darlegung unserer Prüfungsverhältnisse;
  • Besuch eines durchreisenden Ordinarius der Chemie mit allerlei Anträgen und Wünschen.
  • Empfang eines Pressevertreters über die neuen Berufungen.
  • Zwei Aktenberge mit ca. 50 Unterschriften.
  • Langes Telefon über die neuen klimatolog(ischen) Stationen in der Türkei. (Morgen Abend bin ich mit dem Türkischen Landwirtschaftsminister im kleinsten Kreise eingeladen.)
  • Abendessen mit drei auswärtigen Orientalisten, Gang durch den Tiergarten,
  • Telefon mit Bonn und dann wie eingangs.

So geht es alle Tage. Gestern kam ich erst um 12 Uhr nachts nach Hause. Der August ist besonders schlimm. Im September wird es besser. Ich wachse mich in mein Amt ein und ich glaube, man ist ganz zufrieden mit mir. Im Amt, aber auch draußen. Ich habe schon zahlreiche Dankbriefe erhalten. In Bonn habe ich in das Chaos der jurist(ischen) Fakultät ziemlich ener-gisch eingegriffen. Ich hoffe, daß man allseits zufrieden war. Persönlich bleibt alles liegen. Jetzt drängt das Nachwort auf meinen Freund Mestsack (?recht unleserlich. BB). Aber ich habe einfach keine Sammlung dazu. Morgen gehen die Meinen nach Rothenfelde. Hoffentlich geht das Experiment nach Wunsch.—

Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß solche Briefe nur für Dich sind.

Die Raben der Trennung krächzen. Gute Nacht! Von Herzen Dein Carl.

P.S. Grüße Deine Mutter herzlich. Ich überlasse es Dir, was Du ihr von mir erzählen willst.

 

38. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, Schillerstr. 2, 4.1.1918

Mein lieber Fritz!

In Anbetracht Deines bevorstehenden Geburtstages habe ich Dir nicht mehr zum Jahreswechsel geschrieben. Nimm heute Dank für Dein treues Gedenken und zugleich unsere besten Wünsche zu dem Beginn Deines bürgerlichen und menschlichen Jahres. Wir denken Dein in herzlicher, brüderlicher Freundschaft. Du wirst uns auch als Studienreferendar nicht lieber als bisher, aber es wird Dir gewiß eine hohe Genugtuung bereiten, Dich demnächst mit diesem schönen Titel schmücken zu dürfen. So legt Dir das Kultusministerium eine prunkende Gabe in die Wiege Deiner Lehrtätigkeit. Es war mir neulich leid, daß ich nicht einmal ausführlich mit Dir über Eure Seminarverhältnisse sprechen konnte. Erst nach Deinem Besuch kam ich hinter die etwas bedenkliche Geschäftsführung, die Wünsche immer gleich für genehmigte Etatposten hält. So mußte ich Deinem Chef etwas gegen den Wagen fahren, ungern gewiß, aber aus einfachem Pflichtgefühl heraus. Natürlich blieb dann auch die Chose an mir hängen, obwohl sie leider nicht zu meinem Referat gehört. Es bleiben leider in letzter Zeit immer mehr Dinge bei mir hängen, die mich nichts angehen, aber mich packt manchmal die sogenannte Initiative, wenn die Dinge im Schlick des Verwaltungsapparates zu versinken drohen. Und dann bleiben meine eigenen großen Sachen liegen. Es ist zum Verzweifeln. Aber ich irre ab. Kehre zum Ausgangspunkt zurück: Möge Dein Leben nicht verschlicken, sondern sich nach Deinem und unseren Wünschen entwickeln. Vor allem wünsche ich Dir die Kraft zu einem schönen Doctor.

Wir hatten ein schönes, stilles Fest. Helli war bezaubern und süß, die Großen schon bewußt und gedämpft. Ich trauerte den akadem(ischen) Weihnachtsferien nach und mußte die liebsten Leute brieflos ausgehen lassen, auch Deine verehrte Mutter, der ich erst heute schreiben werde.

Politisch bin ich mit Kühlmann einverstanden. Es spucken ihm aber so viel Leute in den Brei, daß er sicher verdorben wird. Ludendorff verlangt jetzt die Narewlinie. Es ist schwer möglich, damit den Reichstag zu versöhnen und künftige russische Politik zu machen. Eine Beteiligung Englands an den Verhandlungen würde ich begrüßen. Wie groß Englands Prestige noch ist, sieht man an der Angst unserer Rechtsradikalen. England muß sich ja doch mit uns auseinandersetzen und diese Auseinandersetzung scheint mir nicht schwer. Jedenfalls ist die Annexionslosigkeitsformel politisch richtig. Man muß nur an Kiautschou, Südwest, Bagdad usw. denken, um zu begreifen, wie weit wir auf diesem Wege kommen können. Kühlmann will England mit englischen Waffen schlagen, aber unsere Machtthematiker verderben ihm das Konzept. Auch England hat nie annektiert ohne zu sagen, es sei nur vorübergehend oder im Interesse des anderen usw. usw. Bei Verhandlungen mit Slaven werden Verhandlungen doch immer 2-3 Mal abgebrochen. Siehe Bulgarien. Doch genug davon.

Einen guten Händedruck Dein alter Carl.

 

39. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6./7.1.1919

Lieber Fritz!

Du sollst zu Deinem Geburtstag einen guten Gruß haben; denn Du hast das wirklich verdient. Immer wieder hast Du geschrieben und nie eine Antwort erhalten, aber Du mußt uns mit Revolutionsmaßstab messen. Zum Neuen Jahr im doppelten Sinn ein brüderliches Glückauf!

Wer die jetzige Zeit in Berlin als Gebildeter und Outsider erlebt, kommt aus dem Lachen über diese Harlekinade nicht heraus. Als Deutscher kann man sich verzehren vor Scham und Schmerz. Im Ministerium ist die Episode Hoffmann erledigt; es sei denn, daß er bei einem Spartakussieg wiederkommt. Das Possenspiel war toll, gottlob hatte er nur Kirche und Volksschule, während Haenisch alles andere hat. Haenisch ist gut und gibt sich alle Mühe, verständig zu regieren. In den ersten Wochen gab es einen tägl(ichen) Ministerrat unter Zuziehung der pädagog(ischen) Parteigenossen und unter Ausschaltung des Ministeriums. Daher all der Mist. Langsam wurde Haenisch mutiger, er hat zwar von Anfang an nur mitgemacht um Schlimmeres zu verhüten, aber auch er strebte anfangs aus politi(ischen) Gründen nach weithin sichtbaren Taten. Dabei mußte immer alles sofort heraus, noch am Abend in die Presse. Ich selbst fand aber schnell eine gute Position zu Haenisch und darf mich wohl als seinen Vertrauensmann für Hochschulsachen, aber auch für allgem(eine) Ministerialfragen bezeichnen. Ich habe öfters den Vermittler und Berater gespielt. Ich bin ihm gegenüber völlig loyal, aber von rücksichtsloser Kritik und Offenheit. Das ist der einzig mögliche Standpunkt für mich und ihn. All die Herren, soweit sie gebildet sind, sehen jetzt ein, daß man mit Volksversammlungsreden nicht regieren kann und sie seufzen alle unter den ihnen jetzt präsentierten Wechseln. Nur ein köstliches Bespiel: H(aenisch) hatte einem Petenten geschrieben: Wenn ich Kultusminister wäre, sollten Sie gewiß zugelassen werden, aber …; 14 Tage danach war er Kultusminister und nun mußte der Wechsel sofort eingelöst werden.

Viel Arbeit hatte ich bei meinen Bemühungen, die Collegen zu einem Protest gegen Hoffm(ann) zu bekommen. Es waren die kläglichsten Eindrücke von Männerwürde, die ich je erhielt. Ich will das später alles einmal aufschreiben. Ein Satyriker hätte ein Musterstück schaffen können. Bürgerl(iche) oder auch nur kollegiale Solidarität ist eine Chimäre. Schließlich gingen einige mutige Männer mit mir zum Zentralamtsvorsitzenden als „Staatsbürger“, beileibe nicht als „Deputation“. Dort dachte man genauso wie wir.

Nun haben wir seit gestern die 2. Revolution. Sie ist schlimmer als die erste. Man hat die Inszenierung gelernt. Dabei kommen Rudimente längst vergangener primitiver Zeiten zum Durchbruch. Der halbreligiöse Kampf der Quartiere, noch heute in Afrika bekannt, auch in der deutschen Volkskunde abgeklappt nachweisbar, lebt wieder auf. Eine Gruppe schreit: „Liebknecht hoch, hoch, hoch“, die andere antwortet taktmäßig „nieder, nieder, nieder“. Alles ist in Bewegung und demonstriert, meist ohne recht zu wissen, warum. Dabei wird viel geschossen. Ich war heute nach Tisch in der D(eutschen) Gesellschaft eingeschlossen und sah vom Erker zu, wie vor uns Maschinengewehre tackten. Es war scheußlich. Gottlob ging alles in die Luft und die Massen zerstoben. Die Regierungstruppen sind von Offizieren in Civil geführt, was einen ganz guten Eindruck macht. Den ganzen Nachmittag krachte es ununter-brochen vor meinen Fenstern, doch taten wir unsere Arbeit wie immer, schlichen dann zu einer Hintertür hinaus und auf Umwegen zum Wannseebahnhof.—

Minister-Jubiläum 11.11.1919 Greve’s Hof<br /> o. v.l.n.r. Geh.Reg.Rat Gürich, Strafanstaltsdir. Hülsberg, Kommerzienrat Max Pasch<br /> u. v.l.n.r. Geh. OberRegRat Prof. Dr. Pallat, Unterstaatssekretär Prof. Dr. Becker, Minister Haenisch, Wirkl.Geh.OberRegRat Klotzsch
Minister-Jubiläum 11.11.1919 Greve’s Hof
o. v.l.n.r. Geh.Reg.Rat Gürich, Strafanstaltsdir. Hülsberg, Kommerzienrat Max Pasch
u. v.l.n.r. Geh. OberRegRat Prof. Dr. Pallat, Unterstaatssekretär Prof. Dr. Becker, Minister Haenisch, Wirkl.Geh.OberRegRat Klotzsch

Zu Hause geht es noch gut. Wir hatten ein stilles und doch freudiges Fest mit gr(oßem) Christbaum und viel Liedern und sogar mit gutem Essen. Von irgendwoher war uns etwa Mehl zugekommen und es gab weißen Napfkuchen, Du, richtige braune Kuchen nach Hamburger Muster. Vorgestern machten die Kinder sogar eine kl(eine) Aufführung und Laterna magica, kurz, hier draußen leben wir noch wie auf einer Insel. Gelegentlich schlägt dann eine Welle hinein, wie am Weihn(achts)abend unser Leutnant, der das Schloß mitgestürmt hatte, dann gefangen wurde und zerfetzt und degradiert in moralischer Auflösung hereinkam. Wir hatten lange 3 Mann, zwar lästig, aber ordentliche Leute.

Ich schreibe Artikel auf Artikel, Sonntags und Nachts. Kämpfe mit schwerer Erkältung und habe unsagbar viel zu tun, namentlich weil ich schnell mitreden soll. Man erlebt sehr, sehr viel Interessantes. Werdet übrigens in Bonn nicht irre an mir, wenn Ihr nächstens von einer Regierungshandlung lesen werdet, die auch Bonn betrifft. Ich glaube, das Schlimmste verhindert zu haben. Du bist ja diskret, so frag einmal Smend. Er darf Dir’s sagen. Mein Votum für das Staatsministerium hätte Zitelmann nicht besser machen können. Bonn wird allerdings gehörig aus seinem bequemen Schlummer geweckt werden. Gut so; da wird auch Smend zustimmen. Grüße Curtius, für dessen Brief ich herzlich danke. Er ist ebenso rührend wie Du im Schreiben. Er soll bald von mir hören. Ebenso Smend.

Wärmste Grüße Deiner Mutter und Dir von uns allen. Dein Carl.

 

40. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 19.10.1919

Mein lieber Fritz!

Vorgestern erreichte mich die große, uns alle lebhaft bewegende Nachricht. Ich habe bis zum Sonntag mit meinem Glückwunsch gewartet, weil ich Dir in Ruhe schreiben wollte und die letzten Tage mit Staatshaushaltsausschuß von Morgens bis Abends und gestern einer 40 Personen Soirée bei uns im Hause mehr als voll und verhetzt waren. Heute aber herrscht Windstille vor dem Morgen mit den Vorbesprechungen zur Reichsschulkonferenz neu einsetzenden Sturm, und diese Ruhe laß mich benutzen, Dir beim Schein meiner grünen Lampe einige Worte treuer Teilnahme und freundschaftlichen Miterlebens zu senden.

Überrascht waren wir alle ganz außerordentlich, nicht grade, daß Du Dich verlobst hast; denn Du warst reif dazu und innerlich darauf eingestellt. Du brauchtest die Gesellung auch zur letzten Überführung Deiner Persönlichkeit in das geistige Mannsein. Man spricht so viel von Menschwerdung und so selten von der Mannwerdung. Sie vollendet aber erst die Jugendentwicklung des männlichen Individuums, und sie wird neu erzeugt durch Weib und Kinder. Vielleicht stellen die letzteren noch eine weitere Phase dar, wie überhaupt – Gott sei’s gedankt – der entwicklungsfähige Typ Mensch als Mann noch eine Reihe weiterer Stufen, auch in den Vierzigern noch, aufweist, wie ich in diesen Jahren mit Freuden an mir selber erlebe. Dann beginnt jetzt diese neue Entwicklungsreihe, während Du zugleich die bisherige im Bann des Elternhauses, männlichen und viellieben Freundeskreises sich abspielende beschließest. Überrascht war ich also über die Tatsache nicht, um so mehr aber, daß es ein neuer Mensch ist, der in Dein Leben tritt. Vielleicht wäre Deine Braut auch mir kein in jeder Hinsicht neuer Mensch, wenn unser geistiger Austausch nicht durch die räumliche Trennung so sehr behindert wäre. So habe ich für meine eigene innere Stellungnahme nur Deinen Brief und die aus ihm sprechende fest und starke Liebe, die wie jede echte Liebe nicht blind sondern sehend macht., Deine klare Entschlossenheit, die alle „Aber’s“ durchgedacht hat, und die echt Fritz’sche Mischung von Sentiment und Nüchternheit, von langsamem Abwägen und gefühlsmäßiger Abruptheit, um mir ein Bild von den Vorgängen und der Sachlage zu machen. Aber das genügt vollauf, um Deine künftige Ehe im Zeichen eines günstigen Sternes zu sehen und Dir in alter Treue innigst die hand zu drücken.

Soll man zu einem solchen Bunde mit Glückwünschen kommen? Daß man dem Freunde und seiner Lebensgenossin das Beste wünscht, ist eigentlich zu selbstverständlich, um es zu formulieren. Jeder ist der Schmied seines Glückes, das gilt auch der Ehe. Die Grundlage muß auch hier die geistige Gemeinschaft sein. Die Selbstverständlichkeit der Zusammengehörigkeit. Schwierigkeiten bleiben ja wohl in keiner Ehe aus., und die Ehen sind vielleicht die bestfundierten, vor deren Eingang schon der Kampf stand, und bei denen deshalb nicht nur das Gefühl, sondern der Verstand von Anfang mitgewirkt hat. So sehe ich freudig Deiner Zukunft entgegen. Deine Braut soll uns als Deine Lebensgenossin von Herzen auch in unserem Kreise willkommen sein.

Da wir sie nicht kennen, wohl aber Dich, können wir ihr sachkundiger gratulieren als Dir. Wenn sie Dich richtig zu fassen versteht – und daran zweifle ich nicht -, wird sie in Dir einmal einen mustergültigen Gatten haben; denn Du bringst Deinerseits alle Eigenschaften mit, die eine glückliche und harmonische Familie garantieren. Möge sie umgekehrt Dir immer ein Sporn und ein Stachel sein, den brauchst Du; möge sie Dir stets – wie die Araber es nennen – eine „Tadlerin“ sein.

(Schluß fehlt)

 

41. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 4.1.1920

Mein lieber Fritz!

Du weißt, meine Zeit erlaubt mir keine langen Briefe, aber zum 6. Januar will ich Dir doch einen persönl(ichen) Gruß senden. Dies neue Lebensjahr wird ja für Dich so bedeutungsvoll, daß man nichts anderes zu wünschen braucht, als daß die Saat aufgehen möge, die hoffnungsfreudig in ihm gepflanzt wird. Ein lieber Besuch hat uns sehr erfreut, und wir danken Dir für Deinen Brief. Dein Jean Paul Buch habe ich gelesen, mit Spannung und Interesse. Mir geht die Konstruktion etwas zu weit, aber ich anerkenne gern den Versuch – den geglückten Versuch -, Dich über das Normalmaß einer Dissertation zu erheben. Meinen besten Glückwunsch und eine gute Presse!

Wir hatten stille Weihnachten, etwas behindert durch fortwährende Krankheit oben und unten außer am H(eiligen) Abend selbst, der sehr harmonisch verlief. Grippe, dann Hellmut Masern, schließlich Mittelohrentzündung, die einen Augenblick bös aussah, aber hoffentlich gut verläuft. Er liegt noch zu Bett. Dazu mancherlei häusliche Schwierigkeiten, so daß meine Frau das neue Jahr nicht gerade rosig begann.—

Mitte des Monats reise ich zur Hochschulkonferenz, dann Frankfurt/Main, Marburg und Gelnhausen, wo ich 8 Tage mit Wende bleibe. Danach sind wir dann hoffentl(ich) hier so weit, daß auch meine Frau mal ausspannen kann.

Alle besten Wünsche Deiner Mutter, Deiner Braut und Dir.

Von Herzen Dein Carl.

 

42. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 22.3.1920

Randbemerkung Sells(?): Kapp-Putsch

Mein lieber Fritz!

Man ist sich merkwürdig ferngerückt in dem neuen Deutschland mit seinen Putschen und Streiks, mit seinem Verbot von Glückwunschtelegrammen und seinen Verkehrshindernissen. Ebenso wenig wie über den Raum ist man über die Zeit mehr Herr, nachdem gerade Zeitsetzung zum Zeitvertreib für Optimisten geworden ist. Also muß ich schon heute zur Feder greifen, wenn ich überhaupt einigermaßen damit rechnen will, daß Dich an dem entscheidenden Tag Deiner vita nuova wenigstens ein Gruß von mir erreicht. Gern hätte ich, hätten wir, Deinen Hochzeitstag mitgefeiert. Zu normalen Zeiten wäre es ja auch wohl so gekommen, aber das schon an sich jetzt schwer Mögliche ist durch die jüngsten Ereignisse völlig ausge-schlossen worden. So laß Dir wenigstens im Geiste die Hand reichen. Ich denke Dein in herz-licher Liebe und mit sonnigen Wünschen. Wer Dich kennt, wird Dir und Deinem Schicksal vertrauen. Glückauf zu einer restlosen, bewußt genommenen Lebensgemeinschaft!

Die äußere Lösung Deines nächsten Daseins scheint mir erfreulich. Berlin ist jetzt wirklich kein Pflaster für Flitterwochen und –monde. Augenblicklich ist’s hier übler als je. Immerhin wird es sich schon wieder einpendeln, nur sind wir um ein Jahr zurückgeworfen. Links ist wieder Trumpf. Daß eine vernünftige Zeitung wie Kölnische tatsächlich an eine Beteiligung der Rechten an der Regierung – als Folge des Kapp-Putsches glaubt, zeigt, wie wenig klar selbst politisch geschulten Köpfen die ganze Situation ist. Gerade das Mitwirken der Rechtsparteien, die Parole der Fachminister und ähnliche Forderungen Kapps sind durch den Putsch heillos diskreditiert. Das Rechtsbewußtsein der Arbeiter ist enorm gestiegen und die langsam wieder Kraft gewinnende Rechtsidee erschüttert. Es ist zum Heulen. Ich war am kritischen Tage in Bamberg, Hedwig in Gelnhausen. Immerhin gelang es mir noch am Revolutionstag selbst Abends in Berlin zu sein., da ich 30 Minuten nach Empfang der ersten Nachricht schon im Zug saß. Hier habe ich dann alles aus nächster Nähe miterlebt. Die Unterstaatssekretäre haben ja diesmal eine recht erhebliche Rolle gespielt und Herrn Kapp zu Fall gebracht., eigentlich ehe der Generalstreik richtig einsetzte. Das Schlimmste war aber der trotz der glänzenden Stellung der hohen Beamtenschaft unvermeidliche Rückschlag nach links.2 Ich wurde übrigens von den Kappleuten in Schutzhaft genommen, aber nur 2 Stunden, wurde dann von Oberst Bauer in die Reichskanzler geführt, wo ich die Gelegenheit benutzte, sowohl Bauer, wie dem anwesenden Traub – er muß aber auch immer danebenhauen! – sehr gründlich die Meinung zu sagen. Im gleichen Augenblick wurde Ludendorff gemeldet, der also natürlich dahintersteckte. Grundsätzlich stand das Fehlschlagen des Unternehmens aber sehr bald fest, schwierig war nur aus der Situation herauszukommen, ohne entweder die Mehr-heitssozialdemokratie oder unseren letzten militär(ischen) Schutz oder beide einzigen Stützen gegen den Bolschewismus rettungslos zu zerschlagen. Gut ist nur das Eine, daß das Märchen vom „starken Mann“ ausgeträumt ist.—3

Eisenlohr ist zurück, aber noch in Heidelberg, er wird nach Ostern zunächst dauernd nach Berlin kommen.

Und nun nochmals alles Gute, mein lieber Fritz. Überlege Dir bitte mal, womit wir Dir eine Freude zur Hochzeit machen können. Überflüssiges darf man in diesen Zeiten seinen nächsten Freunden nicht schicken. Nach der Hochzeit könnt Ihr es auch besser übersehen. Vielleicht weiß auch Deine liebe Mutter einen Rat. Ihr gilt mein herzlich mitfühlender Gruß! Wir werden am 30.ten Deiner und Deiner Frau in geschwisterlicher Treue gedenke. Dein Carl

 

43. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 18.6.1920


Zum Tode von Frau Prof. Sell


Mein lieber Fritz!

In stillen Nachtstunden eilen meine Gedanken zu Dir – etwas mehr gesammelt, als es der Drang dieser Tage erlaubt hatte. Still und friedlich ist dies Lebenslicht verlöscht, das nicht nur geleuchtet, das auch erwärmt hat. Wir waren wirklich tief bewegt. Zunächst überwog der Schreck, die Überraschung. Ich bin so daran gewöhnt, daß Herzleidende, die sich schonen, oft sehr alt werden, daß ich nie an einen so plötzlichen Ausgang dachte. Auch hatten wir gerade korrespondiert, und es war eigentlich ein Zufall, daß meine Frau nicht bei ihr war; denn sie hatte sie gerade jetzt aufsuchen wollen. Deine Mutter war uns – ganz abgesehen von Dir und den alten Familienbeziehungen – als Mensch so teuer und lieb geworden, daß wir sie als zu uns gehörig betrachteten. Ich konnte mir für meine Frau keine bessere Vertraute, keine treuere Beraterin und kein vollkommenderes Vorbild wünschen. Aber auch ich selbst war ihr in schlichter, fast kindlicher Anhänglichkeit und Verehrung verbunden. Du weißt das ja alles, Du hast es ja miterlebt, aber was Du nicht wissen kannst, ist, daß diese Beziehungen nach der Trennung sich vertieft haben, daß wir oft und mit Liebe ihrer gedachten und hier keinen Ersatz für diese intensivste Bonner Beziehung gefunden haben.

So trauern wir wirklich von Herzen mit Dir und Deinem Bruder. Ihr habt unendlich viel verloren und seid mit jungen Jahren in die „andere Riege“ getreten. Auch für Deine Frau ist dieser Tod doch unendlich schmerzlich. Wie viel hätte ihr diese herrliche Frau noch sein können! Sie ist dahin gegangen, wie sie seit dem Tode ihres Mannes gelebt hatte, still und unauffällig, ohne irgend jemand zu behelligen und doch in harmonischer Form, wie ein Hauch, der aber noch fühlbar, erquickend und belebend – unmerklich versucht. Wir werden zeitlebens ihrer in Dankbarkeit und Treue verbunden sein und die persönlich geweihte Liebe auf Dich und Deine Frau übertragen. Das liegt sicher in ihrem Sinn, und schon der Gedanke würde sie freuen. So reiche ich Dir zu einem brüderlichen Händedruck die Hand.—

In alter Freundschaft Dein Carl.

 

44. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin W 8, Unter den Linden 4, 26.8.1924

Privatsekretariat (Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Ich nehme an, daß Du in diesen Tagen nach Godesberg zurückkehrst, und so brauche ich mir nicht zu große Vorwürfe darüber zu machen, daß ich die Beantwortung Deines freundlichen Briefes vom 1.8. solange hinausschob. Es war gut, daß ich es tat, denn ein Empfang war ich fest entschlossen abzulehnen. Ich kann mir eine größere auswärtige Vortragstätigkeit neben meiner sonstigen Inanspruchnahme nicht leisten. Nun habe ich mich aber bereit erklärt, am 16. November in Düsseldorf die dortige Vortragssaison im Theater mit einem Vortrag über „Staat und Kultur“ zu eröffnen. Vielleicht könnte ich Montag, den 17. oder Dienstag den 18. November (nicht später) diesen Vortrag bei Euch wiederholen. Einen zweiten großen Vortrag in dieser Zeit neu zu machen, trage ich Bedenken. Eine Plauderei über den heutigen Orient und seine politische Lage kannst Du natürlich jederzeit haben, namentlich, wenn ich jetzt das Schlußkapitel meines zweiten Bandes vollendet habe, wobei ich gerade bin. Also grundsätz-lich bin ich bereits. Vielleicht teilst Du mir mit, wie groß ungefähr das Auditorium sein wird., vor dem ich zu sprechen habe. In Bezug auf Honorar bitte ich mich genau so zu behandeln wie andere Redner. Die Reisespesen fallen ja sowieso weg, da ich vermutlich eine dienstliche Besichtigung mit der Fahrt verbinden werde. und, falls das die Verhältnisse verbieten, ja bis Düsseldorf die Reise von der dortigen Organisation bezahlt erhalte.

Hoffentlich habt Ihr erfreulichere Ferien gehabt wie wir. Sie fingen bei uns mit einer Angina unseres Pflegesohnes an, führten über eine Blinddarmentzündung von Hellmut zu einer Darmgrippe meiner Frau und schlossen mit einem verknaxten Fuß der letzteren, so daß der an sich so wundervolle Ostseeaufenthalt schließlich doch mit einem gewissen Minus geendet hat. Ich persönlich war nur drei Tage dort, wo gerade mal Wetter und Gesundheit sich von der besten Seite zeigten. Ich habe noch nicht ganz 14 Tage Ferien gehabt, bin aber doch drei Wochen weggewesen, da ich an eine genußreiche Woche in Gelnhausen mit meinem Freunde Gragger den Besuch der Akademischen Olympia in Marburg und dann den Besuch der Tagung der Europäischen Studentenhilfe in Elmau anschloß, der mich mal wieder tief in die internationalen Beziehungen hineinführte und in jeder Hinsicht erfreute. Ich hielt einen großen Vortrag über „Das Wesen der deutschen Universität“, der jetzt gedruckt wird.

Seit wenigen Tagen ist die ganze Familie, außer Walter, wieder zusammen, und zurzeit ist alles wohl. Hertha soll noch recht viel Opern und Theater gezeigt bekommen, ehe sie in ihre Salemer Einsamkeit zurückkehrt. Von Walter haben wir glänzende Nachrichten. Er hat ein Mordsglück mit seinem englischen Aufenthalt. Er ist nach beendetem term etwas in Mittel- und Nordengland herumgereist und ist jetzt tutor in einem Wald-Cottage in Dorset, unweit der Südküste. Zum Schluß soll er dann nach London, den Winter aber in Deutschland studieren.

Meine Pläne für die nächste Zeit sind die folgenden: Ich werde am 15. September die Veran-staltung „Jugend und Bühne“ in Frankfurt eröffnen, am 1.-4. Oktober den Orientalisten-Kongreß in München mitmachen und am 25. Oktober die goldene Hochzeit meiner Schwiegereltern in Augsburg feiern. Vielleicht führt uns unser Stern irgendwo wieder einmal zusammen.

Mit guten Grüßen und Wünschen von Haus zu Haus, in alter Freundschaft

Dein getreuer (gez.) CHBecker

 

45. Preußisches Ministerium für Wissenschaft etc. Berlin, 10.11.1924

MR Duwe an Dr. Fritz Sell, Godesberg (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Doktor.

Im Anschluß an mein heutiges Telegramm teile ich Ihnen im Auftrage des Herrn Staatssekretärs D Dr. Becker, der an einer Bronchitis erkrankt ist und einige Tage das Bett hüten muß, ergebenst mit, daß er zu seinem großen Bedauern sein Vorhaben, am 17. November nach Godesberg zu kommen, aufgeben muß. Es finden an diesem Tage mit dem Präsidenten der Gemischten Kommission in Oberschlesien Herrn Calonder Besprechungen in Schulan-gelegenheiten im Ministerium statt, an denen der Herr Staatssekretär als Vertreter des in diesen Tagen verreisten Herrn Ministers unter allen Umständen teilnehmen muß. Herr Staatssekretär Becker muß deshalb in der Nacht von Sonntag zu Montag von Düsseldorf direkt nach Berlin zurückkehren. Er bedauert diese Absage außerordentlich, da der Abstecher nach Godesberg ihm besondere Freude bereitet hätte. Er bittet, den zugesagten Vortrag hiermit aber nicht als ganz abgesagt zu betrachten; er wird ihn gern bei der nächsten geeigneten Gelegen-heit nachholen.

Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor von Herrn Staatssekretär Becker auftragsgemäß herzlichste Grüße übermittelnd, bin ich mit besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener (gez.) Duwe

 

46. C. H. Becker an Dr. Sell. Berlin-Steglitz, 3.12.1924

Mein lieber Fritz!

Du hättest schon lange ein persönliches Wort von mir erhalten, wenn ich nicht die letzten acht Tage mit einer verschleppten Bronchitis alias Grippe zu Bett gelegen hätte. Es tat mit aber sehr leid Dir absagen zu müssen, aber wir konnten ja nicht voraussehen, daß unser Plan gerade in die Wahlzeit fallen würde. DerMinister immer fort, ich mich mit besagter Grippe herumschlagend, der Besuch Calonders, dem ich am Tag meines Godesberger Vortrages einen großen Empfang im Ministerium geben mußte, tags zuvor der Vortrag in Düsseldorf, der sehr gut lief, aber schließlich nach acht Tagen lag ich fest und mußte die Sache aus-schwitzen. Morgen will ich wieder Dienst tun, vorher aber doch noch sagen, wie leid mir das alles tut.—

Wann soll denn nun mein Vortrag dort steigen? Wollen wir nicht aufs Frühjahr warten? Gleich nach Neujahr fahre ich vielleicht nach Holland, am 15. Januar spreche ich in Leipzig vor der Studentenschaft, im Februar will ich nach Zürich und Arosa, am 6. März spreche ich in Basel ebenfalls vor der Studentenschaft. Wie wär’s mit Ende März, Anfang April?

Wir sehen übrigens die Schulreform durchaus nicht als zusammengebrochen an. Warte nur mal auf die neuen Lehrpläne. Es kommt eben auch nach unserer Ansicht nicht so sehr darauf an als auf die neuen Lehrer. Ich kämpfe zur Zeit einen stillen Kampf um die Volkschullehrer-bildung. Die Oberlehrerbildng folgt nach. Doch darüber muß man einmal gemütlich reden. Brieflich können wir das beide nicht.

Die guten Nachrichten von Euch freuten uns herzlich. Meiner Frau geht es nicht ganz prima, sie hat noch mit Nachwehen ihrer Ostseegrippe zu tu, ohne dadurch in ihrer Arbeit direkt gehindert zu sein, aber sie hat leider mancherlei (namentlich nachts) an Schmerzen auszuhalten. Den Kindern geht es gut. Walter ist aus England zurück und studiert jetzt hier Jura. In Bälde erwarten wir Hertha, die immer noch sehr glücklich in Salem ist, von dort zu den Weihnachtsferien zurück.

Mit guten Grüßen von Haus zu Haus und herzlichen Wünschen für ein schönes Weihnachts-fest Dein getreuer Carl.

