Harro Siegel, I.

Briefwechsel C. H. Becker mit Harro Siegel 1921/1922

120. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 18.1.1921

(Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Siegel,

Damit Sie sich wundern, von Herrn Professor Waetzoldt nicht geladen zu werden, teile ich Ihnen mit, daß Herr Waetzoldt, wie ich erst nachträglich feststellen konnte, diese ganze Woche von Berlin abwesend ist. Ich werde aber sofort nach seiner Rückkehr mit ihm über Sie Rücksprache nehmen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr sehr ergebener (gez.) Becker

 

121. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W 8, 21.2.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Lieber Herr Siegel.

Es freut mich sehr, Ihnen anbei 1000 M(ark) zur Beschaffung Ihres Handwerkzeuges überreichen zu können. Der Stifter ist der bekannte Privatgelehrte Dr. Heinrich Braun, Berlin-Zehlendorf-M(itte), Am Erlenweg, der Herausgeber der Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung. Das Geld stammt aus dem Erlös der Lebenserinnerungen und Briefe seines im Felde gefallenen Sohnes Otto Braun, der ein ungewöhnlich vielseitig begabter und vor allem unendlich frühgereifter junger Mann gewesen ist. Mit ihm hat die Nation einen ihrer Besten verloren. Obwohl selbst nicht gerade reich, verwendet Herr Dr. Braun den Reingewinn, den er aus diesem Werk erzielt hat, zur Unterstützung talentvoller junger Gelehrter und Künstler. Ich würde es für richtig halten, daß Sie ihm einmal einen Besuch machen und sich bedanken, vielleicht bei der Gelegenheit ihm auch etwas von Ihren Arbeiten zeigen. Im Augenblick verreist er allerdings, um das Grab seines Sohnes in Frankreich zu besuchen. Er wird also Ihren Besuch erst nach seiner Rückkehr erwarten; vielleicht fragen Sie in 8-10 Tagen einmal telephonisch bei ihm an: Zehlendorf 25. Jedenfalls bitte ich Sie, ihm gleich jetzt ein paar Worte des Dankes zu schreiben.

Wie lange denken Sie noch in Berlin zu bleiben? Ich möchte gern noch einmal mich etwas in Ruhe mit Ihnen unterhalten, bin aber während dieser Woche so maßlos in Anspruch genommen, daß ich keine Stunde in Aussicht zu nehmen wage. Vielleicht rufen Sie mich Anfang nächster Woche einmal telephonisch an (Zentrum 11340), im Laufe des Tages außer zwischen 2 und 4 Uhr.- Einstweilen verbleibe ich mit verbindlichen Grüßen und guten Wünschen Ihr Ihnen aufrichtig ergebener (gez.) Becker.

 

122. Harro Siegel an C.H.B. Berlin SW4, Yorckstraße 13a, 22.2.1921

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Vorläufig bin ich noch etwas fassungslos diesem heute morgen unerwartet über mich hereingebrochenem Ereignis gegenüber. Das ist mehr, als ich verdient habe. Ganz begrifflich zu erfassen vermag ich es nicht, aber ich glaube, es ist der Name des Spenders und der Gedanke an seinen unersetzlichen Sohn, was mich dabei so „antut“.

Nun, jedenfalls ist mir jetzt für lange Zeit hinaus geholfen; mit Wonne lasse ich die längst verfaßten Aquarellfarben liegen und gehe zum Öl über.

Herrn Dr. Braun schrieb ich gleich; ich freue mich unendlich darauf, ihn später selbst aufzusuchen, ebenso wie über die Möglichkeit eines baldigen etwas ausgiebigeren Zusammenseins mit Ihnen. Wäre mir Ihre Arbeitsüberlastung nicht bekannt gewesen, so hätte ich vielleicht selbst schon gewagt darum zu bitten. Ich werde also nächste Woche anrufen.

Es grüßt Sie mit großer Hochachtung Ihr dankbarer Harro Siegel.

 

123. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin W8, 18.3.1921

Lieber Herr Siegel!

Da ich nicht weiß, ob ich anwesend bin, wenn Sie die Karte abholen, will ich Ihnen nur mitteilen, daß Sie heute Abend in der Ministerloge meinen Freund Geheimrat Wende nebst Frau und drei Gästen antreffen werden. Wende ist mein nächster Freund und weiß über Sie Bescheid. Machen Sie sich mit ihm bekannt. Es ist ein nicht großer sehr jung aussehender Mann, bartlos, Cutaway, dunkelblond mit braunen Augen. Sie haben ihn schon einmal flüchtig in meinem Zimmer getroffen, als Sie mir Ihre Bilder zeigten.

Viel Vergnügen! Bitte geben Sie Wende die Karte zurück.

Herzlichst der Ihrige. Becker

 


Plädoyer für eine handwerkliche Grundausbildung eines Künstlers


 

124. C.H.B. an StR Siegel (Vater Harros). Berlin, 5.4.1921

Der Staatssekretär (Maschinenmanuskript)

Sehr geehrter Herr Studienrat!

Ihr Sohn Harro, den ich durch Vermittlung meines Freundes, Professor Ritter, kennen gelernt habe, erzählte mir gestern Abend, daß sein Entschluß, seiner künstlerischen Ausbildung eine handwerkliche Grundlage zu geben, bei Ihnen Sorgen und Bedenken ausgelöst hätte. Da ich Ihren Sohn im Einverständnis mit ersten Fachleuten beraten hatte, fühle ich das Bedürfnis, den geplanten Schritt Ihnen noch etwas näher zu begründen. So habe ich ihm spontan angeboten, an Sie zu schreiben. Ich tue das um so lieber, als ich ihn nicht nur für einen werdenden Künstler, von dem noch etwas zu erwarten ist, halte, sondern mich auch seiner wertvollen menschlichen Eigenschaften freue, die ihm hier schon eine recht nette Position geschaffen haben. Ich habe ihn persönlich sehr lieb gewonnen und möchte alles tun, was in meinen Kräften steht, ihm den dornenvollen Weg des künstlerischen Sichdurchsetzens zu erleichtern.

War der Bildungsgang des jungen Künstlers schon vor dem Zusammenbruch ein schwieriger, so haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren so vollständig verschoben, daß man mit ganz neuen Ausbildungsmethoden rechnen muß. Die führenden Sachverständigen sind jetzt ganz einhellig der Meinung, daß jede künstlerische Betätigung auch auf dem Gebiete der sogenannten höheren Kunst handwerksmäßig verankert sein muß, und daß es zugleich darauf ankommt, nicht nur ein einzelnes spezielles künstlerisches Gebiet zu beherrschen, sondern daß eine möglichst breite künstlerische Allgemeinbildung Voraussetzung für eine künstlerische Lebensexistenz ist. Nun liegt das Talent Ihres Harro unbedingt auf graphischem Gebiet. Das zentrale Handwerk, von dem aus man an diese künstlerische Betätigung herankommt, ist die moderne Kunstbinderei. Es gibt hier in Berlin einige wenige ausgezeichnete Firmen, die hierfür besonders in Betracht kommen, und die eine gewisse Schule bedeuten. Wir haben vom Ministerium aus Harro dorthin empfohlen, und es scheint ja auch, als ob er die Möglichkeit bekommt, dort anzukommen. Ich würde das für ein großes Glück halten, denn, worauf es ankommt, ist nicht nur die Fingerfertigkeit, sondern der ganze Geist des Handwerks, das sich ja immer mehr zur Kunst veredelt. Wenn ich auch der Überzeugung bin, daß Harro nach dieser Schulung zu rein künstlerischer Arbeit zurückkehrt, so wird es für ihn doch immer von sehr großer Bedeutung sein, auf einem seine Existenz sichernden Gebiete Fachmann zu sein. Hätte ich einen künstlerisch talentierten Sohn wie Harro, würde ich ihn unbedingt diesen Weg gehen lassen, da ich in Freundeskreisen den großen Vorteil der handwerklichen Schulung von Gebildeten kennen gelernt habe. Verschiedene meiner früheren Universitätskollegen lassen jetzt ihren Sohn nach einigen Semestern Studium ein Handwerk erlernen, sogar ohne künstlerischen Einschlag, rein wegen der wirtschaftlichen Zukunftsmöglichkeiten. Bei Harro steht mir der pädagogische Gesichtspunkt höher wie der der wirtschaftliche Sicherung, wenn ich ihn auch nicht übersehe.

Die beiden anderen Wege, die möglich wären, das Zeichenlehrerexamen oder ein kunstgeschichtlicher Doktor, sind beide m.E. sowohl in pädagogischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht weniger zu empfehlen. Der Zeichenlehrerberuf ist derartig überfüllt, daß dies Examen keinesfalls eine Sicherstellung bedeuten würde. Übrigens ist er durchgebildet genug, um dieses Examen im Notfall auch später jederzeit zu machen. Pädagogisch würde ich es aber für verkehrt halten, weil die Tätigkeit als Zeichenlehrer, die nun einmal an bestimmte Vorschriften und Formen gebunden ist, keine Entwicklung, sondern eine Hemmung seiner künstlerischen Fähigkeiten bedeuten würde. Als kunstgeschichtlicher Doktor wäre er auf den Zufall eines Unterkommens in der musealen Laufbahn angewiesen und würde durch eine notwendige Hypertrophie geschichtlicher Arbeit und intellektueller Einstellung in seiner künstlerischen Entfaltung gehemmt werden. Nur das Handwerk bietet ihm große pädagogische Wirkung der Zucht und der Arbeit, die er für seine künstlerische Gesamtpersönlichkeit braucht, ohne daß er dadurch in der individuellen Entfaltung seiner Anlagen gehemmt wird. Die materielle Sicherstellung ist dabei ein erfreuliches Nebenprodukt.

So sehe ich, sehr geehrter Herr Studienrat, die Dinge an, und ich weiß mich dabei einig mit den ersten Fachleuten, die Deutschland auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.. Ich fühle durchaus, daß ich eine Verantwortung übernahm, als ich Harro diesen Rat gab, aber er muß in irgend einer Weise jetzt sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat die Jahre seit seinem Abitur weiß Gott nicht verloren und sich eine Summe von Können und Kenntnissen angeeignet, die mich immer wieder erfreut, und die den Durchschnitt seines Alters weit übertrifft. Wenn er jetzt aus innerer Nötigung heraus – von einem suggestiven Zwang meinerseits ist natürlich nicht die Rede – diesen neuartigen, aber zukunftsreichen Weg beschreiten will, so würde es mich für ihn besonders erfreuen, wenn er dabei von dem Bewußtsein getragen würde, das volle Verständnis seines Vaters zu finden. Ich habe selbst erlebt, wie sehr mich dies Bewußtsein gefördert hat, und das ist der letzte Grund meines Schreibens an Sie, daß ich es ihm erleichtern möchte, diese voll und freudige Zustimmung des Elternhauses zu finden. Ich verstehe vollauf, daß es Ihnen und Ihrer verehrten Gattin vielleicht lieber wäre, Ihren Jungen den Rest seiner Ausbildung in Cassel absolvieren zu sehen; aber ich glaube doch, Ihnen raten zu müssen, ihn diesen so günstigen besonderen Umständen in Berlin nicht zu entziehen. Er hat hier neben der handwerklichen Spezialausbildung eine solche Fülle von Möglichkeiten für künstlerische Allgemeinausbildung wie nirgends sonst. Vor den sogenannten Berliner Gefahren sichert ihn seine solide, so ganz unbohémienhafte Eigenart. Alles, was ich bisher von ihm gesehen habe, gibt mir die Berechtigung zu dem Vertrauen, daß er seinen Lebensweg aus inner Nötigung heraus gehen wird, und daß man ihm möglichste Freiheit der Entwicklung lassen sollte.

Schließen Sie, bitte, aus der Ausführlichkeit dieses Briefes auf das warme Interesse, das ich an Harro als Künstler und als Mensch nehme. Ich glaube wirklich, man kann Sie zu diesem Jungen beglückwünschen.

In hoher Verehrung Ihr sehr ergebener (gez.) Becker, Staatssekretär.

 

125. C.H.B. an Harro Siegel. Berlin, Unter den Linden 4, 14.4.1921

Mein lieber Siegel!

Nachdem ich 2 Tage lang 5-6 Mal versucht habe, Sie telephonisch zu erreichen, möchte ich nicht länger zögern Ihnen meinen innigen Dank für Ihre große Geburtstagsüberraschung schriftlich auszusprechen. Lieber Freund, Sie haben mir wirklich eine Freude bereitet. Erstens, daß Sie überhaupt den Tag festgestellt hatten und dann, daß Sie aus Eigenstem spendeten. Ihre Gabe hat mich schrecklich beschämt, aber ich nehme sie doch dankbar an, weil ich weiß, daß sie ein Symbol ist – auch in einem andern Sinn expressionistisch. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Gesinnung, daß ich mir sehr gern etwas von Ihnen schenken lasse, wie ich überhaupt das Gefühl habe, daß sich zwischen uns ein so selbstverständliches Verhältnis ent-wickelt hat, wie ich es mir schöner und wohltuender gar nicht vorstellen könnte. Ich habe nur den Eindruck, als ob wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen hätten. Wir müssen telefo-n(isch) recht bald ein Zus(ammen)sein verabreden. Dann sprechen wir auch über Ihr Bild, über das sich meine Familie lebhaft zankt. Es macht allgemein einen starken Eindruck, nur weichen die Deutungen ab. Mir ist es ein Ausdruck Ihres Suchens und Sehnens und ich verstehe es ohne das Verlangen nach intellektueller Deutung.—

Ich denke in diesen Tagen sehr viel an Sie und war so ärgerlich, Sie nicht zu erreichen, da ich ja so gespannt bin zu hören, wie Ihnen Ihre vita nuova gefällt. Von Ihrem Vater habe ich bisher nichts gehört.

Also auf bald und auf immer Ihr Becker

 

126. StR Siegel an C.H.B. Kassel, 16.4.1921

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!

Für Ihr freundliches Schreiben und die darin bekundete Teilnahme für meinen Sohn danke ich Ihnen verbindlichst.. Ich erhielt Ihren Brief bei der Rückkehr von meiner Reise, nachdem ich inzwischen bereits Harro unsere Einwilligung zu seinem Vorgehen gegeben hatte. Dennoch war es mir wertvoll, von so berufener Seite über unseren Sohn und seinen Entschluß ein Urteil zu hören, das uns mit Befriedigung über unsere Entscheidung erfüllen konnte.

Nur zur Aufklärung eines scheinbaren Mißverständnisses möchte ich erwähnen, daß ich weit davon entfernt bin, die von Harro bereits zurückgelegten drei Lernjahre für ganz oder halb verloren zu halten. Ich bin nicht so engherzig, in dem ausschließlichen, eng umschriebenen Studium irgend eines Faches oder gar der Vorbereitung auf eine bestimmte Prüfung das Heil zu erblicken (? Unleserlich, weggelocht). Im Gegenteil, ich empfinde Freude und Genugtuung darüber, daß mein Sohn gerade auch in seiner Allgemeinbildung sicherlich Anerkennenswertes erreicht hat. Mein Hinweis sollte Harro lediglich darauf aufmerksam machen, daß es an der Zeit sei, ein bestimmtes Ziel in Auge zu fassen, und mein Hauptbedenken war, (?weggelocht: daß) er das, was er jetzt als richtig erkannt hatte, auch durchführen werde.

Darüber haben mich nun ein weiterer Brief meines Sohnes und besonders auch Ihre Ausführungen, sehr geehrter Herr Staatssekretär, beruhigt. Seien Sie nochmals unseres herzlichen Dankes versichert.

Mit größter Hochachtung. (gez.) Siegel, Studienrat

 

127. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 5.5.1921

Lieber Dr. Becker!

Mir ist etwas eingefallen: Vielleicht finden Sie mal einen kleinen Moment Zeit, daran zu denken, ob Sie mir nicht das nächste Mal irgend eine Aufgabe stellen können – ein Bild oder eine Folge von Bildern, am Ende mit bestimmten Ablieferungstermin. Wir sprachen ja mal über den stimulierenden Wert solcher Verpflichtungen.

Vielleicht bringt mich das aus dieser toten Zeit heraus. Denn, dem beziehungsheischenden Banne Ihrer Augen entzogen, kann ich es leichter sagen, wie sehr mich das Fehlen jeglicher Produktion seit 2 Monaten bedrückt; es muß mal etwas geschehen.

Dem Wiedersehen mit Muck1 sehe ich ruhig entgegen; ich glaube, ich gestehe mir noch nicht einmal ein, wie ruhig.

Immer Ihr Harro Siegel

 

128. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 17.10.1921

Mein lieber Harro!

Ich bin sehr besetzt diese Woche und muß mir’s deshalb in diesen Tagen – sehr zu meinem Leidwesen – versagen, Sie zu sehen. Donnerstag halte ich einen großen polit(ischen) Vortrag im demokrat(ischen) Klub, der mir den Mittwoch Abend kostet wegen der notwendigen Vorbereitung. Den Freitag Abend halte ich für Sie frei (Anmerkung Beckers: Peer Gynt). Ich habe zwar Staatsministerium, komme aber danach ins Schauspielhaus, wo Sie mich erwarten wollen. Billet holen Sie bitte vorher wie immer beim Portier ab. Wir werden allein sein.

Einlage gilt für ca. 10 Tage. Vielleicht interessiert es Sie am Sonntag mal hin zu gehen.

Ich freue mich sehr Sie wiederzusehen.

Wie stets herzlichst Ihr C.H.B.

 

129. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 22.7.1921

Viellieber Dr. Becker!

Wenn Sie nun schon seit nahezu einer Woche fort sind, so ist das für mich eine kleine halbe Ewigkeit. Ich fühle mich sehr zur Erfüllung meines Schreibeversprechens gedrängt (?). Es zeigt sich jetzt, daß Ihr Hiersein eigentlich die einzige wirkliche Rechtfertigung meines Berliner Aufenthaltes ist, daß ich nur um Ihretwillen mich hier, ohne andere Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen, so fest gebunden habe. Dies als Liebeserklärung vorweg. Ich entbehre sehr unser Zusammensein. Die Aussicht darauf war immer Ziel und Mitte während der Wochenarbeit. Von dort bezog ich meine Widerstandskraft gegen das Hineingeducktwerden in die Banalität. Ich will nun versuchen, Ihnen zu sagen, was mich diese ganze Zeit über bedrückt und des öfteren sehr erschreckt hat. Es ist das Gefühl, mit meiner Jugend höchst unhaushälterisch (ist nicht das rechte Wort) umzugehen. Statt der Erweiterung und Vertiefung meines Geistes

zu leben, lebe ich der Erlernung einer stumpfen Handarbeit, deren Vergeistigung mir nicht innerer Zwang, sondern nur theoretisch anerkannte Aufgabe ist.

Und nun etwas sehr abenteuerliches (? Schlecht lesbar), das ich nur Ihnen und nur sehr verstohlen sage: Auch der homo academicus ist doch nur oder vorläufig nur ein Lack, eine Fassade. Zuinnerst sitzt, glaube ich, ganz einfach noch ein Junge, der sich in Wiesen und Wäldern, unter Sonnen und blauem Himmel austoben müßte.

Wie im vorigen Jahre noch nackt impudent2 in der Sonne zu liegen, hat für mich noch immer einen Zustand höchster Euphorie bedeutet, den ich jetzt schmerzlich entbehre. Nicht wahr, Sie wittern da keine Romantik; das Bewußtsein vollendeter Einheit mit der Umwelt, das ich in solchen Momenten habe, entbehrt dann jeder Gefühlsduselei. Wirklich; Sie werden es auch begreifen, daß ich dann mich als Kaldakayersatz (?unleserlich) fühle; ein Gedanke, über den ich in jeder anderen Lage nur lachen kann.

Diesen kleinen Ausbruch mußte ich mir mal gestatten; ich finde, er ist noch recht zahm ausgefallen.

Es ist doch wunderbar, daß ich ihnen das sagen kann, wenngleich ich gestehe, daß ich das eben Gesagte doch lieber schriftlich, als Auge in Auge vorbringe.

Und nun etwas anderes, was ich auch leichter so sage.

In unseren letzten Gesprächen über Ritter hat sich gezeigt, daß wir an einer Stelle nicht denselben Weg wandeln. Ja, ich will es nicht länger geheimhalten: Wenn Sie mir seine Briefe vorlasen, so schrie es oft in mir: „Ja, ja, so ist es; es kann nicht anders sein.“ Und sein Ringen um Ihr Verständnis habe ich bis zum Schmerzlichen miterlebt. Er redete ja doch auch in meiner Sache.

Selbstverständlich halte ich seine Ausbrüche gegen Sie für unberechtigt und aus Überreizung geboren. Fragten Sie mich aber um meine Meinung, so kam ich oft in einen Konflikt zwischen dem, was ich glaubte sagen zu müssen, und dem, was ich unterdrückt habe aus Furcht, von Ihnen nicht verstanden zu werden.

Relativistisch könnte man es ja bei der Anerkennung beider Standpunkte lassen; ich glaube aber an eine Einigungsmöglichkeit, besser sogar Einheit. Nur will ich es hier noch einmal für mich so aussprechen. Würde ich forensisch befragt, so würde ich mich mit Haut und Haaren der Ritter’schen Theorie verschreiben, mag gleich die Gesellschaft sich auf den Kopf stellen.

Entschuldigen Sie, dies wirkt jungenhaft. Überhaupt ist mein Brief nicht, wie ich ihn wünschte. Ich möchte mehr sagen, und ich möchte es besser sagen. Nun, wenn Sie ihn in Gnaden annehmen, so hoffe ich das nächste Mal noch einen besseren Ton zu treffen.

Geht es Ihnen gut?- Es grüßt Sie sehr

Ihr Ihrer viel und gern gedenkender Harro Siegel.

 

130. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, Villa Becker, 24.7.1921

Mein lieber Harro!

Ihr Brief hat mich erschreckt und erfreut. Erfreut durch den warmen und offenen Ton, der allzeit zwischen uns bestehen soll, erschreckt durch die Erkenntnis, wie viel unbewußte Verantwortlichkeit ich an Ihrem derzeitigen Dasein trage. Ich habe mich immer bemüht, keine Suggestion auf Sie auszuüben; denn Sie sollen ein freier, autonomer Mensch werden. Jeder Widerspruch war mir willkommen, namentlich in der Wahl Ihrer Arbeit nur Ihrem inneren Bedürfnis entgegengekommen zu sein. Nun meinen Sie Ihr Leben nicht richtig zu erfüllen. Wären die quälenden Stunden künstlerischer Produktionsunfähigkeit eine Ihnen genehme Erfüllung gewesen? Sind Sie nicht erst 21? Und liegt somit der fruchtbarere Teil Ihrer Jugend nicht noch vor Ihnen? Fassen Sie jedenfalls keine übereilten Beschlüsse!

Daß Sie sich noch als großen Jungen fühlen, der am liebsten nackt im durchsonnten Grase läge und mit der Natur wunschlos in Eins verwüchse – das war mir keine Offenbarung. So habe ich Sie immer angesehen. Das ist aber nur eine Ihrer Seiten, wenn auch vielleicht Ihre wertvollste. Das ist nämlich kein Infantilismus sondern echtester Humanismus, von dem auch ich gottlob noch ein gut Stück besitze. Erhalten Sie sich dies seelisch-körperliche Bedürfnis. Ich habe es mir erst nach langen Irrfahrten wiedererworben. Es ist das beste Gegengift gegen den Zweifel am Ich, gegen das Mitleid mit sich und gegen die Kleinbürgerlichkeit – lauter Eigenschaften oder sagen wir seelische Unarten, mit denen Sie auch zu kämpfen haben. Ihr Künstlertum liegt in Ihrer Jungenhaftigkeit in diesem Sinn. Bisher haftet Ihren Werken auch zu viel Schmerzgebrochenes an. Ich sehe darin noch Ihre Hemmungen, über die Sie nur der Humanismus, wie ich ihn eben umschrieb, hinwegbringen wird.

Daß Sie sich menschlich-persönlich bei mir etwas in Behandlung gegeben hatten, ist mir auch nicht verborgen geblieben. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut. Daß Sie auch mir viel, sogar sehr viel gewesen sind, haben Sie bemerkt. Auch ich habe mich von einem Zus(am-men)sein auf das nächste gefreut. Für mich waren das seelische Ruhepunkte in einem tiefbewegten, inhaltsübervollen Leben. Ich rechne bestimmt damit, daß unsere Beziehungen ein Lebenswert für uns beide bleiben werden, aber schließlich muß der werdende Mann den Weg zum Ich finden. Hoffentlich haben Sie empfunden, daß ich Ihnen dazu helfen wollte. In Ihnen steckt viel Harmonie, viel was nur Harro Siegel ist, aber es ist doch noch von manchen Eierschalen überdeckt, die manchmal Licht und Luft nehmen. Nichts ist umsonst unternommen was direkt oder durch Protest gegen mich oder Ihre Arbeit Sie sich selbst entdecken läßt. Ich predige weder Stolz noch Wehmut, sondern nur schlichte Selbsterkenntnis. Und nur nichts verdrängen, sondern bewußt sublimieren auf Grund der Erkenntnis in das Wesen des eigenen Selbst. Sie werden als Künstler und Mensch nicht durch Sturm, sondern auch bei Ihnen naht sich der Herr wie bei Elias in leisen Säuseln. Verstehen Sie mich ganz?

Über den Fall Ritter kann ich nicht ganz so sprechen wie ich möchte, weil es zu weit führen würde. Auch habe ich deshalb noch immer nicht an Ritter geschrieben. Mir ist nichts Menschliches fremd – das kann ich offen und ehrlich aussprechen. Mir ist auch Ritters Denkweise nicht fremd, aber ich verstehe auch die des alten Heiß (?). Ritter ist genauso einseitig eingestellt wie E’s Vater (??). Als Dritter kann man nur dann richtig urteilen, wenn man nach beiden Seiten hin menschlich mitfühlt. Schalten wir den Vater aus, so liegt der Fall schon anders. Dann halte ich es mit Plato, aber nicht mit dem was Plato ebenso menschlich verzeiht, sondern ich fordere mit Plato das Höchste was Plato selbst fordert. Ritter und Sie übersehen immer, daß über aller Duldung bei Plato eine sittliche Forderung steht. Das mag sehr unbequem sein, aber dieser Forderung liegt eben eine Vernunfterkenntnis zu Grunde, die auch mir unabweisbar erscheint, und ein Menschenverständnis, das allen Seiten gerecht wird. Und noch ein Drittes und Höchstes: Ein Erlebnis und eine Segnung durch dies Erlebnis. Mit 21 hat auch Plato vielleicht gedacht wie Sie, mit 45 schrieb er was er schrieb. Und Ritter ist keine 21 mehr. Gerade dieser Umstand, den er immerbetont, sollte ihn zwingen wie Plato zu handeln.—

Mir geht es gut. Ich erlebte im großen Geschwisterkreis mit meiner Frau (meist noch ohne Kinder) sehr stille Tage, mit einsamen Wanderungen auch mit meiner Frau, langem Liegen unter durchleuchteten Buchen, nachts auf weiter Terrasse mit unbegrenztem Blick in die weite, schlafende Ebene mit einem großen Himmel darüber. Manchmal denke ich auch an Sie, Ihre Sorgen und Nöte, Ihr Können und Ihr Sein. Dann trage ich auch Ihr Schicksal auf liebendem Herzen. Ihr Becker

 

131. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 26.7.1921

Lieber Dr. Becker!

Über Ihren Brief habe ich mich nur gefreut und danke Ihnen von Herzen dafür. Ich sehe, daß ich schwärzer gemalt habe, als richtig war. Zu erschrecken brauchten Sie nicht. Ich glaube, – hören Sie: ich glaube auch an die Fruchtbarkeit meines jetzigen Daseins, mit allen Licht- und Schattenseiten. Mir lag daran Ihnen auszudrücken, daß Sie auf der allerhellsten Lichtseite

stehn. Und dann hatte ich etwas Großstadtüberdruß, der sich ja in Staub und Hitze dieser Tage unbedingt einstellen mußte.

Ich bekämpfe ihn dadurch, daß ich jeden Abend schwimmen gehe, und mit bestem Erfolge. Ausgesaugt und ermüdet komme ich nach Haus und schlafe traumlos.

Verzeihen Sie es mir, wenn ich noch einmal „zum Thema“ spreche. Sie schreiben, daß bei Plato über aller Duldung eine sittliche Forderung stehe. Gut. Dabei fällt mir als Gegenbeispiel Tolstoj ein. Genau dasselbe läßt sich von ihm sagen in Bezug auf das mann-weibliche Verhältnis. Nur wird hier merkwürdigerweise jeder zugeben, daß das zu weit gegangen sei, und man führt rationalisierend das Gattungsinteresse ins Gefecht. Einen Fortpflanzungstrieb gibt es aber bestimmt nicht.

Weiter. Nehmen wir Goethe. Es würde eine Lücke in der Sphäre Goethe entstehen, wollte man seine Liebeserlebnisse als ungeschehen annehmen. Wer fragt hier danach, ob es dabei bis zum Letzten kam? Mit Selbstverständlichkeit wird das zur Nebensache. Hier sieht man die Versittlichung und Vergeistigung…

(Schluß fehlt)

 

132. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Fulda/Frankfurt/Main, 1.10.1921

Lieber Freund!

Hatte sehr schöne Tage in Leipzig. Alles verlief glänzend. Und Ritter erschien unerwartet. Ich hatte langes Gespräch mit ihm: seitdem ganz beruhigt. Er ist jetzt wirklich auf dem richtigen Wege. Ich schreibe dies im Zug zwischen Bebra und Frankfurt. Viel Vergnügen mit den „Meistersingern“ und gute Enrfolg bei den Beratungen mit Gericke und Sell.

Herzlichst Ihr B.

 

133. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin?), 18.11.1921

Lieber Harro!

Ich habe mich im Tage geirrt. Die Pfitzner-Première ist erst Morgen (Sonnabend). Also dann auf Wiedersehen. Herzlichst. Ihr Becker

 

134. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 26.12.1921

Mein lieber Becker

Zeichnung Harro Siegel
Zeichnung Harro Siegel

Bei dieser Anrede überläuft mich ein schöner Schauder, wie bei einem eigentlich unerhörten Wagnis.– Und den genieße ich (-wie schon immer!).—Ich stelle es aber gleich voran: Du mußt Dich mit der Immanenz dieses Briefes begnügen, denn über Dich und mich kann ich trotz vieler Fülle eigentlich nur schweigen.; und sonst habe ich wenig zu leiden, also wenig zu sagen.

Etwas psychoanalytisch geredet: Von meinen beiden Carmiliumimagines lebe ich fast ausschließlich in der guten, was jedoch durch eine leise Regression in die böse einen gewissen spannenden Nebenzweig bekommt.

Ich sehe es ein, daß mit heftigem Ringen um Loslösung von der Familie schließlich doch eine ebenso heftige Bindung an sie parallel laufen muß. Man bleibt zu einem Teil ein ewiger Junge, der verwöhnt und gehätschelt wird und manchmal etwas „hochgenommen“ werden muß. Aber ich will es ja gar nicht anders.

Laß mich Dir ein etwas abwegiges Geständnis machen: Vorläufig in noch sehr tiefen und dunklen Gründen meiner Psyche regt sich ein leise nagendes Gefühl, – ein sehr häßliches und auch undankbares, dem ich vorläufig noch scheue, die Laterne gerade ins Gesicht zu halten. Ich kennzeichne es vielleicht halbwegs treffend als Ressentiment gegen mein Berliner Wohlergehen. Dies „im Sturm erobern“ doch nur zumeist unterschiedlicher Leute ist mir irgendwie unheimlich. Ich habe Angst um den Bestand meines „An-sich“ erwartet. Hinein gehst auch Du mit den anderen in eins: Du siehst mich, wie Du mich wünschst (und ich bin Dir gegenüber unbeabsichtigt so). Aber wie nahe liegt hier die Verführung zur Vita contemplativa, zum Pflanzen daheim: „Ist es nicht genug, wertvollen Menschen ein Lebenswert zu sein?“- Aber hier darf ich nicht stehen bleiben, – denn ich habe doch Schaffensdrang.

Nun, im Grunde ist meine letztjährige (im Zeichen Deiner Mentorschaft stehende) Entwicklung so unendlich weit, daß man wohl einige anrufbare Früchte daraus erwarten kann.

Ein etwas konfuser Weihnachtsbrief, wie? Es geht mir aber sehr gut!! Und das hoffe ich auch von Dir.

Geheimrat(?) R. sehe ich öfters. Davon mündlich Jedenfalls ist mein Verhältnis zu ihm nun auch so stabil, daß ich keinen Sturm mehr fürchte. Übrigens klagt er, daß Du überhaupt nicht mehr schriebest.

Nun wünsche ich Dir und den Deinen alles erreichbare Gute zum Neuen Jahre und bin

Dein Harro

 

135. C.H.B. an Harro Siegel. (Berlin-)Steglitz, 28.12.1921

Mein lieber Harro!

Ich dachte mir gleich, daß Du etwas zögern würdest, ehe Du die Anrede an mich schriebst. Um so selbstverständlicher fließt mir das Harro und das Du, das ich ja innerlich schon lange zu Dir sagte. Daß man über Vieles, oft das Beste und Letzte, lieber schweigt, ist auch ganz nach meinem Sinn, und ich glaube auch, daß wir uns über das Ich und das Du nichts mehr zu sagen brauchen. Das so schrecklich objektive und prosaische Papier kann nur schaden, wo Lebendiges wirkt, so subjektiv es sein mag. Und neugierige Dritte geht es schon gar nichts an. Trotz allem hast Du in Deinem Brief schließlich mehr gesagt, als Du eingangs zu wollen schienst. Auch das habe ich verstanden und schon gewußt, ehe Du abreistest. Du erinnerst Dich vielleicht meiner mehrfach gestellten Frage an unserem letzten Abend. Damals schlummerte die Formel vielleicht noch in Deinem Unterbewußtsein, jedenfalls verstand ich die Unklaglichkeit ihrer bevorstehenden oder schon erfolgten, aber noch verschleierten Geburt mit einer Stärke, die mir fast physisch weh tat. Ich empfinde es nicht als Undankbarkeit, ich freue mich dieser Deiner Reaktion gegen das seelische Sybaritentum der letzten Monate. Sieh, seit langem hoffe ich auf dies Ressentiment bei Dir und wenn Du mich auch – sicher mit Unrecht – mit den anderen in einen Topf wirfst, so will ich Dir doch sagen, daß Du mich schon zu meiner Reaktion auf den Chinaplan hättest erkennen können. Ich sehe Dich nicht nur, wie ich mir Dir wünsche. Ich sehe Dich mit doppeltem Gesicht. Das eine ist sehr nüchtern und sehr kritisch. Aber ich weiß, daß Kritik oder pädagogisch angewandte Kritik bei Menschen Deines Schlages doch nicht verfängt. Umstände und Erfahrungen müssen den Antrieb bringen. Man kann sie massieren helfen und auf die Wirkung warten. Das ist die einzige Pädagogik, die ich bei Dir angewandt habe. Ich habe Liebe auf Liebe gehäuft in der stillen aber sicheren Hoffnung, daß daraus die Tat geboren werden müsse, die künstlerische Tat, auf die ich von Anfang an bei Dir hoffte. Ich ging mit Dir einen doppelten Weg: durch die Härte und Öde der Werkstatt und durch die Weichheit und den Reichtum persönlicher Wertung, die wenn etwas in Dir steckte, die verschlackte Flamme zum leuchtenden Durchbruch bringen mußte. Ich merke jetzt, daß eine erste, noch scheue Flamme durchschlägt. Laß ein starkes Feuer daraus werden! Ich will kräftig blasen helfen, daß die Schlacken Deiner Passivität, Deiner Besinnlichkeit, Deiner Skepsis und Deiner Bequemlichkeit vom heiligen Eros zu Deiner Kunst und vom Glauben an Dich selber verzehrt werden. Das ist mein inniger Wunsch zum Neuen Jahr.

Und das andre Gesicht, mit dem ich Dich sehe? Das ist allerdings unbedingt, das geht nicht auf Experimente aus und will nicht erziehen. Das geht von Mensch zu Mensch, das sieht den „ewigen Jungen“ wie den werdenden Mann, die doch im Grunde eins sind. Das sieht die Zusammengehörigkeit, ohne den Zwang übersteigerte Bindung, ohne „Vergottung“, ohne Schwüle – kurz, ohne allen Un-Sinn, weil eben Sinn und Sein alles ist. Und wo dieser letzte Sinn herrscht, da braucht er keinen Namen, wie auch der Vater im Hause nur der Vater und der König im Lande nur der König heißt. Und so läuft das Wissen um den Sinn eben auf Schweigen hinaus.

Du siehst, ich habe Deinen Neujahrsbrief nicht so konfus gefunden wie Du selber ihn fragendst bezeichnest. Mögest Du Dir bewußt werden, daß ich Dich auch diesmal besser verstanden habe, als Du glaubtest. Und Du bist ja gewohnt, schon einiges vorauszusetzen.—

Wir hatten ein sehr schönes Fest – selten harmonisch und warm. Die Kinder waren köstlich und innerlich. Es wurde viel Liebe geschenkt und empfangen. Am 2.ten Feiertag waren Wendes mir ihren drei Kleinen bei uns. Er schien sich über die Bildersammlung sehr zu freuen.. Er schenkte mir Sa’di und ein lang gehegter Wunsch! – sein Bild. Dann begann wieder der Alltag, aber durch einige Sonntagsunterhaltungen mit Landé und anderen verschönt. Morgen nacht fahre ich auf einen Tag nach Cöln zum Kardinal, wenn nicht der Streik uns daran verhindert.

Dein schönes Bild hängt jetzt als Pendant zu Deinem ersten und interessiert und gefällt sehr. Auf Deine innere Vorbereitung für China schließe ich aus Deiner hübschen Skizze. Hab Dank dafür. Grüße die Deinen und Ritter, aber behalte bitte diesen Brief für Dich. Er ist ein persönliches Neujahrsgeschenk.

Dein CHB.

 

136. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 13.1.1922

Lieber Carl!

Wende hat doch wirklich recht: Menschen untereinander dürfen nicht restlos offen sein. Es ist nicht ethisch.- Ich mußte neulich restlos offen sein; jetzt ist mir das sehr übel bekommen.- Ich schrieb von einem Brief, den m(ein?) V(ater?) das Unglück hatte zu lesen. Diese Indiskretion hat für uns beide die grauenhaftesten Folgen gehabt..-

Er drang vorgestern Abend auf Erklärung und volle Wahrheit. Da ich eine hart im Raum stehende Äußerung (ich hatte ihn als Fremdkörper in der Familie bezeichnet) zu rechtfertigen hatte, so sah ich keinen Ausweg, als dem zu folgen. Es war über jedes Maß hinaus entsetzlich, trotzdem ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis ausstellen darf, mich durchaus anständig benommen zu haben.- Aber was für mich seit langem unverbrüchliche Tatsache war, – das traf ihn in dieser Absolutheit offenbar als ein völlig Neues (?) mit erheblicher Wucht: unser völliges inneres Fremdsein nämlich; da dies auch für meinen Bruder gilt, so hatte der arme Mann wohl recht mit den Worten, „ich zerstöre sein Leben“. –

Ich kam mir vor wie ein Henkersknecht, alle Zorn- und Rachegefühle schwanden im Lauf der Auseinandersetzung, trotzdem er vorläufig noch nicht das Maß seiner und des Schicksals Schuld einsehen will und mich zum Sündenbock machen zu wollen scheint.

Aber es tut mir weh, ihn zu sehen; ich finde wieder, daß ich ihn doch lieb habe. Woher die Kraft nehmen und wie den Weg finden, ihm das zu zeigen?. Jetzt wird er mir’s schon gar nicht mehr glauben. Vielleicht tust Du’s mal für mich.

Wir leben äußerlich so weiter wie bisher, und die Atmosphäre ist wenigstens nicht mehr so geladen wie bis dato.

Auf alle Fälle ist es gut, daß ich jetzt fortkomme. Obwohl – der Zwiespalt ist grausam – mich eine ebenso starke Kraft hier hält: das ist meine Liebe, wie Du denken kannst. Sie hat allerlei Stöße auszuhalten, aber sie wird stetig tiefer.

Ich klage nicht mehr über Mangel an Urerlebnissen; wenn ich noch hinzufüge, daß ich außer zum Buchbinden (gestern freilich mußten wir 55 Zentner Braunkohlen ins Kellergewölbe schaffen) zu nichts komme, als zu sehr oberflächlicher Lektüre freilich sehr rechtschaffner Bücher und zu sehr wenig Schlaf (erstens komme ich zu wenig an die Luft und zweitens bin ich zu verliebt),- so hast Du alles, was Du brauchst, Dir ein Bild meiner Tage zu machen. Aber ich halte aufrecht, was ich das letztemal schrieb: Es geht bergauf: – Ich habe mein Gesuch an die Handwerkskammer losgelassen. Findest Du es richtig, wenn Gericht gleich von sich aus ein befürwortendes Schreiben dazutut? Dann würde ich ihn sofort darum bitten.

In Berlin – bei meinem ausgezeichneten Meister – hätte ich es vielleicht zu einer 1 in der Prüfung bringen können; hier muß ich froh sein, so durchzukommen.—

Grüß bitte Hedwig (?) und alle anderen. Herzlichst Dein Harro.

 

137. C.H.B. an Harro Siegel. Gelnhausen, 20.1.1922

Mein lieber Harro!

Es geht mir etwas gegen den Strich, daß ich Dir zu Deinem Geburtstag schreiben soll. Ich hätte ihn gern mit Dir verlebt und Dir etwas Ersatz geboten für fehlendes Vaterhaus; denn mag sich auch noch so vornehm über Zeiten und Termine erheben, gerade „große Jungen“ lassen sich an solchen Tagen doch gern auch einmal streicheln und das Gefühl gefeiert zu werden macht warm, tut wohl und gibt Kraft. Außerdem ist das Leben so kurz und man macht sich’s

meist durch lauter Bedenklichkeiten so schwer, daß man die Feste feiern soll, wie sie fallen; dann darf man sich sagen, daß man sich lieb hat, ohne daß es gleich sentimental wirkt, dann darf man sich versöhnen, ohne daß man sich selbst den Krampf der mangelnden Pädagogik machen müßte – und schließlich gibt’s doch nichts Schöneres, als wenn man einmal selbst im Rahmen des Herkommens wahr sein darf, wenn die Form zum Sinn wird und die Festtagsfeiern doch nur den Ausdruck der Alltagsstimmung zwischen Mensch und Mensch wiedergibt. So wenigstens empfinde ich an Deinem Geburtstag und so hätte ich ihn gern gefeiert.

Feiern, mein lieber Harro, will ich ihn aber auch so. Den Plutarch habe ich Dir schicken lassen, wenn möglich gebunden. Ich war die letzten Tage vor der Abreise wenig wohl und habe mich nur sehr schwer zur Abfahrt am Dienstag entschlossen – noch Abends vorher mußte ich den Arzt kommen lassen -, sodaß ich nichts mehr selbst besorgen konnte. Wenn die Bücher deshalb wenig geburtstäglich ankommen, so schieb’s auf die leidigen Umstände. Einige materielle Dinge, die Dir sonst noch zugedacht waren, gebe ich Dir erst nach der Heimkehr; dann unterteilt sich’s besser, da doch sicher zum 24.ten auch in Cassel einiges eingeht.

Unser letzter Abend, so schön er war, bleibt für mich etwas unbefriedigend. Es ist etwas nicht zu Ende beredet worden. Das für mich ganz überraschende Problem L. (??3) mit seinen Auswirkungen hat die Besprechung der Dinge verhindert, von denen ich eigentlich erwartet hatte, daß sie zum Sprechen kommen würden. Ich denke an Deine eigene nicht menschliche, sondern berufliche Zukunft. Die aufrüttelnde China-Episode hat doch auch Dich veranlaßt, Deine berufliche Ausbildung nochmals zu durchdenken. Du wirst natürlich Deine jetzige Ausbildung zu einem gewissen Abschluß bringen – also allzu eilend ist die Sache nicht, aber wenn Du mir von dem Haufen schriebst, den Du abzuladen hättest, so dacht ich immer zuerst an die Entwicklung Deiner Berufsstellung. Seitdem ich Deine Zeichnungen gesehen habe, habe ich doch auch eine andere Anschauung von Deinem Können erhalten und möchte Dir sogern helfen, das wirklich künstlerisch Wertvolle in Dir zur Entfaltung zu bringen. Darüber müssen wir reden.

Inzwischen beschäftigt mich die Angelegenheit L. natürlich auch sehr. Ich werde ihn nächste Woche hier oder in Cassel treffen und das wird zu mancher Aussprache Anlaß geben. Ich werde ihm natürlich völlig die Initiative überlassen. Er muß mit Göttingen wieder anknüpfen. In solchen Fällen darf man nicht entweder –oder sagen. Ob Du schon Gelegenheit hattest mit ihm zu sprechen?

Wenn alles nach Wunsch läuft, bin ich am 26.ten Abends bis 29.ten Abends 8 (Uhr) in

Richerts Hotel, Cassel. Ich werde wohl mal nach Zwehren (?) hinausfahren, sicher aber nach Humboldtstraße 30. Was meinst Du, wenn ich mich Sonntag Nachmittag zwischen 4 und 5 (Uhr) bei Euch ansagte? Oder gibt es irgend welche h(eiligen) Gesetze über den Sonntag Nachm(ittag) wie Club, Familiencafé oder Spaziergang übers Land? Eigentlich ginge ich lieber ohne Landé hin; wenn er aber da ist, werde ich ihn kaum nicht mitnehmen können. Die Nacht von Sonntag auf Montag fahre ich zurück und erwarte dann daß Du Montag Nachmittag mal nach mir schaust. Bis zum 26.ten Nachmittags bin ich hier.

Und nun, leb wohl, mein lieber Harro! Was man als Vater, Bruder und Freund für einen geliebten Menschen auf dem Herzen haben kannst, das setze ich bei mir für Dich voraus. Laß es auch in Deinem neuen Lebensjahr – übrigens das erste, das ich bewußt mit Dir antrete – zwischen uns so bleiben, wie’s geworden ist. Und m(u)st (weggelocht!) Du wachsen vor den Menschen, vor mir und – vor Dir.

Dein C.H.B.

138. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 24.1.1922

Mein lieber Becker!

Es traf sich merkwürdig gut, daß ich gerade heute morgen Deinen Islam in die Hände bekam und den ganzen Tag daran zu tun hatte. Dieser Mittelsgegenstand ließ mein Tagträumen sich immer wieder um Deine Person verdichten. Und so war ich die ganze Arbeitszeit über in stiller und angenehmer Feierstimmung (trotz allerübelster Gegenströmungen meisterlicherseits)! Ich fand es dann auch nicht mehr nötig, zu noch größerem Schwung auszuholen; habe meine Pakete ausgepackt und gedenke mich nach Absendung dieses Briefs in mein Bett zu verkriechen. (Denn es ist allem Feuern zum Trotz erbärmlich kalt.)

Für Deinen Brief, den ich schon Sonntag erhielt, danke ich Dir von ganzem Herzen. Ich bin ja so dankbar, daß ich Dich habe. (Dankbar nicht irgendwem, – aber man umschreibt mit diesem Wort doch gut den Gefühlsinhalt, über den ich mich hier wohl nicht weiter zu äußern brauche.)

Der Plutarch kam gestern in einem vorläufigen (weil beschädigten) Exemplar; man hofft bald ein besseres zu besorgen. Ich freue mich wirklich sehr über diesen Besitz.

L(andé) habe ich inzwischen noch gesprochen. Ich glaube zu sehen, daß sein Verhalten zu mir jetzt von selbst eine Richtung nimmt, der ich Gegengewicht geben kann. Auch nach seinem heutigen Geburtstagsbrief scheint es mir so.- Wenn sich das in Zukunft bestätigte,- ich wäre ungeheuer befreit! Es sei wie es sei – er wird mich nie völlig verstehen können. Wieso, weiß ich natürlich auch nur zum Teil. Es ist eben nicht anders.

Übrigens gedenkt er nächsten Sonntag nach Göttingen zu fahren. (Zeige es ihm nur nicht zu sehr, daß Du Dich darüber freust.)- Doch müssen wir über all dieses noch mehr als ein Wort sprechen, auch über das Entweder-Oder– Du hättest dann auch die Möglichkeit, Sonntag nachmittag ohne ihn zu meinen Eltern zu gehen (was mir natürlich auch lieber ist). Von meiner Mutter bekam ich einen Brief, der mir sehr nahe ging.- Ich konnte Weihnachten zu keiner wahrhaften Aussprache mit ihr kommen; sie leidet offenbar auch sehr unter dem Gefühl, ich sei unzufrieden, zwiespältig. (Sie hat auch recht; es ist doch noch oft so.)- Nun kam hinzu, daß G.R in Kassel war, der mich auch in der Zeit dort, wo ich nicht mit ihm zusammen war, sehr in Anspruch nahm; ganz naturgemäß fühlte ich mich in die letzten qualvollen Jahre, die ich zu Haus verlebte, zurückversetzt; kurz, mich quält jetzt der Gedanke, sehr viel Liebe, die man mir entgegenbrachte, nicht beachtet zu haben, allzu sehr verkapselt in mich selbst.- Ich sehe doch selbst noch so sehr wenig klar: was hilft es auch, wenn ich die (unleserlich: Aura?) meiner Zwiespaltenheit bald so, bald so benenne? Ich habe noch soviel dumpf-chaotisches in mir, daß ich zwar hoffe, daß daraus noch mal irgendwas (unleserlich: Brauchbares?) hervorgehen kann, daß aber Angst und Melancholie mich jetzt meistens an solchem Darüberstehen hindern.- Die gelassene Ruhe, in der Du mich für gewöhnlich kennst kommt eben nur in Deiner Gegenwart über mich;- umso wohltuender ist sie, – aber sie ist noch völlig die Ausnahme.- Sollte es sich ergeben, daß Du mit meiner Mutter allein sprechen kannst (was ich kaum glaube), so sage ihr bitte, daß ich alles, was an guten und zukunftsvollen Kräften etwa in mir ist, als von ihr allein kommend betrachte, und daß es vielleicht der Kampf um die Durchsetzung dieser Kräfte ist, der mich so unerträglich an mich selbst fesselt. (Es ist vielleicht gut, wenn Du gleich nach Deiner Ankunft anrufst, dann richtet man sich auf alle Fälle auf Dich ein.)- Wenn Du irgend Zeit hast, besuch doch die L(andés?) in Galwin (?). Sie ist wundervoll.-

Du hast schon durchaus recht; daß L(andé?)-Problem mußte seiner Zeit heraus, weil die Zeit dazu drängte. An innerer Wichtigkeit kann es sich mit der Berufsfrage (die aber das Gegenteil

von äußerlich maßgebend ist) nicht messen.

Hier stehe ich erst an der Wurzel meiner derzeitigen Nöte. Und noch völlig im Dunkeln.- Ich wünschte wirklich, Du besuchtest meinen Freund Hermann Cohn. Durch einen plötzlich einsetzenden zweimaligen Briefwechsel mit ihm ist mir mein sog. „Künstlertum“ so fragwürdig geworden, wie noch nie. Denn ich sehe bei ihm, was es heißt Künstler von schicksalswegen zu sein. Aber schließlich brauche ich nur ein Museum zu besuchen oder etwas von Goethes Briefen zu lesen, -und ich erlebe dieselbe (unleserlich: Quelle?) des Vergnügens, das Ausbleiben einer Ruhe von literarischem (kunsthistorisch wertvollem!) Dilettantismus. (Frage Landé auf Ehre und Gewissen: Er muß Dir dies bestätigen; und hierin kann man ihm schon glauben; denn er ist nur Künstler, nur Maler, – alles andere ist unwichtig).

Alle diese Dinge wühlen aber noch so in mir, daß ich lieber nicht weiterschreibe. Entschuldige überhaupt, daß dieser so behaglich (unleserlich) beginnender Brief sich auf einmal so wandelte. Es sollte eigentlich nicht sein. (Aber da ja Du es bist, mag’s stehen bleiben.) Ob ich bald oder erst später mit Dir davon sprechen werde, weiß ich nicht. Aber es kommt!

Grüße Landé; vielleicht schreibe ich ihm nach C(assel).

Es hat Dich sehr lieb Dein Harro.

 

139. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Cassel, 27./28.1.1922

Wir haben keinen Moment Ruhe, kommen auch nicht ins Fried(rich?)Gymnasium, da es zu schlecht ist. Morgen Samstag gehe ich um 5 Uhr zu Deinen Eltern. Dank für Deinen Brief nach Gelnhausen, über das weitere mündlich! CHB.

Nachtrag einer 2. Person:

Die Reise ist schön, Cassel zeigt sich frisch im Sonnenschein. Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief, der mich ganz froh begrüßte. Sehen wir uns Montag, da Dienstag abwesend? Herzlichst Ihr Walter L(andé?)

 

140. C.H.B an Harro Siegel. (Berlin?), 8.2.1922

Lieber Harro!

Mein Vortrag fällt aus.

Wir erwarten Dich Sonntag 1 Uhr zum Mittagessen. Keine Antwort = Zusage.

Beiliegende Unterstützung Deiner Junggesellenwirtschaft nimm freundlich auf – ohne weiteren Dank. Habe sie selbst für Dich erstanden.

Brief von Ritter erhalten; wenig erfreulich. Näheres Sonntag.

Herzlichst Dein CHB.

 

141. Harro Siegel an C.H.B. Cassel, 25.2.1922

Mein lieber Carl!

Du behältst recht: zu Besorgnissen ist kein Grund.- Aber ich wollte es vermeiden, noch mal so zu schreiben wie neulich. Ich wollte alles hinter mir haben.- Ich schrieb damals etwas von Unzurechnungsfähigkeit. Das soll heißen: Mein Brief beansprucht keine objektive Geltung, er ist nur ein Mittel zur Gemütserleichterung. Wäre es anders, dann wäre es freilich schlimm. Ich habe meistens immer noch so trübe Stunden, daß auch weitere Briefe so ausfallen würden. Aber das Ende zieht sich hin und zieht sich hin, und ich lasse Dich zu lange warten.

Ich war ganz gerührt heute morgen, als ich die Briefe von Dir und Cohn fand.- Hab vielen Dank für Deine Sorge.- Die Prüfung sollte Ende (?) des Monats sein; aber trotzdem ich seit 1 ½ Wochen täglich ununterbrochen 10-12 Stunden arbeite, kam ich mit meinen Probearbeiten nicht zu Rande. Ich muß eben immer wieder Werkstattarbeit dazwischen tun. Auch heut, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag gearbeitet. Morgen hoffe ich, zum Abschluß zu gelangen, und dann, denke ich, wird in einer Woche die Prüfung steigen.

Übrigens, falls Ihr etwa hochgespannte Erwartungen habt, – es ist nicht anzunehmen, daß ich hervorragend abschneiden werde. Rite, mehr nicht- Vor einem halben Jahr wär’s besser geworden; ich habe zuviel grobe Arbeit getan inzwischen.