 

47. Der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Berlin, 29.6.1928

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Seit langem bedrückt es mich, daß ich Dir auf Deinen freundlichen Brief und auf Deine Frage in Sachen Italienreise noch nicht geantwortet habe. Aber ich wollte Dir immer gern einmal behaglich schreiben und kam und komme nicht dazu. Ich möchte aber doch Dich nicht länger in Ungewißheit lassen, wie ich über die berührte Frage denke. Es tut mir von Herzen leid, daß irgendeine Äußerung von mir mißverstanden und von Dir als Vorwurf gedeutet werden konnte. Bei der Bemessung von Reisestipendien liegen natürlich gewisse allgemeine Normen zugrunde, wenn man auch ein Stipendium einmal etwas reichlicher und das andere Mal etwas weniger reichlich bemißt, je nach der finanziellen Situation des Stipendiaten. Deshalb konnte das Stipendium nicht in der Höhe bewilligt werden, wie Du es erst aber beantragt hattest; daß Du aber nachher im Rahmen des einmal Bewilligten Deine Frau mitgenommen hast, das ist Deine ganz persönliche Privatangelegenheit, die zu kritisieren mir vollkommen fern gelegen hat. Manche Menschen lernen mehr, wenn sie mit Frau reisen, manche nur dann, wenn sie ohne Frau reisen. Nur bei der Berechnung des Stipendiums selbst muß wenigstens offiziell die Frau ausscheiden. Das Stipendium war bei Dir so berechnet, daß es für eine Person eine sehr anständige und behagliche Reise ermöglichte. Wenn Du Dich dann lieber einschränkst, außerdem noch etwas Privates zusteuerst und Deine Frau mitnimmst, ist das doch das Natürlichste von der Welt und niemand wird Euch Beiden ein solches Zusammensein herzlicher gönnen als ich. Ich wundere mich eigentlich, daß Du bei Deiner doch ziemlich genauen Kenntnis von mir irgendeine Mißbilligung meinerseits auch nur für möglich gehalten hast. Ich pflege meinen Freunden gegenüber doch ziemlich offen und klar meine Meinung zu sagen. Bei Äußerungen, die durch mehrere Münder gegangen sind, empfiehlt es sich mehr an das eigene Wissen als an die Formulierung einer solchen Nachricht zu halten.

Du weißt, daß ich mich seit langem bemühe, für Dich mal einen entsprechenden Platz zu finden, aber es ist, wie ich Dir gleich sagte, nicht leicht. Ich bitte Dich nur, mir immer gleich vertrauensvoll zu schreiben, wenn Du irgendeine Möglichkeit siehst, wo ein Fürspruch von mir Dir helfen kann. Für Deine ganze geistige Entwicklung glaube ich allerdings, daß auch Dir bald einmal irgend ein Wechsel not tut. Den Bericht von Deiner Reise habe ich übrigens mit Interesse gelesen und daraus entnommen, daß Du Sizilien mit ähnlichen Augen gesehen hast wie ich.

Als ich neulich in Koblenz war zur Görres-Feier habe ich Euch einen stillen Gruß hinübergesandt, auch in Köln habe ich Euer gedacht. Ich werde in den 20iger Tagen des August zum Orientalisten-Kongreß nach Bonn kommen, aber Euch dann wohl kaum antreffen. Ich selbst beabsichtige vom 12. Juli ab für vier Wochen nach Marienbad zu gehen. Meine Frau mit Hertha und Hellmut geht schon nächste Woche an den Bodensee, während Walter allein hier in Berlin seine Examensarbeit fertig macht.

Mit guten Grüßen von Haus zu Haus

In alter herzlicher Freundschaft Dein getreuer (gez.) Carl

 

48. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6.1.1929

Lieber Fritz!

Ich gedenke herzlichst Deines heutigen Geburtstages. Meine Frau hat Dir ja wohl das Familiäre geschrieben. Daß Du zum Studienrat ernannt bist, hast Du ja wohl inzwischen erfahren. Mit den Pädagogischen Akademien sind wir immer noch nicht im Reinen. Von den Driesch meint, es würde dieses Frühjahr mit Dir noch nichts werden, aber Du bleibst bestimmt in Aussicht. Etwas Fühlungnahme mit der Volksschule wäre vorher erwünscht. Wir werden wohl nach Begründung der diesjährigen Serie für die Anwärter des kommenden Jahres irgendeinen Vorbereitungsdienst einrichten, aber Näheres steht noch nicht fest. Die Arbeit ist für das Nächste schon übergroß. Jedenfalls denke ich an Dich, aber es schadet nie einmal nachzufragen.

Jedenfalls wollte ich Dir und Deiner Frau gerne persönlich alles Gute zum Neuen Jahr und insbesondere Dir noch zu Deinem Geburtstag wünschen.

Von Herzen Dein alter Carl.

 

49. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin W 8, 12.2.1929

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Du hast inzwischen durch von den Driesch Nachricht bekommen, daß wir Dich – wenn möglich noch im Frühjahr – auf einer Pädagogischen Akademie verwenden möchten. Die Sache hat allerdings zwei Nachteile für Dich, die ich Dir in aller Freundschaft darlegen möchte.

Erstens könntest Du jetzt nicht für Geschichte, sondern nur für Deutsch Verwendung finden, und zwar entweder in Hannover oder in Breslau, was wieder von dem Ausscheiden eines Ministerialrats im Ministerium abhängt, der den einen Posten übernehmen wird und natürlich die Wahl behalten muß.

Zweitens könntest Du jetzt nur als Studienrat und noch nicht in die Professorenklasse übernommen werden, weil das eine große Ungerechtigkeit für andere Leute Deines Jahrgangs bedeuten würde.

Unter diesen Umständen bin ich eigentlich der Meinung, daß Du lieber noch ein Jahr in Godesberg bleiben solltest, um dann bestimmt an irgendeiner westlichen Akademie, und zwar in Deinem eigentlichen Fach und dann auch in der Professorenklasse Verwendung zu finden. Wenn man ein Jahr Zeit hat, das vorzubereiten, wird es wohl möglich sein, ohne natürlich eine absolut sichere Bindung übernehmen zu können. Du hättest dann auch in Ruhe Zeit, Dich etwa näher mit den Volksschulfragen zu beschäftigen. Ich kann Dir das nur in aller Kürze schreiben, da ich heute nach Genf fahre, wo ich einen Vortrag halte. Ich bin erst am 19. Februar zurück. Bitte schreibe Du deshalb direkt an von den Driesch, der natürlich nun seine letzten Dispositionen treffen muß und dem ich gesagt habe, daß ich Dir in dem obigen Sinn schreiben würde.

In Eile mit innigen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (gez.) Carl.

 

50. C. H. Becker an Professor Dr. Fritz Sell, Kassel. Berlin-Steglitz, 27.5.1930

Staatsminister d. D. Prof. D Dr.

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz,

Ich danke Dir herzlich für Deinen Brief und den Artikel, den ich mit wirklichem Genuß ge-lesen habe. Ich habe es immer gewußt, daß Du einer von denjenigen bist, die meine Absich-ten am besten verstanden haben, und deshalb hätte ich Dich so gern auch weiterhin im Ministerium gesehen. Ich sprach gestern bei einem gemütlichen Mittagessen unter vier Augen im Ministerium ausführlich mit Grimme auch über Dich und erzählte ihm von diesem Deinen Artikel. Ich sagte ihm deutlich, daß ich Dein Ausscheiden bedauerte, und daß ich ihm nahe legte, Dich für eine spätere andersartige Verwendung im Auge zu behalten. Natürlich mußt Du jetzt erst einmal ein paar Jahre gründlich in Deine jetzige Aufgabe hineinsteigen. Er hat jedenfalls Dein Ausscheiden nicht veranlaßt. Die Urheber sind Wende und Kaestner gewesen, die Dich eben anders beurteilen, als ich es tue. Von den Driesch war nur schwach auch hierbei wie immer. Wende seufzt jetzt etwas unter dem neuen Personal, aber es geschieht ihm ganz recht. Kaestner ist leider sofort nach seiner Rückkehr wieder erneut krank geworden.

Daß man Raederscheidt zum Oberbürgermeister von Neuß gewählt hat, wird Dich auch überraschen. Wie ich höre, will er aber bleiben, wenn man ihn zum Honorarprofessor in Köln macht. Aber das bitte nur für Dich.

Es freut mich herzlich, daß Du Dich wohl fühlst. Es geht Dir darin wie mir, der ich die Freiheit vom Ministerium täglich mehr genieße. Ich habe mir übrigens einen Aufenthalt in Kassel auch immer als etwas sehr Erfreuliches gedacht. Mein Schwager Blumenstein stand dort einmal in Garnison, und da habe ich ein bißchen in die dortigen Verhältnisse hinein-geschaut. Jedesmal, wenn ich hinkomme, freue ich mich erneut über die Landschaft.

Ich habe nach wie vor schrecklich viel zu tun. Aber es ist nicht mehr so verantwortungsvoll, und das entspannt. Wir haben noch sehr viel offizielle Einladungen und machen auch viel von den Berliner Kunstwochen mit. Gestern Abend „Aida“ mit Lauri Volpi und hinterher noch ein großer Empfang bei Curtius, heute Abend Toscanini-Konzert und hinterher großer Empfang im Schloß bei Grimme. Sonnabend bin ich in Leipzig. Montag fahre ich nach Budapest. Nach Pfingsten bin ich auf dem Orientalistenkongreß in Wien. Kurz, ein geruhsames Leben kann man das gerade nicht nennen. Das Kollegmacht mir Spaß, aber zur eigentlichen schöpferischen Arbeit komme ich natürlich noch nicht. Damit wird es wohl auch nichts werden, bis ich aus Amerika zurück bin, was kaum vor Anfang Dezember der Fall sein wird.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus wie stets Dein getreuer (gez.) Carl

 

51. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 6.1.1931

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz,

Nun komme ich nicht nur zum neuen Jahre sondern auch zu Deinem Geburtstag zu spät. Aber ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir an beiden Tagen Deiner in alter, herzlicher Freundschaft und mit innigen Wünschen gedacht haben. Jedenfalls danke ich Dir sehr für Deinen lieben Brief vom 28. Dezember. Du hast ganz recht: es liegt eine gewisse Parallelität in unser beider Schicksal. Da kann ich Dir eigentlich nur wünschen, daß Du mit der Wendung Deines Schicksals ebenso zufrieden bist wie ich mit der des meinen. Wenn ich vielleicht noch als halber Minister nach Amerika gefahren bin, so bin ich jedenfalls als ganzer Professor zurückgekommen. Die Erlebnisse dieser Reise waren ungeheuer, und ich bin bis in meine Grundfesten durchgeschüttelt worden. Ich habe jetzt das Gefühl, als ob ich eine schwere Karlsbader Kur durchgemacht hätte und fühle eine sehr segensreiche Wirkung dieser Auf-rüttelung. Außerdem nimmt mich das Leben hier ziemlich stark in Anspruch und zwar nicht nur der Lehrbetrieb, obwohl ich hier völlig von der Hand in den Mund leben muß, sondern auch die riesige Klientel, die sich aus der Fülle meiner persönlichen Beziehungen ja ohne weiteres ergibt. Gesellschaftlich halte ich mich sehr zurück, ebenso publizistisch, doch hast Du vielleicht meinen Weihnachts-Artikel im „Berliner Tageblatt“ gelesen, wo ich mich zum erstenmal auch etwas außenpolitisch geäußert habe.

Den Meinigen geht es gut. Wir hatten ein ganz stilles und behagliches Weihnachtsfest und haben das neue Jahr gut angetreten. Im weiteren Rahmen der Familie war es ein bedeutendes Ereignis, daß die alte Firma meines Schwiegervaters in Augsburg sich glücklicherweise rechtzeitig von der Bayerischen Hypothekenbank aufsaugen ließ. Der Übergang ist zum 1. Januar erfolgt. Mein Schwager ist Direktor der Hypothekenbank geworden.

Es hat mich sehr interessiert, lieber Fritz, was Du über die Pädagogischen Akademien schreibst. Es scheint ja doch so, als ob die verschiedenen Pädagogischen Akademien ein ziemlich verschiedenes Gesicht bekommen sollten. Ich habe ja fast überall einen oder den anderen Freund sitzen und bin ganz gut im Bilde. Immerhin ist es doch eine entzückende Arbeit. Ich habe mit meinen Vorträgen über die neue Lehrerbildung in Amerika einen sehr großen Eindruck gemacht. Meine Vorträge werden in Buchform erscheinen. Dann sollst Du sie auch erhalten. Ich würde am liebsten einmal eine Rundreise bei allen Pädagogischen Akademien antreten und mich ins Bild setzen. Aber dann müßte man ungefähr mindestens acht Tage an jedem Orte bleiben. Leider kann ich eine soviel Zeit kostende Unternehmung nicht einmal anregen, da ich dann in einen heillosen Konflikt mit meinen orientalistischen Pflichten kommen würde. In Amerika litt ich etwas darunter, daß ich überall als Educator frisiert wurde und in erster Linie mit den Educational Departments in Verbindung trat. Als Berliner Professor muß ich diese opera supererogata völlig in den Hintergrund treten lassen. Jedenfalls freue ich mich sehr, daß Du an einer Pädagogischen Akademie wirkst, und ich glaube, daß es Dir auf die Dauer immer besser gefallen wird. Es begleiten Dich meine innig-sten Wünsche in das neue Kalender – wie Lebensjahr, und alle Meinigen grüßen herzlich mit mir Dich, Deine Frau und Töchter.

In alter Freundschaft Dein getreuer (gez.) Carl.

 

52. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 26.8.1931

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz,

Ich hatte gerade Deinen Namen auf die Liste der Empfänger meiner chinesischen Rundbriefe gesetzt, als Dein ausführlicher und gemütlicher Brief eintraf und mich wieder einmal so schön ins Bild setzte über Dich und Deine Arbeit. Ich danke Dir herzlich dafür wie auch für den schönen Artikel. Du hättest eigentlich verdient, daß ich in einer ausführlichen Antwort auf einen Brief einginge. Aber ich stehe unmittelbar vor meiner Abfahrt nach Ostasien, und da wirst Du verstehen, daß ich zu einem langen Brief nicht mehr kommen kann. Ich sehe aus dem Deinigen, daß Du von dieser meiner Ostasienfahrt noch gar nichts weißt. So will ich Dir schnell berichten, daß ich mit einer internationalen Kommission im Auftrage des Völkerbundes schon kommenden Sonnabend über Amerika und den Stillen Ozean nach China fahre, um ein Gutachten über den Stand des chinesischen Unterrichtswesens zu machen. Wir reisen mit der „Bremen“ von Bremerhaven am 30. ab, treffen am 5. September in New York ein, und dann geht es durch ganz Canada nach Vancouver und von dort ab 12. September mit der “Empress of Canada“ über Honolulu (17. September), Yokohama (27. September), Kobe (28. September) nach Shanghai (29. September). Von dort geht es weiter nach Nanking, dann etwa 14 Tage später nach Peking. Der weitere Plan ist unbestimmt. Eventuelle Briefe erreichen mich an beiliegender Adresse, die bis Ende November (Zusatz unleserlich) maßgebend ist. Wir bleiben 2 ½ Monate in China selbst, und dann gedenke ich den Rückweg über Vorderasien zu nehmen und vielleicht Niederländisch-Indien, mit großer Wahrscheinlichkeit aber den Irak und vielleicht Persien zu besuchen. Wenn Gesundheit, Geld und Politik es erlauben, werde ich erst Ende Februar oder Anfang März zurück sein. Ich mache mir natürlich kein X für ein U vor, daß man in dieser Zeit China reformieren könne; aber vielleicht können wir doch einen oder den anderen Rat geben, und jedenfalls ist die ganze Reise ein unerhörtes Erlebnis, das mir eigentlich zur Abrundung meines doch sonst nicht gerade erlebnisarmen Lebens noch gefehlt hat.

Meine Frau bleibt natürlich nicht allein in dem großen Haus, sondern wird aller Wahrscheinlichkeit nach ähnlich wie schon im Sommer in Salem helfen. Hertha ist im Krankenhaus tätig. Hellmut studiert in Freiburg und Walter nimmt sich hier in der Stadt irgendwo ein Zimmer, und wir schließen das Haus zu, was auch aus Ersparnisgründen sehr angenehm ist. Im Augenblick ist Hellmut in England, und Hertha rüstet sich darauf, ebenfalls hinzufahren. Ich selbst schließe noch Band II meiner „Islamstudien“ ab, nachdem ich in den letzten Tagen neben all meiner Vorbereitung noch einen großen Nachruf auf Nöldecke und eine literarische Analyse des 70jährigen Georg Jacob geschrieben habe. Ich bin auch froh, wenn ich erst an Bord bin. Amüsant ist, daß ich wieder durch ganz Canada fahre und durch die Rocky Mountains. Als ich voriges Jahr durchkam, sagte ich zu Walter: „Ich muß mir alles sehr genau ansehen, denn bei meinem Alter ist doch nicht zu erwarten, daß ich hier noch einmal herkomme.“

Auf der Reise nach China 1931/1932 mit der Völkerbundskommission
Auf der Reise nach China 1931/1932 mit der Völkerbundskommission

Und nun fahre ich das Jahr danach dieselbe Strecke. Man kann wirklich sagen: Der Mensch denkt, Gott lenkt, und aus einem vollen amor fati habe ich auch diese Reise unternommen, die doch natürlich auch manches Risiko einschließt. Ich habe mich gegen vier verschiedene Seuchen impfen lassen, was nicht nur angenehm war, und baue im übrigen darauf, daß das Leben ja doch auch Führung besteht. Es muß schon etwas Schicksalhaftes in dieser China-Aufgabe liegen, da ich kurz vor dem Ruf des Völkerbundes den gleichen Ruf von amerikanischer Seite bekommen hatte.

Nun muß ich aber unbedingt Schluß machen. Alles Nähere wirst Du aus meinen Reisebriefen erfahren, die Du in einem Durchschlag erhalten wirst.

In Eile grüßt Dich von Herzen Dein getreuer (gez.) CarlHB.

 

53. C. H. Becker an Fritz Sell. Berlin-Steglitz, 9.5.1932

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz!

Du hast mir so treu geschrieben, daß ich Dir trotz der Überfülle meiner ersten Wochen nach der Heimkehr einen herzlichen Gruß schicken möchte. Ich bin wirklich glücklich, daß es Dir gelungen ist, aus dem allgemeinen Zusammenbruch doch noch eine befriedigende Tätigkeit zu retten, aber ich kann Dir die Bitterkeit im allgemeinen und im speziellen vollkommen nachfühlen. Ich habe inzwischen Unterhaltungen mit Wende und Grimme gehabt und mich auch sonst vielseitig umgehört. In den nächsten Tagen kommt auch Weniger, mit dem ich nicht nur über den Nizzaer Kongreß sondern auch über das Schicksal der Akademien sprechen möchte. Es wird nie wieder gut zu machen sein, was an spontanem Idealismus zerbrochen ist. Auch mit Reichwein hatte ich eine Aussprache, der wirklich vieles geleistet hat. Gestern Abend traf ich im Theater – übrigens in der Bursleke von Wedekind „Der Liebestrank“ – meinen Vorgänger Boelitz, der natürlich auch sehr scharf urteilte, aber mehr über das höhere Schulwesen klagte, wo man auch die Reform zerstört hat. Grimme ist ein charmanter Mensch, aber er hat eben leider keine Kraft. Das mit den Akademien hätte so nicht passieren dürfen.

Aber auch die Zukunft sieht nicht rosig aus. Wenn die Nazis wirklich national sind, müssen sie jetzt in die Regierung mit dem Zentrum eintreten. Wenn sie das aus parteipolitischem Interesse ablehnen, sind sie meines Erachtens vor der Geschichte gerichtet und hoffentlich auch bei ihren Anhängern. Was man so an Äußerungen von Führern der Nazis hört und was man vor allem von ihrem Unverstand bereits erlebt hat, ist nicht gerade sehr ermutigend. Wie ich höre, ist aber Braun fest entschlossen, kein dauerndes Geschäftsministerium zu führen. Die Schwierigkeit liegt beim Reich, denn die Sozialdemokratie denkt nicht daran und kein Mensch kann es ihr zumuten, im Reich Brüning zu stützen, wenn in Preußen die Nazis regieren.4

Ich hatte noch schöne Tage in Paris und war auf der Hochzeit von Götsch in Northumberland. Jetzt warte ich auf den Beitrag meines Kollegen Langevin, im übrigen ist der Bericht fertig.

In der Hoffnung, daß es bei Euch allen recht gut geht und mit herzlichen Grüßen von den Meinen

Dein getreuer (gez.) Carl.

 

54. C.H.B. an Fritz Sell. Berlin, 9.9.1932

(Maschinenmanuskript)

Mein lieber Fritz!

Was Du tun willst, tue bald. Soeben erhielt ich Deinen lieben Brief. Ich danke Dir herzlich für das ausführliche Stimmungsbild, das er mir vermittelt. Ich sprach kürzlich den Präsidenten Sonntag in Frankfurt und war sehr nett mit ihm, dankte ihm auch für sein Eintreten für Dich, da mir das auch für die Zukunft wichtig erscheint. Deine Klagen über den Apparat sind gewiß berechtigt, aber Du kennst ja auch einigermaßen die Schwierigkeiten und Hemmungen. Auch Wende ist jetzt sehr bedrückt, daß er die nachfolge von Richter bei U I annehmen soll, aber er wehrt sich bisher energisch, besonders da er die Verantwortung für die Akademien spürt. Der Bau der preußischen Verwaltung muß ungeheuer stark sein, wenn er erst die sozialistische Umgestaltung und jetzt das neue Revirement ohne Schaden überstehen soll. Immerhin habe ich noch die Hoffnung, daß doch wirklich etwas geschieht. Die jetzt begonnene Verwaltungsreform war doch von uns seit einem Jahrzehnt vorbereitet, konnte nur nie durchgeführt werden, weil die lokalen Interessen zu stark im Parlament waren. Gewiß gibt es jetzt Härten und Schönheitsfehler, aber daß eine Verwaltungseinteilung aus der Zeit der Postkutsche in einem Zeitalter des Verkehrs antiquiert ist, versteht sich doch von selbst, und auf die Dauer tritt unbedingt eine Ersparung ein, wenn auch natürlich nicht im Augenblick. Wie in England die grundsätzliche Umgestaltung der Außenpolitik, die auch den Konservativen unvermeidbar schien, mit deren Einverständnis durch den Büttel der Labour Party durchgeführt wurde, so sollten auch wir die derzeitige Diktatur die Neugestaltung unserer innerpolitischen Verhältnisse durchführen lassen, zu der eine Regierung, die auf dem sog. Volksvertrauen, d.h. auf der Abhängigkeit von lokalen Wünschen besteht, niemals fähig sein würde. Ich bin kein Freund des Herrn von Papen und finde vor allem das Säbelgerassel des Herrn von Schleicher höchst unzweckmäßig. Trotzdem mußte dies Experiment gemacht werden, um dem Parteiklüngel einmal zu zeigen, daß es schließlich auch ohne ihn geht. Ob Nazi, ob Sozi, ob Zentrum oder Deutschnational, überall stand das Parteiinteresse über dem Gemeinschaftsinteresse, und es mußte darüber stehen, sonst wären auch diese Parteien zerrieben worden, wie die anderen. Im Grunde ist unsere Verfassung ganz gut. Ich glaube nicht, daß wir auf dem Wege zur amerikanischen Präsidialherrschaft sind, aber daß einmal die Allmacht der Parteien etwas erschüttert wurde, begrüße ich unbedingt.

Was im Kultusministerium wird, wissen die Götter. Ich habe stark geraten, in irgendeiner Form die Dualität zwischen Reich und Preußen aus der Welt zu schaffen. Nun wird, wenn ein Ministerium bestehen bleibt, gewiß das Kultusministerium erhalten werden, da die Länder nur auf Grund ihrer historisch-kulturellen Eigenart eine Existenzberechtigung besitzen. Auf der anderen Seite ist eine entschiedene Kulturpolitik des Reiches nur möglich, wenn es irgendwo die Sachkunde der Einzelarbeit besitzt, und vor allem müßte die Wissenschaftsverwaltung mit dem Reichsinnenministerium und dem Auswärtigen Amt zu einer organischen Zusammenarbeit gebracht werden. Jedenfalls ist noch alles im Fluß, und auch die Neubesetzung von U I ist ungeheuer schwierig. Hülsen wird für den Ministerposten genannt, ist aber doch wenig wahrscheinlich.

Von mir selbst kann ich nur berichten, daß es mir, auch abgesehen von der höchst erfreulichen Verlobung, sehr gut geht. Als ich Irmgard Schroeder gleichzeitig mit Walter vor nunmehr zwei Jahren zum ersten Mal sah, wünschte ich sie mir vom ersten Tage an als Schwiegertochter. Sie wird den ganzen Winter bei uns bleiben und dann während Walters Assessorexamen noch einmal nach Amerika zurückkehren. Dann aber hoffen sie zu heiraten. Der Aufschub ist nicht so schlimm, da sie erst 19 Jahre alt ist. Sie hat sich sehr schnell auch das Herz meiner Frau und der übrigen Familie erobert. Der Vater ist Direktor beim Norddeutschen Lloyd in New York, deutscher Herkunft, die Mutter ist Engländerin, Irmgard spricht beide Sprachen nebeneinander und ist eine erfreuliche Mischung aus deutscher Innerlichkeit und amerikanischer Smartness.

Ich selbst habe seit meiner Rückkehr von China meinen Reisebericht fertiggestellt, den ich Ende Juli in Genf überreichen konnte. Dann war ich auf dem Kongreß der New Education Fellowship, über den ich vorgestern im Radio im Pädagogischen Rundfunk berichtet habe. Ich werde diesen Bericht jetzt drucken lassen. Nach Nizza, das ich als einen vollen Erfolg empfand, war ich 8 Tage am Bodensee und habe dann die Goethe-Tage in Frankfurt mitgemacht, wo mir nicht weniger als drei Goethe-Medaillen verliehen wurden, die von Hindenburg, von der Stadt Frankfurt und vom Hochstift. Jetzt sitze ich in Ruhe in Berlin und bereite mein Winter-Semester und einige Vorträge in London und Cardiff vor, die ich im Oktober zu halten beabsichtige. Ich habe mich jetzt nach den Erfahrungen der Reise ganz auf das Thema konzentriert: Berührung Asiens mit Europa und Amerika, das ich einmal systematisch untersuche, da ich hierzu glaube nicht nur durch meine zwei Berufe, sondern auch durch meinen äußeren Lebensgang gut qualifiziert zu sein, und außerdem handelt es sich dabei um eine der entscheidenden weltgeschichtlichen Gegenwartsprobleme.5

Es tut mir leid, lieber Fritz, daß Du noch in einem so unerfreulichen Übergangszustand bis, aber ich kann mir nicht helfen, ich sehe trotz allem den Gang der Dinge optimistisch an und bin überzeugt, daß auch Du noch eine Dich voll befriedigende Tätigkeit finden wirst. Jedenfalls gehen meine Wünsche in dieser Richtung. Es wäre nett, wenn wir uns bald einmal wiedersehen würden.

Da ich glaube, daß Du ein inneres Interesse daran nimmst, sende ich Dir mit gleicher Post meinen soeben erschienenen Chinabericht; vielleicht reizt er Dich, irgendwo etwas darüber zu schreiben, das würde mich natürlich freuen. Ganz von mir allein geschrieben ist das entscheidende Kapitel über National Education and Foreign Influences. Ferner wirst Du natürlich meine Klaue erkennen bei der Secondary Education und vor allem bei dem Teacher Training. Die Universitäten sind ganz von Tawney geschrieben, aber alles ist so stark gemeinsame Arbeit, daß es sich schwer sagen läßt, welcher Gedanke von welchem stammt. Nur die Idee über die Fremdeinflüsse sind ausschließlich von mir, aber das darf natürlich niemand wissen.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus und nochmaligem Dank für Eure freundlichen Glückwünsche Dein getreuer (gez.) CarlHB.

 

55. C.H.B. an Fritz Sell. Berlin, 5.1.1933

(Maschinenmanuskript)

Lieber Fritz!

Zu Deinem morgigen Geburtstag möchte ich Dir vom ganzen Hause die herzlichsten Glückwünsche schicken. Ich benutze diesen Anlaß, Dir für Deinen lieben ruß zu danken. Auch sende ich Dir einen kleinen Aufsatz aus der Voss(ischen Zeitung), der Dich vielleicht interessiert. Wir haben ein sehr schönes und stilles Weihnachtsfest mit der Schwiegertochter verbracht. Das Brautpaar war jetzt in Augsburg, und langsam rüsten sich Hertha und Hellmut wieder zur Abreise. Ich bin von der Flut der Briefe, die dieses Jahr zu Weihnachten vor der ganzen Welt her herbeigeströmt ist, einfach ertränkt worden. Ich muß deshalb sehr an die Nachsicht meiner Freunde appellieren, wenn ich nur kurz und selten schreibe, aber ich hoffe, daß das unsere Freundschaft nicht beeinträchtigt, denn im allgemeinen kann man meiner Gesinnung sicher sein.

Es hat mich auch in Deinem Interesse gefreut, daß Sondag in Kassel geblieben ist, und ich höre von den verschiedensten Seiten, daß man in der Wirtschaft dem beginnenden Wiederaufstieg sehr optimistisch entgegen sieht. Das dürfte ja dann auch auf den Staat sich auswirken, und damit auch auf unser Schulwesen und die Möglichkeiten erhöhen, auch Dir einen neuen definitiven Wirkungskreis zu verschaffen. Jedenfalls gehen meine besten Wünsche nach dieser Richtung, und Du weiß, daß ich jederzeit von Herzen gern helfe, wenn Du irgendwo glaubst, mich als Hilfskraft benutzen zu können. Vor allem aber alles Gute in Deinem engsten Familienkreis! All die Meinigen grüßen mit mir herzlich. Wir wünschen vor allem Dir im doppelten Sinn ein gutes neues Jahr.

Von Herzen Dein getreuer (gez.) Carl.

Ende des Dossiers Fritz Sell aus dem Privatarchiv von Michael Becker, Berlin.

1 Wohnsitz der Familie Becker seit 1913 …

2 Hervorhebung des Herausgebers.

3 Hervorhebung des Herausgebers.

4 Deutsche Innenpolitik 1930-32. Die letzte parlamentarische Regierung Müller trat 1930 zurück und wurde von Hindenburg durch die Präsidialkabinette Brüning-Papen-Schleicher ersetzt. RK Brüning *1885 +1970 regierte mit Hilfe des §48 WV gegen linke und rechte Radikale. Versuch, die Wirtschaftskrise seit 1929 durch deflationistische Politik, Senkung von Löhnen und Gehältern sowie der Arbeitslosenentschädigung, – aber auch der Preise. Die RT-Wahlen September 1930 stärken die Radikalen. 1931 Bildung der Harzburger Front zwischen NSDAP, DNVP und Stahlhelm; aber auch der Eisernen Front zwischen SPD, Gewerkschaften und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (einer Schutzformation gegen die gewalt der SA). 1932 erfolgte die Wiederwahl Hindenburgs (Gegenkandidat Thälmann, KPD). 30.5.32: Sturz der Regierung Brüning. Der Radikalisierung der NSDAP wird durch Verbot von SA und SS begegnet durch RK von Papen *1897 +1969. Doch nach Auf-lösung des RT am 4.5.32 wird deren Verbot zurückgenommen. Hitler toleriert die Regierung Papen. Die bürger-kriegsähnlichen Zustände liefern Reg.Papen den Vorwand für den Staatsstreich gegen Preußen im Juli 1932 und Absetzung der Regierung Braun! Bei den RT-Wahlen im Juli erhält die NSDAP die meisten Stimmen; Papenplan zum Aufschwung der Wirtschaft wird niedergestimmt … November 1932 erleidet die NSDAP große Stimmenverluste,Gewinne der KPD. 28.1. RK General von Schleicher versucht NSDAP zu spalten (Strasser); Verhandlungen mit SPD, Gewerkschaften und Mittelparteien zur Tolerierung seiner Politik scheitern. Nach dem Wahlsieg der nazis in Lippe tritt v. Schleicher zurück. Hitler hatte inzwischen Hindenburg durch Vermittlung Papens von sich überzeugt: am 30.1.1933 wird Hitler RK …

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

Intelligenzblatt, 1910

VI. Nl. C.H. Becker Nr.6295 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

34. Frankfurter Intelligenz-Blatt vom 24.1.1910

Paris, 23.1.(1910)

In einem unter dem Vorsitze des Deputierten Chailly veranstalteten Versammlung der französischen Kolonialgesellschaft hielt der Professor des Hamburger Kolonialinstituts Becker einen Vortrag über den Islam und die Kolonisierung Afrikas. Der Redner führte u.a. aus, man möge sich vor Augen halten, daß der Islam eine große Anziehungskraft auf die Neger ausübe und sich deshalb vor einer rücksichtslosen Christianisierung in Acht nehmen, um nicht den muselmanischen Fanatismus zu wecken. Man möge alle guten zivilisatorischen Elemente des Islam verständnisvoll benützen. Hauptsächlich würde es sich empfehlen, eine Verständigung zwischen den europäischen Staaten zur Abgrenzung der religiösen Einflußsphäre zu erzielen und starke „christliche Inseln“ in dem Meere des Islam zu schaffen. Es handle sich um eine Frage von internationaler Bedeutung, die jedoch keinerlei politischen Zündstoff enthalte und deren Lösung vom Gesichtspunkte der menschlichen Solidarität versucht werden müsse. Der Vortrag wurde sehr beifällig aufgenommen.

Prof. Dr. Cornicelius, Berlin. 1914/15

VI HA. Nachl. C.H.Becker. Rep.92 Becker C. Nr. 124

30. C.H.B. an Dr. Cornicelius, Berlin. (Bonn?), 3.12.1914

(Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Doktor!

Freundlichen Dank für Ihren Brief in Sachen der Internationalen Monatsschrift. Si können sich denken, daß ich jetzt ungefähr jeden Tag auf eine ähnliche Anfrage zu reagieren habe. Wenn ich Ihnen neulich die versprochene kurze Äußerung nicht sandte, so geschah das einfach aus Zeitmangel und weil eine intimere Erörterung z.B. des Heiligen Krieges und des berühmten Fetwas zur Zeit politisch nicht opportun ist, da man als Gelehrter doch darauf hinweisen müßte, wieviel Theater bei der Sache ist. Hingegen würde mich ein allgemeiner Islam-Artikel über die kulturelle und nicht über die religiöse Seite schon interessieren. Ich will ihn auch gern im Auge behalten, aber ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich mich nicht binden kann, da ich ein kleines Islam-Buch unter der Feder habe, das jetzt ein dringendes Bedürfnis darstellt und unbedingt vorgeht. Daneben sind meine dienstlichen Pflichten zur Zeit nicht gering. Aber immerhin wechselt man gern einmal, und ich hätte schon einige Gedanken, die ich gerade in Ihrer Zeitschrift gern zum Ausdruck brächte.

Mit verbindlicher Empfehlung Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

31. C.H.B. an Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin. (Bonn?), 25.1.1915

Hochgeehrter Herr Professor!

Ich habe Ihnen noch zu danken für Ihre erneute Anfrage über einen von mir zu liefernden Islamartikel für die Internationale Monatsschrift. Inzwischen ist ein heftiger Angriff des berühmten holländischen Islamforschers Snouk Hurgronje gegen die deutsche Islampolitik erfolgt und zwar in De Gids unter dem Titel ‚Heiliger Oorlog made in Germany’. Soeben habe ich eine ausführliche Entgegnung (ca. 1 Bogen)1 vollendet und würde diesen sehr gern möglichst bei ihnen abgedruckt sehen. Können Sie ihn noch in die Februar-Nummer aufnehmen?- Mit der Bitte um baldige Antwort bin ich mit hochachtungsvollem Gruß

Ihr sehr ergebener (C.H.B.)

 

32. Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin an C.H.B. Berlin, 26.1.1915

Hochgeehrter Herr Professor,

Das nächste Heft soll pünktlich am 15. Febr(uar) erscheinen, also am 8., spätestens am 9. umbrochen werden. So ist es, wenn Sie das Manuskript freundlich umgehend schicken, noch rechtzeitig. Der Umfang ist ja etwas stark für den beschränkten Raum, doch wenn möglich, werde ich mir zu helfen suchen. Mit den besten Empfehlungen in Ergebenheit

Ihr :M.Cornicelius.

 

33. C.H.B. an Prof. Dr. M. Cornicelius, Berlin. Bonn, 30.1.1915

(Maschinenkopie)

Hochverehrter Herr College!

Anbei übersende ich Ihnen das druckfertige Manuskript. Ich freue mich sehr, daß Sie es noch so bald haben placieren können. Es wird sich wohl ziemlich zusammendrucken. Ich bitte um 150 Separatabzüge, da ich es nach vielen Seiten zu verschicken beabsichtige.

Mit verbindlicher Empfehlung und nochmaligem besten Dank Ihr ergebenster (C.H.B.)

Einschreiben!


1 1 Bogen in der Druckersprache 32 Seiten. Der Herausgeber

Prof. S. M. Zmemer, Wiesbaden, 1912

HA.VI. Nachl. C.H.Becker. Rep.92 Becker C. Nr. 2776

29. Prof. S.M.Zmemer an Professor Chatelier, Wiesbaden, 28.8.1912

My dear Professor Chatelier,

Although I have spent two months this summer in Germany my engagements have been so many that I have not been able to go to Paris much as I should have liked to see you and talk with you on the present Moslem situation.

I have, however, a proposal to make for which I ask your kind consideration.

The changes in the Moslem World and the awakened interest both in secular and religious circles are so great that many of us feel that a small confidential conference of leaders would prove mutually helpful. I propose, therefore, that you, if you are agreed, should issue an invitation to not less than twenty-four and not more than thirty of the leading orientalists and students of Islam to meet some time next summer at the beginning of July or August in Leyden or Paris for a two days’ conference: one half of the number of delegates to consist of men like yourself, Goldziker, Grimme, Becker, Caetani, Hartmann, and others who study Islam but not especially from the missionary standpoint; the other half of the conference members to be composed of men like Prof. Meinhof, Simon, Axenfeld, Gairdner etc., who study Islam from the missionary standpoint.

My thought was that during the first day of the conference we might consider the general topic. How can the Missionaries help the Orientalists in studying the Moslem Problem as regards its literature and politics; and on the second day, we might reverse the subject and consider the same topic, asking How can Orientalists help the Missionaries?

It is my firm conviction that we would gain very much mutually by meeting in this way. The conference would not be public and the discussions and conclusions would not be published unless we agreed unanimously.

What do you think of the plan, of the time proposed, and of its possibility? If you favor the proposal I shall be glad to write to Dr Becker also, as it would perhaps be the best that he should join us in this matter.

Kindly address your reply to me at Cairo.

Yours very cordially (signed S.M. Zwemer)

Prof. A. A. Bevan, Cambridge, 1909-1912

HA.VI. Nachl. C.H.Becker. Becker Rep. 92 B. Nr. 6423

23. Prof. A.A. Bevan, Esqu. an C.H.B., Hamburg. Trinitiy College, Cambridge, 18.8.1909

Verehrter und lieber Herr Kollege!

In meinem Kapitel für die Cambridge Mediaeval History habe ich die Erzählung nur bis zum Tode des Propheten geführt. Von der Ridda habe ich also Nichts gesagt; auch Musailima wird nicht erwähnt, obgleich er schon bei Lebzeiten Muhammeds bekannt war. Die Hauptgenossen des Propheten werden selbstverständlich genannt, aber auf eine nähere Charakterisierung derselben habe ich verzichtet. Sie sehen also, daß Sie in der Behandlung dieser Gegenstände unumschränkte Freiheit haben. Auf die Weiterentwicklung des Islam wird in meiner Skizze hie und da Bezug genommen, z. B. wo es sich um die rechtliche Stellung der Nicht-Muslime handelt; das ist aber mit aller Kürze geschehen.

Von unserem Zusammensein in Kopenhagen habe ich die angenehmste Erinnerung bewahrt. Mit herzlichem Gruß verbleibe ich Ihr ergebenster A.A. Bevan.

 

24. Postkarte von Prof. A.A. Bevan an C.H.B. Cambridge, 4.8.1910

Hochverehrter Herr Kollege!

Bitte empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die Zusendung Ihres Aufsatzes ‚Zur Geschichte des östlichen Sudans’, den ich mit großem Interesse gelesen habe.

Mit bestem Gruß Ihr ergebenster A.A. Bevan.

 

25. Prof. A.A. Bevan an C.H.B. Cambridge, 30.1.1912

Hochverehrter Herr Kollege!

Vielleicht gestatten Sie mir in einer gewissen Verlegenheit um Auskunft zu bitten. Ich bin nämlich von den Herausgebern der Cambridge Medieval History beauftragt worden die Orthographie der arabischen Namen nach einem einheitlichen System zu regeln. Nun findet sich in dem von Ihnen herrührenden Kap.XI ein Name, den ich in den Quellen nicht nachweisen kann. Da heißt es in der englischen Übersetzung, auf welche ich allein angewiesen bin (Seite 13):

This effected, the combined forces of the Muslims once more advanced against Theodorus, who had occupied a strong position at Adjnadain or better el-Djanabatain, between Jerusalem and Gaza.”

Wollen Sie mir gefälligst sagen aus welchen Quellen der Name el-Djanabatain stammt? Oder liegt hier ein Schreib- oder Druckfehler vor?

Mit bestem Gruß empfiehlt sich Ihr ergebenster A.A.Bevan

 

26. C.H.B. an Prof. A.A.Bevan, Cambridge. (Hamburg), 1.2.1912

(Maschinenkopie)

Lieber Mr. Bevan!

Ich freue mich aufrichtig, daß die Cambridge Medieval History daran schuld ist, daß ich wieder einmal ein Lebenszeichen von ihnen erhalte. Der Ort El-Djannabatain – mit zwei nn – ist ganz richtig. Es ist eine Konjektur des russischen Gelehrten Mietnikoff, die Caetani rezipiert hat. Auch ich habe mich dieser Identifizierung von El-Djannabatain mit dem üblichen Adjnadain angeschlossen. Wenn Sie sich für die Frage und die geographische Lage näher interessieren, verweise ich auf die Annali dell’Islam Vol.III a.H. 13, § 22 S. 32. Dort ist auch eine Karte des fraglichen Geländes gegeben.

Es ist mir sehr angenehm, daß die arabischen Namen konsequent durchkorrigiert werden. Hoffentlich liegt Ihnen meine letzte Korrektur vor, in der ich ein konsequentes System angewandt habe, nachdem der erste Satz zahllose Inkonsequenzen meines Manuskriptes erhalten hat. Da Sie nahe Fühlung mit der Leitung der C.M.H. haben, darf ich wohl auch darum bitten, ein Auge darauf zu haben, daß noch ein Kapitel über Abassiden und Fatimiden hinzugefügt wird, das im Grundplan nicht vorgesehen war, das ich aber gleich bei der ersten Korrespondenz gefordert habe. Professor Gwatkin hatte mir seinerzeit versprochen, daß dieses Kapitel noch hinzugefügt würde, und darauf habe ich meine ganzen Pläne in Kapitel 11 und 12 aufgebaut. Auch wäre es im Interesse des Verständnisses der Kreuzzüge unbedingt not-wendig, daß die Geschichte des östlichen Mittelmeeres nicht 750 abbricht, resp. nur skizzen-weise bis auf Saladin durchgeführt wird., wie in meinem Kapitel 12. Da inzwischen die Leitung der Herausgabe gewechselt hat, weiß ich nicht, ob meine Wünsche berücksichtigt sind, mag aber auch natürlich nicht direkt anfragen, da mich ja die Leitung des Unternehmens nichts angeht. Ich hoffe meine beiden Kapitel haben Sie interessiert. Sie haben mir recht viel Mühe gemacht.

Hoffentlich sehen wir uns dieses Frühjahr in Athen wieder und verbringen dann wieder so angenehme Stunden zusammen wie in Kopenhagen.

In dankbarer Erinnerung und mit verbindlichen Grüßen

Ihr Sie verehrender (Gez. C.H.Becker)

 

27. Postkarte von A.A.Bevan an C.H.B. Cambridge, 3.2.1912

Hochverehrter Herr Kollege!

Recht herzlichen Dank für die Antwort auf meine Frage! Ich weiß nicht durch wessen Schuld eines der „n“ ausgefallen ist, aber der Fehler läßt sich leicht berichtigen. Über das Abassidenkapitel werde ich mich bei Gwatkin erkundigen.

Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebenster A.A. Bevan.

 

28. Postkarte von A.A. Bevan an C.H.B. Cambridge, 28.9.1912

Hochverehrter Herr Kollege!

Ihren Artikel „Islam“, aus dem Archiv für Religionswissenschaften, den Sie mir in liebenswürdigster Weise geschenkt haben, ist mir soeben bei meiner Rückkehr nach Cambridge zu Gesicht gekommen. Bitte empfangen Sie dafür meinen wärmsten Dank!

Ihr ergebenster A.A.Bevan.

Prof. Paul Casanova, Paris, 1911-1912

HA VI. Nachl.C.H.Becker. Rep.92 Becker C.

19. C.H.Becker an Professeur Paul Casanova, Collège de France, Paris. Hamburg, 28.12.1911

(Maschinenkopie)

Monsieur et vénérable Collègue,

Permettez-moi de vous exprimer ma plus vive reconnaissance de votre importante publication. Mohammed et la fin du monde. J’ai mis tous mes autres travaux de côté pour l’étudier avec empressement. Vous avez émis une thèse originale qui escritera une discussion prolongée. Malheureusement je ne pourrai pas suivre vos pas, si séduisantes que soient vos idées. Je pourrais me taire, mais je tiens le silence pour un mauvais service à rendre à un homme de votre compétence et érudition. Vous voulez que vos idées gagnent le monde. Eh bien, y-a-t-il un moyen plus efficace que de les discuter ? C´est pourquoi je suis sûr que vous ne m’en voudrez pas mon opposition dictée par le respect pour votre personne.

Veuillez agréer, Monsieur le professeur, l’assurance de ma reconnaissance sincère et l’expression de mes sentiments les plus distingués et respectueux. (C.H.B.)

 

20. Paul Casanova an C.H.B. Paris, 1er janvier 1912

Monsieur et très honoré Collègue,

J’ai reçu avec grand plaisir votre lettre du 28 décembre. Ne craignez pas que je m’offense de la discussion. Du moment qu’elle porte uniquement sur les idées que j’expose et n’ai d’autre but que d’apporter une contribution à la vérité, je suis le premier à me réjouir. En effet, ou bien elle procurera d’autant plus que j’ai raison, et j’en serai très fier. Ou bien, elle établira que j’ai tort, et mon erreur aura servi à bien remettre en évidence la vérité de la thèse opposée, et alors, j’aurai indirectement contribué à ce résultat utile à la science.

Puisque vous ne paraissez pas favorable à ma thèse, permettez-moi de vous faire remarquer que ce n’est pas moi qui l’ai inventé, et que les expressions, en parlant de Mohammed (ici suit une ligne en arabe) sont très fréquentes, ainsi que d’autres expressions similaires, que je rappellerai dans la seconde partie. Si ces expressions sont fausses, elles n’ont pu être inventées à l’époque où on était convaincu que la fin du monde et la mission de M(ohammed) compromettants (Nota:encore moins après). Elles sont donc antérieures à la doctrine contraire. Elles reflètent donc les premières idées des Musulmans, celles qui guidèrent la recherche des (en arabe: fehlt). Est-il alors croyable que les premiers Musulmans aient été si ignorants de la doctrine du Prophète? S’ils ont été si ignorants, ceux qui les ont suivis ont dûs altérer encore bien plus la vraie doctrine. Alors que reste-t-il? Il reste le Coran, direz-vous. Mais si les premiers Musulmans et les autres ont altéré la vraie doctrine, pourquoi le Coran serait-il moins altéré ? Et comment croire que le Coran ait été altéré, si on n’avait pas des raisons sérieuses de le faire. Enfin, nous savons qu’Omar (d’après Ibn Hi Châm) soutenait ma thèse. Abu Bekr la combattit évidemment pour des raisons politiques. Etait-il sincère ? Il est difficile d’admettre qu’Omar fût de si mauvaise foi ou si ignorant ! Il est facile d’admettre qu’Aou Bakr fût dissimulé et habile. Je me sui rangé du côté d’Omar ; vous, à ce que je vois, êtes pour Abou Bakr. La grande querelle va recommencer. Omar se défendra, cette fois.

Veuillez agréer, Monsieur et très honoré Collègue, l’hommage de mes sentiments les plus respectueux et dévoues.

Paul Casanova.

 

21. Paul Casanova an C.H.B, Hamburg. Paris, 17.1.1912

Mes remerciements pour l’intéressante Christliche Polemik, etc. Paul Casanova

 

22. Paul Casanova an C.H.B. Arcachon, 2.9.1912

Cher Monsieur,

Je vous remercie de m’avoir envoyé votre comte-rendu si intéressant sur la littérature relative à l’islam. J’y ai vu votre appréciation sur mon livre. Vous m’aviez prévenu, aussi n’ai-je pas été surpris du ton peu indulgent de votre critique. Vous êtes vraiment sérieux ( ?) pour le gelehrter qui se permet d’avoir sur l’islam d’autres idées et d’autres méthodes que Goldziker et Sowsuck Hungrosny. Ce qui me console, c’est que vous admettez vraiment que Mohammed a annoncé dans les premiers sourats la proximité de la fin du monde. C’est dit par S.Hungrosny. Alors qui pourrait la nier? Pas moi, toujours. Car si M(ohammed) y a cru d’abord, qu’on m’explique pourquoi il n’y aurait plus cru ensuite, et non (?illisible, weggelocht) seulement il n’y aurait plus cru, mais il aurait été sûr qu’il mourrait avant! Or Dieu lui avait révélé qu’il ne savait pas ce qui en serait de l’heure. Donc, il aurait changé d’idée sur ce point. Moi je dis : il n’en a jamais changé, et les Musulmans n’en ont changé qu’après sa mort. Vous dites que j’ai fait des hypothèses. Non certes; je vous l’ai écrit. Je n’ai fait que développer la théorie d’Omar qui, lui, a changé d’idée après la mort de Mohammed. Je dis que Omar avait raison d’abord, car si Mohammed avait, pendant sa vie, changé d’idée, Omar aurait changé avec lui – ou aurait abandonné l’islam. J’ai dit (conformément à Ibn Babouweich) que la thèse d’ Omar contenait le mahdisme en germe et qu’elle en était le vrai islam. Il n’y a pas l’ombre d’une hypothèse dans tout cela. Tout ce que j’avance est fondé exclusivement sur des textes, les uns déjà connus de Sprenger (?) de S. Hungrosny, etc., les autres réunis, pour la première fois, par moi pour établir que ma thèse a été celle des premiers Musulmans : (arab. Ausdruck), et qu’elle a été abandonnée par des nécessités politiques. Vous n’avez peut-être pas été tout à fait impartial en négligeant d’indiquer que si je n’avais pas pour moi Goldziker et S. Hongrosny, j’avais Omar etc., sauf Abu Bakr, tous les Musulmans de Médina, au moins pendant quelques temps. Ce sont des autorités sur lesquelles un gelehrter a quelque droit de s’appuyer. Vous me direz qu’ils ont reconnu leur erreur. Je vous répondrai que les circonstances dans lesquelles ils ont si radicalement changé de doctrine sont suspectes, et que l’enquête que j’ai faite, depuis plusieurs années sur cette question m’a conduit à mon livre. Tout le débat est là. Les (illisible, puis en arabe). Dire le contraire est possible. Reste à le prouver.

Veuillez agréer, cher monsieur, l’assurance de mon profond dévouement Paul Casanova

Prof. Hartwig Derenbourg, Paris an C.H.B. 1900-1907

HA.VI. Nachl. C.H.Becker. Nr.164

1. Derenbourg an C.H.B. Paris, 8.5.1900

30, Avenue Henri-Martin

Monsieur le Docteur,

Vous n’êtes pas inconnu pour moi et j’ai entrevu à la Bibliothèque de l’Ecole des Langues orientales votre Ibn Al-Djanzî (évidemment Ousâma et Becker) que je regrette bien de ne pas posséder.

Quant au m(anuscrit) de l’Escurial 1698 (Casiri 1693), j’ai certainement sur lui une notice que je rechercherai un de ces jours à votre intention. Je ne connais pas le nouveau bibliothécaire de l’Escurial, c’est assurément un frère Augustin nouvellement installé, son prédécesseur, le Père Lazcano étant mort il y a quelques mois. Vous pouvez travailler là bas et je vous ferai au besoin donner tous les renseignements nécessaires. Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

2. Derenbourg an C.H.B. Paris, 23.5.1900

Monsieur le Docteur,

Merci pour votre Ibn Al-Djanzî ! Quant à Ibn Al-Kalbî, voici tout ce que je trouve dans mes notes prises en 1880 à l’Escurial.

Ecriture asiatique, 265 feuillets, 17 lignes à la page (es folgen arabische Hinweise) ; manuscrit daté de 616 de l’hégrie ; commencent sans introduction. (Weitere arabische Hinweise).

Le Père Augustin, actuellement bibliothécaire à l’Escurial, était à Paris la semaine dernière, mais je ne l’ai pas vu. Si vous allez là-bas, veuillez me prévenir, je vous procurerai toutes les facilités ayant beaucoup d’amis excellents là-bas et étant membre honoraire de l’Académie de l’histoire de Madrid.

Recevez avec mes vœux pour le succès de votre travail mes meilleurs compliments.

Hartwig Derenbourg

 

3. Derenbourg an C.H.B. Paris, 15.8.1900

z.Z. Macolin/CH, Kurhaus

Mon cher Confrère,

Le Bibliothécaire de l’Escurial était à Paris à la fin de juillet et je ne sais s’il est rentré au bercail. C’est un Père Augustin, cet ordre étant installé dans le Palais de San Lorenzo. Son prédécesseur était un peu orientaliste ; il ne l’est pas du tout. C’est au Palais Royal à Madrid qu’il faut vous adresser pour être autorisé à travailler. Mais si la permission n’est pas arrivée au couvent on vous communiquera des manuscrits pour vous permettre de l’attendre sans vous faire perdre votre temps.

D’ailleurs, je rentre à Paris le 2 septembre au soir pour assister le lundi 3 septembre à l’ouverture du Congrès de l’histoire des religions. C’est à ce Congrès que je passerai tout mon temps du 3 au 8 et que vous serez sûr de me trouver. Le 3, ce sera au Palais des Congrès ; du 4 au 8 à la Sorbonne (section de l’islamisme et des réligions sémitiques). Je serai très heureux de vous y voir et de causer avec vous. Votre tout dévoué Hartwig Derembourg.

 

4. Derenbourg an C.H.B., Granada Paris, 30.10.1900

Cher Confrère,

Merci de votre envoi ! Je vois avec plaisir que votre ‘Omar II est le commencement d’une série, où vous chercherez à éclaircir l’histoire si obscure des Omeyyades. Il me semble que vous n’avez pas assez tenu compte d’un passage de Mas’oûdî, Prairies d’or, v.418, d’après.

lequel ‘Omar aurait été désigné par Soulaimân comme son successeur ; voyez aussi le passage du Fahtîr relatif à (arab. Text)

Publierez-vous votre M(anuscrit) 2027 ou désirez-vous que je vous recommande la publica-tion comme thèse à un de mes élèves. Si vous êtes de retour d’Espagne, vous m’obligerez en me donnant des nouvelles de vos études là-bas.

Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

5. Derenbourg an C.H.B. Paris, 10.5.1902

Mon cher Confrère,

573-700

Merci pour votre très intéressante plaquette ! Il (weggelocht !) a pour moi une opportunité toute particulière, j’imprime en ce moment un second vol(ume) de ‘Oumâra qui paraîtra à la fin de l’année, qui contiendra des épîtres en partie historiques de ‘Oumâra et une biographie française plus courte, mais dans le même genre que Ma vie d’Ousâma.- Si ces épîtres pouvaient vous être utiles, je pourrais dès à présent vous en adresser un exemplaire des bonnes feuilles. Moi aussi, j’inspire Al-Moushassin dans monCat(alogue) de l’ Escorial II, p.4

(encore inédit), à propos de Esc(urial) 714. Votre note sur Ibn Al-Bâkîlânî, me pousse à vous recommander ce que j’ai dit p.16 dans mes Manuscrits de la Collection Schafer que je vous adresse par ce même courrier. Je vous indique aussi p.22 le vol(ume) d’Ibn Al-Baisânî qui a droit de cité parmi les historiens, comme vous le constatez p.24 de Makrizî ? Il cite quelquefois ‘Omâra, quoique vous en ayez dit, mais assez rarement. Pour Ibn Mîsar ou (unleserlich, Stempel) , je vous rappelle (unleserlich) H. Derenbourg

 

6. Derenbourg an C.H.B. Paris, 11.6.1902

Cher Confrère,

par ce même courrier je vous envoi les pages 1-8, en bonnes feuilles, de mon ‘Omâra. Si vous y découvrez quelque grosse faute, quelque incorrection graves, faites moi part de votre rectification, enfin que je puisse encore l’utiliser.

En m’informant de l’arrivée de mon paquet contenant aussi les pages 49-64 de mon (arab. Text) par Ibn Khâlanaihi, dites-moi si vous n’en possédez rien encore et si vous aimeriez recevoir le reste. Dans ce cas, je vous l’adresserai.

A vous très cordialement Hartwig Derenbourg.

 

7. Derenbourg an C.H.B. Paris, 30.10.1903

Cher Confrère,

Merci pour le 2e fascicule des Beiträge. Ils ont été d’autant plus les bienvenus que je m’occupe en ce moment plus assidûment de l’Egypte musulmane en préparant la partie française de mon ‘Oumâra du Yémen, une bibliographie semblable à celle que j’ai consacrée à Ousâma. Avez-vous des notes sur le XIIe siècle en Egypte ? Seriez-vous disposé à me les communiquer ou m’en faire profiter en lisant une épreuve de mon volume dont l’impression va commencer ? En attendant, je vous envoie par ce courrier le 2e tome de ma Partie arabe.

Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

8. Derenbourg an C.H.B. Paris, 7.11.1903

Cher Confrère,

En réponse à votre lettre du 2 (novembre), je vous demande d’abord si vous avez à votre disposition notre m(anuscrit) 6068 provenant des fonds Schafer des (arab. Text). En a-t-on découvert un exemplaire complet et où? Vous feriez peut-être bien de venir à Paris examiner deux m(anuscrits) non-catalogués encore et qui appartiennent peut-être à votre ouvrage, sûrement à des ouvrages a lognes (illisible?). Je pourrais vous fournir quelques renseigne-ments à ce sujet. Vous m’obligerez en me prêtant votre copie du Mougrib d’Ibn Sa’ûd au sujet des Fatimides.

Quant au Moukaffâ de Makûzî, regardez, je vous prie, dans l’index de ma partie arabe s’il y a des personnages dans la biographie me serait utile. De même pour Sibt Ibn Al Djanzâ.

Merci d’avance ! Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

9. Derenbourg an C.H.B. Paris, 15.11.1903

Mon cher Confrère,

Vos manuscrits me sont parvenus et je vous prie de m’excuser si je ne vous en ai pas encore accusé réception. Ce que je regrette, c’est que j’y trouverai si peu de matériaux pour ma ‘Vie de ‘Oumâra.

Je compte toujours sur votre collaboration et vous recevez une épreuve que vous parcourrez sans la limite où cela vous sera possible.

Croyez à mes meilleurs sentiments. Hartwig Derenbourg.

 

10. Derenbourg an C.H.B. Paris, 13.12.1903

Cher collègue,

Merci de vos observations et je vous prie de m’en faire de semblables, dans la même mesure, pour les feuilles suivantes, à mesure qu’elles vous parviendront, trop lentement à mon gré. Mais, j’ai tant d’autres occupations !

Ibn Schaîdâde n’a rien sur ‘Oumâra. Son œuvre est publié in-extenso dans Histoires orientaux des croisades III, en tête avec traduction française par De Slanes.

W.Popper a été mon élève, c’est moi qui l’avais poussé vers Ibn Tagnîbardî, mais je croyais le projet abandonné par lui. Je le rappelle pour le lui rappeler.

Je suis très curieux de voir le livre d’Else (ai-je bien lu le prénom ?) Reitemeyer, Beschreibung Ägyptens im Mittelalter. Vous m’en donnerez votre avis à l’occasion.

Bien à vous Hartwig Derenbourg.

 

11. Derenbourg an C.H.B. Paris, 28.1.1904

Cher Confrère,

Il y a un petit entracte dans mes publications à cause d’autres occupations urgentes. Mais je ne tarderai pas à imprimer les feuilles 4-6 et vous en aurez la primeur ; car je compte sur vos précieuses observations préventives.

Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

12. Derenbourg an C.H.B. Paris, 15.3.1904

Cher Confrère,

A tout hasard je vous envoie les placards 9-11 de mon ‘Oumâra dans l’espoir que vous aurez encore le temps de la lire avant votre départ pour l’Italie. Sinon, ils dormiront jusqu’à votre retour. Quant au placard 12 mis en pages, vous l’aurez probablement seulement après votre réintégration au domicile badois. Désirez-vous au fur et à mesure un exemplaire des feuilles tirées ? Je tiens à votre disposition 1-3.

Bon voyage et bon plaisir ! Hartwig Derenbourg.

 

13. Derenbourg an C.H.B. Paris, 24.5.1904

Cher Confrère,

Il y a quelques jours, je vous ai envoyé une épreuve de ma feuille 6 pour recueillir éventuellement vos observations, cette feuille n’étant pas encore tirée. Vous m’obligerez en m’envoyant vos propositions en vue de sa mise au point par retour du courrier. Les feuilles 1-5 sont tirées.

Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

14. Derenbourg an C.H.B. Paris, 21.4.1906

Cher Confrère,

Merci de m’avoir envoyé votre suggestif travail sur la chaire dans le culte du vieil islâm. Pour ma part, j’ai peiné à déraciner ma vieille conception de l’endroit d’où l’on parle, archaiquement conservé en éthiopien, comme (unleserlich, arabisch ?) écrit «désignation des Corans à l’origine, et ce propos, je vous signale (hebräischer Text) dans une inscription sabéenne C.J.S.106, l.1. J’ai traduit ‘forteresse’ d’après ‘guerre, combat’ ; s’agirait-il peut-être d’un (arabischer Text) ?

En attendant que paraisse votre 3. Heft1, que j’attends avec tant d’impatience et que vos papyrus vont encore retarder, je vous prie de me faire savoir si vous avez quelque note sur les 2 personnages suivants : (Arabische Namen). Ce sont deux révoltés cités dans ‘Oumâra, un autre retardataire, dont je ne tarderai pas à renouer la chaîne longtemps interrompue.

Donnez-nous, à notre vieux ménage, des nouvelles de votre jeune couple.

A vous très cordialement Hartwig Derenbourg.

 

15. Derenbourg an C.H.B. Paris, 15.6.1906

Cher Confrère et Ami,

Merci pour l’envoi de votre beau livre. Je lui ai fait bon accueil et j’en ferai l’objet d’une notice dans le Journal des Savants. Je viens de le faire acheter par le Département des manuscrits de notre Bibliothèque Nationale et par notre Bibliothèque de l’Université. Un autre résultat de votre publication est que trois de mes élèves vont se mettre à un premier examen de nos papyrus arabes du Louvre. Je vous tiendrai au courant de leurs impressions.

Pour (arabischer Name), je trouve dans un m(anuscrit) à plusieurs reprises (arab. Text). Qu’en pensez-vous ?

Pour vos manuscrits donnez-moi encore un peu de délai, à moins d’urgence.

Votre bien dévoué Hartwig Derenbourg.

 

16. Derenbourg an C.H.B. Paris, 13.7.1906

Cher Collègue,

Vous avez mes pleins pouvoirs pour votre papyrus. Seulement veuillez nous en réserver la publication, sous votre nom bien entendu, dans les Notices et extraits : car il fait partie d’un lot acquis par l’Académie des inscriptions et belles-lettres.

Croyez à mes sentiments d’affectueuse confraternité.

Hartwig Derenbourg

 

17. Derenbourg an C.H.B. Paris, 4.6.1907

Cher Confrère,

Par ce même courrier, je vous retourne enfin les trois cahiers d’ Ibn Sa’îd et la note d’Ahmad Zakî, ainsi que les pages 273-275 en épreuves de mon ‘Oumâra. Il sera temps de les regarder lorsque prochainement vous aurez reçu de nouveaux placards. Mon volume a subi une inter-ruption forcée parce que j’ai dû reprendre énergiquement les travaux du C.J.S., sans compter les obligations de mes cours (plus de 40 élèves cet hiver) et les devoirs sociaux d’une grande ville.

C’est ce surmenage qui m’a empêché de vous remercier, comme je l’aurais dû de votre Christentum und Islam. Toutes les religions des peuples civilisés se valent. A côté de leur valeur historique, elles apportent à la misère humaine des consolations, dont une élite peut seule se passer. Quel appui elles sont pour les gouvernements ! Quel concours plus général elles leur apporteraient?; s’ils tenaient l’égalité entre toutes les confessions, si, par des exclusions injustifiées ou par des contraintes immorales, ils ne jetaient pas dans l’opposition les exilés de l’intérieur ! Un souffle libéral anime votre exposé, mais pas encore aussi libéral que je voudrais.

Merci encore de votre prêt et de votre patience à m’en laisser jouir ! Prévenez-moi aussitôt qu’il sera revenu au bercail.

Paraîtra-t-il bientôt un deuxième fascicule de vos Papyri? J’ai retenu au Journal des Savants de 1908, vers mars ou avril, la place pour un compte-rendu important qui étudierait l’importance et l’état de la papyrographie arabe. Il gagnerait s’il pouvait se rapporter en même temps à votre deuxième livraison. En passant, je vous rappelle mon papyrus, pour lequel nous souhaitons un vrai mémoire de vous:textes, traduction et commentaire qui seront publiés sous votre nom et responsabilité.

Croyez à mes meilleurs sentiments Hartwig Derenbourg.

P.S. Ma femme et moi, nous espérons venir à Bâle pour la réunion de la D.M.G2 et nous serions enchantés de vous y rencontrer ainsi que Frau Professor.

 

18. Derenbourg an C.H.B. Paris, 15.6.1907

Cher Collègue,

Selon votre désir, je vous renvoie le manuscrit arabe de Sibt Ibn Al-Djanzî que vous avez bien voulu laisser si longtemps entre mes mains. Recevez mes remercîments.

De mon ‘Oumâra du Yémen vous avez dû recevoir les 17 premières feuilles tirées. Les placards de la 18e ne tarderont pas à vous parvenir. Je fais en ce moment réimprimer la p.202, afin d’y substituer l-9 de la Date (weggelocht) du dix février 1162 à la date erronée qui s’y était glissée. Meilleurs compliments. Hartwig Derenbourg.