Ich möchte gerne 1 Woche vor Ostern nach dort kommen, aber m(ein?) V(ater?) wird die Notwendigkeit dazu nicht einsehen. Und er muß jetzt wie ein rohes Ei behandelt werden. Wenn Du denkst, mit der Zulagensache hätte ich ihn mißverstanden, so ist dem leider nicht so. Es ist ja so fürchterlich, aber hier streckt er eben seine Wurzeln ins Irrationale. Das gibt’s eben auch. Ha, er hat ja nun seinen Willen.

Ich fühle mich allmählich etwas abgekämpft, aber die Nähe der Erlösung, Deine liebende Sorge und meine immer tiefer werdenden Gefühle für den süßen Jungen (ich darf das doch schreiben?) tragen mich über alles hinweg. Körperlich geht mir’s gut.—

Leb wohl, mein lieber Carl! Stets Dein Harro.

 

142. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel, Berlin Frankfurt/M, 26.2.1922

Hoffentlich hast Du bei Deiner heutigen Wanderung so schönes Wetter wie wir hier. Dies als Zeichen treuen Gedenkens im Festtrubel der Goethewoche. Dein CHB

Nachtrag 2. Person:

Wenn Sie wüßten, wie Sie B(ecker) fehlen! Grüße von –au! – Erich Siegelersatz.

 

143. Harro Siegel an C.H.B. Berlin, 13.5.1922

Mein lieber Carl!

Wenn Du Dich auf Deiner Münchener Karte, für die ich herzlich danke, so mit C.H. unterschreibst, so ist es wohl (griechischer Ausdruck), wenn ich obenstehende Anrede hinschreibende Sie hat eine ganze Weile allein dagestanden und kam mir merkwürdig genug vor. Ich erinnere mich noch jenes freudig-beklommenen Schauders, mit dem ich nicht in einem Brief nach Gelnhausen den Dr. vor Deinem Namen fortließ. Auch diesmal empfinde ich Schauder, aber er geht tiefer und ist heiß. Es ist das Gefühl, Dir verfallen zu sein, was über mich gekommen ist, deucht mich. Wie unendlich schön ist es deshalb, daß diese Bindung so klar ist. Es gibt andere, die sind dumpf und verworren, – sie drücken nieder. So ist es bei uns nicht! Aber damit will ich nicht sagen, daß mir unsere Bindung nicht auch schmerzlich wäre. Wieso, das ist nur in Aufsätzen zu „verworten“. Ich vermute, es ist im Grunde das tief-beunruhigende Gefühl des Auseinanderklaffens von Ich und Ich-Ideal, das ich nie verliere. Ich bin imstande, mir einen Harro zu träumen, den ich unbedingt für wert erklären würde, von Dir geliebt zu werden, und den ich selbst auch sehr liebe.

Aber der andere Harro ist eben nicht so, und jetzt weniger als je. Du hast ja selbst bemerkt, wie eigentümlich stumpf ich in letzter Zeit geworden bin; stumpf, innerlich allzu nachgiebig, irgendwie – es sei gesagt – würdelos!

Ich muß wiederholen: fern von Dir ist mein Zustand in der Regel ein gewaltsames Augen-zu-drücken vor der eigenen Umwelt und fernzuhalten vor inneren Pflichtgeboten. Oder (?weggelocht) er ist Verzweiflung (aber das ist zu hochtrabend gesprochen und kommt mir kaum zu!)- Nun ist es ja so, daß all dies (es ist ein Riesengebiet, – wozu Einzelheiten geben?) vor Dir verschwindet, der Spalt beginnt sich zu schließen, ich komme zur Ruhe, schlafe sozusagen ein. (Peinlicherweise drängt sich mir hier der Vergleich mit einem Kinde auf, das in den Schlaf gewiegt wird. Geschmacklos, wie?)

Nur, ich schlafe nicht genug ein, es bleibt hartnäckig ein leiser, dumpfer Schmerz; worüber? Ich will mal sagen, über meine Unehrlichkeit. Ich weiß ja, daß Du mich kritisch siehst, ich habe Dir ja auch oft genug von meinen kleinen und größeren Schmerzen gesprochen. Aber jenes Gefühl bleibt. Wie soll ich dahinter kommen, was es ist? Ich meine manchmal, es gibt Stücke von mir, von denen Du vielleicht weiß, die Du aber dennoch nicht kennst, nicht „erlebtest“ (nur sozusagen). Es sind böse Stücke, glaube ich, und doch nicht wertlose, an meinem Kern unleugbar wesentlich beteiligt. Nun, ich gebe es (vorläufig) auf, dahinter zu kommen.

Wenn Du mich (wie neulich) auf Ehre und Gewissen fragst, ob ich Dich wirklich liebhabe, so erwidere ich ehrlichen Herzens und ohne Anstrengung: Ja. Aber dabei weiß ich (und es tut mir weh): Du hast mich nicht ganz. Denn ich habe mich ja selbst nicht. Sich ganz geben und sich ganz haben ist ja wohl ein -; was soll ich es leugnen, ich habe mich noch keinem Menschen und keiner Sache „ganz“ gegeben. Wenn ich anders wäre, so würde ich das nicht wissen, ich würde Dich und mich glauben machen, ich gehörte Dir völlig und in diesem Rausch selig sein. Aber ich bin nun mal so und kann keinen Schaum schlagen. Aber dies ganze Geständnis ist (vielleicht) das Letzte und Höchste, was ich einem geliebten Menschen geben kann. (Skepsis beiseite.)

Mein erster Versuch, Dir dies zu sagen (sin of selflove…) war täppisch genug, – ich möchte ihn Dir immer wieder abbitten. Ob es diesmal besser gelungen ist?—

Du kennst meinen Haß gegen alles Literatentum. Und doch ist aus dieser Brief ein Zeugnis wider mich selbst hierin. Es sind gar keine Wörter, es sind immer bloß Benennungen, was ich schreibe: Aber ich glaube, Du spürst doch den echten Herzschlag hindurch. Kannst Du erfassen, wie ich Dich auf Deiner Reise begleite? Soll ich Dir sagen, wie mit jedem Gedanken an Dich Dein Bild realiter in meinem Auge entsteht, und wie ich es realiter in Herz und Zwerchfell spüre, daß hier etwas einigermaßen anderes vorgeht, al wenn an Herrn oder Frau XYZ denken? – (Ein bißchen bin ich ja auch stolz, von Dir geliebt zu sein.)

Äußerlich-beruflich geht es mir nicht schön. Gottseidank ist morgen Sonntag. Es ist gut, daß Du bald wiederkommst; ich habe allerlei noch zu sagen. – Wie ist Deine Reise? Ich wünsche Dir das Beste dafür.

Es grüßt Dich Dein Harro.

 

144. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Padua, 15.5.1922

Mein lieber Harro!

Also es ging alles gut. Die Stimmung ist glänzend. Es war ein ganz eigenartiges Fest. Namentlich der Festakt mit König, Kardinal Maffi (?), 100ten fremder Professoren in bunter akadem(ischer) Tracht und von 8000 Personen in dem riesigen 86 x 28 m großen „Salone“ war ein ganz einzigartiger Eindruck. Fabelhafte Disziplin der Massen, obwohl von vornherein 9/10 der Anwesenden kein Wort verstehen konnten. Meine Rede (deutsch, mit italien(ischem) Schluß wurde einfach glänzend aufgenommen und fast mehr applaudiert wie die der anderen fremden Redner. Es war ein kitzlicher Moment, aber es war ordre gegeben, alles Politische zu vermeiden. Der Franzose sprach direkt versöhnlich gegen den Völkerhaß und für die Gemeinsamkeit der Zus(ammen)arbeit aller Nationen sans exception. Man schwimmt mal wieder ständig in vier Sprachen und genießt Italien. Es ist einfach herrlich. Heute Abend ist Schlußbankett, dann Exkursion nach Venedig, wo noch Empfänge stattfinden. Ich nehme mir einen Studenten mit für 1-2 Tage (einen Südtiroler (jetzt Italien), der uns am Bahnhof betreute. Dann bleibe ich noch ein paar Tage allein. Der Betrieb hier ist fabelhaft. Du würdest Augen machen. Ich denke oft und stark an Dich. Dein CHB

 

145. Postkarte von C.H.B. an Harro Siegel. Venedig, 18.5.1922

Ponte dei Sospiri

Mein lieber Harro!

Dein guter Brief hat mich im Augenblick meiner Abreise aus Padua mit den ersten Nachrichten aus der Schillerstraße und von Wende erreicht. Also warst Du in der erwarteten Gesellschaft. Ich schreibe Dir heute oder Morgen, noch bin ich nicht allein und ziemlich bewegt. Es ist über alle Begriffe schön hier. Gewiß hat man nicht mehr den frommen Schauder des ersten Sehens, aber um so intensiver wird der Genuß, wenn man sich wissend hingibt.

Das Wetter ist strahlend. Ich wohne in echt ital(ienischer) Kneipe, aber sauber. Nun habe ich noch 4 Tage hier vor mir. Ich werde wohl bis Montag bleiben und dann in einem Rutsch durchfahren bis Augsburg und Frankfurt.

Also bis bald. Dein Carl.


1 Spitzname für Beckers Jüngsten, Hellmut. BB

2 franz. schamlos

3 Wohl der weiter unten genannte Landé, Beckers Mitarbeiter im Ministerium, MR in der Abteilung U II (Höheres Schulwesen) 1926

Willy Bornemann

HA.VI. Rep.92. Becker B. Nr.7920 (Willy Bornemann 1910-1930)

104. C.H.B. an Dr. Willy Bornemann, Frankfurt, Zeil 72 Hamburg (?), 22.10.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Du bist zwar ein hartnäckiger Schweiger, aber wenn man etwas von Dir will, muß man Dir trotzdem wieder schreiben. Bitte sei so freundlich und bestelle mir denselben schönen Turnapparat, den Du unserem Walter geschenkt hast, für mein Patenkind Joachim Becker, Arndt-str.25. Veranlasse bitte, daß er in meinem Auftrage dorthin geschickt wird und daß mir gleichzeitig hierher die Rechnung zugeht. Ein kleines Briefchen lege ich bei.

Hoffentlich geht es Allen so gut wie bei uns; die Photographien wirst Du wohl erhalten haben.

Herzlichst Dein alter (C.H.B.)

 

105. C.H.B. an Willy Bornemann. Hamburg, 29.12.1910

Maschinenkopie

Lieber Willy!

Zu Weihnachten haben wir gegenseitig ohne viel Worte unserer beiden Söhne gedacht, und ich hoffe, daß der Trambahnwagen Carl soviel Freude gemacht hat, wie Walter das Pilzbuch, mit dem Du gerade eine Liebhaberei von ihm getroffen hast. Stinkpilz ist seitdem ein Lieb-lingswort bei uns geworden. Nimm jedenfalls vielen Dank für die beiden Geschenke.

Punkt 2 meines Briefes betrifft den Jahreswechsel, zu dem Hedwig und ich Duttan und Dir alles Gute wünschen. Möge Euch Euer Kleiner auch im folgenden Jahre so viel Freude bereiten und Ihr selbst so glücklich und befriedigt Euer Leben genießen, wie bisher.

Ich freue mich, Dich in wenigen Wochen wiederzusehen. Am 25. Januar halte ich in Frankfurt und zwar im Verein für Geographie und Statistik einen Vortrag über die Araber in Spanien. Es wäre nett, wenn Du hinkommen könntest. Ich glaube, Du hast mich noch nie sprechen hören. Es wird allerdings diesmal eine milde Plauderei, da das gebildete Frankfurt nicht ohne Lichtbilder auskommen konnte. Ich fahre dann von Frankfurt weiter nach Metz, Saarbrücken und Neunkirchen, wo ich über sympathischere Dinge Vorträge halten werde. Dann gehe ich für 14 Tage nach Hamburg zurück, um hier am 20. Februar über Marseille nach Ägypten zu fahren, wo ich ohne Frau zwei Monate verbringen will.

Alles Nähere mündlich und damit Prosit Neujahr!

Von Herzen Dein alter (C.H.B.)

 

106. Willy Bornemann an C.H.B. o.O. (Frankfurt/M?), 31.12.1910

Lieber Carl!

Herzlichsten Dank für Deine lieben Zeilen und auch in Carlchens Namen für den prächtigen Trompetenwagen (? Schlecht leserlich) , mit dem Du ihm eine riesige Freude gemacht hast. Für alles was fährt, ist er begeistert, und so konntest Du ihm gar nichts Erwählteres schenken, als jetzt einen Wagen.

Wir hatten recht unruhige Weihnachten und zwar infolge der Verlobung meiner Schwester. Es kam sehr plötzlich 10 Tage vor Weihnachten, wird erst in den nächsten Tagen öffentlich. Der Bräutigam Carl Barthet ist ein sehr netter Mensch, Inhaber der Ferien-Lampen, aber eigentlich ein besserer Schneider, was man ihm aber durchaus nicht anmerkt. Vielleicht er-innerst Du Dich seiner von der alten Schule her, obwohl er 5 Jahre jünger war als wir. In

pekuniärer Beziehung ist die Partie eine sehr gute, und da Emmy durch ihre reichen Freundin-nen recht verwöhnt war, wird sie den vielen Mammon schon anzuwenden wissen. Vielleicht noch besser als der Bräutigam gefällt mir dessen noch ledige Schwester, so gut, daß ich Tutten schon eifersüchtig gemacht habe. Auch der Vater (die Mutter ist tot) macht einen gemütlichen guten Eindruck.

Meine Mutter ist natürlich froh darüber, daß sie Emmy glücklich versorgt weiß. Ich hoffe, sie wird sich nun selbst etwas mehr (Ruhe? Weggelocht) gönnen, nachdem sie eingesehen, daß sie mit all ihrer Plackerei es doch nicht zu Ergebnissen hat bringen können, die im Vergleich zu den Lampen respektive Barthet’schen Mammon irgend in Betracht käme.

Uns in der Fürstenhofstraße geht es gut.- Wir freuen uns sehr auf Dein Herkommen am 25.1. Ich wünschte, ich könnte auch mal aus meiner Tretmühle heraus. Alle Tage immer mehr Krankheit mit ansehen müssen, ist ein bißchen reichlich viel. Man gewöhnt sich aber auch daran.

Mit den herzlichsten Neujahrswünschen von Haus zu Haus Dein aller Willy.

 

107. C.H.B. an Willy Bornemann. O.O. (Hamburg?), 11.1.1911

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich habe Dir schon geschrieben, daß ich am 25. Januar in Frankfurt einen Vortrag halte. Da ich annehme, daß Du nicht Mitglied des Vereins für Geographie und Statistik bist und da Einzel-karten nicht ausgegeben werden, schicke ich Dir anbei zwei Karten, die Du im Verhinderungsfalle weitergeben kannst.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

108. C.H.B. an Frau Bornemann, Frankfurt. Bonn, 8.12.1914

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Diesmal habe ich wirklich den 4.Dezember vergessen, obwohl er doch in meinem Kalender wie jedes Jahr rot angestrichen war. Was werden Sie von mir gedacht haben? Ich hoffe, Sie haben es auf Konto des Krieges gesetzt, der uns ja allerdings etwas aus dem normalen Leben herausreißt. Ich hatte den Kopf so voll und reiste außerdem gerade in diesen Tagen zum Besuch meiner Schwester Riedel nach Magdeburg, daß ich es wirklich vergaß, Ihnen zu gratulieren. Lassen Sie es mich es heute nachholen und Ihnen in dankbarer Treue meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche aussprechen. Meine Frau schließt sich mir natürlich aufs Herzlichste an.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes berichten. Zwar ist unsere Hertha zur Zeit an Mumms erkrankt; aber dafür geht es den Anderen gut. Sorge hatten wir eigentlich nur wegen meiner Mutter, die plötzlich fiebrige Verdauungsstörung bekam und stark abfiel, was in ihrem Alter doch immerhin bedenklich ist. Jetzt scheint sie es wieder überwunden zu haben.

Von unseren Verwandten im Felde haben wir bisher gute Nachricht. Mein Bruder Alex steht sogar noch in Hannover. Der Bruder meiner Frau ist durch einen Zufall bayerischer Nachrichten-Offizier bei meinem Schwager Riedel geworden, der in der Gegend von Arras die preußische Nachbar-Division führt. Zwei Söhne meines Schwester stehen in Rußland, einer ist auf einem Kriegsschiff. Bisher ist alles gut gegangen.

Aber sonst hat sich der Kreis der Freunde doch sehr gelichtet, und auch habe manchen verloren, der mir nahe stand. Leider bin ich selbst verdammt, still zu Hause zu sitzen, doch habe ich mich bemüht, wenigstens mit der Feder mein Teil beizusteuern. Auch hoffe ich, da noch einiges leisten zu können. Es ist eben auch ein geistiger Kampf, der jetzt tobt. Gottlob dürfen wir ja guten Mutes in die Zukunft sehen. Die neuesten Ereignisse in Rußland scheinen ja sehr günstig zu sein.

Mit herzlichen Grüßen an Ihre Kinder – ich denke auch oft daran, wie es Hans ergehen mag – bin ich in alter Freundschaft Ihr getreuer (C.H.B.)

 

109. C.H.B. an Willy Bornemann. Bonn, 24.12.1914

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy!

Zu Weihnachten und dem neuen Jahre möchte ich Deiner Frau und Dir sowie meinem lieben Patenjungen einen herzlichen Gruß senden. Ich habe in diesen ernsten Zeiten von dem üblichen Weihnachtsgeschenk Abstand genommen, da ich nicht etwas kaufen will, was Ihr vielleicht Eurem Jungen von Euch aus schenken wollt. Auch bekommt er vielleicht zu Weihnach-ten schon soviel sonst, daß es richtiger ist, das Geschenk zu kapitalisieren. Ich lege Dir deshalb M(ark) 20,- ein mit der Bitte, sie nach Belieben für Euren Carl zu verwenden. Ich habe gar nichts dagegen, wenn Ihr sie in seine Sparkasse legt.

Von uns kann ich im allgemeinen nur Gutes melden. Wir sind zwar mit allerlei Krankheiten und Dienstbotenärger reichlich bedacht gewesen, aber was bedeutet das in diesem Jahr, wo rings um einen herum die fallen, die einem nahe stehen. Unseren engeren Familien ist es zwar bisher gut ergangen. So sind sämtliche Riedels seit dem ersten Mobilmachungstag draußen, ebenso mein Schwager Fritz, ohne daß bisher was passiert wäre. Dafür hat sich der Freundes-kreis um so mehr gelichtet, und gestern bekam ich die Nachricht von dem Tode meines treuen Schülers und Assistenten Graefe. Jahrelang habe ich in Hamburg mit ihm zusammen gearbeitet, und nun ist er bereits zwei Monate lang tot, ohne daß Eltern und Braut es wußten. Gleichzeitig starb hier Professor Sell, der uns ein väterlicher Freund geworden war und schon mei-nen Bruder Ferdinand wie dann unseren Jüngsten1 getauft hatte. Gottlob lauten die Nachrichten aus Gelnhausen wieder günstig. Eine Zeit lang hatten wir große Sorge um die Mutter, da sie ganz schwere Verdauungsstörungen mit starkem Kräfteverfall bekam. Nun scheint sie wieder hoch zu sein. Aber immerhin lastet doch all das viele Traurige auf dem diesmaligen Weihnachtsfest, und man muß sich etwas zusammenreißen, um für seine Kinder die nötige Freude zusammen zu bringen. Unser Jüngster wird diesmal den Christbaum zum ersten mal mit einem gewissen Bewußtsein erleben. Er läuft jetzt sehr nett an einer Hand, und man kann schon die Anfänge einer Unterhaltung mit ihm bewerkstelligen.

Von Deiner lieben Mutter hatte ich neulich einen rührenden Brief. Danke ihr bitte vielmals für

ihre freundlichen Berichte. Hoffentlich seid Ihr über Hans beruhigt. Ich wünsche Euch allen ein gutes Fest und ein gutes neues Jahr, das uns hoffentlich einen Frieden in Ehren bringt.

Es wird Dich noch interessieren zu hören, daß Fischler als Zivilarzt den Bonner Universitäts-Lazarettzug führt und vor einigen Wochen mit nach Frankreich abgefahren ist. Die Schwierig-keit seiner Situation wurde durch den Ausbruch des Krieges ungeheuer gesteigert. Die Lösung ist eine vortreffliche. Er ist sehr erholt und war mit wiederbeginnender Arbeit ganz der Alte. Walter Groß sitzt in Antwerpen und hat nichts zu tun, worüber er kräftig schimpft. Sehr ulkig ist auch, daß mein Schwager Fritz als bayerischer Nachrichten-Offizier zum Stabe meines Schwagers Riedel, der die Nachbar-Division führt, kommandiert ist.

Ich will am 1.Januar nach Gelnhausen, dann über Berlin nach Hamburg. Ob ich Dich auf der Durchreise sehe, weiß ich noch nicht. Dann aber wird sich wohl um den 28. Gelegenheit zu einem Wiedersehn bieten.

Herzliche Grüße von Haus zu Haus, ein gesegnetes Fest und ein gutes neues Jahr! (C.H.B.)

 

110. C.H.B. an seinen Patenjungen Karl Bornemann. Bonn, 22.12.1915

(Maschinenkopie)

Mein lieber Karl!

Zu Weihnachten sende ich Dir und Deinen Eltern unsere herzlichsten Grüße. Ich habe mir lange überlegt, was ich Dir Schönes zu Weihnachten schenken könnte; aber ich habe Dir schließlich nichts geschickt, weil ich befürchtete, Du fändest vielleicht das Gleiche unter dem Weihnachtsbaum. So sende ich Dir erliegend 20 M; davon kannst Du Dir irgendeine Freude machen, oder Du kannst sie in Deine Sparkasse tun, wie es Dir Deine Eltern raten. Als Dein Vater und ich noch klein waren, da war es immer eine große Sache, wenn Dein Vater zu Weihnachten von seinem Patenonkel 20 M geschickt bekam, und ich habe mich oft mit ihm gefreut, wie glücklich er über dieses Geld war. Nun bin ich Dein Patenonkel, und da möchte

(Schlußblatt fehlt)

 

111. C.H.B. an Frau Bornemann. Bonn, 29.5.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Frau Bornemann!

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundlichen Zeilen und weiß, daß Sie mit mütterlicher Teilnahme an der neuen Wendung meines Schicksals2 innerlich beteiligt sind. Es war mir eine große Wohltat, den bedeutungsvollen Schritt, noch ehe er öffentlich wurde, mit Willy besprechen zu können. Mittlerweile wird er ja in der Öffentlichkeit bereits sehr diskutiert, und es freut mich eine gute Presse zu finden. Hoffentlich erfülle ich alle die Wünsche, die man in mich setzt, und hoffentlich hält auch meine Gesundheit durch. Ich hätte mir diese Entwick-lung nie träumen lassen; man soll aber zugreifen, wenn einen das Schicksal vor eine große Aufgabe stellt. Und so wage ich es. Allen denen aber, die wie Sie so herzlichen Anteil nehmen, bin ich aufrichtig dankbar.

In alter Freundschaft Ihr Sie dankbar verehrender (C.H.B.)

 

112. C.H.B. an Willy Bornemann, Frankfurt, Leerbachstraße 18. Berlin, 19.2.1920

(Maschinenkopie)

Mein lieber Willy,

Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir meine innigsten Glückwünsche. Als kleines äußeres Zeichen füge ich ein Exemplar meiner letzten Schrift bei, die ja vielleicht nicht in allen Punkten Deine Zustimmung finden wird, mit der Du aber im großen Ganzen doch einverstanden sein wirst.

Dankbar gedenke ich des herzerquickenden Abends, den ich mit meinem Freunde Wende bei Euch verbringen durfte. Ich bin Dir und Deiner lieben Frau wirklich von ganzem Herzen dafür verpflichtet, daß Ihr mich bei meinen zahlreichen Besuchen immer wieder mit der gleichen Herzlichkeit aufnehmt, obwohl unsere Gastfreundschaft in den letzten Jahren so eine ausschließlich einseitige geworden ist und ich immer nur der empfangende Teil bin. Niemals verlasse ich Eure Wohnung ohne das lebhafte Bedauern, daß uns das Leben örtlich so weit auseinandergebracht hat. Unsere gemeinsam verbrachte Jugend und unsere innere Entwick-lung aneinander bilden für uns beide einen unveräußerlichen Besitz, und wenn ich an Deinem Tische sitze, versinken die 20 Jahre, die zwischen unserm gemeinsamen Leben und der Gegenwart liegen, in einem Meer des Vergessens. Besonders dankbar bin ich auch Deiner lieben Frau, die mit unvergleichlichem Verständnis unser altes Verhältnis vertieft und bereichert hat. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, noch einmal besonders zu Euch zu kommen, um etwas mehr Fühlung mit Carl zu bekommen; aber leider mußte ich meinen Plan ändern. Nach sehr anstrengenden Tagen in Marburg und Frankfurt – beide Veranstaltungen aber von Erfolg begleitet – war ich so müde, daß ich mich 8 Tage in Gelnhausen ganz ruhig verhielt und bei der Rückreise nur wenige Stunden in Frankfurt zur Regelung einiger dienstlicher Angelegenheiten mich aufhielt. Besonders lieb war mir, daß Du bei dieser Gelegenheit auch meinen Freund Wende kennen gelernt hast. Je weniger wir imstande sind, eine tägliche körperliche und geistige Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, um so wichtiger ist es mir, daß Du die Menschen kennst, die jeweils mit mir in dieser Gemeinschaft stehen. Wende ist nicht nur mein Nachfolger und – wenn ich so sagen darf – mein Schüler, sondern er steht mir aus dieser gemeinsamen Arbeit heraus ganz außerordentlich nahe. So haben wir denn die ruhigen 8 Tage in Geln-hausen bei guter Verpflegung, auf wenige heizbare Zimmer beschränkt, sehr genossen. Inzwischen hat die Alltagsarbeit uns wieder überflutet, und Marburg, Frankfurt und Gelnhausen liegen wie ein schöner Traum hinter uns.

Hier schlagen wir uns mit Parlament und Staatsministerium herum und kämpfen mit anderen Ministerien um die neue Besoldungsordnung. Jeder Tag bringt sein Neues. Aber manchmal bäumt es sich in mir auf gegen das Zuviel an Arbeit, das auf mir lastet. Als ich gestern abend nach 3 ½ stündiger ununterbrochener Arbeit den letzten Aktendeckel zuklappte, war ich wirklich etwas ärgerlich. Und doch, wohin soll es führen, wenn wir nicht bis zur letzten Kraft unsere Pflicht tun? Darin allein findet man ja auch einen Trost gegenüber den immer schwie-riger werdenden Verhältnissen. Es ist interessant zu beobachten, daß die Gebildeten zunächst die geistige Spannkraft zur Arbeit wiedererlangt haben. Hoffentlich folgen auch die handar-beitenden Volksgenossen uns nach. In diesem Sinne habe ich mich heute morgen einem sehr interessierten Ausländer gegenüber äußern können. Willy Hepner, dessen Du Dich entsinnen wirst, brachte mir den früheren englischen Minister Trevelyan, der, wie du Dich vielleicht erinnerst, als Mitglied der Labour Party bei Kriegsbeginn mit Jone Burns und Morley aus dem Kabinett austrat. Es ist ein famoser Mann, der nach besten Kräften Deutschland helfen möchte.

Über Willy Hepner, der sich sehr deutschfreundlich benommen hat, fällt mir Wilhelm Trendelenburg ein, für den Du Dich ja früher gelegentlich interessiert hast. Er hat vor nicht ganz einem Jahre plötzlich seine Frau verloren und hat sich jetzt wieder mit einer Schülerin verlobt, da er eine Mutter für seine 7 Kinder braucht. Er hat mindestens 10 Rufe gehabt und ist zur Zeit Ordinarius in Tübingen.

So, nun muß ich aber zu meiner Arbeit zurück. Nimm diese Zeilen als Zeichen treuen freundschaftlichen Gedenkens.