1 Der Islam

2 Deutsche Morgenländische Gesellschaft

Polterabend von Sophie Andreae und Alexander Becker, 29. Juni 1905

Becker, C.H. Nachlass, Geheimes Staatsarchiv Berlin. Rep 92 Becker 8552
Frida und Alexander
Frida und Alexander
Polterabend
Polterabend-Programm

1. Ihr seht in mir den Telephon

Den Höhepunkt der Zivilisation
Ich will dem Spiegel seinen Rang nicht streiten
Dieweil er ja der Ältere von uns Beiden
Doch halte ich mich für viel interessanter …
Der Spiegel ist ja manches mal pikanter
Doch gebt Ihr mir wohl alle darin recht
Daß oftmals, was der Spiegel zeigt, nicht echt.
Es herrscht ja anderseits auch darin Klarheit
Daß auch das Telephon nicht immer hört die reine Wahrheit
Der Spiegel zeigt Euch aber nur die äußere Gestalt
Ich kenne nur den inneren Gehalt.
Und, daß der Schein trügt, das beweist genau
Der Alex hier und seine kleine Frau! …
Ich kenne dich mein liebes Kind schon lange
Und hoffentlich wird Dir gehörig bange
Denn wenn ich reden wollte, könnt ich ihm und Dir
Verderben noch das ganze Festplaisir
Ich glaube, daß in Dein vergangenes Leben
Wohl keinem größrer Einblick ward gegeben
Wie mir, denn Du hast viel durch mich gesprochen
Und manches hast in Deinem Leben Du verbrochen
Nach jenem Ball in Deiner Vaterstadt
Des Morgens bei mir angeklingelt hat
5007 bitte schnell
Ertönte Deine Stimme glockenhell.
Da wohnt die brave Helly Schmidt,
Der teiltest Du dann Deine Sünden mit.
Das war dann ein Gehetschel und Getratsch
Und ein Geschnatter und Geklatsch.
Herrgott, was hab ich da nicht all vernommen:
Es war um graue Haare zu bekommen.
Na, fürchte nicht, daß indiskret ich werde.
Es ist ja nichts vollkommen auf der Erde.
Dein Alex ist ja auch nicht grad ein Engel,
Er ist sogar ein ganz verflixter Bengel.
Und schließlich muß ich auch gestehn
Daß seit den Engel Du gesehn
Und auch seit er in Dich sich hat verliebt,
Es für Euch Beide wieder Hoffnung gibt.
Drum will auch ich Euch meinen Segen geben:
Ich wünsche Euch ein frohes langes Leben.
Euch Beide brauche ich wohl nicht mehr zu verbinden,
Ihr werdet Euch viel lieber ohne mich zusammen finden.
Und vor der Schwiegermutter in der Niederauen
Da brauch’s Euch gar nicht mehr zu grauen.
Wenn die Euch gar zu oft am Telefon will sprechen,
Dann werde ich ganz ruhig die Leitung unterbrechen.
Da klingelt’s … Ich muß fort! Seid’s immer froh mitsamt
Donnerwetter, ja ich komm ja schon! …
Hier Amt! …

2. Der Spiegel

Der Wahrheit Stempel
Der Bosheit Tempel
Der Eitelkeit Siegel …
Ich bin der Spiegel.

Der Spiegel ist, wie die Sprache sagt
Ein Mann – Gott sei es geklagt,
Und Weiber, seien’s auch noch tolle,
Die passen nicht für diese Rolle.
Der Mann sieht die Dinge tel quel, wie sie sind,
Die Weiber, wie Strauße, sie stellen sich blind
Und finden, daß des Spiegels Konterfei
Unvorteilhaft, zu wenig schmeichelhaft sei.
Was wollt Ihr aber, daß ich mache?
Bei mir ist Indiskretion Ehrensache
Und von dem vielen Umgang mit Frauen
Gewöhnt ich mich, nur auf das Ä u ß e r e zu schauen.
Doch keine Angst, vor der Tür da wartet schon
Was Euer Innres aufdeckt – das Telefon.

Zuerst seh ich natürlich die Toilett’,
Und gern bekenn ich: die ist wirklich ganz nett.
Überhaupt, mit Toiletten und Modesachen
Ist bei Dir mit Kritik nicht viel zu machen.
Denn außer Chic hast Du sogar Mut,
Denk nur an den berühmten „Babyhut“!
Bahnbrechend hast Du die Mode kreiert,
Noch von späten Kritikern wirst Du zitiert.
Seit lange Dich der Babyhut schützt,
Aber sprich: Hat er eigentlich genützt?
Der Augenschein gibt mir bedenken,
Das Weitere will ich mir – und Dir schenken.

Und unter dem Hute, da lodert’s und brennt’s
Wie Flammen des feurigen Elements;
Rötlich schimmert es durch die Nacht
Als Dich einst der Storch gebracht.
Und noch heut, daß man Dir die Wagnerschwärmerei glaubt
Trägst Du den „Feuerzauber“ gleich auf dem Haupt.
Stolz bist Du auf Deiner Schultern Breite,
Auf die 56 cm Taillenweite …
Von Neuem kann ich es froh bekennen:
Man muß Dich gut gewachsen nennen.
Was sind die Duncan, Saharet, Madeleine,
Wenn wir die Sophie Andreae sehn? …
Wenn sich die anderen quälen und schwitzen,
Da wo die Mütter als Drachenburg sitzen,
Schwebt sie, wenn sie der Alex führt,
Ohne daß sie den Boden berührt,
Weich, biegsam und doch wieder keck,
Kurz, mit so ’nem gewissen „avec“:
Die früheren Größen gehören zur Masse
Seit Sophie tanzt; denn sie tanzt „Klasse“.

Als Du, Jüngling, zuerst in mich geschaut,
Warst Du fröhlich noch ohne Braut,
Aber dafür mit sehr viel mehr Haar,
Was entschieden zu Deinem Vorteil war.
Entweder hast Du sehr viel gedacht,
Und nächtelang über den Büchern gewacht;
Oder Du hast bei Austern, Sekt und Kaviar
Verschlemmt und verloren Dein üppig Haar.
Oder wär’s in des Sommers Hitze
Die schwere 17er Husarenmütze?
Oder kommt’s gar vom Cigarettenqualmen
Schon rauscht es in den letzten Schachtelhalmen
Und verdächtig leuchtig das Meer …
Bald gibt es keine Schachtelhalme mehr.
Und hell erglänzt an ihrem Platze
Das unbegrenzte Meer der Glatze.
Bei Herren und Damen
Mit griechischen Namen
Gehört griechisch Profil,
So will es der Styl.
Zuweilen aber zeigt sich auch,
Daß Namen sind bloß Schall und Rauch.
Denn wie Euer edles Beispiel lehrt:
Ein griechisch Profil ward Euch nicht beschert.

Noch manches voll Bosheit wollt‘ ich hier sagen,
Aber die Zensur der Frau Generalkonsul hat’s unterschlagen.
Sie erschrak über die Wahrheit in meinem Munde
Und wollt mich zerschlagen noch in letzter Stunde.
Ich kam davon mit dem bloßen Schreck,
Sie aber hat ein verstauchtes Handgelenk weg.
Und die Moral von der Geschicht‘:
Man ärgere sich über des Spiegels Wahrheit nicht.
Nein, vielmehr wünsch ich Sophie und Alexandern:
Seid ehrliche Spiegel einer dem andern.

3.

Frau Eckert:
Gott verdeppel Frau Hüter, so a Geschicht is mer wer noch gar net vorgekomme obgleich ich bald 20 Jahr in de erste Häuser von Frankfort herumkomme bin un doch schon manches gehört hab wie es sich denke kenne.

Frau Hüter:
Was is denn los Frau Eckart?

Eckert:
Was los is? Mischucke sein se all mitnanner, die Mädercher von ganz Frankfort … Alle wolle se heirate un all uff ein Dag … all uff de erste Juli … stelle se sich so was vor.

Hüter:
Wo haw se dann des her?

Eckert:
Sie wisse doch, ich komm regelmäßig in die Niedenau … zu Andreaes mer heest’s ins klaane Conservatorium, weil früher nie weniger als uff 5 Instrumente Musik gemacht worn is … da haw ich’s gestern von der Köchin gehört.

Hüter:
Hi, in des Haus komm ich ja auch regelmäßig alle Woch 2 mal mit meim Geflügel … es is doch da, wo die klaa wuschlig Rot mit dem Becker verlobt is?

Eckert:
Ganz recht! Also heern se zu. Partu wolle se all uff de erste Juli heirate. Die beste Worte hat mer’n gewe awer kaans läßt sich davon abbringe. Ei, wann der lang Albert … sie wisse ja, der Baron von Königstein sich net mit seiner ganze Läng derzwische gelegt hätt … so hätt es die Lina, sei Dochter, auch noch durchgedrückt, daß se uff de erste Juli ihr Pistörche geheirat hätt.

Hüter:
Ei, krie die Kronk Offebach! So ebbes is ja noch gar net dagewese.

Eckert:
Ich möchte nur wissen, wa se all an dem erste Juli hawe?

Hüter:
Des will ich Ihne sage: Die von Deneufville über der Manbrück die hätt gesagt, der Dag deht ihr so gut gefalle, weil’s grad mitte im Jahr wär … sie meint des deht Glück bringe. Der lange Becker, der alles vom musikalischen Standpunkt aus betracht, läßt sich auch net davon abbringe, weil er behaupt, der Richard Wagner, hätt an dem Tag die Wacht am Rhein, oder sonst e Stück komponirt. Die Sophie oder – wie er sagt – des Zöfche aus dem Conservatorium, die meent widder mer sollt nix aufschiewe … je eher je lieber, denn wenn die Hundstag anfange, da wollte se schon bei de Eisbärn in Norwege sei.

Eckert:
Die Geschicht kennt mer wahrhaftig in die Kreppelzeitung setze. Schad, daß der alt Stolze net mer lebt!

Hüter:
Überhaupt in der Niedenau da haw ich schon was haamlich gelacht, sollte sie es vor möglich halte, daß die klaa Rot noch net emal en Krammetsvogel von ere junge Gans unnerscheide kann … ja … wenn mer uff dene Viecher Klavier spiele kennt, … so wär das schon mehr ihr Fall.

Eckert:
Des is noch gar nix. Von Gemies versteht se so viel wie die Kuh vom Sonntag, se kimmt mer vor wie der Hampelmann. Vom grünen Gemies kennt se nur Rotkraut und Gelberübe, awer auch die kennt se noch net emal von enanner unnerscheide, wenn’s net von weg der Farb wär. Kürzlich hätt se sich so geschämt, daß sich der lange Becker ins Mittel gelegt hätt. Wisse se was er jetz duht? Er fährt Nachmittags in eme große Wage durch die Sachsehäuser Gemüsfelder de Hasepfad eruff un erunner un zeigt er alles aus der Kutsch eraus, damit se wenigstens eh’ se heirat die Spargel vom Spinat unnerscheide kann.

Hüter:
No, begreift se’s dann jetzt?

Eckert:
Beileibe net! An dere is Hoppe und Malz verlorn! … Er hat ihr ausdrücklich gesagt, daß Spargel nur in dene Häufelcher wachse, daß mer se awer oft net sehe kennt. Jetzt meent des dumme Oos, wo se e Häufele sieht, müßte Spargel drin stecke.

Hüter:
Das gibt e Kundschaft, die misse mer uns warm halte, ich habb auch gehört, sie wollte von Andreaes die alt Köchin mit erüber nemme, sie wisse ja, die ich so gut kenn?

Eckert:
Daß err euch nur net verguckt, des Vergnüge für uns wird net lang anhalte. Der lang Becker is ärger, wie e Dutzend Hausfrauen zusammen, der guckt durch en Doppeldiel durch und durch bis hinne widder, – ich fercht, die wern mer net lang roppe kenne. Wisse se , der is in Gelnhause groß worn. Beim nix un beim Bettche dagege läßt sich halt net ankomme. Die Späß hörn für uns von selbst bald uff.Na hoffe mer das beste!

Hüter:
Awer die Affenkomödie mit dene Brautbesuche, die hätte se seh solle. Zweine Wage mit guillotinirte Bediente sin drei Dag lang in der Stadt erum gefahrn. Karte sin in der Luft erumgefloge wie e Kett Hühner. Awer e Brautpaar wa überhaupt net drinn.

Eckert:
Ei wer denn? (Spricht ihr leise ins Ohr)

Hüter:
Ich soll’s ja eigentlich gar net verrate … Während die Lina in Königstein und die Sophieche in Gelnhause sich hawe die Kur schneide lasse, sin die Schwestern, die Wally und Karola mit der Kutsch in Frankfort erum gesegelt (Spricht ihr wieder leise ins Ohr), einmal meint ich sogar, ich hätt die dick Frau Andreae selbst in der Kutsch gesehen, wie se sich mit aller Gewalt ins Eck gedrückt hätt (lacht furchtbar). Beschwörn will ich’s net, ich kann mich auch geirrt hawe.

Eckert:
No jetzt mache se nor, daß se in ihr Kundschaft komme, denn dem viele Gebabbel kimmt doch nix eraus.

4. Was machen wir am Polterabend?

Personen:

H: Fräulein Helly Schmidt – mit natürlicher Anmut

M: Richard Merten – mit angeborener Frechheit

A: Theo Andreae – mit natürlichem Phlegma

B: C.H. Becker – etwas philisterhaft

H.M.A. sitzen zusammen. B., begrüßt alle.

H.
Guten Tag! Das ist ja nett, daß Sie extra aus Heidelberg herkommen, jetzt können wir endlich einmal definitiv über den Polterabend einigen. Nehmen Sie eine Cigarette?

B.
Danke gern. Sehen Sie, der Alex ist ein unglaublicher Frechdachs. Angst davor, daß wir ihm auf dem Polterabend recht mitnehmen hat er gar keine, wohl aber, daß wir’s nicht schön genug machen. Er kann sich’s gar nicht vorstellen, daß so etwas mal ohne seine Mitwirkung von Stapel läuft.

A.
Die Sophie ist übrigens grad so; freilich ist es ja noch nie ohne die Beiden gegangen. Wenn die zwei sich hinstellen, so ist’s von vornherein ein Tingeltangel.

M.
Und was für eins.

B.
Heute morgen sagte mir z.B. der Alex: das machst Du alles ganz unpraktisch. Du bestellst Dir den Ricard und den Theo zur Helly und dann macht Ihr’s zusammen.

H.
Also dem Alex habe ich Ihren Besuch zu verdanken.

B.
Seiner Angst, daß es sonst vielleicht nicht schön genug würde.

A.
Hat er Ihnen nicht gleich ein fertiges Manuskript gegeben, worin er sich über Sophie und sich selbst lustig macht? Das wäre am Ende ein ganz moderner Gedanke. Das Brautpaar gegenein-ander zu hetzen. Da könnten wir unsere Witze sparen.

B.
Ja, die Frau Generalkonsul meinte sogar, eigentlich könnten Sophie und Alex zusammen musizieren, da machte den Gästen doch noch mehr Spaß als alles andere …

M.
Es ist halt ne eitle Frau. Die Frau Generalkonsul. Wie sagte sie noch neulich? Mein ältester Sohn, der „Herr“ Landrat, mein anderer Sohn der Privatdozent, mein dritter Sohn, der singt aber schön.

H.
Aber Richard, wie frech, das sagt man doch nicht!

B.
Bitte, hier wird nicht übel genommen.

M.
Doch, wenn man keine Cigaretten kriegt.

H.
Na, die hättest du dir doch auch selbst nehmen können!. Du bist doch sonst nicht so!

B.
Na bitte zur Sache. Sie sollen schon so etwas schönes vorbereitet haben, sagt mir der Schwiegervater.

H.
Ja, Richard. Morgen um drei sollst Du zur Klinkhammer kommen.

B.
Sie sollen doch nicht etwa die Jungfrau von Orleans aufführen? Das ist doch für ne Hochzeit keine ganz geeignete Sache.

M.
Da wäre der gläserne Pantoffel oder der Kampf mit dem Drachen schon eher am Platze.

H.
Ja, was sollen wir dann sonst? Sie ahnen gar nicht, wie wenig wir schauspielern können.

M.
Helly, ich seh Dich schon mit erhabener Geste:

Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften.
Leb wohl Du grüne Niedenau,
die Sophie geht, sie schwebt schon in den Lüften
und wird jetzt Alexanders Frau.

A.
Au wie mau!

B.
Kullussal, wird die Sophie sagen

A.
Also, die Jungfrau von Orleans und die Klinkhammer sind durch gefallen.

B.
Bitte weiter, andere Vorschläge!

H.
Aber ich bitte Sie, wir haben doch schon alles mit der Klinkhammer ausgemacht, und die Fräulein Fuchs, die spielt doch so schön.

A.
Ja, die ginge sogar am liebsten auf die Bühne.

M.
Aber wir können doch nicht der Frl. Fuchs zu Ehren die Jungfrau von Orleans aufführen.

H.
Aber die Sophie will doch durchaus ein Stück haben und die Mutter Andreae, die gewöhnlich den Nagel auf den Kopf trifft, hat gemeint, man solle den sechsten Sinn von Moser nehmen! Denn etwas passenderes könnte man für den Alex gar nicht finden.

P.
Ach Gott, wenn die Weiber nur nicht immer so verrückte Wünsche hätten. Muß es denn durchaus ein gedrucktes Stück sein.

H.
Sie wollen doch nicht etwa selbst eins machen?

M.
Na, etwas was so gut auf ne Hochzeit paßt, wie die Jungfrau von Orleans, das kriegen wir vielleicht auch noch fertig, namentlich jetzt im Schillerjahr

B.
Wir könnten z.B. einige Weisheiten der Völker über die Frau zusammenstellen. Ich hab mal Kolleg über die Frau im Islam gelesen. Schon Seneca spricht vom animal impudenz. Schopenhauer nennt die Weiber Kühe. Von Nietzsche will ich gar nicht reden. Aber z.B. der Talmud.

H.
Talmud habe ich ja noch gar nicht gehört. Kann man das essen? Ich glaub, das ist das was man hier Glunscher nennt.

M.
Ach so.

B.
Im Talmud steht z.B. wenn die Weiber reden, reden sie nur von der Wirtschaft.

M.
Man denke sich die Sophie 5 Minuten von Wirtschaft reden. Ich glaube eher, daß der Alex den ganzen Tag von dere Wirtschaft reden wird.

A.
Das kann freilich ein netter Betrieb werden. Sie haben schon Einladungskarten drucken lassen: Herr und Frau Privatsekretär, Referendar und Leutnant der Reserve Becker beehren sich zu Handkäs mit Musik einzuladen.

B.
So kommen wir nicht weiter. Seid doch einmal nen Moment still, denken wir nach.

*** Pause ***

M.
Wissen Sie, zu geistreich darf’s auch nicht sein, sonst kapieren es die Frankfurter nicht.

H.
Viel Fremdwörter dürfen auch nicht drin vorkommen.

A.
Das wird nix ausmachen, die nachprüfende Schwiegermutter ist ja nicht da. Könnte mer die Sophie mit dem Brendelsche Schnut vergleiche?

B.
Das wär am End was för die Frankforter.

H.
Aber ich bitt Sie, bei all den Andreaes ihre vornehme Verwandtschaft: Was würde dazu die Comtess Esterhazy mit der blauen Jardinière sage!

M.
Ihr habt ja en echte Korvettenkapitän eingelade. Son großes Tier von der Botschaft in London.

B.
Ja, der kommt auch und bringt sei fashionable Tennis spielende Gattin mit.

H.
… und die Lili (Andreae) kommt auch, die prinzipiell nur mit Kronprinzen verkehrt.

A.
… und auch der Onkel Jean zieht sogar des Band von seim portugiesischen Großkreuz an.
Ja, bei einer so vornehmen Gesellschaft …

H.
Sie haben recht: es geht mit dem Brendelschen Schnut ebenso wenig, wie mit der Jungfrau von Orleans.

B.
Wir wollen lieber mal erst uns darüber klar werden: wer kann mitspielen?

M.
Die Helly gewiß nicht, die hat keine Ahnung.

H.
Richard, was fällt Dir ein?

Kleine Zankszene zwischen den beiden

B.
Bitte Herr Merten, spielen Sie nur so wie Sie sin, das is frech genug. Bitte weiter.

A.
Die Rola …

B.
Ich meine, man läßt die Rola als Bub auftreten – das macht Effekt und zieht immer.

H.
… zum B. als Amor.

M.
Dann muß sie aber hochdeutsch reden.

A.
Da lacht sich alles schief und krumm.

H.
Auch ihre Schwägerin, die Frau Landrat.

B.
Die spielt aber nur kokette Rollen: die aber hat se los.

M.
Was sagt denn der dicke Herr Landrat dazu?

B.
Der wacht als Auge des Gesetzes über ihr.

M.
Der Erfolg scheint mir fraglich.

A.
Der Emmo Crevenna könnte auch mitspielen.

B.
Der ist viel zu würdig. So kindisches Zeug macht DER nicht mit.

A.
Dann noch eher der Bär, der ist immer dabei, wenn geknutscht wird. Denn das ist doch immer en hübscher Anblick. Un Ihr Bruder Alfred.

M.
Um Gotteswillen, der ist Familienvater, der muß sein Baby stillen.

A.
Un der Robert Sommerhoff?

M.
Der redet jetzt nur noch englisch. Un wer kein Frankfurter Mädchen nimmt, der wird von vorneherein nicht zugelasse.

B.
Mit dem Lokalpatriotismus wird man auskommen müssen (handschriftlich, z.T unleserlich). Mir graut überhaupt ein bißchen – verzeihen Sie – vor all den Andreaes.

A.
Einzeln lassen sie sich gefalle, wenn se aber wie die Heuschrecken auftreten …

B.
Wie solle mer so verwöhnte und anspruchsvolle Leut zufriddestelle?

H.
Geben se dene nur gut zu essen und zu trinke, so sin se schon zufrieden.

B.
So sind die wirklich so materiell? Dann paßt Alex ja großartig hinein.

M.
Ich muß immer noch an den Andreaesche Familientag denken – da hat die ganze Fremdenlog nach Alkohol gerochen.

H.
Ja, son bischen materiell ist die Sophie ja auch: Wermut, das liebt sie, es ist köstlich. Und erst Aniset…

A.
Das tollste ist, daß die Sophie gar keinen zugesteckt hat. (handschriftl. Zusatz, unleserlich)

B.
Ich glaube, das liegt in der Familie. Ich war in Losann, wie se in Frankfurt sage, mit dem Knopp zusammen. Das hat den Bär und mich den Tag e Kist englische Biscuit gekost. Der Knopp hat nie was übrig gelasse. Schließlich hat der Bär die gut Idee gehabt, immer nur 5 Biscuit liege zu lasse, und wenn wir den Knopp pfeifen hörten, haben wir den Rest versteckt.

M.
Und wie materiell muß erst der Schwiegervater sein, der bei allem, was auf den Tisch kommt, immer AH ruft.

B.
Der Alex paßt großartig in die Familie, der redet nie von etwas anderem, als vom Essen: Wie war noch das berühmte Menü bei dem Junggesellenessen im Falstaff? Rühreier von Kibitzei mit Nachtigallenzungen, Sauerkraut in Pommery gekocht, Seezungen auf Spinat.. Der Frau Generalkonsul haben jedes mal die Haare zu Berge gestanden.

M.
Muß das aber schön ausgesehen haben.

A.
Und das Stück? …

B.
Mein Gott, wie weit sind wir davon abgekommen. Es ist mir immer klar gewesen: An Stoff wird es uns nicht fehlen, wir ersticken ja darin; an Schauspielern auch nicht, aber an der Leitung.

H.
Die große Klinkhammer haben Sie abgelehnt.

M.
Die große Duse und die große Saharet werden auch schwer zu haben sein. Aber wen nannte Alex noch neulich?

A.
Die große Emma.

Alle
Und wie soll das Stück heißen?

B.
Der Privatsekretär des Herrn Merten.

A.
Das geht nicht, denn sonst fühlt sich die ganze Stadt Frankfurt betroffen.

M.
Und am Ende schnappt der alte Merten ein.

B.
Ja, mit dem Einschnappen ist das überhaupt so ne Sache.

H.
Hört mal! Könnten mer nicht die Pfingsttour hereinbringen? Wo der Alex mit der Sophie erst nachts um 1 Uhr von Gelnhausen zurückgekommen ist? Da war se aber bös, die dicke Mama.

A.
Der Alex hat auch uff den schwiegermütterlichen Rüffel noch 3 Tag gezittert wie Espenlaub.

M.
Und dabei ist der Alex doch selbst so ein Zorngickel, der bei allem das Gegenteil behaupten muß.

B.
Hat die arm Emma Bergmann mit dem was auszustehen gehabt.

M.
Das Temperament stammt offenbar von der Frau Generalkonsul.

B.
Ich finde die Sache bedenklich.

H.
Mir lassens lieber ganz.

M.
Irgendwelche gibt’s ja immer, die ihre Verse nicht bei sich behalten können. Wenn z.B. der Papa Andreae mal aufgezogen ist, dann hört er nicht so bald auf..

B.
Ich hab gehört, gestern Nacht sei er plötzlich um zwei Uhr aufgewacht und hätte sei Frau gefragt, ob sie nicht son Dinge … ein Bleistift hat er nämlich gemeint, bei sich hätt, es wärn em grad so e paar gut Vers für en Polterabend eingefalle.

M.
Na wenn’s gar net langt, da muss halt das Brautpaar selbst herhalten.

B.
An MEINEM Polterabend in Augsburg haben die übrigens auch nichts aufgeführt.

M.
Da haben se aber zwei mal 24 Stund das Augsburger Patriziergesicht gemacht, und das ist ihnen schwerer gefallen wie alle Aufführung.

H.
Also, wir lassens bleiben.
Alles Liebe Gut, lassen wir’s bleiben.

M.
Und geben wir uns das Wort, für alles hier Gesprochene: Diskretion Ehrensache.

Alle:
Gewiß, das kleine Ginnheimer Ehrenwort.

Hellmut Becker

VI.HA Nachl. C. H. Becker. Nr.6292 (Briefe an Sohn Hellmut 1921-32)

171. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut. Berlin, 14.4.1921

(Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn Hellmut,

Über Deinen Geburtstagsbrief habe ich mich sehr gefreut, und ich danke Dir herzlich dafür. Es war der erste Brief, den ich bekam und war deshalb doppelt willkommen. Besonders freute mich, daß Ihr eine so gute Reise gehabt habt und daß es Dir in Salem so gut gefällt. Danke auch Fräulein Köppen vielmals für ihren ausführlichen Brief und ihre freundlichen Glück-wünsche. Er war mir sehr wertvoll, denn nun haben wir doch, wenn wir alle Eure Nachrichten zusammenfassen, ein ziemlich deutliches Bild von Eurem Leben. Am liebsten käme ich selber hingereist und sähe mir die Sache einmal an; aber ich fürchte, gar so bald wird das nicht möglich sein, und es wird wohl Sommer darüber werden. Dann bist Du schon ein alter Salemer und kennst Dich so gut aus, daß Du Deinem Vater alles zeigen kannst. Ich möchte nur gern wissen, was Du morgens früh nach dem Frühstück machst, bis der Unterricht anfängt. Das mußt Du uns einmal erzählen, wenn Du wieder schreibst.

Mein Geburtstag verlief sehr schön. Die Tulpe von Deinem Beet prangte in einer Vase zwischen Torte, Schlafanzug, Bilderrahmen von Walter, Waschlappen von Hertha und einem schönen Gemälde von Herrn Siegel, der sich im übrigen jedesmal nach Dir erkundigt und Dich schönstens grüßen läßt. Ich kam erst zum Abendessen nach Hause, und dann war Herr Richter bei uns eingeladen. Es gab sehr gut zu essen, beinahe so gut wie in Salem, nur Du hast uns gefehlt; aber wir haben Deiner mit Liebe gedacht. Mittags hatten mich Herr und Frau Wende mit der Inge besucht, die mir sogar ein Kränzchen Vergiß-mein-nicht mitbrachte, während mir ihre Mutter einen Kuchen gebacken hatte. Dann tranken wir alle zusammen in meinem Dienstzimmer Schokolade, und die Inge hat mir gesagt, ich solle Dich besonders von ihr grüßen.

Im Garten ist alles sehr schön grün geworden, sonst aber ist alles unverändert. Man berät im-mer noch, ob wir einen neuen Minister bekommen sollen. Wahrscheinlich aber bleibt auch hier alles beim Alten.

(CHB)

 

172. C.H.B. an Sohn Hellmut, z.Z. Hoyern bei Lindau am Bodensee, Verbandskrankenhaus. Berlin, 10.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein lieber Sohn!

Da Dir meine mit der Hand geschriebenen Briefe Schwierigkeiten machen, will ich meine herzlichen Grüße an Dein Krankenlager in Maschinenschrift abfassen, damit Du ihn bestimmt ohne fremde Hilfe lesen kannst. Wir sind sehr glücklich, daß alles so gut abgelaufen ist und sind Deinem guten Pflegevater aufrichtig dankbar für die liebevolle Art, mit der er Dich be-treut hat. Ich bin sicher, daß es Dir unendlich wertvoll gewesen ist, daß er und die gütigen Damen Dich geleitet haben und Dich jetzt so nett besuchen. Wir freuen uns besonders, daß die Nieren ruhig geblieben sind. Vielleicht wirst Du nun in Zukunft auch diese Sache los werden. Jedenfalls ist es sehr erfreulich, daß Du Dich nicht mehr um Deinen Blinddarm zu sorgen brauchst. Möchtest Du recht bald wieder frisch und gesund herumspringen können. Ich freue mich schon sehr darauf, wenn Du nach Berlin kommst und wieder einmal die ganze Familie beisammen sein wird.

Bei uns regiert zur Zeit Hertha in der Küche und macht die wundervollsten Gerichte für ihren Vater unter der hohen Assistenz der Mutter. Manchmal muß ich das Menü bestimmen, weil den Damen immer nichts richtiges einfällt; dann gibt es natürlich immer meine Leibgerichte, und die Mutter ist sehr erfreut, wenn sie nicht selbst darüber nachzudenken braucht. Schade, daß Du all die kulinarischen Genüsse nicht miterlebst. Aber Du wirst Dich dann bei Deiner Ankunft davon überzeugen, daß Deine Schwester bereits eine perfekte Köchin geworden ist.

Von Walter haben wir lauter gute Nachrichten. Er schwimmt sozusagen im Völkerbundswas-ser und hat alle möglichen interessanten Leute kennengelernt. Zum Schluß will er noch zu Baums nach Lausanne und dann – denke Dir – noch 1 bis 2 Wochen nach Paris. Jedenfalls wird das seinem Französisch gut bekommen und habe ich es ihm gern erlaubt.

Hier habe ich neulich die Funkausstellung miteröffnet. Wir saßen in der prallen Sonne im Zylinder unter dem großen neuen Sendeturm1 und schwitzten fürchterlich. Gottseidank habe ich keine Rede halten müssen. Dann war ich drei Tage in Dresden bei der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, habe auch Deines Befehls gedacht und die Sixtina besucht. Ich war mit Herr Leist zusammen und mit Dr.Baum, dem Dresdener Kaplan, dessen Du Dich wohl noch entsinnst. Unsere Karte wirst Du erhalten haben. Wir haben auch eine große Auto-fahrt gemacht und sind stellenweise 120 km die Stunde gefahren. Ich war aber schließlich doch ganz froh, als wir wieder in Dresden waren. Wir hatten ein Kinderheim in der Provinz in der Nähe von Mittweida besucht, das die große Wohltäterin der deutschen Kriegsgefangenen, die bekannte Schwedin Elsa Brandström, unterhält.

In den nächsten Tagen werden wir mancherlei Gesellschaften haben. Für morgen abend ist das ganze Ministerium zu einer großen Abendveranstaltung zu Ehren des ausscheidenden Herrn Klotzsch eingeladen.. Du weißt doch, daß Herr Wende der Nachfolger des Herrn Klotzsch geworden ist. Am Dienstag kommt Rabindranath Tagore zu einem Frühstück von 15 Personen, an dem auch die Mutter und vielleicht Hertha teilnehmen werden.

Am 18. gehe ich dann auf Dienstreisen zum Naturforschertag nach Düsseldorf, zum Historikertag nach Breslau und zum Orientalistentag nach Hamburg. Da werde ich Dir wohl manche Karte schicken. Heute abend gehen Mutter, Hertha, Morsbach und ich zusammen in Kleists Amphitryon.

Grüße bitte allerherzlichst die Ottenberger Autoritäten und danke ihnen recht sehr für alles , was sie für Dich tun.

Ich umarme Dich in herzlicher Liebe Dein getreuer

(Vater)

 

173. C.H.B. an Hellmut Becker, z.Z. Haus Ottenberg, Hemigkofen am Bodensee, Württemberg. Berlin,17.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

ich danke Dir sehr für deinen schönen und inhaltsreichen und, wie ich sagen muß, fabelhaft gebildeten Brief. Natürlich hat Hebbel keinen Amphitryon geschrieben, sondern es ist Kleist, und ich habe mich im Diktieren geirrt, ohne es zu ahnen, daß Du mir so auf die Finger passen würdest. Hoffentlich kennst Du die übrige Literaturgeschichte eben so gut; dann wirst Du ein vorzügliches Abitur machen. Oder sollte eine der Damen geholfen haben?

Ich freue mich herzlich, daß es Dir wieder gut geht, und daß ich diesen Brief schon nach Ottenberg richten kann. Wir freuen uns alle schrecklich, wenn Du in absehbarer Zeit wieder zu uns nach Berlin kommst. Hoffentlich hat es Dir nicht zu sehr gefehlt, daß Mutter nicht gleich hingefahren ist, aber wir wußten Dich ja in guten Händen, und Mutter war hier augenblicklich so nötig, daß es besser war, sie blieb hier.. Wir leben weiter still und gemütlich, und es nicht allzuviel Amtliches los. Nur neulich ein Frühstück bei uns im Ministerium zu Ehren des indischen Dichters Rabindranath Tagore, der in langem grauen Gewand erschien, während seine Schwiegertochter in malerischer indischer Tracht ihn begleitete. Wir hatten die Herren Marcks, Meinecke, Einstein, Deissmann und einige andere Celebritäten geladen. Abends war dann großer Empfang durch in Berlin wohnende Inder, wo ich eine Rede auf Tagore halten mußte.