Mit allen guten Wünschen für Dich und die Deinen (C.H.B.)

 

113. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.8.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich bin zum Schuljubiläum in Frankfurt, wohne im Hotel Baseler Hof von Donnerstag früh an, besichtige an diesem Vormittag u.a. die Musterschule, wo es mir Spaß machen würde, zufällig in Karls Klasse zu kommen. Ich muß mich darin allerdings der Führung des Direktors überlassen. Zu Mittag esse ich bei Alex, nachmittags halte ich mir frei. Vielleicht könnte ich Euch einmal kurz begrüßen; ich werde Alexens telegraphieren, im Näheres zu verabreden. Abends möchte ich an dem Begrüßungsabend im Zoologischen Garten teilnehmen. Eventuell könnte ich am Freitag bei Euch zu Tisch sein, nach Schluß des Aktes in der Paulskirche. Nachmittags will ich an dem Kaffee am Forsthaus einnehmen und um 6 Uhr dann wieder nach Gelnhausen fahren.

Wir haben nichts voneinander gehört, und ich würde mich riesig freuen, Euch wiederzusehen. Karls Geburtstag habe ich natürlich schmählich vergessen. Er soll mir das nicht übelnehmen. Ich freue mich dafür um so mehr, ihm meinen Glückwunsch jetzt persönlich bringen zu können.

In alter Freundschaft Dein (C.H.B.)

 

114. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 15.12.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich fand immer keine Zeit zum Schreiben; deshalb telegraphierte ich Dir heute, daß wir am Sonntag sehr auf Euch rechnen. Da nun von Frankfurt neuerdings am Sonntag mehrere Züge

fahren, muß ich wissen, wann und wo Ihr ankommt. Je nach der Menge Eures Gepäcks könnten wir das erst nach dem Hotel besorgen. Jedenfalls fahren wir dann 20 Minuten zu uns heraus und könnten dort noch 1 bis 1 ½ Stunden gemütlich zusammen sein. Ich lasse dann das Auto warten, so daß ihr dann bequem ins Hotel zurückfahren könnt. (C.H.B.)

 

115. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 22.2.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Hoffentlich ist Walters Brief zu Deinem Geburtstag rechtzeitig angekommen. Ich hatte mich auf die Erinnerung beschränkt und auf ein treues Gedenken und komme mit meinem schriftlichen Glückwunsch nun wohl etwas spät. Aber ich möchte Dir doch auch ein direktes Zeichen herzlichen Miterlebens zukommen lassen. Zugleich bitte ich Dich, meinen Freund Carl um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich den versprochenen Historiker von Weihnachten immer noch nicht geschickt habe. Aber die Situation ist buchstäblich die, daß ich niemals um eine Zeit, da die Läden noch oder schon offen sind, in Steglitz anwesend bin, wo ich bei unserm dortigen Buchhändler seiner Zeit das Universum gekauft und dann gleich zum Austausch zurückgegeben habe. Ich möchte aber gern selbst für Carl etwas aussuchen und hatte an Bismarcks ‚Gedanken und Erinnerungen’ oder so etwas Ähnliches gedacht. Leider weiß ich ja aber gar nicht, was er alles schon besitzt. Sollte er also einen diesbezüglichen Wunsch haben, wäre es mir natürlich sehr angenehm, ihn zu erfahren.

Wir stehen hier stark in Spannung, ob uns die Wahlen3 einen neuen Kurs im Ministerium bringen werden. Merkwürdigerweise ist die Entwicklung der extremen Parteien nicht ganz so schlimm wie erwartet. Es würde aber eine ganz andere und zwar viel gesündere Situation geschaffen, wenn die Deutsche Volkspartei doppelt so stark wie die Deutschnationalen wäre. Letztere werden durch ihre radikalen Schreier auch in ihren vernünftigen Mitgliedern aus-geschaltet, während Deutsche Volkspartei, Zentrum und Sozialdemokratie eine sehr trag-fähige Regierung bedeuten würden. Wir müssen uns doch im Augenblick ganz unter den

Primat der auswärtigen Politik beugen, aber leider gibt es wenige Leute in Deutschland, die wirklich politisch denken können. Da Minister Haenisch durch Liebäugeln mit dem Bürgertum sich bei seinen eigenen Genossen sehr stark kompromittiert hat, ist nicht sicher, daß er wieder zum Minister gemacht wird. Das kann dazu führen, daß wir einen noch links stehen-deren Sozialisten als Minister bekommen oder aber, daß das Ministerium überhaupt an einen Bürgerlichen fällt. Beides halte ich im Augenblick noch für einen Fehler. (C.H.B.)

 

116. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 10.3.1921

(Maschinenkopie)

Lieber Willy,

Ich habe Walter versprochen, Dir auf Deine Anfrage wegen des Patengeschenkes zur Konfirmation zu antworten, da ich alle derartigen Anfragen beantwortet habe und mir Mühe gebe, für Walther eine schöne Bibliothek bei dieser Gelegenheit zusammenzubringen. Bücher sind etwas so Teures, daß man seinen Kindern nicht mehr so viel schenken kann wie früher und man deshalb solche Anlässe wie die Konfirmation ausnutzen muß. Trotz aller Vorbe-sprechungen haben natürlich zwei Paten bereits Schillers Werke geschenkt, doch hoffe ich, das noch zu entwirren. Jedenfalls bitte ich von Schiller, Goethe, Keller, Bismarck, Treitschke absehen zu wollen.

Wie schwierig die Auswahl ist, habe ich neulich gesehen, als ich selbst zu dem gleichen Zwecke einen Buchladen aufsuchte. Ich bitte Dich freundlichst ein Werk zu wählen, das wertvoll für’s ganze Leben ist. Viel wird davon abhängen, was Du in Frankfurt bekommst. Hier ist es sehr mangelhaft bestellt. Walther hat z.Zt. stark literarische Neigung, jedenfalls vorwiegend geisteswissenschaftliche, doch liegt es Dir vielleicht mehr etwas Naturwissenschaftliches zu schenken. Ich fände jedenfalls Klassiker hübsch bis zu Storm, Hauptmann und Ibsen; es wird eben einfach davon abhängen, was Du bekommst. Ich würde auch kein Bedenken haben, zu einem gut erhaltenen antiquarischen Werk zu greifen; das wird immer noch länger halten als die modernen, auf schlechtem Papier gedruckten Ausgaben. Sehr willkommene Gaben sind natürlich auch die neueren Memoirenwerke: Nur eines möchte ich Dich bitten: schicke mir möglichst bald eine Postkarte mit der Mitteilung, was Du gewählt hast, da ich auf vielerlei Fragen antworten muß und sich sonst bei der derzeitigen Lage des Büchermarktes Doppelgeschenke nicht vermeiden lassen. Das schönste Geschenk wäre natürlich, wenn Du selber kämst; aber ich fürchte, daß wir damit kaum werden rechnen dürfen.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

117. C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 23.1.1923

(Maschinenkopie)

Lieber Willy!

Ich bin die Nacht vom 29. auf den 30. Januar in Frankfurt und würde gern den Abend des 29. Januar (Montag) bei Euch verbringen. Darf ich kommen? Antwort erbeten bis zum 28. d. M. nach Gelnhausen. Nachdem wir uns in diesem Sommer nur einmal kurz telephonisch gesprochen und ich mich um die Jahreswende durch brutales Schweigen in jeder Richtung hin ausgezeichnet habe, fühle ich das dringende Bedürfnis, einmal wieder ein paar Stunden gemüt-lich mit Dir, Deiner Frau und Karl zu verplaudern. Ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr es ein-

richten könntet, mich zu empfangen. Alles nähere mündlich.

Herzlichste Grüße von Haus zu Haus Dein getreuer (C.H.B.)

 

118. Telegramm von C.H.B. an Willy Bornemann. Berlin, 21.2.1929

(Maschinenkopie)

Gedenke des heutigen Tages mit innigen Wünschen in alter Freundschaft. Carl

***

Carl Heinrich Becker.

 

119. Nachruf auf Willy Bornemann. Februar 1930

Er war 13 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte. Wir waren Klassenkameraden, dann Verbin-dungsbrüder, vor allem Freunde, vom ersten Tage an. Seine Jugend war auch meine Jugend.

Überschlank, fast zart gebaut, blond, blauäugig, mit frischen Farben, zurückhaltend u(nd) doch zutraulich, klug, aber nie sich vordrängend, besaß er von Natur das Charisma, daß jedermann ihn gerne hatte.

In Kreuznach, wo sein Vater Schulaufsichtsbeamter war, am 21.2.1877 geboren, kam er 1890 durch die Berufung des Vaters zum Stadtschulrat nach Frankfurt/Main, die Stadt, in der sich später auch sein Mannesleben abspielen sollte. Schon auf dem alten städt(ischen) Gymnasium in der Junghopstraße (?Unleserlich) zeigte sich sein Wesen von der gleich sympathischen Seite, wie es nachher im Rupertenkreise und später in der Praxis des Berufes allgemein in Erscheinung trat. Vom Vater, der Westfale war, hatte er die Charakterfestigkeit und die Schweigsamkeit; er war nie der Mann der Worte oder der Formulierungen, aber er besaß eine kritische, ja ironische Art gegenüber jedem Übertriebenem, jedem Gefühlsüberschwang, jedem blinden Optimismus. Er war kritisch und hart gegenüber sich selbst. Nicht als ob ihm Weichheit fremd gewesen wäre. Von seiner temperamentvollen, feinfühligen Mutter, die einer alten rheinischen Familie entstammte, hatte er eine seltene Gefühlslebendigkeit ererbt, die aber bei ihm durch das kritische Erbteil von Vatersseite gebändigt war. So kam es, daß er sich selbst sehr bescheiden, ja zu bescheiden einschätzte, was in Zeiten nervöser Belastung, z.B. vor dem Examen sich bis zu Minderwertigkeitsgefühlen steigern konnte. Dabei war er gewiß kein Hypochonder; niemand konnte, namentlich in jungen Jahren, so ausgelassen, so rheinisch fröhlich sein wie er. Als er im Sommersemester 1895 Ruperte wurde, war er ein geradezu idealer Fuchs und keine leichte Aufgabe für seinen Leitburschen, dem leider allzufrüh heimgegangenen A.H.Weichsel, der ihn auch zur Verbindung gebracht hatte, oder für einen Fuchsmajor bei der damals noch streng geübten Commentpraxis. Obwohl er der Verbindung nur als CK (?)beigetreten war, genoß er eine so große Beliebtheit, schon nach 2 Semestern in den RC (?) berufen wurde und hier jahrelang eine aus Vernunft und früh geborene Vermittlerrolle gespielt hat. Seine Güte ließ ihn alles verstehen, seine Vernunft lehrte ihn Eingreifen oder Laufenlassen, wie es die Umstände erforderten. So konnte er der Freund vieler, allen ein guter Kamerad sein.

Aus dieser Hülfsbereitschaft erklärt sich auch seine Berufswahl. Er studierte Medizin und zwar 5 Semester in Heidelberg, dann 2 Semester in Berlin und dann bis zum Staatsexamen (24.3.1901) wieder in Heidelberg. Es war nicht das Naturwissenschaftlich-Technische, das ihn zur Medizin zog, es war das Menschliche. Nicht durch Worte oder Lehre, sondern durch Handeln helfen, das entsprach seiner Natur. Da er zeitlebens an einem nervösen Herzen litt, konnte er nicht daran denken, praktischer Arzt zu werden, aber auch Neigung trieb ihn zur Spezialisierung; daß er gerade Dermatologe wurde, war mehr eine zufällige Entwicklung, da ihm als Assistenz- und später Oberarzt am Städtischen Krankenhaus (1901-1905) bei Geheimrat Herzheimer eine ungewöhnliche Gelegenheit zu erstklassiger Spezialisierung gerade auf diesem Gebiete geboten wurde. Am 14.1.1905 promovierte er in Leipzig und am 1.4.des gleichen Jahres eröffnete er in Frankfurt seine Fachpraxis.

Es ist unmöglich, im Rahmen eines kurzen Nachrufs ein Leben zuwürdigen, das nicht in wenigen großen Geschehnissen sich auswirkte, sondern in unermüdlicher Kleinarbeit des Alltags bestand. Die Patienten suchten ihn; keiner verließ ihn dem er einmal geholfen. Die Collegen schätzten ihn wegen seines Könnens und seiner versöhnlichen Persönlichkeit, dem äußerer Ehrgeiz, ein Gelten wollen in Vereinen und auf Kongressen fernlag. Er lebte seiner Arbeit, sein Leben war ein Dienst. Die öffentlichen Dinge sah er nur von fern, manchmal mit leidenschaftlicher Kritik, aber ohne Bedürfnis zum aktiven Eingreifen. Er war eben Arzt, der über oder neben dem politischen Leben stand. Im Krieg war es ihm selbstverständlich, daß er sein Können in den Dienst der gr(oßen) vaterländ(ischen) Sache stellte. Erst in Frankfurter Lazaretten tätig, wurde er von 1916-1918 in der Etappe und schließlich auf seinen Wunsch trotz seiner zarten Gesundheit auch an der Westfront verwandt. Kurze Zeit wirkte er dabei an einem von unseren a(Aktiven?) H. Wager geleiteten Lazarett. Das Leben brachte ihn überhaupt immer wieder mit Ruperten zusammen. Eine Schicksalsfügung ließ ihn am gleichen Tage sterben, an dem auch sein Freund a.H. Robert Walde von uns schied. (12.2.1930)

Schwer lasteten auf seiner im Grunde weichen Natur die Nöte des Lebens. Sein Beruf, gerade als Dermatologe, war dazu angetan, keine allzu idealistische Auffassung des Lebens aufkom-men zu lassen. Er zog als Empiriker die Konsequenzen aus seinen Beobachtungen, war aber in seinem eigenen Leben der lebendige Gegenbeweis gegen manchmal von ihm vertretener pessimistischer Grundsätze. In seinem persönlichen Leben herrschte Reinheit, Sonne und Glück. Er durfte die erste große Liebe seines Lebens als Gattin heimführen und das Schicksal hat diese Ehe in seltener Weise gesegnet. Hier lagen die Quellen seiner Kraft im Kampf mit den dunklen Mächten eines wachsenden Pessimismus.

Und auch zwei Welten gab es, die ihm seine Freude schufen und ohne die man ihn nicht richtig versteht, die Kunst und die Natur.

Schon auf der Schule ist er gern gewandert, später hat er Italien und Sizilien, hat er Dänemark und Schweden, von wo seine Gattin stammte, kennen gelernt, aber über die Größe der ausländ(ischen) Natur hat er nie die Liebe zu Taunus und Spessart verloren. In jungen Jahren war er auch ein leidenschaftlicher Jäger, aber die Natur war ihm bei der Jagd immer das Wesentliche. Und als Spiegel der Natur empfand er die Kunst. Auf einer großen Italienreise 1898 hatte er künstlerisch sehen gelernt, seine Mittel erlaubten ihm keine großen Anschaffungen, aber im kleinen ist er ein Mäzen gewesen, an den mancher junge Künstler, dem er durch Auskünfte geholfen, heute dankbar zurückdenkt.

Als ich ihn das letzte mal sprach, war er schon sehr krank. Ich ahnte, daß es ein Abschied für immer sei. Seine Gedankenwelt war erfüllt von der Liebe zu Frau und Sohn, zu Geschwistern und Freunden und von dem ganzen Ernst strengster Berufsauffassung und tiefer, letzter Bescheidenheit. Den Frohsinn der Jugend hatte die Härte des Lebens gebrochen, aber die Vornehmheit, Güte und Selbstlosigkeit seines Charakters leuchteten durch die schweren Schatten seines nahenden Todes.

Wir wollen ihn in uns lebendig halten, er aber ruhe in Frieden. (C.H.B.)


1 Hellmut

2 Es handelt sich um die Berufung ans Preußische Kultusministerium als Hochschulreferent Frühjahr 1916.

3 Es handelt sich um Wahlen zum Preußischen Landtag.

Walter Becker

HA VI Nr. 6293 (CHB - Walter Becker 1924-1932)

88. C.H.B. an den Reichsminister der Finanzen, Berlin. Berlin, 5.4.1924

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Mein unmündiger Sohn Walter, der keinerlei eigenes vermögen oder Einkommen besitzt und zu meinem steuerlichen Haushalt gehört, soll in England ein Semester studieren. Die Formalitäten seiner Aufnahme in Birmingham sind erledigt. Der Ankauf englischer Noten und die Überweisung der Pensionskosten sind mit Genehmigung des Finanzamtes in die Wege geleitet. Das englische Einreisevisum ist erteilt. Es fehlt nur noch der Sichtvermerk des zuständigen Finanzamtes.

Es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, welche Bedeutung es auch im vaterländischen Sinn hat, wenn der akademischen Jugend insbesondere den künftigen Staatsbeamten, in ihrer entwicklungsfähigsten Zeit ein Einblick in ausländische, insbesondere angelsächsische Verhältnisse ermöglicht wird. Selbst als höchstbezahlter Staatsbeamter ist man heute nicht mehr in der Lage, die mit schweren persönlichen Opfern erkaufte Bereitstellung von Mitteln zur möglichst besten Ausbildung des Sohnes noch um eine Summe von 500 Mark zu vermehren, deren Erhebung zudem von Erwägungen ausgeht, die auf den vorliegenden Fall ganz gewiß nicht zutreffen. Unter diesen Umständen bitte ich ergebenst, den Härteparagraphen anwenden und die ‚Unbedenklichkeitserklärung’ unter Erlaß der Gebühr von 500 Goldmark1 für den anliegenden Paß meines Sohnes geben zu wollen. Da im Zusammenhang mit dem Beginn des englischen Studiensemesters als Abreisetermin der 15. oder 16. April d.Js. in Aussicht genommen ist, wäre ich für die Herbeiführung einer baldigen Entscheidung besonders dankbar. (C.H.B.)

 

89. C.H.B. an Sohn Walter, Birmingham. (Berlin), 7.7.1924

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Im Anschluß an meinen Brief von gestern will ich Dir nur mitteilen, daß mir die Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, gez. Schairer, u.a. Folgendes geschrieben hat:

Gleichzeitig teilen wir Ihnen mit, daß Dr. Schairer an die Leitung der Swanwik-Konferenz in London geschrieben und sie gebeten hat, als deutschen Gast Ihren Sohn Walter einzuladen. Die anderen deutschen Studenten, die Dr. Schairer für die Konferenz ausgewählt hat, sind:

  • Dr. Hans Harmsen, z. Zt. Stud.rer.pol. Universität Berlin, Berlin-Zehlendorf, Schwerinstraße 10, der einer der bekanntesten Führer der Jugendbewegung in Berlin ist. Ferner
  • Stud.jur. Hans D. von Gemmingen, Heidelberg, Gaisbergstraße 22, der Dr. Schairer von Dr. Bergsträsser sehr warm empfohlen worden ist.

(C.H.B.)

 

90. Hertha Becker an ihren Bruder Walter. Salem, 13.3.1925

Lieber Walter!

Vielen Dank für den ‚unverdienten’ Brief und die Karte von Stöckchen (anbei zurück). Ich fühle mich außerordentlich schuldbewußt, aber in Anbetracht dessen, daß ja bald Ferien sind und ich schrecklich viel zu tun habe, werde ich mich an den glühenden Kohlen verbrennen, die Du auf mein Haupt geladen hast. Erst will ich mal Deine Fragen beantworten. Vera, die seit einigen Tagen krank ist (hohes Fieber) und infolgedessen und aus noch verschiedenen anderen Gründen jetzt kein Examen macht, wird am 29.März eingesegnet , in Konstanz. Habe ich wegen Hellmut irgend etwas vergessen? Ich hoffe nicht. Daß Mutter noch im Bett liegt, ist ja einfach entsetzlich. Hat sie irgend einen Arzt?

Mir geht es wieder ausgezeichnet. Es ist plötzlich eisig hier geworden, es liegt ziemlich Schnee, man kann etwas Schilaufen.

Das schriftliche Abitur ist vorbei und unter allgemeiner Aufregung ganz gut verlaufen. Montag kommt das mündliche. Der Geheimrat regt sich furchtbar auf und traktiert uns, als die Zukünftigen ganz wahnsinnig. Ich arbeite kaum etwas anderes als Realistenmathematik für mich und mit drei anderen, die alle ziemlich am Sitzenbleiben sind, mehr oder weniger. Und dazu muß ich am Mittwoch einen Vortrag halten über ‚Das Wesen des deutschen Volkslieds und Goethes Stellung dazu’, also für Arbeit ist gesorgt. Außerdem bin ich in Abwesenheit der Abiturienten das größte Mädchen usw.. Wir haben jetzt jede Woche einen sehr interessanten Musikgeschichte-Vortrag.

Jetzt muß ich aber Schluß machen, obgleich dieser Brief Dich sicher nicht befriedigt, aber ich habe noch keine Ferien und auch noch kein Abitur gemacht und weiß außerdem, daß mein Bruder auch mal vorlieb nimmt.

Gruß und Kuß, Deine Hertha

 

91. C.H.B. an Sohn Walter, stud.jur., Gelnhausen (Berlin), 8.4.1925

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter,

Einliegend schicke ich Dir den Brief des Amerikaners, den ich eröffnet habe, weil ich es für richtig hielt, erst einmal mit Remme darüber zu sprechen. Remme rät nach wie vor sehr zu, obwohl der Brief Mutter und mir nicht übermäßig gefallen hat. Immerhin ist es ein Zeichen besonderer Liebenswürdigkeit, daß er in Deutsch geschrieben ist. Ich habe mir nun überlegt, daß Du ihm schreiben solltest und zwar in gutem englisch, daß du Dich sehr freuen würdest, ihm zur Verfügung zu stehen, daß es Dir aber wegen Deiner Universitätsstudien unmöglich wäre, vor Sonntag, dem 19., zu ihm zu stoßen. Nach seinem Plan würdest Du dann direkt nach Baden-Baden fahren und ihn dort treffen. Du kannst ihm ja ein paar Worte über Deinen Aufenthalt in England sagen, und daß Du Dich seiner Jungens schon nett annehmen würdest. Remme meint, Du solltest die 15 Dollar die Woche beanspruchen. Schreibe ihm bitte sofort, denn der Brief hat einige Zeit bei mir gelegen, und er möchte natürlich bald etwas Entscheidendes wissen. Remme wird gleichzeitig noch einmal an den Generalkonsul schreiben und darüber aufklären, daß Du mein Sohn bist, was natürlich bei einem Besuche von Berlin für einen Amerikaner auch einen gewissen Reiz haben wird.

Von Herthas Operation wirst Du gehört haben. Ich bin sehr beruhigt, daß sich nachträglich herausgestellt hat, daß die Operation unbedingt notwendig war. Auch heute kam wieder ein erfreuliches Telegramm: ‚Gute Nacht ohne Schlafmittel, Stimmung und Befinden gut.’

Für Deine Karte mit Carl Bornemann danke ich bestens. Auch hat mir Mutter Deinen Brief und Deine Karte aus Heidelberg geschickt. In Sachen Hertha waren wir etwas ungeduldig geworden, da die Nachrichten, die Ihr uns schicktet, außerordentlich unpräzis waren und Mutter sich doch mit allem auf die Reise einstellen mußte. Na, diese Dinge sind nun erledigt, und ich hoffe, daß Mutter mit Hertha eine schöne Erholungszeit erlebt. Zufällig erfuhr ich, daß Götsch gerade ebenfalls in Friedrichshafen bei seinem Bruder weilt; er wird vielleicht Hellmut mitnehmen können und dadurch Mutter entlasten.

Du wirst gelesen haben, daß ich inzwischen wieder zum Minister ernannt bin, und wir hoffen, daß es nun für längere Zeit Ruhe gibt. Aber gewiß ist im politischen Leben ja nichts! Gerade die heutige Nachricht von dem Frevel der Aufstellung Hindenburgs hat mich doch sehr erschüttert. Hoffentlich ist das deutsche Volk politisch reif genug, um auf diesen parteipolitischen Schwindel der Rechten nicht hereinzufallen. Nachdem Ludendorff sich selbst zerstört hat, nun auch noch den alten Nationalheros Hindenburg in den Parteikampf zu ziehen, ist ein so unerhörtes Unternehmen, daß ich gar keine Worte dafür habe, zumal doch bekannt ist, daß Hindenburg schon am Ende des Krieges ein überalterter Mann war und für eine siebenjährige Leitung der gesamten Reichspolitik doch einfach nicht mehr in Frage kommen kann. Und so etwas geschieht unter der Ägide derjenigen Parteien, die mit Inbrunst und Überzeugung immer wieder von dem Primat der auswärtigen Politik sprechen. Für das Ausland konnte die Rechte wahrlich keine dümmere Wahl treffen. Mir tut der arme Hindenburg bis in die Seele leid; denn selbst wenn er mit wenigen Stimmen Majorität gewählt werden sollte, so ist er doch nur ein Schatten und ein Spielball in den Händen einiger Drahtzieher.2 Ich saß gerade neben Simons auf einem Frühstück beim Reichskanzler, als die Nachricht kam. Sie erweckte geradezu eine gewisse Depression. Es war übrigens ein sehr nettes Frühstück, das ich nur leider früh abbrechen mußte, da ich hinterher zur Beisetzung von Partsch, die sehr würdig verlief, fahren mußte.

Ich hatte viel amtliche Repräsentationen in letzter Zeit, und Du wirst meinen Namen öfters in den Zeitungen gelesen haben. Ich war zweimal beim Reichspräsidenten zum Frühstück und gebe heute abend selbst einen Empfang für die klassischen Philologen anläßlich der Tagung über das Gymnasium im Zentralinstitut. Es werden ungefähr 80 Personen kommen, dazu der Reichspräsident und der Reichskanzler.

Die nächsten Tage bleibe ich ruhig zu Hause und will an meinem zweiten Band arbeiten. Ostern werde ich in Ruhe mit Gragger verleben.

Allen Lieben in Gelnhausen herzliche Grüße. (C.H.B.

 

92. C.H.B. an seinen Sohn Walter, Freiburg. (Berlin), 13.3.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Einliegend sende ich Dir 100 Mark für Deine Reise. Du mußt sehen, wie Du damit zurecht kommst. Bitte schreibe recht bald einmal, wie Deine Pläne eigentlich sind, d.h. besonders, wann Du zurückzukommen gedenkst.

Wir haben nach langem hin und her nun alle Reisepläne für Ostern endgültig aufgegeben, da es bei Muckels Gesundheitszustand nicht gut geht und auch Mutter kaum frisch genug dazu ist. Sollte schließlich das Wetter wundervoll werden. so können wir ja von hier doch noch irgendwohin fahren; das aber müssen die Umstände ergeben. Wahrscheinlich wird Eberhard zu Ostern da sein, und dann wird es schon ganz vergnügt werden. Auch mit Deiner Rückkehr bitte ich es so einzurichten, daß Hertha, die am 25. oder 26. kommt, noch ein paar Tage allein hier sein kann, ehe der allgemeine Ostertrubel beginnt. Hellmut ist gestern zum ersten Mal eine halbe Stunde aufgewesen, und wir sind nun sehr neugierig auf den Befund. Die Pflege ist schrecklich langweilig und anstrengend für Mutter, und es wird höchste Zeit, daß sie durch Hertha eine gewisse Entlastung erfährt. Auch wird es recht lange dauern, bis Muckel wieder seine alte Frische hat und vor allem ohne spezielle Rücksichten leben kann.

In Osterholz las ich Deinen Brief an Onkel Ferdi. Ich war als einziger Vertreter der Familie hingefahren und verlebte dort zwei sehr nette Tage, traf auch Ully, besichtigte Schulen im Kreise und fuhr dann zwei Stunden mit Else im Auto nach Stade, wo wir einen Abend lang beim Regierungspräsidenten tanzten; dann in der Nacht durch Sturm und Braus mit Tante Else nach Osterholz zurückgefahren, und von dort aus heim nach Berlin, wo ich sofort einen Bierabend bei Hindenburg mitmachte. Gestern hatte ich selbst ein Frühstück mit einigen Hauptwirtschaftsführern zur Finanzierung des Gragger’schen Instituts, die auch bestens gelang. Abends war ich mit Mutter auf der Sowjetbotschaft zu einem sehr festlichen Dîner mit der ganzen Preußischen Regierung und danach noch allein zur Jahresfeier der Hochschule für Politik. So geht es jetzt tagaus tagein, und ich wundere mich immer, daß Magen und nerven noch Stand halten. Wir hatten neulich ein sehr elegantes Frühstück auch auf er Französischen Botschaft, und am Tage meiner Rückkehr aus Osterholz war Mutter allein wieder dort zu einem großen Empfang. Auch aus diesen Gründen freue ich mich auf die Ruhe der Ostertage.

Zu Herthas Empfang ist schon alles vorbereitet. Muckel ist ins Spielzimmer disloziert und Herthas Zimmer mit aus Augsburg eingetroffenen Korbmöbeln sehr nett dekoriert. Es verdient immerhin Erwähnung, daß uns das unglaubliche Mädchen bis heute außer einem Telegramm noch ohne jede Nachricht über ihr Abitur gelassen hat, obwohl es schon 8 Tage her ist,, und sie erst auf ein Telegramm von uns hin entschloß, uns

(Schluß fehlt) (C.H.B.)

 

93. Kultusministerium (wahrscheinlich RR Duwe) an Walter Becker. Berlin, 7.5.1926

(Maschinenkopie)

Sehr geehrter Herr Becker!

Ihr Herr Vater, der augenblicklich durch die Beratung des Etats unseres Ministeriums im Plenum des Landtages besonders stark in Anspruch genommen ist, hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß er am Freitag, dem 14. des Monats in St. Blasien die Eröffnung eines vom Preußischen Lehrerverein dort eingerichteten Kurhauses vornehmen wird. Bei seinen Reisedispositionen hat der Herr Minister auch einen Tag des Zusammenseins mit Ihnen in Aussicht genommen, für den Sie nach Belieben ein Programm vorsehen möchten.

Der Herr Minister wird hier am Mittwoch, dem 12. Mai, abends 9.12 Uhr abfahren und am Himmelfahrtstage mittags 12.34 Uhr in Freiburg eintreffen. Am Freitag, dem 14. Mai, kommt mit dem gleichen Zuge Herr Ministerialdirektor Kaestner nach und werden dann beide Herren vom Bahnhof die Weiterfahrt mit dem Auto, das ihnen von dem Kurhause geschickt wird, fortsetzen. For Sie steht also die Zeit vom 13. Mai 12.34 h bis 14.Mai 12.34 h zur Verfügung. Am Sonnabend, dem 15. Mai, kommen die Herren wieder mit dem Auto nach Freiburg, um von hier mit dem Zuge um 9.30 h vormittags die Fahrt nach Coblenz/Bonn fortzusetzen.

Von Ihrem Herrn Vater Ihnen recht herzliche Grüße übermittelnd, denen ich solche von mir mit verbindlichsten Empfehlungen anschließe, bin ich Ihr sehr ergebener (?Duwe)

 

94. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Genf-Champel, 2.8.1926

Lieber Vater,

nach herrlicher Fahrt über Romanshorn – Zürich – Bern – Fribourg – Lausanne bin ich gestern abend hier wohlbehalten angekommen. Es war der erste August du auf den Bergen zu beiden Seite des Sees loderten die Feuer. Die Stadt selbst war gebadet in einem Meer von licht, als ich ankam.

Hier draußen wurde ich von Mme Gentat (?) reizend aufgenommen und in demselben Zimmer untergebracht, in dem ich voriges Jahr mit Oskar gewohnt habe. Es liegt im ersten Stock und hat einen herrlichen Blick über die alten Bäume des Gartens auf den Lalève. Ich bin wirklich sehr froh, daß ich hier wohne, und habe mich aufs neue überzeugt, daß der Preis im Verhältnis zu dem, was ich dafür bekomme, nicht zu hoch ist.

Der Hauptzweck dieser Zeilen ist begreiflicherweise der, Dich über meine finanzielle Lage zu orientierten. Ich habe zur Zeit noch 350 Franken, also nicht ganz 300 Mark. (Die anderen 100 Mark – 800 hattest Du mir geschickt – sind für Reisekosten etc. draufgegangen. Als Hauptposten wären zu nennen: Mark 16,35 =20 frs, die ich hier als Anzahlung einschicken mußte; Mark 8,80 Franz(ösisches) Lexikon und Grammatik; Mark 33,10 Billet Freiburg Genf; Mark 12,40 Gepäck; sowie Reiseausgaben und Schlußausgaben in Freiburg.) Das Zimmer hier kostet mit voller Pension 9 Franken pro Tag + 5% Bedienung. Das wären für den ganzen August Franken 293, wozu noch 5 Franken für Licht kommen. Der Kurs an der Universität kostet 90 Franken. 20 Franken habe ich schon im Voraus bezahlt, es bleiben also noch 70 Franken zu bezahlen.

  • Pension Frs. 298.-
  • Kurs Frs. 70.-

Frs. 368.-

Ich glaube nicht, daß hierzu noch sehr wesentliche Ausgaben hinzukommen. Ich bitte Dich aber, mir (möglichst sofort noch etwas zu schicken, und vielleicht ein bißchen mehr, als ich unbedingt brauche, damit ich für alle Fälle etwas in der Tasche habe. Ich brauche Dir nicht zu versichern, daß ich alle Extraausgaben möglichst einschränken werde. Ich besitze wie gesagt z.Zt. noch 354 Frs.—

Heute früh war ich auf der Universität. Alles scheint glänzend organisiert zu sein. Die Kurse beginnen heute Nachmittag. Die Stadt ist bezaubernd, das Wetter strahlend. Es kann eine herrliche Zeit werden.

Hier im Haus habe ich viel Gelegenheit zu sprechen, und kein Mensch kann ein Wort Deutsch. Ich bin überzeugt, daß ich sehr schnell hereinkommen werde.

Nun Schluß für heute. Ich wünsche Dir weiter gute Erholung und grüße Dich vielmals,

von Herzen Dein Walter.

 

95. C.H.B. an Sohn Walter in Genf (Berlin?), 18.9.1926

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Gestern war Oskar bei mir, wir hatten eine gemütliche Teestunde im Rauchzimmer des Ministeriums. Ich will überlegen, ob ich Dir für Paris nicht noch ein paar Einführungen verschaffen kann. Jedenfalls suche meinen Freund Professor Louis Masssignon auf (Paris VII, Rue Monsieur 21). Am besten schreibst Du ihm vorher. Ich betrachte ihn als einen, der zu meinem engeren Freundeskreise gehört. Du wirst in ihm einen ganz hervorragenden Typ feinster französisch-katholischer Geistigkeit kennenlernen. Glänzender Orientalist, aus sehr gutem Hause, vermutlich aber jetzt in bescheideneren Verhältnissen lebend. Er ist etwa 40 Jahre. Ich bin mit ihm in Griechenland und Holland sehr nahe zusammen gewesen. Er ist ein Mystiker, hat ein Erlebnis wie Paulus vor Damaskus gehabt und sein ganzes Leben danach gestaltet. Davon brauchst Du ihm gegenüber natürlich nichts zu wissen. Grüße ihn sehr, sehr herzlich von mir und sage ihm, wie freundschaftlich ich an ihn denke. Hoffentlich ist er in Paris. Ich werde Dich durch ein paar Worte avisieren.

Hellmut geht es wieder gut. Er kommt dieser Tage auf den Ottenberg zurück. – Hier stand alles im Zeichen des neu ernannten Generalintendanten. Die Sache ist ausgezeichnet abgelaufen, und selbst einige Mäkler habe ich durch lange persönliche Besprechungen zu freudig zustimmenden Artikeln gebracht. Damit sind wir eingroßes Stück auf dem Wege der Gesundung der Berliner Opernverhältnisse vorangekommen. – Meine Rede auf Tagore im Kaiserhof lege ich Dir im Auszuge bei.

Heute ist ein herrlicher Tag. Mutter und Hertha sind ans Wasser gegangen. Ich beginne morgen eine längere Reiseperiode, zunächst Naturforschertag in Düsseldorf mit Gesolei, wo ich Lexis’ ens und vielleicht Ernst Blumenstein treffen werde. Dann Breslau. Der Betrieb beginnt wider gründlich. Ich freute mich sehr, von Oskar zu hören, daß Du im Winter viel zu Hause sein und arbeiten willst. Die Botschaft hör’ ich wohl.—Weidmannsheil! Geld werde ich dann wohl nach Paris schicken, sobald Du schreibst, wohin. Wenn’s nicht zu viel kostet, bleibe natürlich möglichst lange dort, damit Du recht viel davon hast.

Mit herzlichen Grüßen Dein getreuer (Vater).

 

96. C.H.B. an Sohn Walter, Lausanne-Ouchy. (Berlin), 25.9.19263

Privatsekretariat (Maschinenkopie)

Lieber Walter.

Ich schicke Dir einliegend 100 Schweizer Franken und 25 Dollar. Es ist für Paris am besten, langsam zu wechseln. Eine weitere Sendung schicke ich Dir dann unmittelbar nach Paris, wenn es nötig ist. Ich bin der Meinung, daß Du möglichst lange in Paris bleiben solltest. Einliegender Brief meines Freundes Massignon (Paris VII, Rue Monsieur 21) wird Dir zeigen, was für ein entzückender Mensch das ist. Schreibe ihm also, bitte, sofort. Ich will ihm Deine Adresse in paris mitteilen, aber ist schon richtig, daß Du ihm auch persönlich schreibst.

Uns allen geht es sehr gut. Heute nur so viel; ich bin in großer Eile und schreibe Dir nach Paris in Ruhe. (C.H.B.)

 

97. C.H.B. an Sohn Walter, Referendar, Chicago, bei Dr. Baum (Berlin), 26.1.1929

(Maschinenkopie)

Lieber Walter!

Heute erhielten wir mit der Morgenpost Deinen ersten Brief aus Amerika, der von Deiner Seefahrt berichtet. Schon seit Tagen hatten wir bei jeder Post darauf gelauert, da natürlich unsere Gedanken sehr viel bei Dir sind und es uns so merkwürdig vorkommt, daß immer fast 14 Tage zwischen Deinem Erleben und unserem Nacherleben liegen. Da Du gar nichts von Deiner Gesundheit schreibst, hast Du offenbar die Grippe der ersten Tage schnell überwunden und doch ganz viel Genuß von der Überfahrt gehabt. Mit größter Spannung erwarten wir die ersten Nachrichten aus Chicago. Jeder, mit dem ich spreche, stellt mir Empfehlungen für Dich zur Verfügung, aber ich habe sie bisher alle abzudrängen verstanden, da ich glaube, daß Du zunächst genügende besitzest. Nur Dr. Paul Lempner erklärte sofort, daß er Dir schreiben wolle und daß er so ganz besonders gute Freunde hätte, die Dir gerade auf juristischem Gebiet von Nutzen sein könnten. Deshalb konnte ich sein Angebot nicht ablehnen, und Du wirst ja wohl inzwischen seinen Brief erhalten haben. Bei der ganzen Art Kempners handelt es sich da gewiß um innerlich wertvolle Menschen. Ferner hatte ich neulich ein langes Gespräch mit unserem deutschen Konsul Dr. Ahrens in St.Louis, der zurzeit hier ist und den ich von früher her kenne. Er würde Dir natürlich jeden Gefallen tun, wenn Du hinkämst. Er ist ein frischer, noch jüngerer Mann, der mir auch allerlei Tips über die Chicagoer Gesellschaft gegeben hat. Er meint, Du würdest ja wohl von selbst durch Generalkonsul Simon mit Louis Günzel in Beziehung kommen. Das wäre ein sehrempfehlenswertes Haus. Dagegen sprach er mit sehr viel Reserve von dem Vertreter des Norddeutschen Lloyd, Ludwig Plathe, der sehr reaktionär und zudem sehr indiskret sei. Du möchtest Dich also bei ihm durch etwaige Liebenswürdigkeit nicht täuschen lassen. Endlich erhielt ich einen reizenden Brief von meinem ältesten Schüler Professor Julian Morgenstern (Cincinatti, Ohio, The Hebrew College), von dem ich Dir ja schon gesprochen habe. Ich sende Dir auf besonderem Zettel den Dich betreffenden Auszug seines Briefes.

Von uns ist nur Gutes zu berichten. Ich verbringe meinen Sonnabend nachmittag im Ministerium, nachdem ich vorhin um ½ 3 Uhr mit Mutter und Hellmut, Wende und Kunert zusammen zu Mittag gegessen und mit ihnen beim Kaminfeuer die Korrekturen für unser großes Tischordnungsprogramm nächsten Montag gelesen habe. Wir werden Dir einen Reindruck zugehen lassen, damit Du siehst, wie viel erlauchte Leute an diesem Feste teilgenommen haben. Die ganze vorige Woche waren wir keinen einzigen Abend zu Hause. Ich hatte Hellmut zwischen vorigem Sonntag und heute, Sonnabend, überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Montags beim Reichskanzler, Dienstag beim Reichspräsidenten mit Hertha und hinterher sehr vergnügter Universitätsball, auf dem ich sogar noch getanzt habe, und zwar mit der Frau von Eberhard, während Hertha mit ihm tanzte. Am Mittwoch war ein Dîner bei Guérards, am Donnerstag ein fabelhaft elegantes Essen auf der Niederländischen Gesandtschaft, gestern war das Universitätskonzert unter dem Protektorat der Mutter in der alten Aula mit daran (an)schließendem Tee und guter mittelalterlicher Musik, wobei Sooth und Frau Richter mitwirkten, und heute Abend gehe ich mit der Tante Sophie auf den Presseball. Morgen kommt Professor Fischler aus München, unser alter Freund, zu Tisch und abends Harro und Unruh. Am Montag ist dann die Gesellschaft.

Von den unzähligen Lessing-Feiern habe ich nur am vorigen Sonntag die Rede von Gundolf gehört, die ganz vorzüglich war und die mich so begeisterte, daß ich ihn am nächsten Tag zum Frühstück einlud., wo wir uns famos unterhielten. Ferner hörte ich in der Akademie einen sehr guten Vortrag von Thomas Mann, echt mannisch, eine Parallele zwischen Lessing und ihm selbst mit dem entzückenden Satz:

Lessing wäre dem Schicksal so mancher Dichter verfallen, daß man erst alles Dichterische ihm abstritte und dann zu dem Urteil käme, daß er eben doch nur ein Schriftsteller gewesen sei, und zwar nicht einmal ein patriotischer.

Es gab natürlich ein allgemeines Geschmunzel. Dann habe ich noch die Lessing-Ausstellung in der Staatsbibliothek mit eröffnet, wobei Molo famos sprach. Du siehst also, an Betrieb fehlt es mir nicht. Aber Gottlob habe ich auch dienstlich zur zeit viel Interessantes. Wir machen jetzt einen Endspurt mit dem Konkordat, da ein klarer Text vorliegen muß, auf den die Volkspartei verpflichtet werden kann, wenn sie überhaupt den Wunsch hat, in die Koalition in Preußen einzutreten. Auf unklare Versprechungen wie bei dem Schulgesetz läßt sich das Zentrum zum zweiten Mal nicht ein. Die starke Spannung mit dem Nuntius hat sich etwas behoben, namentlich da wir uns fast allabendlich auf Gesellschaften begegnen, so daß ich jetzt wieder mit einigem Optimismus der Entwicklung entgegensehe. Aber auch auf schulischem Gebiet gehe ich zur Zeit einigen großen Gedanken nach, die aber noch nicht reif sind, in einem Brief skizziert zu werden.

Damit will ich für heute schließen. Hoffentlich bleibst Du gesund und bist durch Deine kleine Grippe geimpft. Das Ministerium bricht nahezu vor Grippeerkrankungen zusammen. Zur Zeit fehlen unter meinen nächsten Mitarbeitern Lammers, Duwe, Richter, Nentwig, Zierold. Letzterer hat sich sogar fluchtartig nach Stettin zurückgezogen.

Viele innige Grüße vom ganzen Hause (C.H.B.)

 

98. Walter Becker an seinen Vater C.H.B. Berlin-Steglitz, Schillerstr.2, 15.2.1930

Lieber Vater,

in Liebenwalde war diese Woche so viel los, daß ich erst in dem stillen Berlin dazu komme, Dir für Deinen lieben Brief, den ich sofort an die Geschwister weitersandte, zu danken. Zur Ergänzung meiner Zeilen vom vorigen Sonntag möchte ich noch sagen, daß ich den Präsidenten Hutchins persönlich nicht kennengelernt habe, da er erst nach meiner Abreise von Chicago zum Präsidenten gewählt worden ist. Damals war der Posten gerade verwaist.

Ich nehme an, daß sie Dich dort als Pädagogen und Universitätsfachmann wollen, die dauernde Stellung wäre sicher eine solche mit der Aufgabe, die Organisation der jungen Universität, von der ich neulich schon schrieb, nach deutschem Vorbild leitend zu beeinflussen.

Hier fand ich heute alles bestens vor. Das Verhältnis zu Mlle. Jacobi scheint äußerst harmo-nisch und für alle Teile befriedigend. Heute Nachmittag werden wir mit Gene Staley und ihr eine Bridge-Party geben, ob auf englisch, französisch oder deutsch, wissen wir noch nicht.

Abends gehen Hertha und Hellmut zu einer Galsworthy-Aufführung ins AGD, ich werde mit Marianne Partsch ins Esplanade Tanzen gehen.

Amtgerichtsrat Hassert ist heute nacht plötzlich an das Sterbebett seines Vaters abberufen worden. Wir haben als Vertreter für 10 Tage einen Assessor Last aus Berlin zum Chef.

Die Arbeit in Liebenwalde ist weiterhin äußerst befriedigend, gestern erhielt ich zum ersten Mal ein Lob für ein Civilurteil, während bisher alle von uns beiden gefertigten Urteile als nicht genügend bezeichnet worden waren.

Eure (bzw. Mutters) Briefe habe ich mit viel Interesse soeben gelesen, leider schreibt die Zeitung heute wieder von einem erneuten Wettersturz an der Riviera. Hoffentlich ist auch dieser nur vorübergehend, so daß Ihr recht auf Eure Kosten kommt. Mutters Kniesache ist ja sehr ärgerlich, aber vielleicht hat sie sich gelegentlich des Wettersturzes etwas ausheilen können.

Alles Liebe Euch beiden, und viele Grüße.

In treuem Gedenken Dein Walter.

 

99. Walter Becker a The Windermere Hotel, Chicago Ingleside, Magnetawan,

Ontario, Canada. 4.9.1930

(Maschinenkopie)

Dear Sirs,

My father, Dr. C.H.Becker of Berlin, Germany, and I intend to spend a week or two in Chicago the coming October. We want to stay at the south-side of the City and should like to stay at your hotel if we can get a really nice double room at a good weekly rate. I called up your office the other night and got the information that you had rooms for a double rate from 35 to 45 Dollars a week at the East Windermere Hotel. Will you please confirm me this information, and if it is correct, will you reserve a double room for us for a week starting the evening of October 6th. Our address from now on up to September 22nd will be c/o Dr.W.O. von Hentig,70 Seacliff Avenue, San Francisco, California, and I should be much obliged if you would let me have your reply as early as possible. We should want to have a room with bath overlooking the lake at a rate of between 40 and 45 Dollars for the two of us.

Will you please also tell me in your letter, if there is a difference in the management of the two Windermere Hotels, so that in order to avoid confusion we had better give a more definite address for our mail than just Windermere Hotel Chicago.

I am enclosing a check for a suit-case checked at La Salle Street Station Chicago and would oblige me very much by having it brought up to the hotel and checked there at our expense.

Hoping to hear from you soon, yours truly (Walter Becker)

100. Hotels Windermere, Chicago an Walter Becker, San Francisco bei Dr.W.O. von Henting. Chicago, 8.9.1930

Dear Mr. Becker,

We are pleased to receive your letter of September 4th advising that you expect to reach Chicago the evening of October 6th to remain one week, ore possibly more.

We have made a definite reservation for a large comfortable room with twin beds and a private bath which will be in readiness for you on your arrival here at that time at a weekly rate of $45 which we trust will meet your approval.

This room is located in Windermere East Hotel which is the larger and newer of the two units. The two hotels are operated under the same management, which will assure you that there will be no delay in mail reaching you promptly. It would be well, possibly, to have your mail addressed to hotel Windermere East however.

The baggage check which was enclosed in your letter we have turned over to our head porter and your bag will be brought from the La Salle Street Station immediately and taken care of here at the hotel without any charge for the care of same at the hotel until you claim it.

Assuring you this matter will have our personal attention and anticipating your arrival with Dr. C.H. Becker, we are cordially yours (signed) Robert Riley Asssistant Manager.

101. Referendar Walter Becker an C.H.B. Berlin, 26.5.1931

(Maschinenkopie)

Lieber Vater,

Für den Fall, daß ein Dir von mir mit Flugpost nach Eastbourne nachgeschickter Brief des 2.Generalsekretärs des Völkerbundes, Dr. Dufour-Féronce, Dich infolge des Feiertagsbetriebs in England nicht erreicht hat, will ich Dir schnell den Inhalt dieses Briefes wiederholen:

Dr. Dufour fragt bei Dir im Auftrag des Völkerbundsrats vertraulich an, ob Du bereit wärst, die Leitung einer aus 4 Vertretern verschiedener Länder bestehende VölkerbundsKommission zum Studium der Erziehungsverhältnisse in China zu übernehmen und mit dieser Kommission noch in diesem Sommer für3 Monate auf Kosten des Völkerbundes nach China zu fahren. Herr Dr.Bonnet, der Direktor des Instituts für internationale geistige Zusammen-arbeit in Paris, wird in diesen Tagen gelegentlich Deines Vortrages gleichfalls versuchen, Dich zur Übernahme dieses Amtes zu überreden. Die Tätigkeit der Kommission bzw. des Völkerbundes überhaupt in dieser Sache ist auf ein Ersuchen der Nanking-Regierung zurück-zuführen. Bisher sind in ähnlicher Weise vom Völkerbund vor allem Enquêten auf sanitärem Gebiet in China vorgenommen worden, die bereits zu erheblichen praktischen Ergebnissen geführt haben sollen. Einzelheiten wirst Du ja, falls Du den Brief noch nicht hast, später aus ihm entnehmen können, wenn er Dich erreicht. Ich wollte Dir nur die Hauptpunkte mitteilen, damit Du evtl. im Bilde bist, wenn Dr. Bonnet Dich auf die Sache hin anspricht. Dr. Dufour scheint sehr viel daran gelegen zu sein, daß gerade ein Deutscher die Führung dieser

Kommission übernimmt.

Ich hatte herrliche Pfingsttage in Liebenwalde. Gene und einbefreundetes Ehepaar kamen gestern noch heraus. Bei strahlendem Wetter lagen wir die ganzen Tage abwechselnd im Wasser und in der Sonne.

Im Hause ist alles in bester Ordnung. Die leider recht zahlreiche persönliche Post schicke ich Dir in diesem Brief.

Hoffentlich bist Du befriedigt mit der Zeit in Eastbourne. Von Hertha kam heute eine vergnügte Karte vom Zusammensein mit Mutter und Hellmut in Salem.

Viele Grüße und alles Gute für die Pariser Tage. (W.B.)

 

102. C.H.B. an Walter Becker, Berlin. Paris, 22.3.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Walter,

bisher habe ich Dir nur mit einem kurzen Telegramm für alle Deine Mühewaltung danken können. Wenn wir mit Mark 60 Zoll abgekommen sind, so ist das fabelhaft günstig, und ich kann mir nur vorstellen, daß selbst den Argusaugen der Zollbehörde noch einiges entgangen ist. Wenn es Dich auch sehr viel zeit gekostet hat, was ich bedauere, so scheinst Du doch die Sache sehr geschickt gemacht zu haben. Ich finde es einen Unfug, daß man harmlose Reisende so schikaniert. Ich bin doch kein Händler, sondern bringe nur Sachen zu meinem eigenen Gebrauche mit, die ich mir in Deutschland doch nicht gekauft hätte.

Hauptsache dieser Zeilen ist aber nicht nur, Dir zu danken, sondern auch, die Frage der Sekretärin zu beantworten. Ich kann mich zu nichts entschließen, bevor ich weiß, wie weit meine Gehaltskürzung vom 1. April ab geht und ob ich überhaupt noch Mittel für eine Sekretärin vom Ministerium gestellt bekomme. Wenn die Streichungen wirklich so rigoros.

Vorgenommen werden wie verlautet, wird eine ganz neue Regelung greifen müssen und Mutter selbst, mit der ich dies besprach, würde vielleicht die neue Arbeit übernehmen oder aber, wir würden eine Dame für den Haushalt zur Unterstützung der Mutter engagieren, die gleichzeitig einige Stunden für mich arbeitet. Ich kann mich deshalb zur Zeit noch auf niemanden festlegen und vor allem auch auf kein Gehalt. Ich hatte ursprünglich daran gedacht, Hellige ins Haus zu nehmen und ihm noch ein klein wenig draufzuzahlen, um ihm dadurch das Studium zu ermöglichen und als Entgelt jeden tag ein paar Stunden zur Verfügung zu haben. Hellige ist aber Mutter so wenig angenehm, daß sie das sehr ungern tun würde, und ich habe deshalb diesen Gedanken aufgegeben.

Verzeihe die Kürze dieses Briefes. Ich bin stark in der Arbeit und in Paris natürlich auch sonst viel in Anspruch genommen. Es ist herrliches Wetter, und ich genieße diese wunderbare Stadt wie noch nie.

Grüße vor allem auch Hertha. In treuer Liebe (C.H.B.)

 

103. Dr. Walter Becker an Carola (von Blumenstein?). Berlin, 6.3.1933

(Maschinenkopie)

Liebe Carola!

Auf Deinen Brief vom 2.3.33 hin habe ich soeben mit Herrn Ministerialrat von Rottenburg im Preußischen Kultusministerium telefoniert, dem die Technischen Hochschulen in Preußen unterstehen. Er hat mir folgende Auskunft gegeben:

Die Entscheidung über die frage der Anrechnung des Freiwilligen Arbeitsdienstes auf das praktische Jahr der Studenten steht im freien Ermessen der zuständigen Fakultät. Die Fakultäten pflegen im allgemeinen Bau-Ingenieuren die im freiwilligen Arbeitsdienst verbrachte Zeit ganz oder teilweise anzurechnen, da die von diesen Leuten im freiwilligen Arbeitsdienst geleistete Arbeit auf demselben Gebiet liegt, wie diejenige Tätigkeit, die sie während des praktischen Jahres auszuführen haben. Bei Architekten dagegen besteht eine derartige Übung bisher nicht, da nur in den seltensten Fällen eine Beschäftigung auf einem Bau während des Arbeitsdienstes stattfindet.

Da diese Fragen eine grundsätzliche Regelung aber noch nicht gefunden haben, hält Herr v. Rottenburg ein diesbezügliches Gesuch nicht unbedingt für aussichtslos. Er empfiehlt daher Deinem Sohn, sich zunächst bei dem Arbeitslager einen möglichst genauen Bescheid über die von ihm während der Arbeitsdienstzeit auszuführenden Arbeiten zu holen und dann unter Beifügung dieses Bescheides ein Gesuch an die Fakultät für Architektur an der technischen Hochschule Hannover zu richten bzw. zunächst einmal anzufragen, ob ein solches Gesuch bei dieser Fakultät Aussicht auf Erfolg haben würde.