Die ganze Berliner Presse regt sich in diesen Tagen gewaltig auf über die Ernennung Tietjens zum Generalintendanten der staatlichen Opernhäuser. Du gehörst ja zu den wenigen Einge-weihten, die strenges Stillschweigen bewahrten, und es ist wirklich merkwürdig, daß mehrere Monate lang meine Pläne geheim blieben. Jetzt ist alle Welt überrascht, und im Grunde genommen, erfreut, aber man gibt es nur nicht so gern zu, weil man lieber selbst vorher mitgequatscht hätte. Immerhin ist die Aufnahme in der Presse sehr erfreulich, und ich glaube, daß wir nun endlich geordneten Verhältnissen im Berliner Opernwesen entgegen gehen. Heute abend gehen die Mutter , Hertha und ich in die Kroll-Loge in Cavalleria rusticana und Bajazzi. Außer Herrn Schlusnus wird der berühmte neue Tenor Pattiera singen. Wir sind natürlich sehr gespannt. Vorher trinke ich aber noch schnell einen Tee, zu dem ich Oskar Kochertaler erwarte, der mit frischen Nachrichten aus Genf kommt, wo er und Walter sehr vergnügte Tage zusammen verlebt haben.

Herr Benecke hat sich etwas am Fuß verletzt und muß mit hochaufgerichtetem Bein drei Tage still liegen. Er hält mir deshalb den Pressevortrag durchs Telefon.

Morgen abend beginne ich eine Periode der Reisen, und zwar gehe ich zunächst nach Düssel-dorf, wo ich Carola Lexis Blumenstein, vielleicht auch Ernst und Jochen sehen werde. Ich besichtige die Gesolei (?) und eröffne den Naturforscher- und Ärztetag. Dann fahre ich über Nacht via Berlin nach Breslau, wo der Denkmalspflegetag stattfindet, bin aber schon Don-nerstag abend wieder in Berlin, da mich der Herr Reichsverkehrsminister Krohne zu einem Diner zu Ehren von Sven Hedin eingeladen hat. Die folgende Woche gehe ich dann nach Hamburg und dann wieder nach Breslau; aber das ist noch Zeit bis dahin, und dann wirst Du ja auch schon beinahe wieder hier sein.

Nun muß ich schleunigst zum Tee. Leb wohl, mein lieber Jung, werde bald wieder ganz gesund. Ich grüße Dich von ganzem Herzen und bitte um freundliche Empfehlung an die Ottenburger Autoritäten.

Dein Vater

 

174. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut in Mer/Dep. Loir&Cher, chez M. Sémézies (Berlin?), 23.6.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Du hast den Wunsch geäußert, daß ich Dir einmal einen politischen Brief schreiben möchte. Ich bin aber nicht so sehr politisch, daß ich Dir wie früher immer das Neueste liefern könnte. Deshalb wirst Du Dich auch mit einigen anderen Nachrichten begnügen müssen. Wir haben Deinen Brief mit Freude zur Kenntnis genommen, zumal die Mutter ihn uns vorlas, die zur Interpretation schwieriger Handschriften offenbar eine natürliche Veranlagung besitzt. Sie ist übrigens soeben ins Krankenhaus abgefahren, nachdem sie glücklich den heißesten Tag abge-wartet hatte, den wir diesen Sommer erlebt haben. Ich sitze auf der Veranda, während ich dies diktiere, aber schon das bloße Diktieren bringt einen beinahe ins Schwitzen. Ich bin froh, daß Mutter jetzt in richtige Behandlung kommt, denn sie hatte doch immer wieder bis zur letzten Stunde gesundheitliche Schwierigkeiten.

Ehe ich es vergesse, zunächst die geschäftliche Mitteilung, daß ich soeben die Deutsche Bank angewiesen habe, Herrn Sémézies nochmals 600 Frans zu schicken. Den Überschuß nach Abzug seiner Spesen möge er Dir dann aushändigen. Ich bedauere sehr, daß Du es dort auch so heiß hast. Wir müssen bei den Bildern immer an Liebenwalde denken, nur etwas ins Südliche und Heißere übersetzt. Hoffentlich hast Du es dann an der See um so schöner. Wir sind der Meinung, daß Du Dich dort ja auch ganz gut einmal acht Tage aufhalten kannst.. An Bekanntschaften wird es Dir ja gewiß nicht fehlen.

Seit meiner Rückkehr von meinen fabelhaften Ehrungen in Ungarn habe ich eine ziemlich arbeitsreiche Zeit gehabt, da ich Kolleg nachholen mußte und es sich auch gerade so traf, daß ich für die betreffenden Stunden noch viel der Vorbereitung bedurfte. Diese Woche wird es besser, und nächste Woche ist es schon ganz gut, denn dann hören die Attaché-Kurse auf. Dafür beginnt dann die Vorbereitung auf Amerika. Einstweilen haben wir noch keine Kabinen, da alle Schiffe besetzt sind. Wir werden uns mit der Abreise ziemlich danach richten müssen, wo es noch Platz gibt. Vielleicht reisen wir schon am 13. August. Aber ich vermute, daß Dir das Walter geschrieben hat. Ich bin Samstag und Sonntag in Frankfurt(?Oder, unleserlich), wo es nicht nur ein Mozartmusikfest gab mit ausgezeichneten Vortrag von Frl. Trautmann, sondern wo dann auch in der Pause zu Ehren des Sonnenwendfestes ein Lampionumzug – man kann sagen Lampionreigen – der Studenten der Pädagogischen Akademie stattfand. Er gipfelte in einer allgemeinen Huldigung und Senkung der Lampions vor mir, wie ich überhaupt innerhalb 24 Stunden drei Reden halten mußte, obwohl ich doch eigentlich nur als Privatmann da war. Beim Abendessen hielt plötzlich der Sprecher des gerade stattfindenden Lehrer-Fortbildungskurses eine Ansprache auf mich, die ich beantworten mußte. Nach dem Konzert wurde um 12 Uhr eine köstliche Figur, darstellend den alten Typus des schlechten Lehrers auf einem großen Holzstoß verbrannt. Dem Scherz folgte dann aber der Ernst, und es war ein künstliches Johannisfeuer mit Gesängen und einem großen Ring von Hunderten von Menschen. Plötzlich mußte ich sprechen. Ich variierte dann das Thema „Wer die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant.“ Angestiftet hatte das natürlich Adolfus Reichwein, der mit einer Panne in Berlin doch noch zu diesem Fest eingetroffen war. Gestern, am Sonntag früh, machte der Kursus eine Morgenfeier, bei der sie mich am Abend gebeten hatten, einen Vortrag zu halten. So habe ich denn ¾ Stunden ohne Vorbereitung ihnen etwas über die Kulturkrise erzählt, und dann folgte ein wundervolles vormozartliches Cembalo-Konzert mit Orchesterbegleitung. Trotzdem war ich zum Mittagessen wohlbehalten zuhause, schwer ausge-lacht von der ganzen Familie, weil ich hatte sparen wollen und eine Sonntags-Fahrkarte genommen hatte, nun aber mit dem FD-Zug zurückgefahren war, weil die Fahrkarte keine Geltung mehr hatte.

Von der Innenpolitik kann ich Dir nicht viel erzählen, außer daß Hoepker-Aschoff offenbar definitiv abgelehnt hat. Er wird seinen guten Posten erst aufgeben, wenn er wirklich die Möglichkeit sieht, auch mit der Reichsreform vorwärts zu kommen. Danach sieht es aber im Augenblick noch nicht aus. Ich will sehen, daß ich ihn in den nächsten Tagen wieder einmal spreche.

Außenpolitisch habe ich Ungarn manches Interessante gehört. Von Königsmacherei ist die nüchterne derzeitige Regierung weit entfernt. Das falsche Bild in der Öffentlichkeit entsteht durch die Agitation der kleinen legitimistischen Gruppe im Zusammenhang mit gewissen kirchlichen Kreisen und mit greller Hintermalung durch die Todesangst der demokratischen Presse. Immerhin will Klebelsberg Bethlen veranlassen, einmal in einer öffentlichen Rede von den Königsmachern abzurücken. Man weiß in Ungarn viel zu genau, daß die Rückkehr Ottos 2den sofortigen Einmarsch der kleinen Entente zur Folge haben würde. Mein Besuch hat insofern günstig gewirkt, als er ein Gegengewicht geboten hat zu der wachsenden Mißstimmung gegen Deutschland3, das politisch und wirtschaftspolitisch Ungarn vollkommen in Stich läßt, während Italien4 – dazu ja auch besser in der Lage als wir – den Ungarn etwa 1/5 ihrer ganzen Ernte abkauft (allerdings zu Weltmarktpreisen; die Differenz muß durch Steuern bezahlt werden). Der Revanche-Gedanke ist in Ungarn ungeheuer stark. Kinder in den kleinsten Dörfern rufen einem als Gruß zu: „Hofft auf eine bessere Zukunft!“ Die ganze Jugend ist militärisch ausgebildet. Mit Stolz wurden mir die Holzgewehre gezeigt, die genau das Gewicht und die Größe richtiger Karabiner haben. Trotzdem weiß man genau, daß auch lokaler Krieg nur zu Ungunsten Ungarns ausschlagen könnte. Man rechnet aber mit der weiteren Isolierung Frankreichs, das dann nicht mehr in der Lage sein wird, die kleine Entente zu stützen. Dadurch werde eines schönen Tages eine politische Situation entstehen, die es den ungarfreund- lichen Mächten möglich machen würde, ohne Krieg durch einen politischen Druck eine Revision des Trianon-Vertrages herbeizuführen. In diesem diplomatischen Spiel rechnet man natürlich auch mit Deutschland, obwohl man genau weiß, daß Deutschland gar nicht in der Lage ist, einen Krieg zu führen. Immerhin kann man verstehen, daß unsere deutschen Politiker sich allen diesen Plänen gegenüber außerordentlich reserviert verhalten (im Original: verhält) und lieber eine Verständigung mit Frankreich erstrebt. Frankreich wird ja in den nächsten Jahren zeigen müssen, ob es wirklich eine europäische Politik zu machen bereit ist, die diesen Namen verdient. Bisher sieht es nicht danach aus. Jedenfalls wäre es mir sehr interessant, einmal meine italienischen Eindrücke mit den ungarischen zu vergleichen. Man bekommt dadurch etwas mehr Abstand von der einheimischen Politik.

Nun aber Schluß für heute, mein lieber Jung’! Ich grüße Dich von Herzen. (CHB)

 

175. C.H.B. an seinen Sohn Hellmut, z. Z. Les Sables d’Olonne, Vendée. (Berlin?), 10.7.1930

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Ich muß Dir doch einmal davon erzählen, daß ich mich mit Deinem Freunde Billie so vorzüg-lich verstanden habe. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte ich ihm gesagt, der dürfte mich auch einmal besuchen, und so kam er denn einmal zum Tee, von dem wir Dir eine Karte schickten. Wir waren aber beide sehr verhetzt, und da er mir ausgezeichnet gefiel, lud ich ihn für ein paar Tage später zum Abendessen ein. So kam er dann. Wir aßen auf der Veranda zu Nacht.. Walter zog sich nachher zurück, und dann haben wir beide bis gegen ½ 12 Uhr eine wirklich wundervolle Unterhaltung miteinander gehabt. Ich kann Dir nur von Herzen zu diesem Freun-de gratulieren. Er ist nicht nur äußerlich, er ist auch innerlich älter als Du und von einer er-staunlichen Reife und Besonnenheit des Urteils. Seine Frühreife ist natürlich auf seine jüdi-sche Herkunft zurückzuführen. Aber er hat gerade diesen Grad jüdischer Intellektualität und Wachheit, der noch angenehm ist, ja einen besonderen Reiz verleiht. Seine Intellektualität wird gebändigt durch sein starkes künstlerisches Gefühl. Aber er lebt nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Sphären des emotionalen Lebens, im Religiösen und im Menschli-chen. Die Art, wie das alles bei ihm harmonisch neben einander steht, wie Selbstbewußtsein und Reife sich neben Bescheidenheit und Jugendlichkeit paaren, ist wirklich erstaunlich. Er ist ein höchst erfreuliches Geschöpf, und ich habe meine helle Freude an ihm gehabt. Er war fabelhaft aufgeschlossen, charakterisierte Salem und besonders Hahn mit Worten, die fast ich hätte gebraucht haben können.. Weißt Du, er hat etwas so Wissendes bei aller Diskretion und etwas Herzliches bei aller Zurückhaltung. Ich merkte sehr bald, daß irgend ein älterer Freund auf ihn eingewirkt haben müsse, und dann erzählte er mir von Herrn Frommel. Beim Ab-schied meinte er, ob ich nicht mal Herrn Frommel empfangen wolle. Ich hielt mich etwas zurück, weil ich mich nicht in diese Beziehung einmischen wollte. Hernn Frommel ging es ebenso; doch habe ich schließlich Billies Wunsch erfüllt und Herrn F. gestern in der Deutschen Gesellschaft empfangen. Das war nun eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Herr F war auf mich geladen wie noch selten einer von der Jugend. Er hatte ungefähr alles von mir gelesen, und es hatte ihn entscheidend beeinflußt. Wir haben uns gleich ganz fabelhaft ver-standen, so gut, daß ich beschloß, ihm einen meiner jetzt sehr kostbaren Abende zu opfern und ihn für heute Abend zum Abendessen eingeladen habe. Er reist dann allerdings ebenso wie Billie in den nächsten Tagen fort, und wenn wir uns noch sprechen wollten vor Amerika, so mußte es in diesen Tagen sein. Du kennst ihn ja auch und hast ihm offenbar sehr gut gefal-len. Ich finde ihn einen hochbegabten, ungewöhnlich sympathischen Menschen, der nur mit seinen 28 Jahren endlich ein Examen machen sollte. Ich habe ihm das gleich sehr gründlich gesagt, und ich glaube, daß dieser Appell etwas nutzen wird. Ich nehme an, daß Dich das alles interessiert. Deshalb erzähle ich es Dir so ausführlich.

Mutter geht es Gottlob etwas besser. Sie ist gestern sogar im Plesch’schen Garten spazieren gegangen und hat auch heute Morgen sehr vergnügt telefoniert. Sie scheint jetzt über den Berg. Sehr schwierig ist es nur, eine genügende Ferienreise für sie mit den verschiedenen Terminen unserer Heimkehr rep. Abreise in Übereinstimmung zu bringen. So meinte sie, unter allen Umständen hier sein zu müssen, wenn Du zurückkämst. Ich hielt das für total überflüssig, da ich der Meinung bin, daß Du auch noch 8 Tage später alles genau so gut erzählen kannst. Dann müßte sie gleich nach dem Verlassen des Krankenhauses abreisen.

Ich habe viel zu tun und komme nur schwer an meine amerikanischen Vorträge. Viermal die Woche spiele ich Tennis mit Werner früh von 8 bis 9 Uhr. Er steht mir ungefähr gleich, wenn ich ihn auch bisher geschlagen habe. Aber er macht eigentlich immer nur lange Bälle, und er hat einen höchst anständigen Schlag und ist schnell und gewandt. Er ist ein lieber Kerl, und ich mag ihn wirklich gern. Aber es ist manchmal schwer, Funken aus ihm zu schlagen. Er hat so eine merkwürdige Mischung von Unsicherheit und knabenhaftem Hochmut. Er ist skep-tisch und es fehlt ihm die richtige Gläubigkeit, ohne die aber nun einmal im Leben nichts Großes zu leisten ist. Ich gebe mir sehr viel Mühe mit ihm, trinke jeden Montag nach meiner Vorlesung mit ihm Tee, kurz wir sind ganz befreundet, nur sorge ich mich manchmal, ob ein starker Mensch aus ihm wird. Vorgestern Abend hatte ich die ganzen Attachés zu einer Bowle eingeladen. Hertha und Walter unterstützten mich. Es war sehr nett und dauerte bis nach 12 Uhr. Der bei uns zwei Nächte wohnende Albrecht Dieterich, der ältere Bruder von Hermann Dieterich, Salem, der Sohn unseres alten Heidelberger Nachbarn und Kollegen, nahm auch daran teil.

In Sachen K.W.G5. wird furchtbar viel hinter den Kulissen geredet und intrigiert. Ich halte mich von allem fern und stehe der Sache außerordentlich kühl gegenüber. Wenn es das Schicksal will, werde ich schon Präsident werden, und wenn nicht, ist es gewiß besser für mich, ich werde es nicht. Da ist die Gläubigkeit, von der ich vorhin sprach und die nichts mit Indolenz und Apathie zu tun hat. Glum und Schmidt-Ott haben seit Jahr und Tag die rheinische Industrie so gegen mich aufgehetzt, daß dieser Samen natürlich jetzt aufgeht und diese Kreise unbedingt gegen mich sind. In einer halben Stunde der Unterhaltung ließe sich so etwas natürlich beseitigen., aber ich kann eben nicht herumreisen und die Leute aufsuchen. Braun, Grimme und Richter haben sich sehr anständig benommen. Auch Landé gibt sich rie-sige Mühe. Höpker läuft herum; kurz und gut, es geschieht schon einiges. Trotzdem ist wahr-scheinlich, daß zunächst Herr Planck gewählt wird, der als Nobelpreisträger und Sekretär der Akademie und als Naturwissenschaftler ja eigentlich der Gegebene wäre. Aber er ist 72, und sein Präsidium bedeutet natürlich die Allmacht Glums. Leider ist Harnack zu früh gestorben, und das Ressentiment gegen mich als Vertrauensmann der Sozialdemokratie noch zu stark. Auf der anderen Seite kann ich es auch der Regierung wieder nicht übelnehmen, daß sie mich wohl vorschlägt, aber nicht so auf mir besteht, daß sie politische Schwierigkeiten davon hat. Schließlich weiß ich selber nicht, ob ich es mir wünschen soll. Die Freiheit vom Verwaltungs-betrieb, die ich augenblicklich genieße, ist so herrlich, daß ich sie gern noch einige Jahre genießen möchte. Auf der anderen Seite kann ich eine auf mich fallende Wahl auch nicht gut ablehnen. Wie die Sache also auch ausgeht, ich stehe ihr ohne Enttäuschung, aber auch ohne Begeisterng gegenüber. Wenn ich sie übernehme, dann entscheidet sich allerdings für mich der Weg, den ich weiterhin zu gehen habe. Dann möchte ich von diesem Punkt aus allmählich ein Reichskulturamt, möglichst als nichtpolitische Behörde schaffen, um ein späteres Reichs-Kultur-Ministerium6 vorzubereiten. Aber diesen Plan Deines Vaters bitte ich, in der Stille Deines Busens zu bewahren.

Es ist sehr nett, daß Walter jetzt wieder da ist. Dadurch bin ich nicht so allein, wenn wir uns auch nicht allzu häufig sehen. Er steht unheimlich früh auf, frühstückt schon um 7 Uhr, jeden-falls ist er immer schon fertig, wenn ich zum Tennis weggehe. Es geschehen eben noch Zeichen und Wunder, und dann sage noch jemand etwas gegen den sittlich hebenden Einfluß des Landes.

Nun aber will ich diese endlose Epistel beschließen. Aber ich mußte Dir unbedingt die Ge-schichte mit Billie erzählen. Ich bin sehr neugierig, was er Dir darüber geschrieben hat. Er ist zwar, wie Herr Frommel sagt, weniger mitteilsam, aber ich fand das eigentlich persönlich nicht bestätigt. Jedenfalls freue ich mich herzlich, daß Du einen so netten Freund hast. (CHB)

 

176. C.H.B an Sohn Hellmut, Freiburg /Br.,  Johannisberg 25. (Berlin?), 25.4.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Zunächst begrüße ich Dich herzlich auf Deiner ersten Universität und wünsche Dir ein in jeder Hinsicht reiches und beglückendes Semester. Dann danke ich Dir für Deinen nachträg-lichen Geburtstagsbrief. Wir haben uns nicht weiter gewundert, daß Du den 12.April im Drange der Geschäfte vergessen hast. Bei der notorischen Unsentimentalität Deiner Eltern kommt es ja auf Termine und Daten nicht allzu genau an, wenigstens nicht bei Geburtstagen, wohl aber bei Verabredungen, wie ich sie jetzt mit Dir treffen möchte. Ich bin neugierig, ob Du ein ebenso guter Reisemarschall für Deinen alten Herrn sein wirst wie es Walter in Ame-rika war. Nur ist Deine Aufgabe erheblich einfacher. Meine Pläne stehen jetzt in sofern fest, als ich Freitag, den 8. Mai vormittags 10.21 Uhr mit dem Nachtzug von Berlin in Freiburg eintreffen werde. Sonnabend den 9. um die Mittagszeit möchte ich mit Dir nach Zürich fahren. Wir sind dort bei Frau Dr. Carola Escher-Prince, Rütistr.55, eingeladen. Ich nehme an, daß wir so etwa zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags dort sein werden. Am Sonntag dem 10. vormittags um 11 Uhr ist mein Vortrag und an ihn anschließend werden wir im Auto zu einem Lunch in die Umgegend auf eine andere Privatbesitzung fahren. Abends fahre ich dann mit dem Nachtzug nach München und Du nach Freiburg zurück. Da es Dich nur den Sonn-abend und Sonntag kostet, trage ich keine Bedenken, Dich für diese Zeit Deinem Freiburger Milieu, Freunden und Freundinnen zu entreißen.

Die schwierigste Aufgabe bei dieser Reise fällt Dir zu, nämlich meine Zeit in Freiburg so zu disponieren, daß ich nicht nur von Dir etwas habe, sondern auch mit Wolf Kühn, Dr. Baumgarten und Prof. Schacht zusammenkommen kann. Vielleicht gehst zu zunächst zu Dr. Baum-garten, der Dich bereits erwartet und der Dir sicher gut gefallen wird. Vielleicht könnte ich Prof. Schacht am Sonnabend Vormittag besuchen und den Freitag Nachmittag oder Abend bei Dr. Baumgarten sein. Dann würdest Du mich am Zug abholen, Wolf vielleicht zum Mittag-essen zu uns stoßen und dann das Programm so weiterlaufen, wie ich es eben entwickelte. Wie die besten Züge nach Basel-Zürich fahren, wirst Du dort auch leicht feststellen können. Prof. Schacht ist vielleicht jetzt noch nicht da, da er in Marokko war. Aber am 8. oder 9. ist er sicher in Freiburg. Die Adressen der beteiligten Herren sind:

  • Wolfgang Kühn, Zähringerstr. 3,
  • Dr. Baumgarten, Freiburg-Zähringen, Rötebuckweg 37,
  • Prof. Schacht, Stadtstraße 7

Wir haben mit großem Interesse und viel Mitleid von Deinem Dulderweg bis zum Finden einer konvenablen Wohnung Kenntnis genommen, und ich brenne darauf, Dein erstes selb-ständig gewähltes Heim genau zu besichtigen. Wir sehnen uns alle nach der Ankunft der Schreibmaschine, denn es war wirklich nicht leicht, Deine Briefe zu entziffern, wenn ich auch anerkennen muß, daß Du treu und redlich geschrieben hast.

Ich habe ja seit Deinem Abschied hier auch allerlei erlebt. In Davos war es ganz entzückend, und der Besuch bei Ulrich Noack in Zuoz, hoch über dem Ort, hatte einen unleugbaren Charme. Dann begann ich mein Kolleg mit über 40 Leuten im Kalifen-Kolleg und einem Dutzend Arabisten in den Übungen. Das letzte Wochenende war ich in Holland, wo ich in Rotterdam, im Haag und in Amsterdam Vorträge hielt, überall auf das reizendste von den deutschen Vertretern und den holländischen Wirten willkommen geheißen. In Amsterdam wohnte ich bei Rehbocks. Aber auch die Schöffer’schen Kusinen waren in meinen Vorträgen. Ich besuchte das Grab der Tante Emma und mein Geburtshaus. Auf der Rückfahrt machte ich ein paar Stunden in Dortmund Station, um den Schulrat Ernst Müller zu besuchen.

Hier haben wir seit gestern endlich etwas besseres Wetter, und langsam und scheu zeigt sich das erste Grün. Heute erwarten wir Hertha zu Tisch, die ich noch gar nicht gesehen habe, und Dienstag wird uns dann Mutter für einige Zeit verlassen. Ich finde diesen Ausflug sehr vernünftig, da ich gerade während des Monats Mai ja nicht nur in die Schweiz, sondern über Pfingsten auch noch nach England fahre, so daß die Mutter hier doch ziemlich einsam sitzen würde.

Ich fürchte, dieser Brief wird nicht mehr richtig zum Sonntag kommen. Aber er kann ja auch am Montag noch einen sonntäglichen Gruß übermitteln. (CHB)

 

177. C.H.B. an Sohn Hellmut in Freiburg. (Berlin?), 10.6.1931

(Maschinenkopie) (Eilbrief!)

Lieber Hellmut,

Auf der Fahrt nach Genf komme ich Freitag mit dem gleichen Zug durch Freiburg, mit dem wir damals nach Basel gefahren sind. Richte Dich so ein, daß Du mit einem Billet II. Klasse zu mir in den Zug steigst und mich nach Basel begleitest, wo wir ja zusammen zu Mittag essen könnten. Nach meiner Abreise könntest Du dann zurückfahren. Auf diese Weise hätten wir vielleicht 2 ½ Stunden zusammen, was doch sehr nett wäre. Ich könnte Dir dann alles erzählen und auch vor allem Deine englischen Pläne mit Dir besprechen. Ich habe nämlich heute Morgen einen Brief von Rolf bekommen, aus dem ich Dir den entsprechenden Passus abschriftlich beilege. Ich habe ihn auch an Mutter geschickt und bin der Meinung, daß wir es so machen sollten, wie Rolf vorschlägt. Was Dir evtl. auf Rolfs Farm in Gore bevorsteht,

darüber werde ich Dir Näheres mitteilen. Jedenfalls wäre es ganz anders als Dein bisheriges Dasein. Aber Englisch würdest Du fabelhaft lernen, und Ralph ist ein ganz entzückender Kerl. Über all das mündlich. – Hier alles wohl.

Mit herzlichem Gruß (CHB)

Anlage: C.H.B. an seine Frau Hedwig. (Berlin?), 3.6.1931

(Maschinenkopie)

Liebe Hedwig,

eben telefoniert mich der Vertreter des Temps, ein M. Lauret, an im Namen von Mme Keller-son (Foyer de la Nouvelle Europe, nicht zu verwechseln mit der Europe Nouvelle). Diese Dame, wohnhaft 2 Rue de Chézy in Paris–Neuilly, hat zwei Söhne von 16 und 18 Jahren. Sie behauptet, im vorigen Jahre mit uns in Verbindung gestanden zu haben zwecks Aufnahme von Hellmut. Ich kann mich der Sache nicht erinnern. In diesem Jahre hätte sie eine kleine Villa gemietet in der französischen Schweiz, 1400 m hoch, und möchte dort gern Hellmut für 6 Wochen haben unter der Voraussetzung, daß dann einer der Jungen einmal 6 Wochen mit Hellmut in Berlin sein könnte. Ich habe sofort gefragt, ob nicht vielleicht auch ein junges Mädchen in Frage käme und habe dabei an Maria Michaelis7 gedacht. Da ich die Vorge-schichte nicht kenne und auch nicht weiß, wie weit es mit Hellmuts englischen Plänen steht, schicke ich Dir in aller Eile diese Notiz mit der Bitte, jedenfalls der Dame ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Ich würde ja Frida gern den Gefallen tun, etwas für Maria zu erreichen. (CHB)

 

178. Karte von Hellmut Becker an seinen Vater. Heidelberg, 6.7.1931

Lieber Vater!

Heute Morgen langes Ausschlafen, vormittags solo Schloßbesichtigung, mittags mit Georg Kruse, einem Salemer, anschließend herrliches feines Baden im Neckar. Nachmittags Kolleg von Jaspers, spätnachmittags Spaziergang mit Bergsträsser. Heute abend wahrscheinlich Philosophenweg. Morgen will ich, wenn’s schön ist, nach Neckarsteinach mit der Bahn, zurück mit Motorboot. Morgens noch Kolleg von Radbruch8, abends eines mit Gundolf. Dann nach Hause.

Herzlichst Hellmut

 

179. C.H.B. an Sohn Hellmut. Berlin, 15.7.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

herzlichen Dank für Deine verschiedenen Karten aus Heidelberg. Ich freue mich sehr, daß Du es dort so schön gehabt hast.

Ich fahre Freitag Morgen wieder durch Freiburg und zwar um 10.07 Uhr. Es wäre nett, wenn Du mich wieder bis Basel begleiten könntest, da es wohl das letzte Mal vor China ist, daß wir uns sehen können. Einstweilen habe ich wenigstens noch die Hoffnung, daß die gegenwärtige Verwirrung nicht zu einer Zurückstellung Deiner wie meiner Auslandspläne führen wird.

Falls Du aus irgend einem Grunde nicht mitfahren kannst, komm jedenfalls an die Bahn, damit wir uns noch einmal sehen.

Hier alles wohl. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

180. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 25.7.1931

(Maschinenkopie) (Einschreiben!)

Lieber Hellmut,

Du wirst Dich gewundert haben, daß Du noch kein Geld erhieltest. Aber erst wollte es Mutter besorgen, und dann hat sie mich doch wieder darum gebeten. Ich schicke Dir deshalb einlie-gend 150 RM. Wenn das nicht genügt, schreibe mir sofort, damit ich Dir noch etwas schicke. Es ist nur im Augenblick nicht anhängig, Geld über den Bedarf hinaus abzuheben. Walter war ganz außerstande, sich stundenlang für Dich an die Sparkasse anzustellen, um schließlich 20 RM herauszubekommen. Es wird eben noch einige Zeit dauern, bis hier wieder alles in Ord-nung kommt. Da man aber auf der Bank über sein Gehalt disponieren kann, ist vorläufig alles gut, solange man wenigstens sein Gehalt bekommt.

Gestern waren wir alle sehr glücklich über Walters schönes Examen. Er hat mit sehr gut, also magna cum laude abgeschnitten, was bei einem Juristen schon eine ungewöhnliche Note ist. Seine Mitkandidaten kamen auch durch, und das Examen selbst war sehr angenehm. Der un-angenehmste Prüfer ist erkrankt und durch einen ihm genehmeren ersetzt gewesen. „Meine Generäle müssen Fortune haben!“

Hier ist göttliches Wetter. Ich diktiere das morgens auf der Veranda. Eben hat Hertha aus Werder9 telefoniert. Heute nachmittag wird sie hier sein. Morgen geht sie zu Sarres. Ich war gestern ganz allein, da der angesagte Frommel seine Ankunft auf heute verschob. Zum Rind-fleisch in der Suppe kommen heute außer Frommel noch Farkas, der auch Strohwitwer ist, und mein Schüler Hellige, der jetzt endlich die Bibliothek in Angriff nimmt und während meiner Abwesenheit Ordnung schaffen soll. Zum Abendessen erwarte ich Harro zum Ab-schied und Billie für Frommel. Alle Leute hängen jetzt fest mit ihren Auslandsreisen. Es ist zum Verzweifeln, und ich hoffe, daß die Notverordnung bald aufgehoben wird. Walter ist von Halle direkt nach Dresden zu Oskar gefahren, will aber Sonntag Abend wieder hier sein.

Am Morgen nach unserer Trennung habe ich hier einen englischen Vortrag gehalten, den nächsten Tag ein Doktorexamen gehabt, 6 Stunden Kolleg gelesen und eine sehr gut Rede von Grimme10 zur Verfassungsfeier des Studentenverbandes im Reichswirtschaftsrat gehört. Er hat es doch recht gut gelernt, und man hört ihm gern zu.

Mutter rief gestern an. Ich bin neugierig, ob Ihr nun zusammen zurückreist, oder ob sie doch noch einige Tage in Augsburg bleibt. Ich nehme jedenfalls an, daß Du Dich rechtzeitig ansagst. Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater)

 

181. Hellmut Becker an seinen Vater. Hemmenhofen, 11.8.(1931?)

Lieber Vater!

Vielen Dank für Deine beiden freundlichen Karten. Es freute mich sehr durch sie zu hören und auch durch Mutter, daß es Dir wieder besser geht. Hoffentlich wird es Dir bald wieder ganz gut gehen. Vielleicht wirst Du ja auch noch mal zu uns runterkommen. Du scheinst es ja in Dresden sehr schön zu haben; denn wenn Du auch keine großen Ausflüge wirst machen dürfen, so gibt es in Dresden doch viel anzuschauen. Hast Du schon die Sixtinische Madonna gesehen? Deine Autofahrt in die Sächsische (Schweiz) muß wundervoll gewesen sein.

Gestern war ich in Friedrichshafen; deshalb mußte ich Deinen Brief unterbrechen. Es hat gestern in Strömen gegossen, aber es war trotzdem sehr nett. Großmutter ist seit vorgestern in Friedrichshafen; es gefällt ihr dort sehr gut.

Du wirst jetzt also noch eine Woche in Dresden bleiben. Das ist ja sehr schade.—

Als ich neulich mal in Friedrichshafen war, war ich im Zeppelin-Museum. Es war sehr schön und sehr interessant.

Meiner Gesundheit geht es ausgezeichnet. Ich hoffe sehr, daß Du auch bald wieder ganz gesund sein wirst.

Dein treuer Sohn Hellmut.

 

182. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 21.8.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

die zwei gewünschten Adressen sind.

  • Dr.jur. Ernst Deissmann, The Anglo-German Academic Bureau, 58 Gordon Square, London W.C.1.

  • George Trevelyan, 14 Ct. College Street, Westminster, London SW 1.

Uns geht es weiter gut. Allerlei wichtige Beschlüsse für den Winter sind gefaßt; doch will ich ihre Publikation der zuständigen Stelle überlassen. Jedenfalls löst sich alles sehr erfreulich bis incl. Quick. Ich lasse Dich mit Absicht etwas zappeln, weil Du uns auch so schrecklich hast zappeln lassen, und auch auf Deiner erst heute eingetroffenen Karte nur von Deiner heroischen Haltung der Größe des Meeres gegenüber Kenntnis gegeben hast.

Zar und Zimmermann war eine mäßige Aufführung, fand aber ein begeistertes Publikum. Es spielte auf Capri statt in Zandam.

Sonnabend Morgen kommt Walter von seiner offenbar trotz schlechten Wetters sehr geglück-ten Reise zurück. Am Abend trifft dann Irmgard11 ein.

Herzliche Grüße (DeinVater)

 

183. Hellmut Becker an seinen Vater. (Hemmenhofen, Bodensee?), 27.12.1931

Lieber Vater!

Mit der letzten Flugpost habe ich leider nicht schreiben können, da ich viel zu spät in Inns-bruck ankam und keine Zeit mehr dazu fand. Hoffentlich erhältst Du vor Deiner Abreise nach China noch meinen ausführlichen Bericht, denn der Weihnachtsgruß nach (unleserlich) ist ja ziemlich kurz ausgefallen.

Für Dein fabelhaft großzügiges Weihnachtsgeschenk vielen Dank. Du kannst Dir denken, daß ich Geld stets glänzend brauchen kann. Wir haben uns, da wir ja zu Weihnachten stark (?) auseinander sind, das Geld geholt. Ich werde meinen Teil wahrscheinlich in erster Linie für Bücher verwenden, eventuell mit einem Teil als höchst erfreulichen Beitrag zu den Freiburger wochenendlichen Skiunternehmungen. Ich danke Dir auf jeden Fall vielmals und fand es fabelhaft, daß Du aus weiter Ferne12 uns zu Weihnachten so rührend bedacht hast.

Ich las mit größtem Interesse die weiteren Berichte, vor allem auch den letzten über den Inhalt eines Berichtes; es war sehr nötig und interessant, daß Du mal etwas darüber schriebst.- So interessant Deine Briefe aber auch sind, so bin ich doch schon jetzt sehr gespannt, was Du mündlich alles erzählen wirst und was eben schriftlich einfach nicht wiederzugeben ist. Fragen schriftlich zu stellen, würde wenig Zweck haben, da Du, bis Du den Brief erhältst, schon wieder weiter in Deinem Studium des so fernen China sein wirst, daß Deine Konzentrationskraft davon voll in Anspruch genommen wird. Also das alles (wollen) wir bis zur mündlichen Unterhaltung aufschieben.

In Freiburg hatte ich auch für eine sehr nette Gesellschaft Zeit. Du hast ja über meinen Frei-burger Kreis in meinem letzten Brief nach China schon einiges gehört. Gesellschaftlich hinzuzufügen wäre vielleicht zumal (?) einige nette Abende bei Lanzmanns, einem Verleger, der eines der schönsten Häuser auf dem Lorettoberg besitzt und in dessen Verlag u.a. Bücher von Kayserling und Klages erschienen sind, sowie einige Abende bei Pringsheims. Unter meinen jungen Bekanntschaften ist die netteste wohl Gerry Picht (?), mit dem ich ziemlich viel zusammen war; ich war auch ziemlich oft bei Pichts draußen. Herr Dr. Baumgarten läßt Dich vielmals grüßen; ich schreibe nächstens mehr über ihn.

Hier ist es ganz entzückend. Mutter und ich verlebten einen reizenden Weihnachtsabend, der gar nicht geschmacklos, sondern stilvoll veranstaltet war. Beide erholen wir uns hier glänzend, Mutter schläft sehr viel, ich laufe ziemlich viel Ski.- Die Ilmau (?) als ganzes gefällt mir glänzend. Weder Burgen noch Vorträge erschüttern mich sonderlich; das Haus, die Menschen, die Form zu leben und vor allem die Umgegend finde ich restlos befriedigend. Mutter tut die Sache sehr gut und sie erholt sich sichtlich. Sie hat aber die Kunst des Ausspannens jetzt auch ganz nötig. Das Nette hier eben ist, daß alles so viel Stil hat und im Grunde so positiv und einheitlich in sich ist.

Mutter fährt am 2.1.(1932) nach Augsburg, am 9.1. nach Freiburg.

Dir alles Gute! Hoffentlich erhalten wir jetzt noch weitere Adressen.

Herzlichst Dein Hellmut.

P.S. Walter und ich schenkten Mutter den neuen Albert Schweizer zu Weihnachten. Ich kann meinen glücklicherweise noch umtauschen.- Entschuldige meine Schrift, sie ist noch furcht-barer als sonst, da ich auf Mutters Briefpapier schreiben muß, da mein eigenes zu schwer ist und der Brief sonst 1 Mark mehr kosten würde.

 

184. C.H.B an Hellmut in Freiburg-Ebnet bei Dr. Baumgarten. (Berlin?), 21.11.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Hellmut,

Mutter meint, daß Dich die beiden Anlagen interessieren werden, weshalb ich sie mit der Bitte um Rücksendung zuschicke. Was die neueste politische Entwicklung betrifft, so glaube ich nicht, daß die Hitler-Herrschaft zu Stande kommt13. Es sieht mir so aus, als ob man ihm die letzte Chance nehmen, nicht als ob man sie ihm geben wollte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er als Reichskanzler die nötige Majorität aufbrächte, und ein Präsidial-Kabinett braucht einen parteipolitisch unabhängigeren Mann.

Sonst im Augenblick nicht viel zu berichten. Gestern war Herr Picht bei uns zum Mittag-essen, dem ich nachher den Aufsatz für die New York Times vorlas, dem er Wort für Wort zustimmte. Die englische Übersetzung habe ich mit Rolf vorbereitet, wir sind aber leider nicht fertig geworden. Daß bei Devrient-Michaelis Zwillinge14 angekommen sind, wirst Du wohl gehört haben.

Ich diktiere diesen Brief in aller Eile. Die Mutter wartet schon mit dem Auto, wir kombinieren Zahnarzt und Kolleg; deshalb unterschreibe ich dieses auch nicht persönlich. Den Amerika-Aufsatz könntest Du auch einmal Baumgarten lesen lassen; ich bin sehr neugierig, was er dagegen sagen wird. Ich freue mich sehr, daß Du Dich dort im Hause wohl fühlst. Während ich dies schreibe, schaue ich zu meinem Fenster hinaus und freue mich meiner Aussicht und denke daran, wieviel schöner Du es noch hast. Möge es immer so sein!

In Liebe von Herzen Dein Vater

 

185. C.H.B. an Sohn Hellmut. (Berlin?), 8.12.1932

(Maschinenkopie)

Mein lieber Hellmut!

Dein improvisierter und doch wohl durchdachter Brief hat mich sehr gefreut und beschäftigt. Es fehlt ihm ja nicht das nötige Selbstbewußtsein – auch in diesem Punkte hast Du mehr von Deinem Onkel Alex als von Deinem Vater geerbt – aber schließlich gibt es ja ein nicht ganz unrichtiges Wort „nur die Lumpen sind bescheiden“. Immerhin würde ich mich sehr freuen, wenn Deine Begabung etwas mehr in den Dienst der Allgemeinheit gestellt würde, als das bei Onkel Alex der Fall war., dem aber dieser Wille zum Politischen abging. Meine eigene Stel-lung zur Politik hast Du ganz richtig charakterisiert, mir kommt es mehr auf persönliche Lebensgestaltung und auf Dienst am Menschen an, als gerade auf breite politische Wirkung, obwohl ich zu dieser auch fähig bin und, so lange ich im Amt war, auch mit letztem Einsatz mich gewidmet habe. Zur Zeit aber befriedigt mich vollkommen die Wirkung im engeren Rahmen, und man ersetzt durch Intensität, was einem an Expansion versagt ist. Ich bin zwar nicht mehr der stille Gelehrte, als den ich mich in Deinem Alter als Zukunftsbild gesehen habe, aber ich glaube, jetzt das Arbeitsfeld gefunden zu haben, auf dem ich die Synthese zwischen meinen zwei Lebensberufen und Ausbildungen vollziehen kann.15

Doch nun zu Deinen Plänen. Sie sind gut durchdacht, nur rechnen sie mit zwei Unbekannten. Die erste Unbekannte ist das Assessorexamen. Ich habe selbst einmal als Minister verfügt, daß die juristischen Fakultäten grundsätzlich niemanden ohne Assessor-Examen zulassen sollten, da sonst bei Nicht-Erfolg der arme Kandidat nur noch Gerichtsschreiber werden könnte. Ausnahmefälle gibt es allerdings beim Staatsrecht, aber auch hier wird es ungern gesehen, wie ich neulich bei Bruns feststellte, der allerdings meinte, eine freie Arbeit auf seinem Institut wäre nach dem Referendar für einen künftigen Gelehrten eine mindestens ebenso gute Aus-bildung wie eine Assessorzeit. Immerhin wird alles davon abhängen, ob die Fakultät, bei der Du Dich habilitieren willst, sich auf das Risiko eines assessorlosen Privatdozenten einläßt.

Die zweite noch größere Unbekannte ist eine Berufung in jungen Jahren. Im Augenblick war die Chance nicht schlecht, aber wenn jetzt alles mit jungen Leuten besetzt wird, ist es natür-lich schwierig, in den Jahren, während deren Du auf eine Berufung rechnest. Gegen den gan-zen Plan bleibt eines zu sagen, das ist die ausschließlich theoretische Ausbildung für den künftigen Politiker. Die Reibung oder, um mich technisch auszudrücken, die Funktion des politischen Lebens kann man niemals aus Büchern lernen, und es geht mit der Erfahrung der Praxis wie mit der Erfahrung des Liebeslebens: man kann alles wissen und hat es doch nicht erlebt.16 Darin habe ich immer den großen Vorteil der Referendarausbildung gesehen, daß man in den Jahren bis zum Assessor doch mit den verschiedenartigsten praktischen Lebens-verhältnissen in unmittelbare Berührung gelangt. Ich habe ja selbst einen rein theoretischen Ausbildungsgang durchlaufen, habe allerdings durch meine großen Reisen frühzeitig eine gewisse Weltläufigkeit bekommen, die durch internationale Erfahrungen ersetzte, was mir an heimischer Schulung fehlte. Immerhin war es doch auch für mich eine neue und fremde Welt, als ich in Hamburg zum ersten Mal mit dem politischen Leben in Fühlung kam und als Senatskommissar vor dem Parlament auftrat. Was die Reibungen des praktischen Lebens aber wirklich bedeuten, habe ich eigentlich erst in meiner ministeriellen Praxis gelernt.

Diese Ausführungen sollen nicht gegen Deinen Plan sprechen, aber sie sollen Dich klären helfen. Jedenfalls freue ich mich über den bewußten Einsatz Deiner Energie auf das akade-mische Studium, der sich in diesen Plänen dokumentiert, denn ich zweifle nicht, daß Du Dir darüber klar bist, daß selbst bei einem gescheiten Menschen die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben; namentlich im akademischen Leben, wo selbst ein so gescheiter und feingeistiger Mensch wie Sment Ruf und Ansehen weniger seiner Geistreichheit und seiner Integration als seinem dicken Buch über den Reichsdeputationshaupt(be)schluß verdankt. Immerhin kommt es auf juristischem Gebiet, und das mag Dich trösten, vielleicht stärker als auf irgendeinem anderen Gebiet der Geisteswissenschaften auf Qualitätsleistung im rein Gedanklichen an. Man kann also mit einer gewissen Dosis von Faulheit bei der nötigen Aufwendung von Grips nicht nur etwas leisten, sondern auch anerkannt werden. Unter allen Umständen aber werden diese Zukunftspläne bei Dir zu einem Einsatz von Arbeitskraft füh-ren, der einem für alle Fälle wichtigen günstigen Ausgang der ersten Examina nur förderlich sein kann.

Am meisten hat mich aber an dem Brief gefreut, daß Du ein engeres Verhältnis zu einer Arbeit im Rahmen Deiner Zukunftswünsche gefunden hast. Für den Mann ist ein solcher Halt in sich selber die beste Garantie für ein sinnerfülltes Leben. Man hat sein Fatum in sich, aber seine Fortuna kann man machen.17

Sag doch Herrn Baumgarten, wie herzlich ich mich über seinen guten Erfolg in Göttingen gefreut habe. Neulich telefonierte mich Windelband an, um mir aus einem Brief von Prof. Hecht die volle Anerkennung für Person und Leistung Baumgartens vorzulesen. Die Fakultät würde sich demnächst äußern. Hoffentlich geschieht das bald. Auch Hertha schrieb sehr begeistert, besonders über die Formvollendetheit des Vortrags. Im übrigen bin ich sehr neugierig, was B(aumgarten) zu meinem Amerika-Aufsatz gesagt hat, den ich mir übrigens gelegentlich ebenso zurück erbitte, wie den Durchschlag meines Briefes an Onkel Ernst. Die Redaktion der New York Times war von dem Artikel sehr begeistert; die Frankfurter Zeitung bemüht sich zur Zeit um ein gleichzeitiges Erscheinen des deutschen Originals.

Du wirst gehört haben, daß das Brautpaar nicht nach Amerika fährt und Frau Schroeder erst nach Weihnachten allein kommt. So werden wir alle hier gemeinsam Weihnachten feiern. Daß der teure Max geflogen ist, hat Mutter Dir ja wohl auch berichtet. Da wir alle, incl. Helene, auf diesen fixen und außerordentlich charmanten Kerl hineingefallen waren, wagten wir nicht zu gestehen, daß uns der sich meldende Ersatz auch wieder sehr gut gefiel. Er erin-nert physisch an Deinen Tutor Beck, ist weniger charmant, aber dafür solider als sein Vor-gänger, stammt aus Pommern, hat keine Dienerschule, aber ist in erster Linie Diener, und zwar meist in Saisonstellen an der See. Wir haben ihn einen ganzen Tag allein mitarbeiten und fahren lassen, ehe wir ihn engagierten. Morgen soll er antreten. Quod deus bene vertat.

Von mir selbst kann ich nur Gutes berichten. Zur Zeit sind Frommel und Bertaux hier, die ich neulich als zwei Kampfhähne aufeinander losgelassen habe, was höchst amüsant war. Bertaux war entsetzt über Frommels irrationalen Nationalismus und Frommel über Bertaux’ kühlen Nationalismus. In einer dramatischen Aussprache bei Lutter&Wegener zwischen drei Franzo-sen und drei Deutschen haben wir uns schließlich auf die Formel geeinigt, daß der französi-sche Nationalismus eine der Irrationalismen der französischen Mentalität sei. Ich selbst habe vorgestern in der Deutschen Gesellschaft über Bali gesprochen. Der Vortrag war gut besucht und ein echter Balinese anwesend. Gestern Abend war ich mit Mutter bei Dietrichs, wo jeder zweite Mann ein Minister war: außer dem Gastgeber und mir Brüning, Stegerwald, (unleserli-cher Zusatz), Koch-Weser, Graf Schwerin usw. Mutter saß zwischen Rumbold und einem schönen jungen Philosophen, ich zwischen Frau Koch-Weser und Breitscheid. Mutter fuhr glänzend durch Verkehr, Wind, Wetter und Finsternis.

Auf frohes Wiedersehen Weihnachten! Grüße Baumgarten. (CHB)


Tod Carl Heinrich Beckers am 10. Februar 1933


(Beileidsschreiben ab 12.2.)

 

186. Beileidskarte von Trude Becker an Hellmut Becker. O.O. 13.2.1933

Lieber Hellmut!

Ich liege hier mit einer Grippe im Bett und möchte Dir so gern etwas Liebes sagen, bringe es aber nicht fertig. Der Verlust Deines Vaters hat uns so plötzlich und unerwartet getroffen, daß man sich immer noch keine rechte Vorstellung davon machen kann. Ich denke viel an Dich, Deine liebe Mutter und Geschwister.

Viele Grüße Deine Trude

 

187. Beileidsbrief des Volkskonservativen Asuen(?) an Hellmut Becker. O.O., 12.2.1933

(Auszug)

Lieber Hellmut!

(…)

Beim Tode Deines Vaters mischt sich das Mittrauern mit Euch Angehörigen mit der eigenen Trauer um den Verlust, den das öffentliche Leben – um nicht pathetischer zu sagen -, den Deutschland erlitten hat.

(…) Mein Wunschtraum, ihn einmal an der Spitze eines Reichskultusministeriums, als Führer des Kulturlebens der ganzen Nation zu sehen, ist nun unerfüllt geblieben.


1 Der Berliner Funkturm hat den 2. Weltkrieg überdauert und ist heute noch ein Wahrzeichen der Stadt.

2 Otto von Habsburg

3 Hervorhebungen vom Herausgeber. In Ungarn herrschte Nikolaus von Horthy als Reichsverweser 1920-1944

4 In Italien herrschte der „Duce“ Benito Mussolini 1922 bis zu seinem Tode 1945, beides sog. Monarchien mit autokratisch-faschistischen Regimen.

5 Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, heute Max-Planck-Gesellschaft für Forschung und Wissenschaft

6 Hervorhebung vom Herausgeber.

7 Es handelt sich um Mia Michaelis, Tochter von Frida und Otto Michaelis, die später Theologie studierte, den Göttinger Theologieprofessor Trillhaas heiratete und 5 Kinder mit ihm hatte. Mein Bruder Uwe studierte während der Berliner Blockade 1 Semester dort 1948 und wohnte in einer noch freien Besenkammer – Wohnraum war eben knapp.

8 Das war sozusagen die Crême de la crême von Heidelberg für einen jungen Juristen: Karl Jaspers (Philosoph), Bergsträsser (Jurist und Politologe, den ich noch nach dem Kriege in Freiburg erlebte), und Gustav Radbruch, vor allem als Vater der Weimarer Verfassung bekannt.

9 Werder ist der Obstgarten von Berlin und sehr schön im Westen Berlins gelegen (für die Nicht-Berliner)

10Adolf Grimme, Pädagoge und SPD-Politiker, war als Minister Nachfolger Beckers im Preußischen Kultusministerium 1930-33

11 Irmgard war die Frau von Walther Becker und Mutter von Zwillingsmädchen

12 Chinareise Beckers. Evtl. war Becker aber schon (Dezember 1931) auf dem Weg nach Java

13 Hervorhebung vom Herausgeber.

14 Es handelt sich um Emma und Walther Devrient, mit den Zwillingen Ursula und Hanna *17.11.32; später kam noch ein Sohn Joachim; Emma ist die Tochter von Frida und Otto Michaelis, Schwester von Otfried und Mia…

15 Hervorhebung des Herausgebers.

16 Hervorhebung des Herausgebers.

17 Hervorhebung vom Herausgeber.

Harro Siegel, II.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1922

146. Harro Siegel an C.H.B. (Berlin?) 18.5.1922

Lieber Carl!

Das scheint nun freilich eine recht unruhige Zeit für Dich gewesen zu sein (schönen Dank für Deine Karte); als Schauobjekt denke ich mir das ungeheuer anziehend; ich möchte Dir aber wünschen, daß Du rein äußerlich immer die nötige Distanz hattest. Innerlich – das brauche ich Dir ja nicht zu wünschen. Du wirst schon die rechte Klappe zugemacht haben. Hoffentlich lerne ich das auch noch mal. Pompöse Festlichkeiten pflegen mich zu langweilen oder zu dégoûtieren. Freilich, – in Italien wird alles anders sein. Sicherlich verstehen die Leute dort so was besser.

Vielleicht ist es Dir nun nicht ganz unwillkommen, nach diesem Wirbel in Deiner stilleren Zeit in Venedig nochmals einen Brief von mir zu bekommen. Welch angenehmer Zeitvertreib für mich, während meiner stupiden Tagesarbeit mir diese Deine Reise einzuinhalieren.

Du hast sicherlich am letzten Sonntag mal darüber nachgedacht, was W(endé?). und was ich zur selben Stunde wohl unternehmen möchten. Ob Du aber auf das geraten hast, was Dir unsere Karte verriet? – Dieser Spaziergang war wirklich wundervoll. Weißt Du, -in der Erfüllung von Realitäten haben W. und ich uns dank gleicher schwerflüssiger Anlage wenig zu sagen gewußt. Aber dies unter allem mitschwingende Gefühl unbedingten gegenseitigen Verstehens und Vertrauens ist mir so wohltuend. Ich bezweifle übrigens nicht, daß es ihm ebenso geht. Ich weiß nicht, ob Schicksalsgemeinschaft nun immer (weggelocht: so?) mehr pflichtmäßige Bindung mit sich bringen muß, – aber ich glaube hier von beiden nur zu spüren. Auch um dieses Menschen willen tut es mir weh, jetzt hier fortzugehn. Trotzdem glaube ich, daß auch unserem stillschweigenden Verhältnis Jahre der Trennung im Grunde nichts anhaben können.

Ich vergleiche Dein Urteil über Frau W. mit der Realität, verstehe es, mache es aber nicht mit, sondern finde, daß Du ein wenig ungerecht bist.

Mit den Kindern bin ich sehr gut Freund, besonders mit dem Bübchen. Der immer von neuem aufflammende hitzige Strauß um die Plätze an meiner Seite hat mich fröhlich ergötzt. Diese meinen Kindern zugewandte Komponente scheint mir wichtig.

Oberleutnant Hasse (?), der mich frühmorgens vom Lager (weggelocht: juchzte?) ist wirklich ein durch und durch anständiger Kerl, aber ich weiß nicht, ob noch viel mehr. Er scheint mir nicht problemlos, aber auf alle Fälle unproblematisch. (Aber er stand ja auch glänzend mit seinem Vater.)

Das Wetter ist wundervoll, infolgedessen die Stubenhockerei kam noch zu ertragen.

Nun, Schluß! Es ist spät. Viel Geist habe ich nicht mehr zu verschwitzen. Nimm aber zur Kenntnis, daß ich eben meiner Mutter (die ich doch wirklich von Herzen liebe) zum Geburtstag nur drei weitgeschriebene Seiten schrieb, – und nun dieses!

Ich bin Dein Harro.

 

147. C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18./19.5.1922

Ganz persönlich

Mein liebster Harro!

Das war ein guter Brief, den Du mir da geschrieben hast. Aus der ganzen Schwere Deines Herzens heraus konzipiert trug er den Stempel eines ernsten Ringens, Unaussprechliches in verständliche Worte zu kleiden. Ich glaube Dich verstanden zu haben. Auch den ersten stammelnden Versuch, Dich auszudrücken, hatte ich richtig erfaßt. Ebenso eine zweite Äußerung einmal in meinem Vorzimmer und jetzt dieser Brief. Ich weiß, daß ich Dich nicht ganz habe, aber nicht, weil Du Dich nicht hast, sondern wohl aus anderen Gründen. Ich kann so etwas nicht schreiben. Letzte Dinge kann man nicht durch Niederschreiben objektivieren. Man kann sie wohl aussprechen. Aber dadurch geht ein letzter Hauch verloren, aber es bleibt dafür eine starke Gewißheit. Die Gewißheit der Niederschrift ist so brutal, weil sie übertragbar wird. Der Brief kann in andere Hände fallen und so etwas darf und soll nur zwischen Dir und mir sein. Ich bin nur frei im Gefühl und im Erleben. Schon das Wort wird zur Hemmung, die Schrift zur Schranke. Denke an den schönen arab(ischen) Vers, den Ritter Dir schrieb und den ich Dir übersetzte. Wir müssen noch einmal eine stille Stunde miteinander haben, wo wir beide bereit und offen sind über uns zu reden. Hier wäre ich’s . Wie oft sehe ich Dich hier an meiner Seite stehen. Was ich in diesen letzten Tagen an schönen und eigenartigen Eindrücken aufgenommen habe, ist einfach unerhört.

In Padua1

Erst das Erlebnis der Piazza. Der Student beherrscht die Stadt, die Straße. Dabei ein Frohsinn, eine Leichtigkeit und bei aller Tollheit eine Disziplin und letzte Liebenswürdigkeit, die mit allem versöhnt. Dabei spielt der Alkohol keine Rolle.

Dann die gewaltige internationale Demonstration im Salon2e. Man erlebt eine Nation und

eine res publica gentium. Die Masse tost und die Masse schweigt, in Stille und Ehrfurcht. König, Kardinal, Militär, 100te und Aberhunderte von Akademikern in schillernder Farbenpracht. Eviva il Ré.

Ein alter köstlicher Palast größten Styls. Der noch heute reiche Graf gibt ein Abendfest. In den prächtigen alten Räumen eine riesige Gesellschaft, alle Paduaner in Tracht des (Sette) Cento. Köstlicher Garten mit herrlichen alten Zedern und Platanen. Diskrete grüne Beleuchtung und kunstvolle Ornamentik mit roten Öllampen entsprechend der Architektur der Galerien und Balkone und Pavillons. Ich liebe die italien(ischen) Nächte im allgem(einen) nicht. Aber das war ein Traum, den man nicht vergißt.

Herrlicher alter Park, Styl Schwetzingen oder Belvedere. Alte Kastanien, entzückende Durchblicke. 430 Personen werden an langen Tischen gespeist und dann wandelt man in diesen Alleen. Mittags zwischen 1 und 3 (Uhr) sonnig und doch kühl. Köstliche Weine. Lauschige Gänge und Lauben, blühende Rosen und Glyzinien. Fresken von Tiepolo.3

In Venedig

Canal della Linderra(?), das Boot kommt in die Lagune. Man biegt um die Ecke. Rechts die graziöse Santa Marie Maggiore, links der Marcusplatz und der Palazzo Ducale4 weiß und glänzend, fast rosarot in der Sonne, das Wasser und der Himmel blau – alles ganz unwahrscheinlich und doch wahr.

Marcusplatz, Abends, Dunkelheit, eine angenehme Menschenmenge wogt hin und her, eine Musikkapelle spielt, wie nun Italiener spielen, eine Kette von Studenten mit bunten bengalischen Fackeln stürzt in die Menge, sie umkreisend, das Licht reflektiert auf dem von einem kurzen Gewitterregen feuchten Boden, erhellt die umstehenden Gebäude, aus rosaroten

Wolkennebeln dämmert der Marcusdom hervor.

Im Restaurant, man sucht seine alten Lieblingsspeisen heraus, eine Zuppa, von der man satt wird, oder Risotto oder Spaghetti, Artischocken, gebratene Fische oder gebackenes Allerlei, Käse, getrocknete Südfrüchte, dazu Rotwein und nochmals Rotwein, Cafè nero. Am selben Tisch sitzen Italiener. Ob man will oder nicht, in fünf Minuten ist man mitten in der Politik. Alle Italiener versichern, daß sie ja eigentlich nur mit Österr(eich)5 Krieg geführt hätten und daß sie uns nach wie vor lieben. Das ist keine Phrase. Ehe man sich’s versieht hat man eine Zigarette geschenkt bekommen und man bedauert nur, daß man das Italienisch so barbarisiert.

Draußen am Lido liege ich in den Dünen. Das Meer bricht sich in langen weißen Wellen. Blau wie der Himmel. Ziemlich Einsam. Majestätisch zieht am Horizont die italien(ische) Flotte.

Überall, mein lieber, lieber Harro, habe ich Deiner gedacht und Dich an meine Seite gewünscht. Ich hoffe und weiß, daß auch Du mit mir lebst. Nimm heute mit diesen kurzen Andeutungen vorlieb. Sie sind der Nacht abgerungen. Ich bleibe wohl bis Montag hier und bin wahrscheinlich schon Dienstag Abend in Augsburg, Maximilianstraße 26, bei Geheimrat von Schmid. Vielleicht gehe ich dann noch zu Wende in den Taunus. Eure gemeinsame Karte freute mich sehr.

Ich erhole mich sehr und kann sogar allein sein. Schöner wär’s mit einem Menschen, den man lieb hat, aber sehr lieb. Je lieber man ihn hat, desto schöner wär’s.

Von Herzen Dein Carl.

 

148. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 20.5.1922

Lieber Harro!

Es ist noch immer so schön hier und wir genießen (das) freundliche Wetter herrlich. Heute Murano, die Glasbläserinsel und Mittags San Lazzaro, das armen(ische) Mechitaristen (?) Kloster besucht. Aus Versehen stiegen wir auf einer falschen Insel, dem Irrenhaus, aus und mußten dort 1 Stunde sitzen. Herzl(ichen) Gruß Dein Carl.

PS. Von anderer Hand:

Herr Professor sagte mir eben, daß Sie Verständnis hätten für unser eigentümliches Zusammensein. Am Ende würden Sie gar eifersüchtig sein, wie lieb der Herr Professor mit mir ist.

Recht herzliche Grüße Hans Gladinas (unleserlich).

 

149. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 21.5.1922

Mein lieber Harro!

Hans Gladinas (?) (mitgesendete?) Bemerkung auf der gestrigen Karte habe ich passieren lassen in der Überzeugung, daß Du keinen Mißbrauch damit treibst. Es war ein netter schlichter Jung, der sich mir in rührender Weise anschloß. Obwohl Student in Padua, war er noch nie hier gewesen. So lud ich ihn ein, mit mir zu gehen. Wir waren drei Tage zusammen. Er war gerade das was ich brauchte. Still und behaglich, alles genießend, gesprächig wenn mir’s um Unterhaltung zu tun war – stets eine angenehme Gesellschaft. Jesuitenschüler und auch in

Padua noch in einer Art freiem Pensionat. Es war zu nett zu sehen, wie es ihm immer mehr gefiel und als er eben abfuhr, war ihm ordentlich schwer ums Herz. Du weißt wie ungern ich so etwas unerhört Schönes wie Venedig allein genieße. So hatte ich doppelte Freude davon. Er war gerade in seiner Harmlosigkeit so unendlich ausruhend. Ja, mein Lieber, wenn Du es gewesen wärst! Ich mußte oft daran denken. Das wäre eben ein Märchen gewesen.. Ja, mein Armer. So was im Intimen (wegelocht 2Mal). Bitte dies nicht so liegen lassen.

Dienstag beginnt Rückreise über Gardasee. Von Herzen Dein Carl.

 

150. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 23.5.1922

Lieber Carl!

Ich möchte Dir nur ganz rasch von Herzen für Deinen Brief aus Venedig danken, denn ich weiß nicht, ob ich in den nächsten Tagen dazu komme. Er hat mich ungemein erfreut, aber in der Freude verstärkte er auch wieder die Unbefriedigung über Dein Fernsein, und die Begierde, Dich bald selbst wieder zu sehn. Da dies bald der Fall sein wird,, gehe ich nicht weiter darauf ein. Du hast ja Fabelhaftes erlebt und ich bewundere die Kraft Deiner Schilderung.

Wende ist gestern abgereist; besuch ihn doch ja im Taunus und grüß ihn sehr von Herzen von mir. Ich war Sonntag noch mal draußen; es war sehr nett. Für Ende der Woche plane ich zur Zeit noch eine Spritztour nach Hamburg, weiß aber noch nicht, ob ich kann. Im übrigen ist es hier seit Tagen übermäßig heiß, so daß der von der Tagesarbeit schon immer höchst mitgenommene Geist aufs Äußerste reduziert scheint. Deshalb Schluß.

Ich gehöre Dir, soweit ich kann! Dein Harro

P.S. Den Aufsatz von Troeltsch 6(Auf der .<unleserlich> der Wissenschaft) finde ich famos.

 

151. C.H.B. an Harro Siegel, Goslar(?). (Berlin)Steglitz, 1.6.1922

Mein lieber Harro!