Mehr kann ich Dir leider auch nicht sagen. Das Kultusministerium ist auf jeden Fall nicht zuständig, da es sich um eine selbständige Entscheidung der Fakultät handelt.

Für Deine warmen Worte der Teilnahme danke ich Dir sehr. Ich hatte schon anläßlich des lieben Briefes, den Du mir nach meiner Verlobung geschrieben hast, die Absicht, Dir einmal ausführlicher zu schreiben, kam nur bisher nicht dazu, und jetzt wirst Du verstehen, daß ich noch weniger die Ruhe dazu finden kann. Es wäre schön, wenn man sich nach der langen Zeit einmal wiedersehen könnte. Mit vielen Grüßen auch von den Meinen an Dich, Deinen Mann und Deinen Sohn bin ich Dein Vetter (W.B.)


 

1 Das ist wahrlich eine gewaltige Summe für einen Paß! Hervorhebung vom Herausgeber

2 Hervorhebung vom Herausgeber.

3 Auf der Kopie steht 1925, gewiß ein Tippfehler und von mir in 1926 geändert. Der Herausgeber

Ully Becker

HA VI. Nr. 6319 (Ully Becker)

C.H.B. an Ully Becker, Werneuchen (Mark), Johannaheim Berlin, 11.9.1920

(durch den Provinzialschul-Obersekretär)

(Maschinenkopie)

Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Vor einigen Tagen sind die Offerten bezüglich eines möblierten Zimmers Ihnen durch ein Mißverständnis in einem gewöhnlichen Briefe zugesandt worden. Der Herr Staatssekretär Prof. Dr. Becker ist nun in Sorge, der Brief könnte verloren gegangen sein, und hat mich vor Antritt einer erneuten mehrtägigen Dienstreise gebeten, dieserhalb mich an Sie zu wenden. Würden Sie die Güte haben, dem Herrn Staatssekretär eine diesbezügliche Mitteilung zukommen zu lassen?

In vorzüglicher Hochachtung sehr ergebenst (XY) Provinzialschul-Obersekretär.

Frida Michaelis-Becker und Hellmut Becker

HA.VI. Nr. 8654 (Frida Michaelis-Becker, auch Hellmut Becker)

85. Frida Michaelis an Hedwig Becker, Weimar, 7.12.1930

Liebe Hedwig,

da ich nicht wußte, daß Du Interesse für unsere Hochzeits-Litteratur hättest, habe ich sie noch nicht geschickt, nun schicke ich sie natürlich gern. Lies nur, was Dir Spaß macht. Und dann , – meine Verse zur Hochzeitsreise (?) laßt bitte unter uns Älteren bleiben.- Gelegentlich bekommen wir dann wohl alles zurück.

Es freute mich so daß Otto und Walther einmal bei Euch sein konnten, habt Dank! Mit großer Freude hörte ich Carl am Radio, – die Fühlungnahme tat mir ordentlich wohl! Es hat doch sein Gutes, daß er nun wieder so in seine Wissenschaft hineinsteigt, ich fühlte doch noch seine erste Liebe! Und freue ich mich auf die beiden nächsten Freitage. Danke ihm schön für die Benachrichtigung. Sophie schickte nun auch ‚mit herzl. Gruß’ endlich den letzten zusammenfassenden Brief! Fein! Das Urteil über die Amerikaner will ich mir abschreiben, lasse den Brief dann aber baldmöglichst an Ferdis gehen.- Laß Dir noch herzlich für Deinen lieben Brief danken, Hedwig, und nimm für heute vorlieb,- ich schufte mich mal wieder durch eine schlechte Periode durch. Euch allen viel Liebes

Deine Frida.

 

86. Hellmut Becker an seine Mutter Hedwig Becker. O.O, o.D. (wohl Ende Juli 1930)

Liebe Mutter!

Vielen Dank für Deinen Brief und für den Sonntagsgruß (?) und für die Illustrierten. Ich freue mich immer sehr, wenn Du mir so etwas zum Lesen schickst.

Hertha kam gestern hier an. Sie sieht sehr gut aus. Wir hoffen sehr, daß es Vater bald besser geht. Denn diese plötzliche Sache war ja scheußlich.

Hertha kann bis zum 4. August hier auf dem Ortenberg (?) bleiben. Uns beiden geht es ausgezeichnet. Ich schreibe Dir heute nur kurz, weil ich Dich ja bald sehen werde.

Mit vielen herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn Hellmut.

Alexander Becker

HA VI. Nr. 8705 (Alexander Becker)

80. Alexander Becker an Schwägerin Hedwig Becker. Frankfurt/M., 22.6.1935

(Maschinenmanuskript)

Würdigste aller Amateur-Wehmütter in Kreßbronn und Umgebung!

Ich muß mal wieder meinem bedrängten Herzen Luft machen und ich wüßte nicht, bei wem ich das besser tun sollte als bei Dir.

Ferdi ist im Land und wir verhandeln wegen Gelnhausen und Otfried. Verkrachen werden wir uns nicht, davon sind wir beide fest überzeugt; aber die Differenzen in den Anschauungen gehen ziemlich weit, und wie Du Ferdi kennst, behandelt seinen bösschnäuzigen Bruder immer etwas vorsichtig, um nicht zu sagen ängstlich. Ich habe innerlich mit Gelnhausen abgeschlossen und daneben hängt mir die Verantwortung zum Hals heraus. Ich habe keinerlei Sonderinteressen, aber ich fühle sehr stark meine allgemeine Verantwortung. Ich vertrete nun mal den Standpunkt, daß bei der augenblicklichen Zeit, wo alles in den Grundbesitz drängt, es restlos töricht ist, unnötig (d.h. über den zur Deckung der nötigsten Schulden erforderlichen Betrag hinaus) Grundbesitz zu verkaufen. Ferdi will natürlich Geld haben, um im nächsten Jahr Horsts Studium zu finanzieren, und argumentiert u.a. außer der Verkaufslust der ganzen Familie und mit der Kritik Deiner gescheiten Söhne über Otfried. Mein Standpunkt ist der, daß ich die Berechtigung von Ferdis Wünschen wohl anerkenne und nur immer bedauere, daß ich selbst für Frida und für Jochen Schulden aufgenommen habe, die ich aber hoffentlich im nächsten Jahr stark reduzieren kann.

Wenn aber irgend eine Ausschüttung stattfindet, so ist es mir klar, daß neben der Gefährdung durch Valutasorgen sie ziemlich nutzlos verpuffen wird als ein Tropfen auf verschiedene arg heiße Steine. Nun sehe ich gerade bei Ferdi die Sorge darin, daß er sehr kleine Jungens hat, die also noch für lange Zeit Zuschuß erfordern werden.1 Bei anderen ist es ähnlich. Kurz gesagt: ich sehe eben in Gelnhausen doch noch eine realisierbare Reserve, und die möchte ich erhalten.

Es ist mir ganz klar, daß Otfried in vielen Fällen versagt hat. Ferdi hat dort nicht gut gewirkt, denn Otfried ist ein furchtbar weicher und durch den Tod seiner Mutter2 und die Wieder-verheiratung seines Vaters etwas des inneren Halts beraubter Mensch. Was man mit ihm anfangen kann, weiß ich nicht; aber man wird ihn mal herauswerfen müssen. Nur weiß ich das eine, daß er letzten Endes auch mir wieder zur Lastfallen wird.

Ich halte es für einen Unfug, daß ertragreiche Stücke wie z.B. der Obstgarten, der jetzt die hauptsächlichste Einnahmequelle ist, verkauft werden, und ich suche nach allen möglichen Lösungen, habe aber da mit ganz ulkigen Vorurteilen zu kämpfen: Man, d.h. die Familie, sieht das Verhältnis von Otfried zu Marie mit trüben Augen an. Ich weiß, daß man es mit einem wirklichen Parzival zu tun hat, bei dem also solche trüben Gedanken vollkommen abwegig sind. Leider hat sich Marie zur Faulheit und leichten Schlamperei entwickelt, aber das kommt eben durch die unklaren und schwierigen Verhältnisse, die nicht nur einen sauberen, sondern auch einen starken Charakter erfordern.- Wunderbar ist, daß Ferdi zwar herrlich, und Otfried gegenüber wohl auch grob, kritisiert, aber auf meinen Vorschlag, er soll in den nächsten Wochen, wenn er in Gelnhausen ist, mal Otfried zum richtigen Disponieren zu erziehen versuchen, die Antwort gibt: Dafür verstehe ich nicht genug von der Landwirtschaft.

In meinem Groll bin ich schon auf die verrücktesten Gedanken gekommen, so z.B., ob Du, würdigste Wehmutter, nicht gelegentlich auch mal ein bißchen helfen könntest. Laß es eine Nebenwirkung dieses Briefes sein, daß Du mal darüber nachdenkst. Die Hauptsache ist schon erfüllt dadurch, daß ich mir mal Luft gemacht habe.

Womit ich die Ehe habe, in alter Treue zu bleiben Dein Schwager (gez.) Alex

 

81. Alexander Becker an seine Schwägerin Hedwig Becker. Frankfurt, 5.7.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Ich habe Dir noch für Deinen lieben Brief zu danken und schicke Dir Walters diplomatischen Brief zurück.

Die Verhandlungen mit dem guten Ferdi waren eigentlich immer sehr nett, da wir von vornherein alle beide auf dem Standpunkt standen, daß wir uns unter keinen Umständen verkrachen. Wie Du mich kennst, vertrete ich die Ansicht, daß ich nichts zu verbergen habe, daß mein persönliches Interesse an Gelnhausen überhaupt keinen Einfluß hat, sondern daß ich einfach den beamtenmäßigen Standpunkt vertrete, daß ich das tue, was ich für richtig halte. Daß ich darin mit Ferdi, namentlich über die Person Otfrieds, Meinungsdifferenzen habe, kann zunächst an meinem Entschluß nichts ändern. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß in Grundbesitz angelegtes Geld mir noch lieber ist als ein Bankkonto, auf das Ferdi Wert legt, weil er Studiumsgelder für Horst sicherstellen will. Wenn man selbst durch Verkauf von grund Ferdi RM 10.000 zur Verfügung stellen könnte, so bin ich überzeugt, daß die vor Beginn der mehrjährigen Studienzeit von Horst schon angeknabbert werden, weiter aber, daß die Möglichkeit einer Entwertung sehr groß ist. Und gerade in Ferdis Interesse bin ich für langsame Liquidierung. Der Anfang ist gemacht: wir haben den westlichen teil des oberen Gemüsegartens ganz gut verkauft. Ich nehme an, daß weitere Interessenten sich zeigen werden. Aber die Liquidierung des Grundbesitzes wird bei Gelnhäuser Verhältnissen eben längere Zeit dauern, und solange nicht eine absolute Einschränkung auf Haus und Garten erreicht wird, halte ich die Anwesenheit von Otfried für unbedingt nötig. Außerdem sage ich ganz offen, daß bei den nun mal vorhandenen Gelnhäuser Gewohnheiten, die niemand besser kennt als ich, ich Otfried bei den langwierigen Geländeverkäufen besser geeignet zum Schmusen halte als den exakten Ferdi.

Aber wie Du mich weiter kennen wirst, habe ich nicht das mindeste dagegen, daß Du oder Deine Söhne Euch mit Ferdi aussprecht, selbst auf mich schimpft, soviel Ihr Lust habt, und ich würde es sehr bedauern, wenn Du Deine Anwesenheit in Orb nicht dazu benütztest, mal Fühlung u nehmen und Deine eigenen Augen walten zu lassen. Dich zu beeinflussen, habe ich nicht die geringste Absicht.- Also von Verstimmung zwischen Ferdi und mir ist nicht die Rede; im Gegenteil, wir stehen besser als je.

Jetzt noch eine andere Sache: Wir wollen wieder an den Tegernsee zu meinem Vetter Andreae fahren. Plötzlich kommt mein Freund Kaselowsky aus Bielefeld3 am Telephon auf folgenden Vorschlag: Er will sich – und zwar ursprünglich mal auf meinen Rat – eine, wie er sagt, ‚Butze’ am Bodensee kaufen, in der Gegend von Schachen. Bis jetzt stelle ich mir so ein besseres kleines Schloß darunter vor. Und nun sagte er, er wolle mit seiner Frau Samstag/ Sonntag unten sein und wir sollten Sonntag hinkommen. Dies hat folgenden Plan ausgelöst, der aber erst auf telephonischem Wege heute abend spät bestimmt wird:

  • Abfahrt der Familie Becker morgen, Samstag, nach Baden-Baden; Übernachten bei Rehbocks.
  • Sonntag: Durchfahrt nach Schachen, mit eventuellem Besuch von Frau Hedwig Becker, ohne daß diese im mindesten derangiert wird.
  • Montag: Fahrt nach Tegernsee.

Vielleicht lasse ich auch Günther per Motorrad nach Schachen kommen, denn es wird ganz gut sein, wenn er die Gelegenheit zur Fühlungnahme mit seinem späteren Chef benützt. Ob wir unterkommen können, ist fraglich. Wenn, was ich bei Kaselowskys Einfluß in Schachen nicht erwarte, alle Stricke reißen, dann wende ich mich hilfeflehend an Dich. Du wirst schon irgendwo in Kreßbronn oder bei Deinen sonstigen Entbindlingen eine Stätte finden, wo man eben mal für eine Nacht unterkriechen kann. Aber bitte keinerlei Vorbereitungen, ehe ein telephonischer Notschrei zu Dir kommt.

Im übrigen werden ja wohl noch auf den Äckern des Bodensees die nötigen Felchen wachsen, damit das liebe Alexchen nicht verhungert.

Halleluja! Es wäre witzig, wenn wir eine kurze Stippvisite bei Dir machen könnten.

Herzlich Dein (gez.) Alex.

PS. Soeben höre ich, daß Herr Dr. Kaselowsky nicht nach dem Bodensee fährt. Wir ändern daher unsern Plan und kommen vielleicht mal vom Tegernsee nach dem Bodensee.

 

82. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 10.9.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Da ich durch Deinen Telephonanruf schon tief gerührt war, wurde ich durch Deinen Geburtstagsbrief noch mehr erweicht, was sich darin ausdrückt, daß ich Dir jetzt einen Schrieb hinschreibe.

Also hab schönen Dank, vor allen Dingen aber nimm Du meine besten Wünsche zu Deiner neuen Lebensphase als Hausbesitzerin, in die Du glücklich eingetreten bist.

Offen gestanden, habe ich manches liebe mal an Dich gedacht, und eigentlich stelle ich mir vor, daß, wenn Du glücklich mal allein bist, es sehr hübsch sein muß, bei schönem Wetter im Herbst am Bodensee aufzuwachen und dann über die eigenen Felder, Auen etc. den Blick schweifen zu lassen. Ich stelle mir Deinen park demnächst so vor wie hier einen Lehrgarten im Palmengarten, wo unendlich viel schöne, gute, nette und nützliche Sachen auf kleinem Raum in bester Qualität gezogen werden und wo von fernher die Mütter Deiner Heblinge und die Frauenschaften der weiteren Umgegend antanzen, um sich von Dir belehren zu lassen. Versäume doch nicht, mir gelegentlich mal zu sagen, was Du alles änderst und wann Du glaubst fertig zu sein.

Ich war am Samstag mit Sophie und Günther in Gelnhausen, wo Ferdi minuziös eine Verteilung von mehr oder weniger wertlosen Sachen vornimmt. Ich bin diesmal ziemlich deutlichgeworden und ich glaube, es wird allmählich Ruhe geben. Ich habe Ferdi gesagt, daß er die Geländeverkäufe mal lieber mir überlassen sollte, weil ich verschiedene Interessenten habe, es aber für unrichtig finde, wenn er sich mit lauter kleinen Schmutzfinken abgibt, die nichts hinter sich haben, während ich eigentlich ganz gute Leute auf meine Gelnhäuser Art langsam behandeln möchte.

In der Frage Otfried bin ich steif geblieben. Zum Schluß habe ich ihm gesagt, als er mir in bekannter Weise mit allen möglichen mehr oder weniger bösen Verwandten zu imponieren suchte, daß es schließlich auch andere Leute gäbe und daß mir z.B. von einer Seite gesagt worden sei, (unter uns gesagt: es war Walter), daß man die ihm suggerierte pathologische Haltung gegen Otfried nicht mitmachte. Das hat ihn anscheinend tief gewurmt. Er wollte natürlich wissen, wer es war, was ich abgelehnt habe. Ich habe ihm aber gesagt, daß ich schließlich auch mal Luft machen müsse, denn es wäre mir einfach zu dumm, hintenrum Sachen aufgetischt zu bekommen, die so den Stempel des Gequassels an sich hätten und als Stimmungsmache benutzt würden, wie daß man z.B. sagt, ich hätte Blumensteins bei der Abwicklung von Emmas Erbschaft, na sagen wir mal, nicht gerade schön behandelt. Es kommen wirklich unglaubliche Sachen vor. Und dann soll man nicht mal böse sein dürfen.

Ach Hedwig, man hat es schwer. Das einzig Nette ist, daß wir mit Günther jetzt viel musizieren. Wir haben uns Jochens früheren Lehrer als ersten Geiger engagiert. Zur Zeit verarzten wir eigentlich mit ganz nettem Erfolg ein Reger’sches Streich-Trio und wüsten in dem Garten von Beethovens opus 59. Günther klopft mit Sophie auf zwei Klavieren; das kleine Instrumentchen, von dem wir Dir erzählten, ist ein richtiger großer succès.

So, nun hast Du wieder Einiges gehört. Gehe in Dich und laß mich dasselbe tun, nämlich das Hören, und sei herzlich gegrüßt von Deinem getreuen (gez.) Alex.

Handschriftliche Anmerkung von Alex:

Die Erbteilung der Gelnhäuser Mobilien hat bei Sophie und mir nur die wehmütige Vorstellung wachgerufen, wie anders sich eine solche Sache zwischen Carl, Hedwig, Frida und Alex abgespielt hätte wie jetzt. Freu Dich, daß Du nicht dabei warst. Wir haben nur an den ganzen Habsuchtsorgien desinteressiert und sogar zugesehen, wie von uns Gelnhausen geliehene Tischwäsche in unersättliche Hausfrauenmägen verschwanden!! Ich glaube, ‚man’ hat sich dabei nicht recht wohlgefühlt!? Schwamm drüber!!

 

83. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 14.10.1935

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Ich bin heute vor 8 Tagen nach Paris geflogen, Donnerstag vormittags zurück, und habe mich à tempo mit einer Vergiftung ins Bett legen müssen. Daher die Verzögerung der Antwort auf Deinen Brief.

Ich muß mal über die Sache nachdenken. An und für sich halte ich bei der jetzigen Zeit einen Wechsel nicht für glücklich und rate zu sorgfältiger Überlegung. Verhetzung wird sich wohl durch Gewöhnung allmählich legen. Das machen alle Berliner mit.

Die Sache mit Hellmut ist bedauerlich; aber da kann man wohl nichts machen.

Wir hoffen sehr, daß Du uns besuchst. Wie wir es einrichten, wissen wir nicht, aber gehen wird es schon irgendwie.

In Eile, getreulich Dein (gez.) Alex

 

84. Alexander Becker an Hedwig Becker. Frankfurt, 10.3.1936

(Maschinenmanuskript)

Liebe Hedwig!

Klagst Du, so weine ich mich auch an Deinem Busen aus.

Ich habe die letzte Woche viel zu tun gehabt: Am Samstag als Vorsitzender des Schulvereins 50jähriges Jubiläum von Trudes Schule mit großer Rede vor tausend Personen, Ansehen von unendlich vielen und langweiligen Aufführungen, Dauer bis 5 Minuten vor 12, bis 12.30 Uhr Packen und dann im Schlafwagen nach Bremen, Ferdis Geburtstag mit Carl Rehbock, Ernst und Marianne von Blumenstein, 1000 Leuten, stundenlangen Deputationen, unendlich vielen Reden, von denen meine die kürzeste war, dafür aber saß! Schluß ¼ nach 12 Uhr. Montag 8 Uhr Abfahrt nach Hamburg, den ganzen Tag in Hamburg auf den Beinen, abends Abfahrt. Jetzt bin ich wieder im Büro in Frankfurt und weine.

Also zunächst die Diskretion! Anbei Carolas Briefe zurück. Auch ich begrüße es, daß sie wirklich weiblich sachlich ist und lobenswerte Motive hat. Nur in einem irrt sie: daß Alex die Sache nicht richtig sieht. Der sieht sie schon seit Jahren ganz richtig und ihn hat es mehr Kopfzerbrechen gekostet als Carola. Ich werde versuchen, die Sache halbwegs im Sinne der Familie zu ordnen. Ob es gehen wird, weiß ich nicht und habe auch meine Zweifel. Nach bestem Wissen glaube ich, daß ich mit meiner Gelnhäuser Politik bis jetzt Recht behalten habe, und vielleicht wird auch noch mal ein Beweis möglich sein. Aber davon will ich jetzt gar nicht weiter sprechen. Jedenfalls werde ich Carola gelegentlich schreiben, daß Du mir ihre Argumente schriftlich übermittelt hättest. Carolas Briefe sind so nett, daß ich wirklich keinerlei Indiskretion sehen kann, wenn Du sie mir in natura schickst.

Von Deinen Nöten habe ich wehklagend Kenntnis genommen. Ich kann nur wünschen, daß nach der Nacht auch nochmals das Licht folgt. Schließlich hörte ich aus Ritterhude, daß es Hellmut besser geht und daß die Sache mit Herta als zwar peinlich, aber nicht gefährlich angesehen wird und zweifellos sich wieder einrenkt.

Über die Finanzen kann ich augenblicklich noch nichts sagen. Ich will mal die beiden Faune begutachten lassen, und dann will ich mir malüberlegen, ob ich Dir nicht einen Vorschuß auf den eventuellen Erlös geben kann, den ich bei ungefähr RM 500 sehe. Das könnte ich vertreten. Würde Dir das mal einstweilen langen? Wohl verstanden: noch ist es keine feste Zusage, aber ich wollte Dir nur schnell zeigen, daß ich mich bemühe, Dir zu helfen.

Ich habe es eilig, also nimm im üblichen Tempo schönste Grüße und sieh aus dieser prompten Antwort, daß Dein Klagen mein Ohr und mein Herz erreicht hat.

Wundervoll ist, daß Du den größten Einfluß auf mich hast. Wenn die andern Leute nur wüßten, daß ich jeder vernünftigen Diskussion willig das Ohr öffne, wenn ich sehe, daß von der andern Seite mit Verstand und etwas Überblick eine Sache besprochen wird.

Herzliche Grüße treulich, wie immer,

Dein schlafsüchtiger Schwager (gez.) Alex.


1 Das denke ich schon lange. Anmerkung von Alex mit Bleistift

2 Frida Michaelis geb. Becker, Schwester von Alex und Ferdi. Sohn Otfried, Töchter Emma und Mia

3 In der Tat heuerte Günther Becker später als Chemiker bei Oetker in Bielefeld an und verbrachte dort sein ganzes Leben. Seine Witwe Gerda lebte noch einige Jahre dort.

Schwiegervater Schmid

HA.VI. Nr. 8681 (Schwiegervater Schmid)

79. C.H.B. an seinen Schwiegervater (Schmid). Berlin, 13.1.1922

Lieber Vater!

Eine kleine Grippe, die mich die letzten Tage aus Bett gefesselt hat, hat es verhindert, daß ich Dir nicht schon längst für Deinen köstlichen Neujahrsgruß gedankt habe, der in Gestalt zweier Zigarrenkisten richtig in meine Hände gelangt ist. Nimm vielen Dank für das freundliche Gedenken, das meiner Dir ja bekannten Schwäche sehr entgegen kam. Ich habe auch schon gekostet und kann Euer Urteil nur bestätigen. Ich bitte, auch in künftigen Fällen meiner bei solchen Anlässen freundlich gedenken zu wollen.

Um mich von der Grippe und der Ministerschaft, diesen beiden ephemeren Erlebnissen der letzten Zeit, zu erholen, will ich nächste Woche nach Gelnhausen. Hedwig geht mit, obwohl sie sich nur sehr schwer loseist. Da auch Hellmut wieder von der Grippe erfaßt war und eine kleine Erholung ebenso nötig hat wie sein Vater, darf er uns begleiten. Vor Beginn der hohen Preise wollen wir wieder in Berlin sein. Hätten wir noch frühere Zeiten, so wären wir irgendwo ins Gebirge gefahren. Heutzutage ist man froh, wenn man in einem selbst im Winter nicht ganz unbehaglichen Heim wie in Gelnhausen unterschlupfen kann. Man ist jedenfalls einmal fern von Berlin, und es ist nicht so schrecklich weit. Wir sind schon um 5 Uhr dort. Man sieht Geschwister und Verwandte einmal wieder. Vielleicht erleben wir sogar den Geburtstag der Mutter dort. Kurz, es hat allerlei Verlockendes, selbst auf die Gefahr hin, daß kein Schnee liegt. Besser wie ein verregneter Aufenthalt in einem teuren Gebirgsgasthaus ist es allemal.

Während ich dies schreibe, gedenke ich des heutigen Geburtstages der lieben Mutter. Ich habe wegen meiner Grippe nicht schreiben können und bitte sie, auf diese Weise noch nachträglich meine herzlichen Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Mein geplanter Besuch in München ist leider unterblieben, da ich den Nuntius Pacelli1, den ich aufsuchen wollte, sehr eingehend in Berlin sprach, während die Besprechung mit dem Kardinal von Köln noch kurz vor Jahres-schluß glücklich vom Stapel lief. Wir haben sehr interessante und wichtige Besprechungen gehabt und alles hat sich zu einem, wie ich glaube, Gutes verheißendes Einvernehmen gefügt. Es waren vom Reich schwere Fehler gemacht worden, die wir von Preußen dann mit vieler Mühe ausbalancieren mußten2. Nun läuft die kirchenpolitische Entwicklung so, wie wir sie in Preußen von Anfang an hatten haben wollen. Leider ist mit Bayern auf diesem Gebiet nicht leicht zu arbeiten. Man ist immer gleich mißtrauisch und kommt aus dem alten Schema nicht heraus, als ob Preußen über die Reichsregierung Deutschland beherrschen wolle. Dabei besteht die Reichsregierung nur aus Süddeutschen, und Preußen hat einen weiß Gott schwereren Stand als Bayern; denn es kann nun einmal leider von Berlin nicht abfallen. Wie herrlich wäre die preußische Position, wenn Berlin außerhalb Preußens läge. Manchmal kann einen wirklich die Wut packen, wenn man sieht, wie wir an unserer eigenen staatsrechtlichen Kompliziertheit zu Grunde gehen. Wir brauchen diesen komplizierten Bau, um unserer partikulären Geistesart einen gewissen Auspuff zu geben, und dann schlagen wir uns wieder mit demselben Instrument gegenseitig die Köpfe ein. Und das alles trotz dem ausgesprochenen Willen, beisammen zu bleiben. Ich muß manchmal daran denken, daß spätere Jahrhunderte auf all diese Verhältnisse mit dem gleichen Mitleid zurückblicken wie wir auf die staatsrechtlichen Verhältnisse im Götz von Berlichingen. Schade, daß wir es nicht mehr erleben werden. Meine Arbeit gilt jedenfalls dem Ziel, unter Aufrechterhaltung aller landsmannschaftlichen Eigenart doch den Einheitsgedanken als nächstes Ziel über alles andere zu stellen. Nur das Tempo sollte man nicht forcieren.