Eben kam Deine Karte aus Michendorf (?). Ich freute mich gestern und heute des guten Willens im Gedenken an Dich. Auch in mir klang unser letztes Beisammensein noch lange nach, wenn ich auch ziemlich jäh durch einen Professor herausgerissen wurde, der sein Gehalt erhöht haben wollte und mir eine halbe Stunde etwas vorjammerte. Abends hatte ich dann eine

Aussprache mit Landé, der Dein Buch bis heute noch nicht ausgewickelt hat und es am liebsten so zurückschicken möchte, ohne zu wissen, was es ist. Seit gestern trägt er auch Deinen Brief uneröffnet in seiner Tasche. Er will sich die Illusion nicht nehmen lassen, daß etwas Nettes drinstünde. Hätte er ihn gelesen, dann wäre es mit der Illusion zu Ende. Dabei habe ich ihm bei der Aussprache, als er wieder so den Gekränkten spielte, der von Dir mißhandelt sei, zart aber deutlich angedeutet, worum es sich handelt. Ich fragte ihn zunächst, ob er nicht auch Dich vielleicht „mißhandelt“ habe. Der Gedanke war ihm neu: Noch schöner! Dann aber fand er die Umdrehung köstlich. Erst wurde er mißhandelt und dann solle er noch der Schuldige sein. Natürlich sei er der Schuldige usw. usw. Dann sprach ich ganz allgemein von der Toleranzgrenze, die in solchen menschlichen Beziehungen jeder dem anderen gegenüber habe und fragte ihn, ob er sie Dir gegenüber nie überschritten zu haben glaube. Langsam wurde er hellhörig und dann sehr schmerzhaft. Die naheliegendste Verkettung war diesem Kind und Anfänger in menschlichen Beziehungen nie in den Sinn gekommen. Dann kam der Schmerz in ihm hoch. Das sei ja noch viel schlimmer, nun sei alles kaputt, ich hätte ihm das Letzte zerstört, nun könne er nie wieder einem Menschen näher treten. Er war nüchtern genug zu sagen, ich täte ihm vielleicht damit einen großen Dienst, aber im Augenblick verfluche er ihn. Er kämpfte schwer mit den Thränen und war sehr erschüttert. Er werde den Brief nie aufmachen. Du brauchst das ja nicht zu wissen usw. Gestern und heute war ich dann sehr nett mit ihm. Er ist wieder ruhiger, war heute sogar glückstrahlend über einige Freundlichkeiten des Ministers, und erzählte mir unaufgefordert, daß der Brief eingetroffen. Ich riet ihm, ihn bald zu lesen, er sei sicher zwar hart aber gut und wohltuend. Ich möchte, daß er mit der Sache fertig wird und sich nicht wochenlang mit dem uneröffneten Brief beschäftigt. Ich glaube durch meine übrigens sehr zarte Vorbereitung auch Dir einen Dienst getan zu haben.

Heute las ich mein letztes Colleg. Frau Benecke war allein da und hatte zu arbeiten, zu Tisch hatte ich Gragger, es war sehr nett, friedlich und unaufregend. Zum Schluß kam Richter, der in guter Form ist. Um 5 (Uhr) war dann ein Thee beim Minister mit Damen. Die Kinder spielten gleichzeitig noch einmal die Kindersymphonie für die Studentenhilfe und dann fuhren wir alle fidel im Auto heim.

Wende kommt nun doch heute oder Morgen heim und dann werde ich aller Theorie zum Trotz mit ihm zusammentreffen.

Gestern hätte ich Dich gern da gehabt. Walter war von dem Vater seines Freundes Kuchenthaler (?) eingeladen worden, allein mit s(einem) Freund eine große Reise in die bayer(ischen) Alpen und nach München zu machen. Nach langem Kampf habe ich Nein gesagt. Ich habe Walter ganz offen an meinen Gedankengängen teilnehmen lassen, die Sache kommt mir zu früh, er solle Ruhe haben, solange er auf der Schule ist, bei uns bleiben, Intensivierung statt immer neuer Eindrücke, der Freund will dünn werden, er soll Fett ansetzen, er soll nicht nur von gebratenen Tauben leben usw. Es war Walter natürlich schmerzlich, was ich ihm nicht verdenke, aber er hat es sehr nett getragen. Ich glaube sogar, daß er mir innerlich recht geben mußte. Ich mag diesen reichen Judenmuckel7 nicht, obwohl der Freund selbst ganz famos ist. Mich ärgerte es, daß ich meinen Jungen gegenüber als der versagende Vater erscheinen mußte, nur weil Herrn Kuchenthaler eine Geschäftsreise machen muß, seine Frau nicht allein mit den Kindern sein will und diese deshalb untergebracht werden müssen. Geld spielt keine Rolle, also wird ohne Rücksicht in die Dispositionen anderer Leute eingegriffen. Nun erlaube ich den beiden im Herbst eine bescheidene Fußtour. Dies Herumkutschieren in der Welt mit 16 Jahren mit vollem Portemonnaie, ohne Aufsicht und ohne Zwang zum Sparen, das paßte mir nicht. Ich habe mich dabei wirklich über Walter gefreut und ich will ihm nun auch ein besonderes Bene antun.

Morgen sehe ich auch Wolf Kühn, Montag wickle ich im Ministerium ab, gehe Abends noch mit den Kindern in die „Lustigen Weiber“ in der Hochschule und fahre Dienstag nach Marburg. Nachm(ittags) 3 Uhr werde ich auf der Durchreise in Cassel Deine Geige abgeben. Ich habe Deinem Vater geschrieben, daß er sie abholt oder abholen läßt. So kommt sie noch vor Dir hin.

Alles Gute für Lola8 und Dich. Wie stets von Herzen Dein getreuer Carl.

 

152. C.H.B. an Harro Siegel Im Zug Gießen-Fulda, 6.6.1922

Mein lieber Harro!

Ich will mit dem Ausdruck meiner Anteilnahme bis Gelnh(ausen) warten, zumal ich nun weiß, daß mein ausführlicher Brief nach Goslar auch erst verspätet in Deine Hände kommt. Das Mißgeschick tat mir aufrichtig leid. Es paßte so gar nicht zu Dir und weniger in den harmonischen Abschluß der Berliner Zeit. Ich bin brennend neugierig zu erfahren, was nun eigentlich passiert ist. Dein Vater schien etwas ängstlich. Es war sehr nett, daß die Strecken-panne gerade nach Cassel fiel, so daß wir über eine halbe Stunde sehr nett plaudern konnten. Auch über Deinen kleinen Bruder habe ich mich recht gefreut. Wie wird’s denn wohl zu Hause gehen? Ich denke viel, sehr viel an Dich. Doch das weißt Du ja, auch ohne daß ich es sage.

Der Abschied von Wende war sehr, sehr wohltuend. Wir hatten noch das letzte Mittagessen am Montag zusammen. Es war viel zu berichten – gegenseitig. Und es war alles klar. Abends in der „Lustigen Witwe“ wurde ich noch von Benecke herausgeholt, um mit dem Vorsitzer der Studentenschaft eine wichtige, aber auch menschlich wertvolle Besprechung zu halten.. Die Abreise dann ruhig nach dem Programm.

Vom Aufenthalt in Cassel wirst Du alle Details gehört haben. Ich fuhr mit einem netten jungen Schauspieler aus Berlin allein im Coupé. Er gab sich alle erdenkliche Mühe herauszubekommen, was sein in Theatersachen so fabelhaft versiertes Gegenüber eigentlich wäre. Ich hab’s ihm aber nicht gesagt.

In Marburg wurde ich beim Kurator von Hülsen, einem ganz famosen Menschen, der früher im Ministerium war, reizend aufgenommen. Und überhaupt Marburg! Ist das entzückend! Ich wohnte prachtvoll, das weite Tal unter mir. Gleich nach der Ankunft den Rest des Abends Mannhards Brenson (?), ein ganz neuer Typ von Studenteninternat mit ganz einheitlichem Charakter – eine ganz (unleserlich) Sache. Den nächsten Tag von früh bis Abends Besichtigungen. Diner beim Kurator, Bierabend beim Rektor – Reden usw. wie üblich.

Auch hin und wieder ein starkes persönliches Erlebnis. Habe ich Dir von dem kleinen Wilatzky erzählt? Er erreicht mich, um seinem vollen Herzen Luft zu machen. Eine ganz abenteuerliche Ehegeschichte, nämlich zu Dritt, mit allen nur denkbaren seelischen Feinheiten, in fabelhafter Höhenlage, aber erschütternd. Heute früh fuhr er noch bis Gießen mit, um mich noch etwas auszunutzen. In 2 Stunden bin ich in Bieberstein; Freitag Abend oder Sonnabend früh in Gelnhausen. Eben kommen wir in Fulda an. Leb wohl, mein Lieber! Du wirst wohl auch manchmal an mich denken. Wie stets von Herzen Dein Carl.

 

153. Postkarte von Erich Wende an Harro Siegel. Langeoog, 22.6.1922

Lieber Herr Siegel!

Das Kinderreich, zu sehr mit wichtigeren Dingen beschäftigt, dankt Ihnen durch seinen Vater sehr für Ihre Grüße, Ihre Kunst, Ihre fabelhafte Mäusegeschichte. Sehr interessant! Nur beide Eltern mit den Drei sehen Sie mit herzlichem Bedauern auch von uns gehen, ohne daß wir Sie noch einmal sehen konnten. Denn nun hänge ich natürlich hier an dieser Herrlichkeit fest. Es ist fast so schön wie damals an der Havel. Wie an jenem Tag denken wir an Sie immer in aufrichtiger Anteilnahme. Für Sie das Gleiche. Vielmals Ihr getreuer Wende.

 

154. Postkarte von Harro Siegel an C.H.B. Michendorf/Mark, 30.6.1922

L(ieber) C(arl)!

Es wurde doch mittags 1 Uhr bis wir endlich auf die Wendendorffest (?) kamen. Programmgemäß sind wir bis hierher gelangt und warten nun auf unser Nachtlager. Der Marsch aus Berlin heraus über den Hohenzollerndamm in den Grunewald (?) war sehr merkwürdig. L. läßt grüßen; Ich denke an gestern mittag. Herzlichst Dein Harro.

 

155. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 2.7.1922

Lieber Carl!

Zwar hoffe ich Dich doch morgen noch zu sehen, – aber ich finde gerade mal einen Moment Zeit inmitten dieses turbulenten Daseins, das ganz im Zeichen des (unleserlich)-starken Überfalls aus Holland steht. Wir genießen hier Familien in allen Formen, aber von mir aus könnte nun bald Schluß sein. Ich schreie wieder mal nach Alleinsein.

Gesundheitlich bin ich völlig wieder in Form. Ohne daß es aller ärztlichen Kunst gelungen wäre, dem Übel einen Namen zu geben; lediglich von der Kokkentheorie ist man wieder abgekommen.

Die 14 Tage Sommerfrische in unserem kleinen Waldhäuschen waren wundervoll. Sie bilden ein Kapitel für sich, über das weniger zu reden und noch weniger zu schreiben ist. Wald, Wiese und Sonne und ein großes gegenseitiges Sichverstehen, was braucht es mehr?

Weißt Du, es steht ganz fest bei mir, daß wir beide irgend was dergleichen in nicht zu ferner Zeit auch mal tun müssen. Wieviel näher rücken sich die Seelen, wenn man alles gemeinsam tun muß.

L(andé?). ist jetzt in Elberfeld und wird Dir über Schwöber (?unleserlich, da weggelocht) schreiben. Meine Arbeit beginnt am 7. (Juli?). Der neue Meister – ein Vierziger etwa – macht einen sehr offenen, sympathischen Eindruck; freilich scheinen Grenzschranken etwas überdeutlich die Christentum und nationale Gesinnung zu stehen. Aber was tut das? Ich weiß nichtssagend zu schweigen. Die Werkstatt liegt in der Casseler Altstadt an einem von Fachwerkbauten umgebenen Platz, ist sehr eng und niedrig und starrt – für meine durch Sinnesnerven geschützten und verwöhnten Begriffe – vor Dreck. Auch ist die Arbeit natürlich eine ganz andere, aber sicher von sehr erheblichem praktischen Nutzen.

Etwas, worüber ich immer wieder nachdenken muß, ist die Geschichte mit Landé. Offen

bekannt, – das Schuldgefühl auf meiner Seite steigert (teilweise unleserlich, da weggelocht) sich. Aber es ist ihm mit ratio nicht beizukommen. Daß er dies Erlebnis ausradieren möchte, – es wäre meine Pflicht gewesen, das zu verhindern. Es hätte sich doch ermöglichen lassen müssen. Die Loslösung so zu gestalten, daß ich ihm nicht dadurch die ganze Erinnerung an unser gemeinsames Wegstück vergiftet wurde. Aber ich war mir – wie meistens – zu schade zu persönlichen Opfern und bin mir nun böse, daß ich ihn zum Beispiel 4 Wochen stillschweigend ohne Gewissensbisse meiden konnte. Schreibe mir bitte immer, wie es ihm geht, und ob er wieder vergnügter wird. Ihm selbst natürlich kein Wort von all diesem.

Ein gezeichneter Briefkopf für Wendes liegt schon seit Tagen hier herum, aber ich komme nicht dazu, ihm ein Wort dazu zu schreiben. Bitte grüße ihn doch sehr von mir.

Auf Spengler bin ich ja wirklich sehr gespannt. Ich hoffe auf eine gute Zeit für H.R (?)bei Dir. Grüße auch ihn. Kommt er denn hierher?

Herzlichst Dein Harro.

 

156. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 9.7.1922

Lieber Carl!

Vorgestern Dein Brief aus Fulda, gestern der Goslarer! Ich danke Dir sehr von Herzen.-

Wenigstens stehe ich jetzt wieder auf, aber in Ordnung ist die Sache noch nicht. Man scheint etwas ratlos und vermutet – wie ich wohl schon schrieb – Streptokokken, die von meinen Stirn- und Kiefergeschichten abgewandert sind. Ich hoffe eigentlich, es kommt an irgend einer erreichbaren Stelle (meinem Kiefer) zu einem akuten Ausbruch, auf daß dann kräftig geschnitten werden kann. Ich glaube schon so etwas zu spüren. Jedenfalls ist an eine Reise mit L9. vorläufig nicht zu denken. Auch muß ich ja sehen, wann der neue Meister meinen Eintritt wünscht. Ich hoffe aber sehr, Dich diesen Sommer noch hier zu sehen, wenn Du R. (?) besuchst.

Außer der Tatsache, daß Ihr Euch ¾ Stunden lang unterhalten hättet, hat mir mein Vater nichts über Euer Zusammentreffen erzählt. Das ist ja seine Gewohnheit so. Dagegen verriet mir Rolf, Ihr hättet Euch „über meine Zukunft beraten!“

Was Du über L(andé) schreibst, geht mir nahe genug. Ich enthalte mich eines Urteils darüber; ob es richtig war, ihn so deutlich gewisse Dinge verstehen zu lassen; er sieht das ja alles anders als wir. Aber es ist ja nun geschehen, und mir ist es deshalb lieb, weil er jetzt vielleicht etwas von seinen Anklagen gegen mich zurücknimmt.

Bei der Briefgeschichte ist mir etwas unklar. Ich hatte nämlich doch noch einen neuen geschrieben, der die ganze Sache nur leichthin streifte. Den hat er sicher bekommen. Aber ich habe jenen ersten vierseitigen nicht vernichtet und finde ihn jetzt unter meinen Sachen nicht mehr. Du erwähnst einmal, in Eurer Aussprache sei von einem uneröffneten Brief von mir die Rede gewesen, – nachher schreibst Du, L(andé) sei ruhiger geworden und „heute erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen.“ Ich könnte daraus entnehmen, er hätte sie beide bekommen. Das wäre mir sehr unangenehm. Kannst Du diese Befürchtung zerstreuen?

Die Kunstausstellung beschäftigt hier die Gemüter enorm. Dieses Entsetzen über die „moderne Kunst“ hat etwas Groteskes, nachdem die eigentliche Woge schon vor 5 Jahren vorübergebraust ist. Was „moderne Kunst“ ist, werden wir in 40-50 Jahren wissen. Ich war nur in der Akademie; Herrgott, ich bin wirklich froh, da heraus zu sein. Diese Sterilität, Krankhaftigkeit, Selbstbeweihräucherung ist widerwärtig. Aber sie meinen, die Augen der Welt ruhten auf ihnen.—10

Professor Witte freute sich über Dein Kommen. Aber geht mit viel zu viel Elan in diese erneute Freundschaft hinein. Ich kenne das schon: Um so schneller kommt der Zwickpunkt, wo ich nicht mehr mit kann.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder. In treuer Anhänglichkeit Dein Harro.

 

157. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 11.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief hat mich etwas mit Sorge erfüllt. Bitte nimm die Kokkensache nicht auf die leichte Schulter. Gewiß kann die Hüftsache rein toxisch, also eine Vergiftungserscheinung sein, ich habe aber bei Bekannten auch ein Überspringen der Streptokokken gerade auf das Becken erlebt und das war eine endlose Geschichte, die zwar schließlich gut ausging, aber eine jahrelange Quälerei mit sich brachte. Also nur nichts vernachlässigen und nur nicht mit einem Feld-Wald-Wiesendoktor sich begnügen, sondern eine wirkliche Autorität rechtzeitig fragen! Demgegenüber tritt die Enttäuschung ganz zurück, Dich jetzt nicht hier zu sehen. Es wäre zu nett gewesen. Vielleicht wird aber mal ein Besuch von Dir (mit der Eisenbahn11) möglich, ehe Du Deine Arbeit aufnimmst. Dann natürlich ohne Lola als reiner Privatbesuch auf meine Kosten. Überleg Dir’s mal.

Rolf hat Dir sachlich richtig, formal nicht ganz korrekt berichtet. Es war keine „Beratung“ über Deine Zukunft“, wohl aber ein Erwähnen Deiner Zukunftsmöglichkeiten, bei dem wir einig waren, daß die Entscheidung ausschließlich bei Dir liegen könne. Alles käme auf Deine Schöpferkraft im Künstlerischen an.

Es tut mir leid, daß Du meine Aussprache mit Landé nur teilweise billigst. Ich glaubte, ihm und Dir einen Dienst zu tun. Du hattest mich ja auch ausdrücklich ermächtigt, daß ich sehr zart und andeutungsweise vorging, versteht sich von selbst.

Was den Brief betrifft, so weiß ich nur von einem, der nach Deiner Abreise eintraf. Ich wußte ja selbst von dem zweiten nichts. Ich hatte mit ihm davon gesprochen, daß er einen Brief erhalten würde, ehe er ihn hatte.; da sagte er, er würde ihn doch nicht öffnen; tags darauf erzählte er unaufgefordert, der Brief sei eingetroffen, aber noch uneröffnet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern habe ich ihm herzlich geschrieben. Vielleicht daß er darauf mal reagiert. Wende habe ich gebeten sich ein bißchen um ihn zu kümmern.

Ob ich mir die Kunstausstellung in Cassel besehe? Sie schließt am 1.8.. Vorher komme ich sicher nicht hin. Auch bleibe ich lieber möglichst lang hier. Auf den 3.8. habe ich mir Ritter für 8 Tage nach Steglitz eingeladen, wo ich dann allein mit ihm hausen werde, 2 Tage noch dienstfrei. Das könnte sehr, sehr nett werden.

Hier lebe ich sehr ruhig von Mahlzeit zu Mahlzeit. Morgen reist meine Frau für 8-10 Tage nach Neuwied. Ich lese mancherlei; Brandi über Geschichtswissenschaft, Ritters Picatrix, eine schöne perspektivenreiche Arbeit, und vor allem Spengler II. Das Buch fesselt mich doch sehr, aber es ist eine richtige Arbeit. Einstweilen war noch viel Unruhe, ein Kommen und Gehen, holländischer und englischer Besuch, man verliert noch viel Zeit mit Gesprächen, da sich die Geschwister meist ein Jahr nicht gesehen haben! Gestern machte ich einen schönen Waldgang allein mit meinen zwei Buben; das war ganz besonders nett. Die Landschaft ist doch immer wieder entzückend. Hellmut schwelgt im Spiel mit den Babies, Walter hat Altersgenossen, jeder lebt nach seiner Facon, nur die Mahlzeiten zwingen alle zur Konsumptionsgemeinschaft.

Aus Berlin hatte ich bisher nur eine Karte von Wende. Doch habe ich ihm von unterwegs schon dreimal, und zwar einmal besonders intensiv geschrieben.

Mir geht’s zur Zeit harmonisch; ich lasse schmoren, was schmoren will und soll und freue mich dessen, was ich besitze. Oft und immer wieder wenden sich da meine Gedanken auch zu Dir. Zur Zeit sorge ich mich um Dich. Sieh’, daß ich’s bald nicht mehr brauche.. Grüße Deine Eltern und Rolf, die Meinigen grüßen Dich. Von Herzen Dein Carl.

 

158. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.7.1922

Mein lieber Carl!

Zu Besorgnissen um mich liegt kein Grund mehr vor. Es kann als erwiesen gelten, daß es sich um irgendwelche Kokken gar nicht handelt. Auch geht es mir für gewöhnlich ausgezeichnet, von merkwürdigen plötzlichen Rückfällen abgesehen, deren Unberechenbarkeit mich allerdings leider in meiner Bewegungsfreiheit behindert. Ich hatte beschlossen, mich als Ersatz für die Tour mit L(ola?) noch ein wenig in unser Gartenhäuschen in Wilhelmshöhe zurückzuzie-

hen. Wir wollten dort auf Feldbetten schlafen, selbst das Essen machen, Sonnenbäder nehmen: L. wollte Landschaften malen und ich den Garten bewirtschaften. Aber ausgerechnet auf dem Rückweg von der Inspektion des Grundstücks bekam ich wieder solche Schmerze, daß wir die Idee vorläufig Idee bleiben ließen. Fast bin ich geneigt, an Hysterie zu denken, denn seit diesem tage habe ich wieder nichts mehr gespürt. Auf die nächste Diagnose bin ich gespannt.

Meine Eltern und Geschwister sind sämtlich verreist; ich bin Herr des Schlachtfeldes. Es gelingt mir ohne Mühe, 9-10 Stunden durchzuschlafen; das ist aber auch das Wertvollste, was ich zur Zeit leiste. Zum Lesen fehlt mir die Sammlung; ich gehe spazieren und mache wohlerzogene Antrittsbesuche.

Brief Harro Siegel
Brief Harro Siegel

Für Deine Einladung danke ich Dir sehr, aber ich möchte eine Reise vorläufig nicht wagen. Nächste Woche habe ich noch frei; vielleicht sage ich mich dann noch plötzlich an – die Ausstellung hier bleibt bis zum 28.8. geöffnet; mir scheint sie freilich des Besuchs des Staatssekretärs kaum wert. Um zu einigen wundervollen Thomas und Steinhausens zu gelangen, muß man sich durch mehrere Misthaufen von Manifestationen der Modernisten (unleserlich) durchfressen. Das ist gute, ehrliche Arbeit – wirklich schon sehr selten. Aber, ich habe nichts gesagt,- ich bin nicht Maler – Dein Wort von meiner Schöpferkraft im Künstlerischen tut mir eigentlich weh. Eine Art Künstlertum will ich mir nicht einmal absprechen, – aber Schöpferkraft? Keine Spur.

Wenn ich mir jetzt so meine alten Mappen besehe, so belächle ich einerseits mit leiser Rührung die Unbefangenheit, mit der ich diese Dinge einst bitterernst machte, und andererseits fühle ich mich mehrfach befreit, weil ich das jetzt nicht mehr nötig habe. Herr Witte freilich erzählt den Leuten, dies sei bloß die neuste Koketterie des Grafen. –

Also, ich mißbillige Deine Aussprache mit L(andé) nicht – hinter meinen diesbezüglichen Äußerungen stecken andere Affekte, die sich ungern zeigen wollten; ich weiß nicht, ob ich mit der Konstatierung von Mitleid bei der letzten Staffel angelangt bin. Im Gegenteil danke ich Dir aufrichtig für alles, was Du unternimmst, ihm Klarheit und damit hoffentlich Beruhigung zu geben.

Ich bemerke, daß es mir ein großes Vergnügen ist, Dir zu schreiben. Ich könnte Dir noch von allem Möglichen erzählen; doch sei’s zum nächsten Mal verschoben.

Bitte grüße Deine Frau und die Kinder, insbesondere den Muckel. Herzlichst Dein Harro.

PS. Ist nun das Hochgefühlsäußerung hier?

 

159. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 18.7.1922

Lieber Carl!

Leider ist dieser Akt nicht von mir, sondern von Michelangelo. Hab vielen Dank für Deine Einladung; leider kann ich ihr vorläufig noch nicht folgen. Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber es ist noch große Vorsicht geboten.

Da aber die Aussicht, Dich hier zu sehen, durch Eure Wanderpläne so nahe rückt, bin ich ganz getröstet.

Wenigstens aber haben wir jetzt unsere alte Absicht wahr gemacht und bewohnen unser Waldhäuschen. Es ist weniger ein Tusculum, als viel mehr ein „our rustic“, aber es gefällt uns ausnehmend. Nächstens bekommst Du eine Schilderung unseres Tuns und Treibens hier.

L(andé?). (er läßt sehr grüßen) sitzt und verschlingt Spengler II. Ich lauere nur darauf, daß er damit zu Ende kommt, um mich insgleichen darauf zu stürzen.

Herzlichst Dein Harro

 

160. Postkarte von C.H.B an Harro Siegel. Gelnhausen, 19.7.1922

Lieber Harro!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Freue mich sehr, daß Du bald wieder so weit bist, eine Wanderung anzutreten. Schone Dich nur gar! Hier bist Du natürlich sehr willkommen, wenn wir Dich im Augenblick auch nicht logieren können, da wir allein am Herrschaftstisch 17 Personen sind. Aber es wird sich trotz bestehenden Schützenfestes schon ein Quartier finden lassen. Bitte nur rechtzeitig um Nachricht. Lola braucht sich gar nicht in die Büsche zu schlagen. Toilette macht hier niemand. – Die Meinen sind seit gestern auch hier. In Bieberstein war’s ganz famos. Näheres mündlich. Herzlichst Carl

 

161. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Sonntag Abend, (Juli 1922)

Mein lieber Harro!

Nur rasch mit bestem Dank für Deinen lieben Brief die Mitteilung, daß ein Besuch hier diese Woche gut paßt, auch zum Logieren, nur nicht am Samstag (Geburtstag meiner Frau, die Freitag aus Neuwied zurückkommt) und Sonntag. Da ich auch sonst noch mal fort will und wir bei gutem Wetter Ausflüge machen, schreib gleich, ob und wann Du kommst. Mittwoch bis Freitag wäre z. B. sehr schön. Aber ich dränge nicht – Du weißt ja.

Meines Bruders Else will gern mit mir und den Buben einen Ausflug nach Cassel machen. Vielleicht wird was draus.

Walter schrieb an meine Frau: „Vati liest Tag und Nacht Spengler.“ Das ist richtig. Der 2.te Band ist einfach fabelhaft. Lies ihn, wenn Du kannst, sonst will ich ihn Dir später mal schicken. Ein unerhört anregendes Buch.

In Eile, aber von Herzen Dein Carl.

 

162. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 27.7.1922

Mein lieber Harro!

Dein Brief an mich war mir eine Enttäuschung, Dein Gruß an meine Frau eine sympathische Überraschung. Ich hatte so fest auf Dein Kommen gerechnet, daß ich sogar den Walter an die Bahn geschickt hatte – für alle Fälle. Nunmehr werden wir uns also so bald nicht sehen; denn aus der Ausflugsfahrt nach Cassel wird nichts; obendrein geht mein Urlaub zu Ende. Ich reise am 3.ten , am 4.ten kommt Ritter zu mir, am 7.ten beginnt mein Dienst. Ich finde den Plan sehr nett. Auch Ritter scheint sich drauf zu freuen. Wir zwei sind dann ganz allein in der Schillerstraße 2, was bei Ritters seelischem Zustand gewiß seine Vorzüge hat. Er schrieb mir dieser Tage wieder mal einen trübsinnigen Brief. Wie immer war gerade einer von mir unterwegs.

Die gleiche Kreuzung erlebte ich dieser Tage mit einem Brief von Landé. Ich hatte ihm bald nach meiner Ankunft hier sehr herzlich geschrieben. Als ich 14 Tage ohne Antwort blieb, schrieb ich ihm nochmals herzlich, ohne ihn aufzuziehen, sagte ihm sein Schweigen verriete mehr Styl als ein abgequälter Brief. Er solle mir lieber nicht schreiben, ich wollte nur, daß er sich nicht auch noch mit dem Gedanken des Nichtschreibenkönnens herumquälen. Sein Brief war ruhig, herzlich, glatt und sympathisch. Dein Name kam nicht drin vor, so daß ich nicht weiß, ob er Deinen Brief inzwischen eröffnet hat. Nur an einer Stelle schwingt Vergangenes an, wo er einen starken persönlichen Dank mir gegenüber mit den Worten abschließt: „Ich möchte das um so mehr in dieser Zeit, wo ich – auch das andere Sie wie alles in mir verstehen – leicht geneigt bin, vieles aus meinem Leben fortzuwünschen, auszuradieren, wenn es ginge.“

Der Brief ist sehr beherrscht und so einwandfrei und sympathisch, daß ich ihn meine Frau lesen ließ, der Landé nicht sympathisch ist, um ihn ihr etwas näher zu bringen, was auch gelang. Ich glaube, daß er die Krise überwunden hat. Von Dir werde ich nicht mehr mit ihm empfangen.

Ich habe inzwischen Spengler zu Ende gelesen. Einige meiner Lieblingstheorien sind darin stark bekämpft respektive mit großer Geste als unmöglich abgelehnt. Andere Theorien von mir sind verstärkt und vertieft gesehen. Deshalb habe ich ein besonderes Verhältnis zu diesem Buch. Als Ganzes ist die Konzeption bewundernswert, mit der Schärfe eines Dogmatikers hat er seine Summa theologiae Spenglerianae aufgebaut. Je schwächer seine Argumente, desto größer die Selbstverständlichkeit und die Geste. Der Kernpunkt, eine gewisse Parallelität

historischer Entwicklung, Frühkultur, Zivilisationsepochen ist zweifellos richtig, aber nicht ganz neu. Die dionysische, magische, faustische Seelenlage ist glänzend herausgearbeitet. Der bis in die Einzelheiten gehende Parallelismus ist sicher falsch. Wenn man a oder b bei einem Schluß durch ein beliebiges X ersetzen kann, entstehen Parallelitäten, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Überhaupt redet er immer von Wirklichkeit, er ist aber ganz ein Mensch der Wahrheit d.h. er vergewaltigt die Wirklichkeit. Immerhin ist’s ein kühner, großer Wurf. Ich will ihn nicht bemänteln – trotz einiger Entgleisungen in die Tagespolitik im deutschnationalen Sinn. Solche Leute müssen Aristokraten sein oder werden, wenn es ihnen glückt eine solche Moles (??) einheitlich zu bedecken und zu gestalten. Als Wurf bleibt es ein Kunstwerk und es bleibt erstaunlich, daß trotzdem auch der Historiker soviel davon lernt.. ich habe Ritter gebeten, es auch in Berlin zu lesen, damit wir’s einmal durchdiskutieren können.

Im Übrigen schreibe ich Briefe, gehe jeden Sonnenaugenblick in den Wald, spiele sogar nach 9jähriger Pause mit einigem Erfolg wieder Tennis, habe aber noch nichts Gescheites gearbeitet. Ich denke wie immer oft an Dich und bin sehr neugierig, bald Erfreuliches von Deiner

Gesundheit und Deiner Arbeit zu hören.

Lohe’s Brief über Schröter hat inzwischen Wätzold bearbeitet und Gutachten von Witte und Bantzer eingezogen. Witte versagt dem Künstler die Hochachtung nicht, diskreditiert aber den Menschen. Bantzer äußert sich sehr freundlich. Wätzold will gern etwas tun. Die paar 1000 Mark, die wir aus unserem Fonds geben können, helfen nicht weiter, eine Stelle ist nicht frei und würde sich auch nicht empfehlen. Bleibt nur der Ausweg, den Kunsthandel oder wieder Private zu interessieren. Dafür brauchen wir wenigstens einige photographische Nachbildungen seiner Arbeiten. Können die beschafft werden oder welchen Weg der Unterstützung hat sich Lohe sonst gedacht? Bantzer hat geschrieben, Lohe kenne Schr(öter?) am besten, man solle lieber ihn fragen. Das hatten wir natürlich nicht mehr nötig.

Grüße Lohe und laß bald Gutes von Dir hören.

Ich denke dankbar Deiner. Von Herzen Dein Carl.

 

163. Harro Siegel an C.H.B. Brasselsberg bei Cassel, 30.7.1922

Mein liebster Carl!

Was magst Du von mir denken? Längst hätte ich Dir geschrieben, auch schon vor der Ankunft Deines letzten Briefes, für den ich Dir sehr von Herzen danke. Wir sind aber in letzter Zeit bedeutend mit Besuch gesegnet (allein 8 Menschen aus Holland), so daß ich wirklich keine Zeit zum Schreiben finde. Ein langer Brief in den nächsten Tagen ist Dir gewiß (ich habe Dir sehr viel zu berichten). Jetzt nur diesen kurzen Wisch, damit Du doch was hast. Morgen ziehe ich wieder in die Stadt. L. reist nach Hause, in wenigen Tagen beginnt die Arbeit.

Es geht mir jetzt ausgezeichnet, ich habe sehr zugenommen, und was ich treibe, ist eigentlich die rechte ars semper gaudendi. Ich Esel hätte seinerzeit telegraphieren sollen; Dein Brief kam stark verspätet hier oben an, natürlich erreichte Dich da der meine nicht rechtzeitig. Könnte ich Dich nicht am 3. (August) in Bebra treffen und bis Eichenberg mitfahren? Dann gib mir bitte Nachricht, – und wann.

Deinen Brief habe ich nicht hier, – beantworte ich das nächste Mal. Über Schw. wird Dir L(andé?) schreiben.

Nun lebe wohl. Und sei mir nicht böse ob dieses Wischs, der so wenig Deinem lieben ausführlichen Brief entspricht.

Immer der Deine! Harro

Bitte grüße Deine gesamte Familie.

 

164. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 2.8.1922

L(ieber) H(arro)!

Deinen freundlicher Brief fand ich gestern Abend an, als ich mit Muckel von unser wohl gelungenen Fußtour heimkam. Nachricht würde Dich kaum mehr erreichen, und ich bin auch dafür, ein Wiedersehen zu verschieben. Nach den schönen Stunden in Berlin würden wir von einer kurzen Eisenbahnstunde doch wenig haben. Ich komme übrigens im September und im Oktober wieder nach Hannover-Hessen, einmal zu einer Hochzeit, das andere Mal zu einem Vortrag. Vielleicht fügt es sich es sich dann einmal. Inzwischen hoffe ich mal auf einen richtigen Brief.

Zwischen Packen und Räumen grüßt Dich Dein alter C.

 

165. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 4.8.1922

Mein lieber Harro!

Veranda – herrlicher (unleserlich). Sonntag Nachm(ittag) 6 Uhr, nach dem Café, seit Tisch sitze respektive liege ich mit Ritter hier herum. Zwei Tage sind wir jetzt beisammen. Wir haben entsetzlich viel miteinander geredet, gestern ununterbrochen 14 Stunden hintereinander – von Gott und der Welt, Alfred und Ghazali, Politik und Studentenschaft und immer wieder von dem alten unerschöpflichen Thema, auf das unwillkürlich die meisten Gespräche wieder hinauslaufen. Es ist friedlich und behaglich. Ritter ist der Alte. Er hat immer seine schweren, seine schweigsamen und seine lustigen (?) Stunden gehabt. Auch ich fand ihn genau so wie Du ihn geschildert.

Morgen fängt nun für mich der Ernst des Lebens wieder an. In Gelnh(ausen) sah ich ihm mit Freuden entgegen, hier mit Entschlossenheit. Ich will die Passivität des letzten Jahres überwinden. Ich will es tun und doch gleichzeitig mehr Zeit für Haus und Familie gewinnen. Die Harrostunden sind ja jetzt frei – und ihrer waren nicht wenige. Die Phantasie darf auch nicht mehr so viel Freistunden haben. Auch andere Gäste meiner Freistunden werden knapper gehalten werden. Ich bin neugierig, ob ich dies schöne Programm verwirklichen werde.

Hab Dank für Deinen Brief. Du wirst verstanden haben, daß ich Dich jetzt auf einer kurzen ungemütlichen Eisenbahnstrecke nicht sehen mochte. Du kannst das als Aktivum, nicht als Passivum buchen.

Ich freue mich, daß Du wieder gesund bist. Hoffentlich hält es an. Dein Zus(ammen)leben und Dich Zus(ammen)finden mit Lola hat mich für Dich gefreut. Den Altersgenossen ersetzt einem kein älterer Freund. Daß auch ich gern einmal so ganz mit Dir zus(ammen)leben möchte, weißt Du, doch es ist wenig Aussicht. Vielleicht ist es gut so; denn es wäre vielleicht eine Enttäuschung. Der feste Glaube ist immer mehr als eine enttäuschende Realität.

Fall Landé – ich schreibe Dir darüber, sobald ich klar sehe, was nicht ganz schnell der Fall sein wird, da ich ihn nach nichts fragen werde. Er gibt sich heiter, diensteifrig, beginnt (morgen? Weggelocht) seinen sogenannten Urlaub, den er auf seinem Dienstzimmer verbringt. Ich sprach ihn bisher nur durchs Telefon. Daß Du Reue empfindest, ist nur berechtigt. Der Jugend Alfreds kann man verzeihen, was man der Erfahrenheit eines Hans nicht ganz so leicht vergibt, so klar mir psychologisch der Fall liegt. Du wirst mehr über Landé von mir hören.

Wendes waren sehr beglückt über Deine Zeichnung. Erich war das (unleserlich) und aufrichtig bewundernd.

Ritter tobt über Spengler, der marktschreierisch Wahrheiten verkünde, die andere gefunden hätten. Der Rest sei Phantasie und Unsinn. Als ich ihm diese Formulierung vorlas, erhob er Protest. Tatsächlich ist’s aber so. Dabei ist sein psychoanalytisches Weltbild etwas morphologisch!– Leb wohl! Ich denke Deiner in Treue. Carl.

PS. Brief von H. Ritter an Harro Siegel.

Warum hast Du mir nie von Lohe erzählt? Wie ist das. Ich komme nach Cassel nur dann, wenn ich dort Menschen finde, die ich brauche. Zus(ammen)sitzen und trauern, kann ich nicht. (Verschmierte Passage) Also ist es wohl besser ich komme nicht. Ich will auch zu Schaade. Vielleicht sind dort Menschen, die einen ablenken und eine Freude machen. Schreib mir mal. Dein HR.

 

166. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 15.8.1922

Mein lieber Carl!

Was verstehst Du nun eigentlich unter Passivität? Das möchte ich in der Tat wissen, nachdem Du Dein letztes Jahr als unter diesem Zeichen stehend siehst. Ich für meine Person habe Dich immer so aktiv gefunden – auch in der Contemplation -, daß ich mich von meiner Passivität oft geradezu umschnürt gefühlt habe. Aus dem Willen es Dir (formal wenigstens) irgendwie gleichzutun, ist schließlich der Entschluß zur Werktätigkeit mit erwachsen.

So wünsche ich Dir das beste Gelingen Deiner Pläne; aber nicht wahr, Du gehst nicht ans Kapital!—

Für Deinen Brief danke ich Dir sehr. Wie war es nur mit Ritter? Dauert seine taten- und träumelose Lethargie immer noch fort? Freilich, – er schrieb neulich recht viel froher, er habe dort in B. einen alten Freund wieder aufgetan. Das ist ja sehr schön; glaubst Du nun, daß er aufpaßt und nicht aus lauter Liebe auch diese Freundschaft erstickt?— Seine Mutter lechzt nach einem Lebenszeichen, es kommt aber keins. Was muß es für einen Eindruck auf diese (pracht-volle) Frau machen, wenn ich sie in seinem Auftrag besuche, um ihr Grüße und alles mögliche sonst von ihm zu bestellen? Ich werde das nicht wieder tun.

Was mir bei Landé leid tut, ist dieser starke Wille, alles ungeschehen zu machen. So kann ihm doch unmöglich Erlösung werden. Man kann wohl Arme und Beine amputieren, aber nicht das Wissen, daß man sie mal hatte. Wie traurig, daß er nun seinen Urlaub so verbringt. Chronischer Selbstmord.

Seit anderthalb Wochen bin ich nun wieder an der Arbeit. Die Werkstätte liegt unten in der Altstadt an einem malerisch-mittelalterlichen Platz (aber ich sehe ihn nicht, denn unsere Scheiben sind geätzt) und bildet die Ergänzung zu einem Papierladen, in dem es auch Schul- und Gesangbücher und christliche Wandsprüche zu kaufen gibt. Betrieben wird es von zwei Meistern, die im Schwiegervater-Sohn-Verhältnis stehn. Sehr christliche, ehrbare, monarchistische Menschen, mild und verträglich von Charakter, der Alte etwas mürrisch, aber gut geartet, der jüngere etwa 45, sehr blauäugig-blond mit einer Hensige(?)-Ecke, ist gebildet, besucht die Münchener Ausstellung und schwärmt für Garmisch. Zwei Casselaner (unleserlich) sind meine Kollegen. Die Arbeit ist nach Art und Gegenstand völlig anders als in B(erlin?). Schlechtes Material, die Maschinen in einem skandalösen Zustand, Umstände werden nicht die geringsten gemacht, Herr Linnemeyer (Berlin?) würde verzweifeln. Ich sehe jetzt, wie mich der mit guter Zucht verwöhnt hat, muß mich an vieles sehr gewöhnen und bin vorläufig noch etwas deprimiert, weil ich schlechter arbeiten muß, als ich könnte. Es heißt immer: „Gottsgemicke, disse Umstände, (unleserlich) würen wir aus derg nit uffheben!“12

Aber man scheint zufrieden; auch werde ich ein kleines Gehalt bekommen. Sehr viel Neues übrigens, wozu ich sonst niemals gekommen wäre, lerne ich auch dazu. – Denkbar unpraktisch ist die Arbeitszeit gelegt, nämlich von 8-12 und von 2 bis ½ 7 (Uhr). Da kommt man zu wenigen Dingen sonst.

Ich lebe erstaunlich regelmäßig; fast hasse ich mich ob meines Hasses gegen das Extraordinäre. Ich bekomme aber Verstimmungszustände, wenn ich das Weltkind Lohe sehe, der mit Zeit und Kraft so gar nicht zu zeigen braucht, Gottweißwas anstellt und dabei doch fleißig kleinen Bilder in Lumpen (?) und eine moderne zimtfarbige Dogge lebensgroß in Öl malt. Wobei übrigens die immer und nur allzugern assistierende Besitzerin dieses Tieres sehr überlegt und fein behandelt sein will, was dem guten L(ohe) nicht stets gelingt. Der schliddert immer in die heiklen Situationen hinein und weiß selbst nicht wie und wie wieder heraus.

Kunstausstellung und Akademie erhitzen hier die Gemüter sehr. Cassel verteidigt sich heftig gegen den Überfall der Modernen, (die lange von vorgestern sind). Vielleicht haben sie recht; man soll uns ruhig unsere lieblich-romantische „Gassenkunst“ lassen (und welche Blüten sie treibt!); was an Neuerem sich hier versucht, ist längst wieder ganz (?) akademisch geworden und kann nicht erwärmen (Dülberg nicht ausgenommen, der mir übrigens persönlich absolut nicht liegt; ich würde ihm nie trauen).

Nun, endlich genug des Lokalen.. Ich lese sehr gefesselt den mir noch unbekannten Hyperion und noch manches andere. Sonntags gehe ich mit Rolf und unserem kleinen Pensionär in die Berge; ich höre ihnen auch die Arbeiten ab und schneide ihnen die Haare.. Sie haben mich sehr gerne.

Mit meinem Vater geht’s gut, sehr gut sogar, bis jetzt. Grüß Deine Angehörigen und besonders Wende. Herzlichst Dein getreuer Harro.

 

167. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 18.8.1922

Mein lieber Harro!

Auf Deinen lieben Brief sollst Du einen kurzen Gruß haben, in später Abendstunde, vor dem Schlafengehen. Zu langen Briefen reicht es nicht mehr. Du bist überhaupt der Einzige, dem ich noch mit der Hand schreibe.

Die Tage mit Ritter waren nett. An einem Tage habe wir uns ohne Unterbrechung 14 Stunden lang unterhalten. Das war der Record. Er war erst sehr nervös (?), fahrig, zerstreut, schweigend, nur gelegentlich sich im Reden äußernd (?).Alfred, immer wieder Alfred. Ich brauchte viel Liebe und Geduld. Dann tauchte plötzlich ein „Freund“ auf, erst etwas verschwommen, offenbar war er ihm eingefallen und er wußte nicht wie alles laufen würde. Er besuchte ihn Nachm(ittags), während ich im Ministerium war. R(itter) telefonierte an, ob er ihn zum Abendessen behalten dürfe. Als ich kam, saß er am Flügel, wozu er bisher ganz unlustig gewesen war. Weiter brauchte er mir nichts zu erzählen. Es ist ein netter junger Theologe, 4. Semester, heißt Reichmut, Pfarrerssohn aus Potsdam, Kriegsbekanntschaft aus der Türkei, er damals noch ein Knabe, schloß sich an, nie ganz vergessen, briefliche Initiative zur Wiederanknüpfung von dem Jungen ausgehend. Selbstverständlich, natürlich sehr selbstverständlich, was Ritter natürlich beglückte. Als ich kam, war die gemeinsame Bootsfahrt im Herbst bereits verabredet. Sie waren damals täglich zus(ammen), einen ganzen Tag auch ganz hier im Hause, ich war leider dienstlich verhindert (Verfassungstag).

Von Stund an war Ritter ein anderer Mensch, frisch, interessiert für alles, heiter, arbeitslustig. Nun brauche er nicht mehr im Lande herum Zerstreuung zu suchen. Nun wolle er nach Hamburg zurück, jetzt könne er arbeiten. Also geschah’s.

Wir haben über vieles geredet. Auch lange über den Punkt, den Du nicht mir gegenüber formulieren konntest. Er tat’s, bezog sich auch auf Dich. Es war ganz lehrreich für mich und ich werde die Konsequenzen daraus ziehen.

Seit 8 Tagen sind auch die Meinigen zurück. Ich bin sehr froh darüber. Allabendlich bin ich jetzt um 7 (Uhr) zum Essen daheim, obwohl das Auto immer noch in Reparatur, und Morgens stehe ich Punkt 7 (Uhr) auf und bin bereits 8 ½ (Uhr) in Dienst. Ziemlich ruhige Zeit, wenn auch abends immer noch Akten. Mit Landé spreche ich oft, Dein Name ist noch nie gefallen. Er hat sich heute unter einem Vorwand vom Referat Hessen-Nassau entbinden lassen. Überhaupt gab’s wieder mal viel Ressentiment. Auch das Disziplinarreferat legte er nieder wegen der Haltung des Ministers in einem bestimmten Fall. In beiden Fällen erwartete er meinen Widerspruch, der aber nicht erfolgte. Ich wende die Sache anders, so ist jetzt aus lauter Ressentiment eine geradezu glänzende neue Referateinteilung geworden. Er wir frei für große Sache, wird wirklich Generalreferent und hört auf Mädchen für alles zu sein. Dieser unerwartete

Ausgang einer Unterhaltung, die er mit Herzklopfen begonnen, bewegte ihn sehr und er schied wirklich befriedigt und entspannt.

Wende macht mir Sorgen. Sein Zustand ist unerfreulich. Er ist überlastet, stumpf und reaktionslos. Unser Mittagstisch ist noch in der Schwebe. In der DMG13 –meist mit anderen – ist kein Ort zur ruhigen Fühlungnahme.—

Von Deinem Brief habe ich ein gewisses Bild Deines Lebens bekommen. Ich freue mich, daß es auch erträglich ist und besonders , daß es zu Hause gut geht.

Jetzt muß ich schlafen gehen. Leb wohl! Die Meinigen grüßen. Herzlichst Dein Carl.

 

168. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 29.8.1922

Mein lieber Carl!

Hab vielen Dank für Deinen Brief; weißt Du, er wäre längst beantwortet, aber ich hatte tiefen Barometerstand in letzter Zeit, mußte sehr bedauern, nicht in Berlin zu sein um mir mit Deiner Unterstützung einige Steine vom Herzen zu wälzen; – brachte es aber nicht fertig, darüber zu schreiben. Ich finde mein Dasei im höchsten Maße ungeeignet, mir zu genügen, was nicht viel zu bedeuten hätte, wenn ich in ihm ein asperum und dahinter irgendwelche astra sehen könnte. Dieses ist aber nicht der Fall. Ich überlege mir dann Zeichenlehrer hin und her, und komme immer mehr davon ab. Von immanenten Gründen abgesehen geht es unter den gerade letzthin eingetretenen Verhältnissen nicht an; noch 2-3 Jahre ans Studium zu hängen, nachdem – realpolitisch genommen – schon so viel Zeit verloren ist. Man wird energisch Geld verdienen müssen wie alle anderen. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht überhand nimmt, wird ein Buchbindergehülfe ja auch Platz finden; in Holland steht mir übrigens eine solche Stelle in schwacher Aussicht.

Hiervon abgesehen habe ich aufgehört Pädagogik und –philie (??) in einen Topf zu werfen und muß für mich Fähigkeiten auf dem Gebiet der ersteren in Abrede stellen. Ich sehe das deutlich an meiner Art, mit Jungens und Jüngeren zu verkehren. Ein gewisses Interesse für einzelne ist da, aber es fehlt die Fähigkeit, dies zur „Liebe zur Jugend“ zu sublimieren; man findet es beiderseits nett, zusammen zu sein, aber von der Übermittlung irgendwelcher Güter, ethischer oder Bildungs-, ist keine Rede. Eine solche Aufgabe würde an meiner Selbstkritik

scheitern, glaube ich.

Was künstlerische Betätigung anlangt, so weißt Du ja, wie’s da steht. Was bei mir nicht so aussah, war doch wohl Selbstbetrug (wiewohl ein nicht uninteressanter und meiner durchaus würdiger), aber ich bringe es nicht mehr dazu.

Was andere Leute dazu bringt, Bilder zu malen, diese und sich selbst ernst zu nehmen, begreife ich nicht mehr; ich sehe es interessiert, verwundert in den guten Fällen, und zornig oder höhnisch in den überwiegenden üblen. Für mich kommt so was nur noch als nettes Spiel für Feierstunden in Betracht. Moderne Kunstausstellungen langweilen ich unendlich und erkälten mich. Warringer hat doch nicht so unrecht, wenn er in „Künstlerische Zeitfragen“ die These aufstellt, der Kunstgeist habe sich seit dem XIX. Jahrhundert mehr und mehr ins Denken, in die Wissenschaft geflüchtet; die Husserl’sche Schule, die Georgejünger, Gundolf, Kayserlink und Spengler belegten das. Jeder Ehrliche muß doch auch zugeben, daß ihm aus diesen Büchern mehr Geist natürlich, aber auch mehr Sinnlichkeit anströmt, als aus aller modernen Malerei und Graphik. Revertor ad meas res: Ich bleibe also beim Leisten und nun verüble mir nicht, wenn mich das malerpolitisch (?) erregt. Meine Tätigkeit wird mir ungelogen oft zur Fron, von morgens ½ 8 bis abends ½ 7 (Uhr, es bleibt mir so gar keine Zeit für mich. Gewiß, Du zum Beispiel hast davon noch weniger, aber darfst Du doch im Dienst Du selbst sein, und Du weißt, was und wofür Du arbeitest. Diese neue Depression wird doch nur hie und da erhellt, durch eine Arbeit, die Talent und Initiative erfordert, durch ein gelungenes Stück. Immerhin, ich arbeite jetzt sehr viel selbständiger und verdiene wöchentlich 50 Mark. Mir will übrigens scheinen, als seien die Zeichen einer Aufwärtsentwicklung des Handwerks nicht eben günstig. Sich heute neu etablieren kann nur ein Großkapitalist; und die bestehenden Geschäfte geraten durch das billigere Angebot der Fabriken sehr in die Enge. An Selbständigkeit ist für mich kaum zu denken.

Na, überhaupt, – aber ich verliere den Kopf mitsamt der Objektivität; sehe den bisherigen Studiengang als nutzlose Zeitvergeudung und blicke düsteren, tränenlosen Auges in die Zukunft. Warum, warum? Auch meine Familie findet mich nachgrade etwas reichlich mit mir selbst beschäftigt; mit Recht, – Gott besser’s!

Lohe reist morgen fort; mir tut es sehr leid; ihm auch. Für ihn ist’s aber gut; meine Zweifelsucht war keine Kost für ihn. Und noch aus anderen Gründen; ich muß jetzt ein bißchen allein sein, Ruhe haben. Gut, daß Ritter den jungen R. mit herbringt; so braucht er mich nicht; ich hätte nichts zu bieten.

Der arme Wende! Man soll nichts sagen, es gibt immer noch Leute, die es viel schwerer haben, als man selbst. Ihm sehe ich’s an der Nasenspitze an, daß dies der Fall ist, – zugleich mit einer gewissen Unentrinnbarkeit; ob ihm zu helfen ist, ob er sich selbst helfe kann? Grüße ihn bitte sehr.

Von Benecke erhielt ich kürzlich einen netten, wiewohl nicht eben inhaltsreichen Brief. Er schreibt übrigens, L(andé?) habe sich die letzte Zeit sehr zu seinem Vorteil gewandelt, sei ruhiger und zielbewußter geworden. Bestätigst Du das? Das wäre schön.

Was macht Deine Familie? Bitte grüße doch alle und empfehle (unleserlich, weggelocht) mich Deiner Frau. Und was ist mit Dir? Bekommt Dir die Mehrarbeit gut?

Herrgott, was ist dies nun wieder für ein Brief! Ich möchte solche nicht bekommen; wann wird es mir gelingen, den mir zuteil gewordenen sportiven Geist vom Ich zu lösen und für mich und andere erbaulich an objektives Gut zu wenden.

Letzten Freitag habe ich mir an der Beschneidemaschine den linken Zeigefinger bis zur Knochenmitte durchgesäbelt und muß nun in unfreiwilliger Muße warten bis er wieder festwächst, was noch eine Woche dauern wird. Das sind solche Freuden.

Für Dich bleibt meine Gesinnung unwandelbar – Dein Harro.

 

169. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin) Steglitz, 1.9.1922

Mein lieber Harro!

Das war ein trüber Brief. Und Du hast ihn selbst gleich wieder Lügen gestraft. Wer so eine Zeichnung wie die des Bärleins hinhauen kann der ist wirklich nicht zum Buchbinder geboren. Und doch liegt eine gewisse melancholische Symbolik in dem Bilde. Deine (unleserlich) Margiana (?) ist wirklich noch nicht gestorben. Du hast alles Recht an sie zu glauben. Mensch, Mensch! Wie gern hätte ich Dir den Kopf gewaschen. Dieser Stimmung darfst Du nicht nachgeben. Hoffentlich hast Du Dich wenigstens durch den Brief an mich befreit. Gefreut hat’s mich natürlich doch, daß Du ein so unverfälschtest Stimmungsbild gabst; denn der Brief war echt in jeder Zeile. Ich mußte mich davon befreien; denn er bedrückt mich; und so habe ich ihn in sicherer Voraussetzung Deiner inneren Zustimmung dem Wende vorgelesen. Schreib mir, wenn’s Unrecht war; dann tu ich’s nie wieder. Aber an der Wirkung sah ich daß es richtig war. Namentlich der Passus über ihn (weggelocht) berührte ihn stark und tat ihm wohl. Auch er freute sich riesig über die künstlerische Einlage und meinte, ein Künstler wie Du würde sich schon durchringen – durch alle Skepsis. Du siehst, an Vertrauen bei Deinen Freunden fehlt es nicht. Du bist einer, der schwer und spät zur Produktion heranreift, aber Du wirst produzieren.

Ich gehe deshalb auch gar nicht weiter auf Deinen Brief ein. Schweren Herzens nahm ich ihn auf, und es war als säßen wir unter der roten Lampe. Laß Dir dies Echo genügen. Diskutieren kann man solche Briefe nicht. Hoffentlich fühltest Du etwas von dem, was mich bewegt.

Jedenfalls mußte ich Dir heute gleich schreiben, so kurz wie’s auch heute nur sein kann.

Zur Zeit ist Schauder (?) hier. Wir hatten gestern einen feinen stillen Abend. Er ist ruhiger, dicker und besser aussehend als je. Seine Habilitation ist in ihrem kritischen Teil erledigt. Vor dem Schluß muß erst seine Arbeit gedruckt sein

Von Landé kann ich auch nur Gutes melden. Er hat 14 Tage seines Urlaubs zu einer großen dienstl(ichen) Arbeit benutzt (Fragenkomplex des numerus clausus), die er heute früh in der Abteilung vortrug, wo ihn niemand recht verstand und würdigte, und die er Nachm(ittags) in einem langen Vortrag mir auseinandersetzte. Natürlich verstand ich ihn besser als die Abteilung. Es ist ein unerhört schwieriges Problem scharf und sauber durchdacht und taktisch klug verhüllend aufgebaut. Ich glaube, es tat ihm sehr wohl, daß ich ihn nicht nur anerkannte, sondern auch sachlich die Tragweite übersah, während Jahnke nur am Styl genörgelt hatte. Er ist ruhig und markiert heitere Resignation. Er wird immer misogyner. Mit Fräulein Zotze macht er gelegentlich Spaziergänge. Er ist weich und wie Wachs mir gegenüber. Deinen Namen habe ich noch nicht wieder ausgesprochen. Er kommt nur, wenn ich ihn rufe, ist dann aber immer freundlich und sympathisch.

Mir geht es gut; körperlich wechselnd. Ich habe noch nicht einen Morgen um 8.10 (Uhr) nicht am Potsdamer Bahnhof gestanden, obwohl das Auto immer noch nicht aus der Fabrik ist. Ich bin jeden Tag spätestens um 7 (Uhr) daheim und gehe um 11 (Uhr) schlafen. Eben kommt Walter tief ergriffen aus dem Hannele heim, Muckel ist zum ersten Mal im Heidehaus (trotz schlechten Wetters) und Hertha ist lieb und häuslich wie immer; ein sonniges Kind, wie sie’s einst in der Wiege war. Mein Frau hat mit einem Mädchen und ohne Köchin viel Arbeit, dazu Zahnarzt fast alle Tage und diese gräßliche Teuerung – eine Qual für alle Hausfrauen. Aber sonst ist alles gut. Seit Anfang dieser Woche bereitet uns Frau Höndel (?)wieder das Mittagessen in vereinfachter Form (wie unser Abendessen), worüber Walter und ich sehr glücklich sind.

Gelegentlich gibt’s eine stille Stunde mit Gragger.

Ich merke erst, wie viel Zeit ich habe, seitdem Du nicht mehr da bist. Dafür kann ich schon manchmal schreiben. Es tritt hier ja doch niemand an Deine Stelle. Die bleibt offen – oder besser gesagt, sie bleibt besetzt.

Halte den Kopf hoch, Du Lieber! Laß Dich etwas stützen durch meinen Glauben an Dich. Leb wohl! Dein Carl.

P.S. Es schlägt 11 (Uhr). Die Meinen und Wende grüßen besonders.

 

170. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 10.9.1022

Mein lieber Carl!

Im Grunde schreibt man ja Briefe wie einen letzten nur, um solche dafür wieder zu bekommen, wie der Deine es war. Man behält das schlechte Gewissen, läßt es toben, wie es möchte, nach allen Regeln der Kunst, und das Gute überantwortet man seinem Freunde, auf daß es von dort her um so tönender und wirksamer – weil doch unverdächtiger – erschalle. Das ist gar nicht dumm und man fährt wohl dabei.

Ich danke Dir für Deine Rückenstärkung von Herzen; gewiß, es ist wahr, daß es mir wohltut, ein paar der schlimmsten meiner schwarzen Nachtvögel zu Dir gejagt zu haben, und ich war erfreut, sie so weiß gewaschen wieder zu erblicken. Doch ist dies nicht das Entscheidende. Nicht eine Widerlegung meiner Thesen galt es, sondern – um in Maik Ritters rauh-treffenden Worten zu reden – eine Art von „Liebeserpressung“, die unsereiner ja immer nötig hat. So ist man nur!

Wenn Du dem Wende meine Briefe vorliest, so ist mir das recht, ja, eigentlich nicht unlieb. Freilich, es kann auch mal ein Brief kommen, der nur Dich angeht, was Du dann zur gegebenen Zeit wohl wittern wirst.

Sonst aber – ich weiß soviel von ihm (wiewohl es wenig ist) durch ihn, durch Dich, mehr noch mich selbst, – daß schon mein Gerechtigkeitsgefühl solcherlei Einblicke für ihn fordert.

Einiges von dem, was im letzten Briefe stand, muß ich aber doch als tatsächlich gelten und stehen lassen. Und es war – halbausgesprochen – eine von mir dem Lohe anvertraute Mission, Dir hierüber noch etwas mehr Klarheit zu geben. Er schrieb gestern von einem Colloquium mit Dir; – hat es im obigen Sinne etwas geleistet? – Es berührt mich merkwürdig, nun aus seinem Munde gewisse Beobachtungen über Dich (und sich selbst vor Dir) zu hören, die ich früher schon angestellt hatte.

Es ist doch eigentlich fast Deine Sendung, einer gewissen Menschenart (zu der Wende, Ritter, er, ich und wer weiß wer noch gehören) zur Erkennungsmöglichkeit ihres Zustandes, zur (unleserlich) Scheidung und Kristallisation zu verhelfen. Das ist unersetzbar. L(ohe?) meint er habe zuviel gesagt, Dinge, die nicht gesagt werden sollten.

Dachte ich auch erst, aber ich finde nun, daß eben diese heiklen Chosen für Dich aufbewahrt werden müssen, und daß es Deine Bestimmung ist, sie zu haben.

Immer findet er, man stünde leicht in allzu gutem Lichte vor Dir und hätte Mühe, das zu korrigieren. Das stimmt nun ganz unbedingt; und eben dieser dauernde Zwang zur Korrektur ist es, dem ich über mich so sehr viele Aufschlüsse verdanke.

Soll ich etwas sagen: Vielleicht ist es bei all dem gar nicht vonnöten, daß Du einen völlig verstehst, und es ist viel mehr Dein Beruf, einen zum Verständnis seiner selbst zu bringen. Denn wir sonderbaren Kreaturen, bei allem Spintisieren, – wir verstehen uns doch selbst nicht immer allzu gut, Deine Meinung aber von uns – treffe sie’s, treffe sie’s nicht – sie beleuchtet bisweilen die Szene, wie es nie zuvor der Fall sein konnte.

Das ist es, was uns an Dich fesselt, und dafür (mit-)liebe ich Dich so.

Erstens liegt es in meiner Natur, das Jetzt zu fliehen und immer ein anderer und wo anders sein zu wollen. Mit dieser (unleserlich: Zielsuche?) – nicht mit der des Jetzt! – beginne ich mich allmählich auszusöhnen. So bin ich, hieraus müßte etwas gemacht werden. Es kann sein, daß mir das gelingt. Hoffen tue ich es bisweilen.

An Deinem Satze: Du wirst spät zur Produktion kommen, ist ganz unbedingt viel Wahres.

Ich muß das Ziel viel weiter hinausstrecken. Auf einer gewissen Art von „Knabenschicksal“ kann ich immerhin zurückblicken, aber es war keine Erfüllung. Ein „Jünglingsschicksal“, das ist mir wohl sicherlich versagt, wie Du zugeben mußt. Wie ich das Bücherwurm! Hier sitzt ein dickes Wurzelende meiner Melancholie.

Bliebe also die Erfüllung eines „Männerschicksals“. Männerschicksal! Vorerst bekomme ich ein wahres Grauen vor diesem Wort; das wird man mir verzeihen. Aber es kann darauf hinauskommen; und besser wie Nichtigkeit ist’s ja; (Dir kann’s aber auch kommen; den stärksten Männern ist das schon passiert!) – Mithin, warten wir’s ab. Erst mal gibt’s noch viel zu beißen, z.B. morgen, wo der Dienst neu beginnt. Der Finger ist geheilt zum Glück; aber diese geschenkten Ferien waren doch recht hübsch. Ich habe viel gelesen, freilich wenig bis zu Ende: Spengler II, Maupassant, Manzoni, Th(omas) Mann, Justi, Carl Spitteler. Von all dem wird noch zu reden sein.

Ich bin recht im Schreibeschwung, aber man ruft schon zum Abendessen, darum Schluß.

Ich verspüre viel Lust, Italienisch zu lernen. Welchen Weg rätst Du mir dazu und besitzt Du irgendwelche Hilfsmittel? Kommst Du etwa zur Pädagogischen Woche? Wenn doch sogar der Minister kommt, zur Knabengeleitsleute-Tagung!

Leb recht wohl! Grüße W(ende?) und die Familie, auch Gragger(?); Lohe schrieb ich selbst schon heute. Immer Dein Harro.

Zeichnung von Harro Siegel an C.H.B. Kassel, Juli 1922

Barbier von Bagdad. Dir zu Füßen liegen/Lippe an Lippe schmiegen

Orer Marzianaaa!! (schlecht leserlich)

Verzeihung; dies war ein früher begonnener Brief an Dich, dessen Inhalt mir heute aber zu ungewiß erscheint, als daß ich Dich Obiges (9 Zeilen unleserlich gemacht) lesen lassen möchte. – Jedoch, ich wollte Dir das Bild nicht vorenthalten.

H.S.22


1 Padua, Hauptstadt (211 000 Einwohner) der Provinz Padova. Universität von 1222! Kunstakademie, wissenschaftliche Institute, Observatorium; ältester botanischer Garten Europas von 1545. (Brockhaus medial 2004)

2 Salone, die Piazza della Erbe vor dem Palazzo della Regione, früher Justizpalast, unten mit Marktbuden versehen , oben ein einziger durchgehender Saal, der heute für Ausstellungen genutzt wird und daher fast immer zugänglich ist

3 Giovanni Battista Tiepolo *1696 Venedig + 1770 Madrid. Bedeutender Vertreter der venezianischen Malerschule. Ich füge hinzu: Würzburger Residenz! BB

4 Dogenplast, Venedigs prachtvollster Profanbau, 71 m lang, mit der Sala del Maggior Consiglio (54×24 m; 15,5 m hoch, mit Bildern aller Dogen von 804-1559 und dem größten Ölgemälde der Welt , Tintorettos Paradies. Paradies (griechisch, aus dem altpersischen) bedeutet Vorhof früher christlicher Basiliken, mit Reinigungsbrunnen, gleichbedeutend mit Atrium. (Dumont, Oberitalien S.280)

5 Venedig gehörte von 1815 bis 1866 zu Österreich…Aufstand 1848 niedergeschlagen.

6 Ernst Troeltsch *1865 bei Augsburg + 1923 Berlin. Evangelischer Theologe, Philosoph und Historiker, Professor in Bonn, Heidelberg (Max Weber!), seit 1914 Berlin

7 Muckel ist bei Becker ein familiäres Kosewort, das er und andere auch für den jüngsten Sohn, Hellmut, verwandten. Hier jedoch auf den Freund bezogen.

8 Freundin Harros in Kassel.

9 Hier wohl seine Freundin Lola.

10 Hervorhebung des Herausgebers.

11 Randbemerkung Beckers mit den Abfahrtszeiten der Züge.

12 Hessischer Dialekt…

13 Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft? Kein Hinweis auf den Ort, und daß da ein Restaurant sei.