Der außenpolitischen Entwicklung stehe ich mit großer Reserve gegenüber. Ich bewundere manchmal den Optimismus, mit dem unsere leitenden Männer heute an die Arbeit gehen müssen. Die kulturpolitische Arbeit ist da doch immerhin noch erfreulicher. Man kann sie zur Not auf die Intensivität einstellen, wenn man sich in Bezug auf die Extensität Schranken auferlegen muß. Aber in der Außenpolitik ist man doch jetzt nur noch Objekt. Und dabei das entsetzliche Gefühl, daß die Torheit der Engländer die Franzosen so mächtig hat werden lassen, daß dieses wildgewordene Narrenvolk jetzt selbst den Engländern eine Gefahr wird, weshalb diese immer weiter vor ihnen zurückweichen. Immerhin ist doch zu hoffen, daß die Welt allmählich einsehen wird, woran sie mit den Franzosen ist. Aber angenehm ist die Zeit nicht, die man darauf warten muß. (CHB)


 

1 Nuntius Pacelli ist der spätere Papst Pius XII. Seine Residenz in der Münchener Kaulbachstraße wurde nach dem 2. Weltkrieg Sitz des Institut Francais.

2 Hervorhebung des Herausgebers.

Harry Becker

HA.VI. Nr. 6290 (Harry Becker, auch Vater Ferdinand)

70. C.H.B. an Harry Becker. O.O. (Bonn), 2.7.1915

(Maschinenkopie)

Mein lieber Harry!

Dein lieber und langer Brief kam gestern Nachmittag in meine Hände. Ich hatte es eigentlich nie anders erwartet und mich immer darüber gewundert, daß Du so zuversichtlich für alle Fälle mit einer Rückkehr nach Bonn rechnetest. Jedenfalls bist Du noch gerade vor Toresschluß angenommen worden, denn inzwischen hat Deine Hausfrau mir den Stellungsbefehl für Dich zum 3. Juli zugeschickt, den ich sofort an Deinen Vater weitergehen ließ. Das Regiment, dem Du jetzt angehörst, ist ja ein mecklenburgisch-feudales, und Du wirst Dich da schon wohl fühlen. Daß Du auch Schulkameraden da hast, ist ja famos. Der kleine Klebe war sehr betrübt, daß Du nicht wiederkehrst, und auch ich bedauere es lebhaft, da die Erweiterung unseres Familienkreises, die Du darstelltest, uns doch sehr willkommen war. Zukunftspläne lassen sich ja jetzt noch nicht machen; jedenfalls kannst Du sicher sein, daß wir Dich jederzeit wieder mit der gleichen Herzlichkeit aufnehmen werden, und wenn Dein Bonner Aufenthalt nur eine Episode bleiben sollte, so freue ich mich, daß er mir Gelegenheit gegeben hat, Dich etwas näher kennen zu lernen und freundschaftliche Beziehungen mit Dir zu knüpfen, die hoffentlich fürs Lebens sein werden. Wenn Du neben Deinen Eltern einmal einen Onkel brauchst, der Verständnis für Dich hat, so wirst Du nicht lange zu suchen brauchen. Meine Frau wird ja nun wohl in Frankreich von Deinen Schicksalen erfahren; aber die anderen Freunde und Verwandten, die ich sprach, lassen Dich alle vielmals grüßen: die Meinigen, Fritz Sell, der dieser Tage während seines Umzuges bei uns wohnt, Schreuers und auch Ritschel, dessen Sohn in Bruchsal leider nicht genommen worden ist. Er scheint gänzlich militär-untauglich zu sein.

Deine hiesigen Geschäfte werde ich heute nach Wunsch abzuwickeln versuchen. Gestern konnte nichts mehr geschehen; doch werde ich jetzt gleich mit Fräulein Ida und Hertha nach Deiner Wohnung gehen, um aufgrund Deiner äußerst sorgfältigen Darstellungen zu handeln. Ich habe vielleicht noch Gelegenheit, an das Ende dieses Briefes über das Resultat meiner Verhandlungen zu berichten.

Und nun wünsche ich Dir alles Gute für die Zeit Deiner Ausbildung und vor allem für später. Es muß für Dich doch einerfreuliches Gefühl sein, für gesund erachtet zu werden. Ich verstehe ja sehr wohl dieses gewisse Gefühl der körperlichen Unsicherheit, das Du nach den Sorgen der letzten Jahre noch hast, und ich bin ja in mancher Hinsicht auch in ähnlicher Lage, wie Du, nur daß ich es mit meinen 40 Jahren wohl kaum aushalten würde. Jedenfalls werde ich, wenn ich militärisch frei bleibe, in den großen Ferien wieder einmal ein Sanatorium aufsuchen, um meinen wenig erfreulichen Zustand zu kurieren. Bei einer kürzlichen Untersuchung wurde wieder Zucker gefunden, und damit ist nicht zu spaßen.

Laß uns gelegentlich mal was von Dir hören. Wir werden Deiner oft in Treue gedenken.

Mit herzlichen Grüßen vom ganzen Hause Dein alter Onkel (CHB)

s.a. dtv-Atlas Weltgeschichte Band 2, S.402

 

71. C.H.B. (ohne Anrede, wohl an Bruder Ferdinand Becker), o.O., o.Datum (1915/16)

(Maschinenkopie, Fragment)

(Lieber Ferdi!)

…Was den „Landratsjungen“ betrifft, so habe ich die größte Vorliebe für wohlerzogene norddeutsche junge Leute. Aber wenn einer einmal in ein anderes Milieu kommt, soll er sich dem nicht verschließen; ich glaube auch jetzt, daß das Harry nie tun wird.

Ich stehe heute Morgen ganz unter dem Eindruck der Torpedierung der Lusitania1. Das ist ein Bombenerfolg, der beweist, daß die in letzter Zeit viel bespöttelte Unterseebootwaffe ein furchtbares Instrument ist. Hoffentlich ist recht viel amerikanisches Kriegsgerät mit unter-gegangen. Es war von deutscher Seite genug gewarnt worden, und zweifellos hat man den großen Personendampfer bisher geschont. Auch die englische Kriegsflotte wird sich jetzt wohl noch mehr verstecken.

Mit Italien sieht es dagegen böse aus.; man weiß allerdings nicht, wieviel daran Pressemache ist. Auch von deutscher Seite wird damit stark gearbeitet. Die Kölnische Volkszeitung brachte einen offenbar von oben gebilligten Leitartikel, der mit der Wiederherstellung des Kirchen-staates drohte. Ich sage mir immer, die Italiener sind im Grunde feige; sie haben kein Geld und keine Kohlen; die Kriegspartei hat die Sozialisten und die katholische Kirche gegen sich. Das ist etwas viel. Allerdings ist die Dynastie gefährdet, und die öffentliche Meinung bedeutet in Italien mehr als bei uns. Ich kenne kein Beispielt in der Geschichte, daß ein Volk so voll-ständig seine natürliche politische Orientierung aus dem Auge verliert, wie jetzt Italien. Es wird sich gewiß nicht den Kopf am Trentino2 einrennen, was ziemlich uneinnehmbar ist, aber es wird wohl in der Türkei eingreifen und die französische Front verstärken. Demgegenüber sollen wir beabsichtigen, mit großen deutschen Truppenmassen aus dem Trentino herauszubrechen und die Lombardei zu besetzen. Wie es allerdings mit der Neutralität der Schweiz wird ist eine schwierige Frage. Ohne ein Eingreifen Italiens dürfte der Krieg wohl bald zu Ende sein.

Was den Munitionskauf in Amerika betrifft, so stammt meine Nachricht aus dem Hauptquartier. Alex war aber auch bereits darüber orientiert. Der Gedanke ist seit Kriegsbeginn erwogen worden, und man hat z.Zt. geplant, Munition zu kaufen und dann die Fabriken zu veranlassen, einem Ausfuhrverbot sich nicht länger zu widersetzen; ihr privatwirtschaftliches Interesse war ja dann gedeckt. Das scheint nicht gegangen zu sein. So hat man jetzt nicht

direkt Munition, sondern wenn ich recht berichtet bin, einen zur Pulvererzeugung nötigen Bestandteil (Salpeter??) aufgekauft. Das große Munitionsgeschrei in England ist doch auch nicht durch einen Zufall von heute auf morgen entstanden.

Wie ich in Berlin hörte, empfindet man auf Seiten der Entente vor allem den Krieg mit der Türkei als eine ungemeine Erschwerung. Man hat der Türkei sehr glänzende Bedingungen gemacht, wenn sie einen Separatfrieden schlösse; aber davon ist keine Rede. Verhandlungen bestehen bisher tatsächlich nach keiner Seite, doch glaube ich, daß trotz der Frankfurter Zeitung, die einer Verständigung mit England das Wort redet, z.Zt. ein Hand-in-Hand-gehen

mit Rußland in Aussicht steht. Ein Vortastverfahren über eine Verständigung in der Dardanellenfrage scheint sich anzubahnen, Grundsätzlich aber steht der Kanzler auf dem Standpunkt, daß die gegenwärtige Kriegslage eine politische Zukunftsorientierung nicht zulasse.

Mit großem Interesse las ich einen Teil von Elses Brief. Grüße sie bitte herzlich, sowie auch Ully (und) Deinen Sohn Harry …

Ende des Fragments, aus dem sich aber immerhin der Schreiber erschließen ließ

 

72. C.H.B. an Harry Becker o.O. (Bonn), 17.3.1916

(Maschinenkopie)

Lieber Harry!

Ich möchte Dir wieder einmal einen herzlichen Gruß von uns allen schicken und Dir Dank sagen für Deine freundlichen Karten. An Deinen Briefen habe ich herzlichen Anteil genommen und mich Deiner lebendigen Darstellung sehr gefreut. In den letzten Wochenhabe ich allerdings nichts mehr bekommen; ich weiß nicht, aus welchem Grunde.

Es wird Dich interessieren, daß das kleine Jüdchen, mit dem wir Dich immer so aufzogen, und der wegen seiner schrecklichen Jugend immer nicht ankommen konnte, dieser Tage vor Lille gefallen ist. Er war eigentlich noch ein Kind, dieser rote Levinson; aber ich habe ihn eigentlich doch ganz gern gemocht, und jedenfalls hat mich sein Schicksal, das er nach nur vierwöchigem Aufenthalt an der Front, von einem Schrapnell getroffen und sofort getötet wurde, recht erschüttert. So findet diese kleine Episode Deiner Bonner Zeit einen tragischen Abschluß. Der Onkel des kleinen Jüdchens, Professor Levinson, ist übrigens vor mehreren Monaten in seinem Studierzimmer von einer Leiter heruntergefallen und hat sich den rechten Arm derartig verletzt, daß er jetzt immer noch nicht Arm und Hand gebrauchen kann, und es zweifelhaft ist, ob sie je wieder die alte Bewegungsfähigkeit erhalten. Sonst kann ich Dir von Deinem hiesigen Bekanntenkreis nicht viel berichten. Der älteste Ritschel wird wegen zu kleinen Herzens nirgends genommen. Der zweite ist in Freiburg als Fähnrich eingetreten.

Uns geht es nach wie vor gut. Ich bin noch immer nicht eingezogen, habe aber neulich in den Sprachen, die ich verdolmetschen soll, auf dem Bezirkskommando eine Klausur schreiben müssen. Inzwischen schreibe ich unzählige kleinere und größere Artikel und halte Vorträge, z. Zt. aber genieße ich die Ruhe der Ferien, um mal bei einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit zu bleiben.

Meine Frau pflegt jetzt vormittags in dem neuen Stift bei uns draußen. Den Kindern geht es gut. Hellmut ist ein ganzer Jüngling geworden von ungeheurer geistiger Beweglichkeit; Du würdest Deine helle Freude an ihm haben. Das Semester über war Carola3 bei uns, die mit großer Selbständigkeit durchs Leben segelt. Leider wohnte sie sehr unglücklich und war telephonisch nicht zu erreichen, was den Verkehr etwas erschwerte. Dafür hörte sie meine Vorlesung über die islamische Religion, und kam sie auch einmal die Woche zu uns zu Tisch. Was wäre es witzig gewesen, wenn Ihr beide zusammen hier studiert hättet!

Daß ich Deine Eltern in Gelnhausen traf, wirst Du gehört haben. Es war mir eine besondere Freude, und haben wir viel zusammen geklönt. Großmutter ging und geht es glänzend. Ich war dieser Tage wieder bei ihr und zwar mit Fritz Sell, der inzwischen als Krankenwärter auf dem Venusberg eingezogen ist. Es ist das ein wenig beneidenswerter Posten, da er nicht avancieren kann. Er trägt Soldatenuniform, wird aber nicht weiter ausgebildet und geht im Lazarett den Schwestern zur Hand. Da er bei Einberufung nur noch wenige Wochen vor dem Staatsexamen stand, hat man ihm große Erleichterungen gewährt und sogar 14 Tage Voll-Urlaub, und er hat dann auch sein Staatsexamen mit gut, in Geschichte sogar mit Eins bestanden. Dann hat man ihm 10 Tage Erholungsurlaub gewährt, und jetzt tut er wieder seinen übrigens nicht allzu anstrengenden Dienst und ist eigentlich jeden zweiten Tag bei uns.

Aus der Türkei hört man in letzter Zeit weniger Erfreuliches. Die Hungersnot ist dort sehr groß; aber eine Hungersnot bedeutet im Orient nicht dasselbe wie bei uns. Man ist mehr daran gewöhnt. Der Vormarsch der Russen auf Bagdad ist nicht unbedenklich; aber es scheint nicht so schlimm zu sein, wie man es anfangs befürchtet hat. Jedenfalls warnt die Times ihre Leser vor Überschätzung dieses Ereignisses.

Der Rücktritt von Tirpitz4 dürfte tatsächlich mit der U-Bootfrage zusammenhängen, und, so sehr ich sein Scheiden bedauere, bin ich doch froh, daß die nüchterne Erwägung der politi-schen Lage über das blinde Scharfmachertum der Marinekreise gesiegt hat. Seit über einem Jahr hatte die Marine Zeit zu zeigen,, was sie mit den U-Booten kann; aber sie hat es nicht einmal erreicht, die regelmäßigen Militärtransporte von England nach Frankreich zu verhindern, und da soll man ihr Glauben schenken, sie könne bei rücksichtsloser Torpedierung England in drei Monaten aushungern, eine Hypothese, die uns auf der anderen Seite die Feindschaft sämtlicher Neutralen auf den Hals gehetzt hätte. Leider zeigt sich noch nirgends eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden. Wir müssen uns eben gedulden. Unserer draußen stehenden Lieben aber gedenken wir mit Dankbarkeit.

Gute Grüße vom ganzen Hause Dein getreuer Onkel (CHB).

 

73. Feldpostkarte von Harry Becker an C.H.B. 1. Escadron, 4. Mecklenburgische Kavalleriedivision, Regiment 17, 26.3.1916

Lieber Onkel Carl!

Für Deinen langen Brief vielen herzlichen Dank. Für Tante Hedwigs Sendung habe ich mich neulich schon bedankt. Ihr werdet das inzwischen erhalten haben. Ich bin bei den Hand-pferden, habe sehr viel zu arbeiten, daher nicht die rechte Ruhe und Zeit zum Schreiben. Daher nur dieser kurze Dank. Sowie ich wieder kann, werde ich Euch schreiben. Mir geht es ausgezeichnet; auch habe ich genug zu essen. Hier ist starkes Tauwetter; alles ist ein Patsch.

Viele herzliche Grüße, auch an Tante Hedwig und die Kinder

von Deinem tr(euen) Neffen Harry

 

74. Feldpostkarte von Harry Becker an C.H.B. 16.5.1916

Lieber Onkel Carl!

Aus dem fernen Osten sende ich Euch einen kurzen Gruß. Oft muß ich an die schönen Stunden denken, die ich vor einem Jahre bei Euch verleben durfte. Mir geht es hier sehr gut. Die Obstbäume blühen alle wunderschön. Augenblicklich ist kaltes regnerisches Wetter.

Der Russe ist ruhig. Sonst nix Neues.

Viele Grüße an Alle.

Dein treuer Neffe Harry

 

75. Feldpostkarte von Harry Becker an C.H.B. 22.5.1916

Lieber Onkel Carl!

Ich habe eine große Bitte an Dich. Wärest Du wohl so freundlich, das Buch über die Universität zu schicken.

Es ist schlechtes regnerisches Wetter. Der Russe ist ruhig. Oft muß ich an das vorjährige Frühjahr denken. Wie viele nette Erinnerungen kann ich damit verknüpfen. Wann werden diese Zeiten wiederkehren?

Hoffentlich geht es Euch allen gut! Was macht eigentlich die kleine Herta? Ihr hattet doch damals große Sorgen. Sicher ist es jetzt bei Euch herrlich mit all den blühenden Obstbäumen.

Seid alle herzlichst gegrüßt … Dein treuer Neffe Harry.

 

76. Feldpostkarte des Kriegsfreiwilligen Harry Becker an seinen Onkel C.H.B. 27.3.1916

Feldpostkarte des Kriegsfreiwilligen Harry Becker an seinen Onkel C.H.B. 27.3.1916

77. C.H.B. an Harry Becker. O.O. (Bonn), 27.5.1916

(Maschinenkopie)

Mein lieber Harry!

Deine beiden Karten haben uns sehr erfreut, und die ganze Familie sendet Dir gute Grüße. Den Ostergruß der Universität, an dem auch ich mitgearbeitet habe, hast Du wohl nur deshalb nicht erhalten, weil Du dem Sekretariat Deine Adresse nicht eingeschickt hattest. Auf Deine Mahnung hin habe ich es veranlaßt und wird das Buch wohl ungefähr gleichzeitig in Deine Hände kommen. Du wirst auch einen hübschen Aufsatz von Schreuer darin finden.

Von Deiner Mutter wirst Du inzwischen gehört haben, daß ich als Personalreferent für sämt-liche preußischen Universitäten ins Kultusministerium berufen bin. Es war ein schwerer Kampf, bis ich mich entschloß, das Angebot des Ministers anzunehmen, und habe ich dreimal lange Konferenzen mit Trott deswegen gehabt. Dann aber hielt ich es für meine Pflicht ja zu sagen, und nachdem einmal die Würfel gefallen sind, fühle ich mich glücklich in dem Gedan-ken an meine neue Aufgabe. Ich gehe zunächst allein und, wie das so üblich ist, kommis-sarisch noch als Professor für einige Monate nach Berlin. Erst im Herbst werde ich dann zum Vortragenden Rat ernannt werden, und dann wird auch meine Familie folgen. Bis dahin bleibt mir der Rückweg offen, wenn es mir gar nicht gefallen sollte. Ich zweifle aber nicht daran, daß ich mich schnell einlebe, zumal die persönlichen Verhältnisse in meiner nächsten Arbeits-gemeinschaft günstig sind. Ich habe mit einem alten sachkundigen und wohlwollenden Ministerialdirektor und auch sehr viel mit dem Minister selber zu tun, der zwar ein Junker, aber ein entscheidungsfreudiger und ideenreicher Mann ist; auch scheint er Anregungen zugänglich.. So schließe denn auch ich das Bonner Kapitel, in dem die kurzen Monate mit Dir uns immer eine liebe Erinnerung bleiben werden.

Herthas Beingestell ist immer noch nicht wieder ganz tadellos; aber es geht ihr doch besser, und sie wirkt äußerlich wie ein Ausbund von Gesundheit. Sie wiegt 10-20 Pfund mehr als Walther; auch ist sie in der Schule ausgezeichnet. Walther hatte gestern das beste Zeugnis seiner Klasse mit einer Eins in Deutsch und Latein. Er ist ein recht frischer Bub geworden. Das Entzücken der Familie ist der Jüngste, der sich ganz goldig entwickelt hat und mit seinem kleinen regen Geist und seiner körperlichen Tadellosigkeit die ganze Familie ergötzt.

An all die Friedensgerüchte5, die namentlich Rußland betreffen, glaube ich nicht. Es ist zwar merkwürdig, daß Rußland sich so still verhält, während die Italiener und Franzosen immer mehr in die Klemme geraten. Mir scheint, daß wir den Russen in Persien Konzessionen machen; denn es muß doch unser Ziel sein, einen Keil zwischen England und Rußland zu treiben. Die Schnelligkeit, mit der Grey’s ungeheure Heuchelei durch die Veröffentlichung der bosnischen Dokumente Lügen gestraft worden ist, hat etwas Herzerquickendes.

Wir würden Dir gern manchmal etwas schicken; aber es ist jetzt hier sehr knapp geworden, und man freut sich, wenn man sich selber durchschlägt. Ich tue es auch aus Prinzip nicht, weil ich ja in Osterholz gesehen habe, wie glänzend Du durch mütterliche Liebe versorgt wirst.

Hoffentlich geht es Dir dauernd gut und läßt Du uns recht bald mal wieder was hören. Meine Adresse ist vom 16. Juni an: Kultusministerium, Berlin, Unter den Linden. (CHB)

 

78. Kriegsfreiwilliger Harry Becker an C.H.B. Im Felde (im Osten?), 3.6.1916

Lieber Onkel Carl!

Schon gestern wollte ich Dir schreiben; durch einen glücklichen Zufall kam ich nicht dazu. Das paßte glänzend, denn heute kam Dein langer netter Brief. Also zuerst mal meinen herzlichsten Glückwunsch zu Deiner Berufung. Ich kann mir sehr gut denken, daß Dir die Entscheidung recht schwer gefallen ist. Denn an dem schönen Bonn hängt Ihr doch alle sehr. Auch wirst Du wohl viel von Deiner Arbeitsfreiheit aufgeben müssen. Aber dafür winken wieder viele andere Vorteile. Allerdings bin ich gespannt, ob Ihr wieder eine so schöne Wohnung finden werdet. Denn die Eurige ist doch einfach ideal, besonders wenn ich an die dort verlebten Stunden zurückdenke. Was war das eine schöne Zeit! Man kann sich gar nicht denken, daß die noch mal wieder kommt. Aber das wollen wir doch hoffen. Na, einstweilen läßt es sich hier ja auch aushalten, trotzdem wir ein Ende herbei wünschen. Von Mama werde

ich rührend versorgt, und ich bitte Euch daher, nur nichts zu schicken, besonders da ich jetzt weiß, daß bei Euch alles knapp ist. Über eine gelegentliche Nachricht von Euch hingegen freue ich mich immer sehr.

Daß es Deinen Kindern so gut geht, ist ja ausgezeichnet. Ihr habt doch sicher viel Freude an ihnen. Jetzt ist es wohl auch ausgeschlossen, daß Du noch als Schipper eingezogen wirst. Das hätte ich Dir auch wirklich nicht gewünscht. Denn die haben doch ein recht trostloses Dasein. Wir haben auch eine Kompagnie bei uns. Immer bloß für andere Truppen zu arbeiten, ist doch keine Kleinigkeit.

Der Russe ist im allgemeinen ruhig. Seit ein paar Tagen schießt er mit Maschinengewehren. Das ist recht unangenehm. Das Schlimmste ist aber doch die Artillerie.

Die Obstblüte ist fast vorbei. Ich bin gespannt, wie die Ernte ausfallen wird. Denn Bäume und Sträucher haben wir genug, sie haben zum Teil auch gut angesetzt. Für den Ostergruß der Universität vielen Dank. Er wird wohl in den nächsten Tagen kommen. Die Feldpost funktio-niert recht gut die letzte Zeit. Hingegen ist die Verpflegung oft sehr mäßig, und Tage, an denen man überhaupt nicht satt wird, sind nicht selten geworden. Trotzdem geht es mir aber hier ganz gut. Man gewöhnt sich an alles. Viele Grüße an Tante Hedwig und die Kinder!

Dein treuer Neffe Harry.


1 Die Lusitania wurde am 7.5.1915 von einem deutschen U-Boot versenkt. Sie hatte Kriegsmaterial im Frachtraum geladen für England, obwohl sie ein Passagierdampfer war.

2 Trentino ist die Gegend um Trient, Italien. Heute eine autonome Region Trentino-Südtirol

3 Carola von Blumenstein

4 Alfred von Tirpitz *1849 +1930, Großadmiral seit 1911, entwickelte die Torpedowaffe seit 1877

5 Ein Gesandter Wilsons sondierte in Paris, London und Berlin 1914-1916. Ein deutsches Friedensangebot nach dem Sieg über Rumänien wurde im Dezember 1916 von der Entente abgelehnt. Die exzessiven Bedingungen der Entente führen zur Erklärung Wilsons vom Januar 1917 eines Friedens ohne Sieg. Nur Deutschland antwortete übrigens auf die Bemühungen Wilsons; die österreichischen Bemühungen bleiben erfolglos. Im April 1917 treten dann die USA in den Krieg ein.

Else Becker

HA VI. Nachl. C.H.Becker. Rep.92. Nr.6283

67. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Bonn), 2.5.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Nach Bonn zurückgekehrt, ist es mir ein lebhaftes Bedürfnis, Dir und Ferdi nochmals Dank zu sagen für die reizende und wirklich erquickende Aufnahme, die ich bei Euch gefunden habe. Die gemütlichen Plauderstündchen und Spaziergänge mit Dir werden mir in unvergeßlicher Erinnerung bleiben.

Mein Vortrag ist dann schließlich noch etwas anders geworden, als ich ihn Dir skizzierte; vor allem habe ich ihn ganz anders eingeleitet, da ja gerade im richtigen Moment Kut el Amara gefallen war. Ich hatte von dem Publikum den allerangenehmsten Eindruck und war nachher noch bis 1 Uhr mit den Herren in regem Gedankenaustausch zusammen.

Die mitgebrachte Butter genieße ich sehr, und wir danken Dir nochmals für dieses schöne Geschenk. Wenn es Dir möglich ist, die 30 Dutzend Eier für uns zu beziehen, so würdest Du in uns dankbare Abnehmer finden. Der Eierbezug scheint hier in nächster Zeit sehr erschwert zu werden; um so angenehmer wäre es uns, wenn sich die Sendung bald ermöglichen ließe.

Hier fand ich alles wohl vor. Sonntag erwarten wir Tante Emma Rehbock zu Besuch.

Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein getreuer Schwager (CHB)

 

68. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Bonn), 10.6.1916

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Nur schnell herzlichen Dank für Deine Karte. Die Briefe von Harry haben wir alle mit großer Freude gelesen. Emma sollte sie eigentlich mitnehmen, vergaß es aber; so sandte ich sie Dir gestern, leider nicht eingeschrieben, da sie mir auch uneingeschrieben zugegangen waren. Auch ich hatte einen sehr netten Brief von Eurem Jungen, der sich in seinen Briefen wirklich von seiner besten Seite zeigt.

Wenn Du uns 10 oder 20 Dutzend Eier schicken kannst, sind wir natürlich sehr dankbar und glücklich. Hier bekommt man auf Brotbuch auch nach vielem Bemühen bestenfalls drei Eier pro Kopf und Woche. Einfuhr ist aber gestattet, ja sogar erwünscht.

Ich sende Euch einliegend ein kleines Schriftchen, das nur als Privatdruck erscheinen kann, da die Zensur den dritten Teil gestrichen hatte und ich deshalb auf Veröffentlichung verzichten mußte. Jetzt ist es ohne Streichungen gedruckt.

Herzliche Pfingstgrüße vom ganzen Hause und vielen Dank für Deine Bemühungen.

Dein getreuer Schwager (CHB)

 

69. C.H.B. an Else Becker. o.O. (Berlin), 16.9.1927

(Maschinenkopie)

Liebe Else!

Herzlichen Dank für Deine Karte. Wir haben wirklich Pech mit Ferdis Besuchen. Hedwig ist noch in Gelnhausen mit den Kindern und kommt vielleicht gerade gleichzeitig mit Ferdi an. Da außerdem große Wäsche ist und Du den Zustand bei Rückkehr der Hausfrau kennst, wäre es uns lieber wenn Ferdi diesmal anderswo wohnte. Ich halte ihm aber für alle Fälle Dienstag Abend frei und erwarte ihn um 8 Uhr zum Abendessen. Wenn er in der Stadt ist, kann er ja vorher mal im Ministerium vorsprechen und evtl. mit mir herausfahren. Voraussetzung ist dabei, daß nicht noch für den Abend eine Staatsministersitzung anberaumt wird. Es geht wieder einmal so heiß zu wie in den schlimmsten Krisenzeiten. Eine Sitzung jagt die andere. Reichsschulgesetz – das sagt alles. Daneben verschwindet fast die Besolddungsordnung. Um so mehr freue ich mich auf die Ruhe des Wiedersehens bei Ferdis Jubiläum. Ich komme gern am 30. September mittags und bleibe bis zum 2. Oktober in der Früh, wenn es Euch paßt. Habt Ihr andere Gäste, wohne ich in Bremen.

Dein getreuer Schwager (CHB).

Ernst Eisenlohr (1920-1935)

HA.VI. Nr. 327 (Ernst Eisenlohr 1910-35)

52. C.H.B. an Konsul Ernst Eisenlohr, Heidelberg. Berlin, 1.4.1920

(Maschinenkopie)

Lieber Ernst!

Dieser Tage erhielt ich den anliegenden umfangreichen Brief von Meyberg. Ich habe natürlich keine Ahnung, worum es sich handelt und im Augenblick wirklich nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. Daß die La Plata Post einen Artikel von mir gebracht hat, ist mir völlig neu. Vermutlich ist irgendein Auszug aus einem meiner Bücher oder meiner sonstigen Äußerungen dort zum Abdruck gelangt. Ich habe nicht einmal ein Belegexemplar davon gesehen. Ich möchte Dich nun, da Du im Augenblick noch freier bist als ich, darum bitten, Deinerseits die Sache einmal zu untersuchen, da Du ja vermutlich viel besser im Bilde bist als ich. Ich habe Meyberg1 ein paar freundliche Worte geschrieben, von denen ich Dir einen Durchschlag beilege.

Im übrigen alle guten Wünsche für Ostern. Es wird jetzt wirklich höchste Zeit, daß wir uns wiedersehen. (C.H.B.)

 

53. Ernst Eisenlohr, Auswärtiges Amt an C.H.B. Berlin, 2.2.1931

(Maschinenmanuskript)

Lieber Carl!

In der Anlage findest Du die politische Aufzeichnung, über die ich Dir gestern sprach. Ich darf bitten, sie mir möglichst bald zurückzugeben, da ich sie hier verwerten will. Die Darstellung enthält eine nüchterne Durchdenkung unserer gegenwärtigen außenpolitischen Situation und stammt von einem Sachkenner hohen Grades2. Ihr schwächster Punkt ist der optimis-tische Ausblick auf die Möglichkeit einer Revision des Youngplans. Dieser Gegenstand lag dem Tätigkeitsgebiet des Verfassers fern. Er konnte ihn nur allgemein psychologisch betrachten, ohne auf die einzelnen Elemente des Tatbestandes einzugehen.

Mit herzlichem Gruß gez. Ernst

*

54. C.H.B. an Ernst Eisenlohr, Gesandter in Athen. Berlin, 12.11.1932

(Maschinenkopie)

Lieber Ernst!

Heute ist Dein Geburtstag. Da ich nicht rechtzeitig schreiben konnte, möchte ich wenigstens die Anregung dieses Tages benutzen, Dir mit meinen besten Wünschen in der Form eines kurzen Berichts ein kleines Geburtstagsgeschenk zu übermitteln. Es tat mir sehr leid, daß ich Dich diesen Sommer nicht gesehen habe, aber ich freue mich, daß Du so intensiven Anteil an den Erlebnissen Deines Patenkindes genommen hast. Sie (Hertha) studiert zur Zeit in Göttingen und schreibt dort eigentlich recht befriedigt aus einem großen Kreis von Bekannten. Hellmut schreibt ebenso glücklich aus Freiburg, und Walter und Irmgard leben zur zeit mit uns. Ich hatte sehr inhaltsvolle Wochen in England und kam ich jeder Hinsicht befriedigt von dort zurück. Ich hatte in London und Cardiff gesprochen, viele alte Beziehungen aufgenommen und neue geknüpft.

Mehr als das individuelle Schicksal interessiert allerdings im Augenblick das unseres Volkes und Staates. In Deinem Brief an Hedwig äußerst Du den Wunsch, einmal meine Ansichten über die Dinge zu hören. Was ich über mein spezielles Gebiet denke, die Kulturpolitik, habe ich in einer Rede für Solf niedergelegt, deren Abdruck ich beifüge. Für mich stand zweifellos fest, daß der Parteienmechanismus sich endgültig festgefahren hatte, und ich begrüßte deshalb den Einbruch der Gewalt in der Form des Papen-Schleicher’schen Experiments. Mein Gedanke war dabei, daß die auf die Dauer nicht zu entbehrenden Parteien und Parlamente durch diesen Schreckschuß zu größerer Selbstdisziplin veranlaßt werden würden. Ein Präsidialkabinett war so lange zu begrüßen, als es wirklich über den Parteien stand und erste zweckmäßige Maßnahmen vollzog. Die große Enttäuschung aber war, daß ein deutsch-nationales Parteikabinett reaktionärster Observanz zur Herrschaft gekommen war. Erster großer Fehler: der Her-auswurf aller Sozialisten, die irgend entbehrt werden konnten. Im Kultusministerium z.B. hat man fünf Ministerialräte abgebaut, und zwar nur Sozialisten; einige davon mit Recht, andere zu Unrecht. Die Personalpolitik wäre immer noch zu ertragen gewesen, wenn die Neubesetzungen erstklassig gewesen wären. Daß man zur Repräsentation des deutschen Geistes auf den Stuhl des Kultusministers einen guten alten Papa, eine Greifswalder Lokalgröße, wenn auch nur interimistisch berufen hat, zeugt von einer Respektlosigkeit vor dem Geistigen oder von einem Mangel an Judizium, die beide nicht zu überbieten sind. Nun höre ich, daß zum Nachfolger eines Mannes wie Richter der abgelebteste der Kuratoren, ein zwar ganz fein gebildeter, aber absolut initiativloser Mann, der frühere Ministerialrat Vallentiner, berufen worden ist., der zwei Jahre vor der Altersgrenze steht und unmöglich der Schwierigkeit der gegenwärtigen Aufgabe gewachsen sein kann. Männer, die derartige Stellenbesetzungen vornehmen, kann man nicht ernst nehmen. Leider ist es so auf der ganzen Linie, und einsichtsreiche Rechtsleute rücken ebenso entsetzt von dem Kabinett Papen ab, wie ich. Der Mangel an Psychologie ist grenzen los3. Außerdem wirkt sich jetzt bei allen Ämtern die Herrschaft der Zunft gegen Outsiders, d.h. sehr häufig, wenigstens im K.M., gegen die Sachverständigen aus. Typisch dafür der Abbau der Kunstabteilung, den man wieder heimlich nicht Wort haben will.

In Deinem (Auswärtigen) Amt ist auch nicht alles, was geschieht, erfreulich. Ich mißbillige z.B. den Kampf gegen Terdenge, denn obwohl dieser Mann sehr zu Unrecht in das Amt gekommen ist, hat er seine Sache gut gemacht und jedenfalls mehr geleistet als die ephemeren Gesandten und Generalkonsuln, die es doch immer als eine Degradation empfunden haben, die Kulturabteilung zu leiten und immer so schnell wie möglich wieder fortgestrebt haben. Die ganze Abteilung wird ja doch so bald als möglich anders wohin überführt werden müssen, und dann wäre ein Sachverständiger wie Terdenge zur Überführung immerhin geeigneter als ein abgedienter Generalkonsul oder ein Gesandter für Frühstücke und Dîners.

Aber all das sind Kleinigkeiten gegenüber der unpsychologischen und ungeschickten Haltung Papens gegenüber dem Leipziger Urteil. Noch einmal hatte er die Chance, den verfahrenen Karren aus dem Dreck zu ziehen und mit einer großzügigen Geste die Regierung Braun zu versöhnen. Das Lächerliche ist nämlich, daß in der wichtigen Frage der Reichsreform das

ganze Kabinett Braun mit Papen und Genossen einer Meinung ist, daß man also mit einer Geste der Versöhnung eine sachliche Kooperation großen Stiles hätte erreichen können, die vielleicht gar zu einer Versöhnung des Zentrums geführt hätte. Die forschen, neuen Männer haben das allerdings offenbar für unvereinbar mit ihrer Kavalleristenehre gehalten. Dieser Kampf um das Prestige wird, wenn es so weiter geht, in absehbarer Zeit sogar zur Abnutzung des bisher unerschütterten Felsblocks Hindenburg führen. Ein frühzeitiger Tod dieses Mannes würde ein Chaos schaffen. Außerdem werden über der innenpolitischen Reiberei ganz die großen Fragen der Außenpolitik vergessen4, wenigstens in der breiten Öffentlichkeit. Ich kann nicht finden, daß Herr Schleicher die Politik des Auswärtigen Amtes tatkräftig unterstützt hat, aber der Mann soll krank sein an Anämie leiden und daher einen Tag poltern und den nächsten deprimiert sein. Auch der junge Marcks, auf den ich so viel gebaut hatte, soll leider auch die Forschheit für das einzig Notwendige halten. All das treibt zum Verfassungsbruch unter ungeeigneten Führern. Einen Verfassungsbruch kann sich ein Bismarck leisten, aber kein Papen.5

Die natürliche Folge dieser Unfähigkeit an der Spitze ist die Initiative politisch-bewegter Geister in der Tiefenschicht. Die zwei Millionen Stimmverlust bei Hitler sind nicht wegzudiskutieren, der Schwung der Bewegung ist erloschen, es bleibt die Radikalisierung und der Selbsterhaltungstrieb der in dieser Partei besonders zahlreichen Funktionäre. Hitler wird vom General zum Feldwebel, und es zeugt für den alten Hindenburg, daß er nach dem Empfang Hitlers das beglaubigte Wort gesprochen haben soll: Der Gefreite aus Mähren gefällt mir nicht. Unterirdisch bereitet sich eine Fühlungnahme der Sozialisten aller Parteien vor: Sozialisten aller Parteien vereinigt Euch. Mein früherer Pressechef und Freund, Professor Reichwein, ein sehr gescheiter und aufgeklärter junger Sozialist, spricht nur noch von Links- und Rechtssozialisten, und es ist unzweifelhaft eine Bewegung in Vorbereitung, die die Arbeitnehmerschicht aller Parteien politisch zusammenfassen will. Man hat sehr abenteuerliche Gedanken, will z.B. die alten Parteifunktionäre in einem Senat vereinen, während die Jugend die Führung übernehmen will. Wenn aus all dem etwas wird, kann es sich nicht in friedlicher Weise entwickeln, sondern dann würden wir wohl schweren Zeiten entgegen gehen, was ich Dir nicht weiter begründen brauche.

Einer meiner vielen Darmdoktoren hat mir einmal gesagt: „Füllen Sie den Darm, wenn er nicht arbeitet, beschäftigt er sich mit sich selber und Ihr ganzer Organismus wird krank.“ Ich brauche die Parallele nicht zu ziehen. Arbeit ist alles. Kommt wirklich wieder von Amerika eine bessere Weltkonjunktur, wird vielleicht Herr Papen mit seinen Ankurbelungsversuchen einmal als der große Mann dastehen, kommt sie nicht, wird er an allem schuld sein. Fatum und Fortuna sind zwei Gottheiten. Mit dem amor fati muß man das corriger la fortune verbinden. Manches Vernünftige geschieht ja jetzt, wo man die Parteien los ist, was die Kabinette schon zu meinen Zeiten beredet und beschlossen hatten, aber dank der Parteien-Herrschaft nie Wirklichkeit werden konnte. Ich persönlich stelle mich auf den Standpunkt, gelegentlich einmal meine Meinung sagen, wie in dem einliegenden Aufsatz6, mich aber sonst aus der Politik vollkommen herauszuhalten und lieber die internationalen Beziehungen zu pflegen und dadurch indirekt der Nation zu dienen.

Mich beschäftigt eines der wichtigsten zeitgeschichtlichen Probleme, das des Zusammenstoßes zwischen Asien und Europa/Amerika. Drei Vorträge von mir werden demnächst in Englisch erscheinen, ich habe sie in London gehalten. Zur Zeit lese ich ein Publikum über das

Thema, um später einmal ein Buch darüber herauszubringen. Inzwischen ist der zweite Band meiner Islamstudien erschienen. Ich habe ihn Dir nicht geschickt, da Du jetzt andere Dinge zu tun hast, und ich auch gar nicht einmal weiß, ob Du den ersten besitzt. Dafür schicke ich Dir mit gleicher Post die französische Ausgabe meines China-Berichts, der namentlich wegen des von mir geschriebenen Kapitels „Traditions nationales et influences étrangères“ die Öffentlichkeit in Amerika sehr beschäftigt. Ich bin gerade dabei, einen großen Artikel für die New York Times zu schreiben, die mich darum ersucht hat. Neben meiner hiesigen sehr intensiven akademischen Tätigkeit brauche ich jeden Tag mehrere Stunden, um Bitt- und Vermittlungsgesuche aller Art zu erledigen, und dann halte ich Vorträge wie kürzlich in Hamburg oder im Februar in Kopenhagen und im März vielleicht in Madrid. Ich will versuchen, mit dieser Spanien-Reise, wenn sie wirklich zustande kommt, einen Besuch in Marokko zu verbinden, um mein Bild von der Europäisierung der orientalischen Welt auch nach dem äußersten Westen hin abzurunden.

Mit allen guten Grüßen von Haus zu Haus, wie stets Dein getreuer (C.H.B.)

 

55. Gesandter Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Kreßbronn. Athen-Ekele, 24.6.1935

Liebe Hedwig,

es regnet ausnahmsweise mitten im Juni, und ich benütze den kühlen Tag, um Dir zu zur antworten. Sonst war’s so heiß, daß alles klebte und jede Tätigkeit aufhörte, die nicht zur amtlichen Pflicht gehört.

Wir gehen Mitte Juli in Urlaub, und zwar zunächst auf etwa eine Woche nach Berlin, um das gleich abgemacht zu haben. Dann kommen Ende Juli und Anfang August Heidelberg, Oberkirch, Baden-Baden (Zahnarzt), Badenweiler. In Badenweiler oder auf dem Feldberg bleiben wir ca. 14 Tage. Alles weitere ist ungewiß und richtet sich nach vielerlei Umständen. Wenn’s geht, will ich den Urlaub bis Ende September ausdehnen und mir irgendwo ein völliges Ausruhen schaffen. Letztes Jahr war’s nichts damit, und nun spüre ich den Verschleiß. Ich werde Dir von Badenweiler aus schreiben, um zu versuchen, mit Dir zusammenzutreffen. In Berlin möchte ich diesmal unbedingt Walter und seine Frau sehen, und Hertha, wenn sie dort ist. Von Helmuth habe ich keinen Brief über Examen 7und sonstiges; vielleicht treffe ich ihn bei Dir. Mit Muttern sollte man über ihre Söhne nicht sprechen, auch wenn sie einen fragen. Aber die Jugend braucht beides gleich dringend, freundliches Verstehenwollen und Kritik.

Der kleine Walter Groß war zu Beginn dieses Frühjahrs hier mein Gast im Archäologischen Institut. Er sieht seinem Vater bis in kleinste Einzelheiten schmerzlich ähnlich; aber auch die Mutter ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wo er jetzt steckt, weiß ich nicht, vermutlich in Leipzig.

Meiner Frau geht’s etwas wechselnd, aber im Ganzen viel besser als im vergangenen Jahr. Wir sind wieder nach Ekele ins gleiche Häuschen gezogen; in der Stadt war’s nicht mehr auszuhalten vor Hitze und Trubel. Athen scheint ein sehr bevorzugtes Reiseziel geworden zu sein; es reißt nicht ab. Ich bin das ganze Jahr über nicht einmal auf der Akropolis gewesen, weil ich mir die stille Morgenstunde, die ich suchte, nie habe erübrigen können.

Ich hoffe sehr aufs Wiedersehen, leb wohl und sei herzlich gegrüßt, Ernst.

 

56. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Kreßbronn Feldberghotel, 14.8.1935

Liebe Hedwig,

die ersten Berliner Etappe ( es kommt vielleicht noch ein zweite) liegt hinter mir, ebenso der Besuch in Heidelberg, der in Oberkirch, zwei andere in Badenweiler und Freiburg und der erste Teil der Behandlung meiner Zähne in Baden-Baden. Nun sind wir bis Ende des Monats hier oben und ich merke mit der beginnenden Kräftigung eigentlich erst jetzt, wie sehr ich vorher herunter war. Der Feldberg hat allerdings vom ersten Tage ab gewirkt. Ab 1.9. muß ich nochmals wegen meiner Zähne, und meine Frau aus anderen Gründen – der Mensch wird langsam mangelhaft – nach Baden-Baden, vom 10. oder wahrscheinlich vom 14.9. habe ich uns im Walsertal angesagt, dann (einen Tag) München und etwa am 1.10. Abfahrt nach dem Süden. Das ist der Rahmen, soweit sich überhaupt Bestimmtes sagen läßt, denn vom Walsertal (Alpenkurhaus) habe ich noch keine Antwort, der Staatsekretär verlangt von mir, ich solle nochmals nach Berlin kommen und andere raten mir zum Besuch des Parteitags.

Falls Du unter den gegebenen Umständen die Möglichkeit eines Zusammentreffens siehst, gib mir bitte Nachricht. Wenn man ein Auto hat, ist alles recht einfach, aber der Mangel dieses Instruments macht die Dinge kompliziert und zeitraubend.

Alles Liebe Dir und wer von den Kindern dort ist. Dein Ernst

 

57. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Kreßbronn. Baden-Baden, 4.9.1935

Liebe Hedwig,

sei herzlich bedankt für den vergeblichen Anruf nach dem Feldberg, den wir nach drei wundervollen Wochen gerade verlassen hatten, und für Deinen Brief vom 30.8. Ich habe von hier nicht angerufen, weil bis gestern Abend in der Schwebe war, ob ich auf den Parteitag gehe, wohin mich das Amt vorgeschlagen und der Führer eingeladen hatte, oder nicht. Nun ist entschieden, daß ich am 9, hinfahre, und daß der Zahnarzt vorher mit mir fertig wird (er läßt nicht viel von mir übrig). Vorher kommen noch Mannesmanns hierher, mein Schwager Hans Hentig mit seiner Frau und mein Bruder. Vor dem Parteitag können wir uns also nicht treffen. Und nun schreibst Du: reise nicht plötzlich wieder für ein Jahr nach Griechenland. Ganz so plötzlich wird es nicht sein. Nach Berlin will ich nicht mehr, wenn ich nicht muß oder sonst was passiert. Ilse fährt von hier nach dem Alpenkurhaus in Mittelberg im Walsertal bei Oberstdorf und ich gehe nach Nürnberg ebenfalls dorthin. Wir könnten uns also in München treffen, oder, was für Dich näher und für uns alle so viel hübscher wäre, in Oberstdorf oder Mittelberg, wo wir bis Ende September sein werden und wo es wunderschön ist. Eine Nürnberger Adresse habe ich noch nicht. Doch könnten mich Nachrichten erreichen hier bis Sonntag einschließlich, dann am besten über Ilse (Adresse Baden-Baden, Hotel Kaiserin Elisabeth). Ich bin in einem seltsamen Zwischenstadium, irgend einen Übergang zu etwas Neuem, das ich noch nicht greifen kann, gut oder böse, ich weiß es nicht.

Sei herzlich gegrüßt und komm nach Mittelberg. Dein Ernst.

 

58. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Kreßbronn. Baden-Baden, 8.9.1935

Liebe Hedwig,

Dein Vorschlag lockt mich sehr. Wenn ich ihn ausführen kann, telegraphiere ich von Nürnberg aus meine Ankunft in Friedrichshafen. Vielleicht kann ich mich, um Zeit zu sparen, in Nürnberg etwas früher frei machen. Es scheint zwei gute Züge zu geben: der eine verläßt Nürnberg um 10 (Uhr) Vormittags und ist 16.36 (Uhr) in Friedrichshafen. Kann ich mit diesem fahren, so erwarte ich Euch am Bahnhof Friedrichshafen. Der andere fährt von Nürnberg um 16.20 (Uhr) ab und ist Abends um 20.56 (Uhr) in Friedrichshafen, wo ich dann im großen Hotel übernachten und Euch am nächsten Morgen erwarten würde.

Du datierst von Kreßbronn ohne nähere Angabe. Die alte Adresse genügt aber wohl für die Post.

Hoffentlich gelingt der Plan, bestellt aber auch gutes Wetter für Euren See.

Herzliche Grüße, Ernst.

 

59. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Kreßbronn. Nürnberg, Amt für Ehrengäste, Grand Hotel, 11.9.1935

Liebe Hedwig,

ich gedenke,, wenn nichts Unvorhersehbares dazwischen tritt, am Dienstag, dem 17. September morgens um 10 Uhr hier abzufahren und würde dann um 16.36 Uhr in Friedrichshafen eintreffen, wo ich mich abzuholen bitte. Kommt niemand, sich meiner anzunehmen, so gehe ich nach einer halben Stunde ins Hotel.

Also hoffentlich bald auf ein frohes Wiedersehen, Ernst.

P.S. Gepäck: 1 große und 1 kleine Handtasche)

 

60. Telegramm von Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker, Ottenberg/Kreßbronn. Nürnberg, 15.9.1935

Abreise wegen Erkältung. Dort eintreffe schon heute halb fünf nachmittags. Ernst

 

61. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker. Alpenkurhaus Walsertal, Mittelberg, 19.9.1935

Liebe Hedwig,

meine Frau und ein früherer Mitarbeiter, G(efreiter?) Aichmann (?), haben braungebrannt, frisch und wohl mich in Oberstdorf empfangen und hierher gebracht in dies eigenartige und reizvolle Gasthaus. Die Natur ist groß und schön und die Luft herrlich trotz des einsetzenden Herbstwetters. Die Erkältung schwindet zusehends.

Von Lindau trafen mit ungeahnter Schnelligkeit erst Dein Schlafmittel und bald darauf auch schon die Brille – tadellos repariert – ein. Habe für beide Besorgungen herzlichen Dank und gib mir bitte den betrag Deiner Auslagen an.

Vor allem aber laß Dir danken für Deine Gastfreundschaft. Ich finde nicht die richtigen Worte um das auszudrücken, wie gut und schön und wie wertvoll für mich die zwei Tage gewesen sind. Ich habe auch so viel Freude an Hertha und den Eindruck gehabt, sie habe mich ein wenig lieb behalten.

Ilse ist sehr damit einverstanden, daß ich mir ein Grundstück in Eurer Gegend kaufe. Sie neigt zum Württembergischen und zu etwas Schönem und Großen, nicht zu nahe an anderen Häusern gelegenen. Wird es zu rauh sein dort oben?

Sei herzlich gegrüßt, Dein Ernst.

 

62. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker. Heidelberg, 1.10.1935

Liebe Hedwig,

ich bin in Mittelberg nicht mehr dazu gekommen, Dir für den letzten Brief und die Mitteilung über die neue Venenbehandlung zu danken. Es geht mit meiner Mutter zu Ende; wir sind hierher gerufen worden. Als wir heut morgen zu ihr kamen, hat sie mich gleich erkannt. Nun schlummert sie unter der Wirkung eines Beruhigungsmittels und wir warten.

Frau Mannesmann, die noch 2 Tage in Mittelberg bleibt, schickt Dir die Taschentücher zurück, die Du mir geliehen hast. Zwei davon aber, die erst im Augenblick der Wäsche kamen, gerieten wieder in meinen Koffer; ich schicke sie Dir von hier, wenn ich dazu komme.

Sei herzlich gegrüßt, Ernst.

 

63. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker. Heidelberg, Neuenheimer Landstr.2, 1.10.1935

(Trauerbrief)

Liebe Hedwig,

heute ist meine Mutter gestorben. Das Ringen mit dem Tod war lang. Sie hat mich noch erkannt: „Du bist mein Sohn!“ In den schweigenden Stunden, als ich ihre Hand hielt, war mir und vielleicht auch ihr, obwohl sie dahindämmernd allmählich erlosch, die Verwandtheit und Verbundenheit mit ihr tiefer bewußt geworden als je seit den Tagen der Kindheit.

Ilse ist hier bei mir, Fritz kommt morgen. Die Schwestern waren aufopfernd und rührend gut. Am 8.10. sind wir wieder in Athen.

Sei herzlich gegrüßt und grüße die Kinder von mir. Dein Ernst.

 

64. Ernst Eisenlohr an Hedwig Becker. Heidelberg, 2.10.1935

Liebe Hedwig,

Dein heller Brief hat sich mit meinem dunklen gekreuzt. Wir haben uns herzlich gefreut über die schöne Nachricht. Wenn ich kann, schreibe ich an Walter; ich glaube seine Adresse im Hotel irgendwo in meinem Gepäck zu haben. Aber ich bitte Dich auf alle Fälle ihm und Irmgard unsere Glückwünsche zu bestellen und unsere Freude, daß es der kleinen Frau gut geht.

Alle Gute und Liebe, Dein Ernst.8

 

65. Zeitungsartikel über Ernst Eisenlohr in der BZ vom 12.12.1935

Der neue deutsche Gesandte in Prag

WJ. Wien, 12. Dez. Für den Posten des Prager deutschen Gesandten, der durch das Ausscheiden des in den Ruhestand getretenen Gesandten Dr. Walter Koch einige Monate lang verwaist war, wird der bisherige deutsche Gesandte in Athen, Ernst Eisenlohr, ernannt werden. Die tschechoslowakische Regierung hat Eisenlohr bereits das Agrément erteilt. Der neue Gesandte in Prag gehört dem deutschen Auswärtigen Dienst seit dem Jahre 1911 an. Zuerst Vizekonsul in London, dann in Sao-Paolo, geriet er 1915 zuerst in Gibraltar vorübergehend in englische, später an der Westfront in französische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst nach Kriegsende zurückkehrte. 1923 bis 1925 war er als Gesandtschaftsrat in Belgrad, dann bis 1931 im Auswärtigen Amt in Berlin tätig. Seit 1931 vertrat Gesandter Eisenlohr Deutschland in Athen.

 

66. Ernst Eisenlohr, z.Z. Partenkirchen, bei Frau von Hentig, O.D. Dezember 1935 (?)

ab 2.2.(1936) Prag II, Deutsche Gesandtschaft, Thunovska 16

Liebe Hedwig,

wir sind über eine Woche lang in Berlin gewesen, und ich habe Deine Kinder nicht gesehen, nicht nur weil ich Walters neue Adresse nicht besitze, sondern vor allem deshalb, weil dieser Aufenthalt so angefüllt war mit amtlichen Besuchen und Einrichtungssorgen, daß keine Minute des Tages frei blieb. Ich hatte die Sorgen und Wünsche von zwei Gesandtschaften, der früheren und er künftigen, zu vertreten und hoffe alles Wesentliche durchgesetzt zu haben, z.B. die völlige personelle, bauliche und geldliche Neuordnung für Prag. Dazu kam dann noch das sudetendeutsche Problem mit seinen Verästelungen. Ich war nachträglich sehr froh, daß ich nicht der ersten Weisung gefolgt war, direkt nach Prag überzusiedeln, sondern um die Erlaubnis gebeten hatte, erst besuchsweise nach Prag zu gehen, um mit eigenen Augen zu sehen, dann meinen Vorgänger, Exzellenz Koch, in Dresden zu besuchen und endlich mich in Berlin gründlich zu informieren.

Das Ergebnis ist in sofern etwas niederdrückend, als ich mich überzeugen mußte, daß für eine positive diplomatische Betätigung in Prag eigentlich gar kein Raum bleibt. Die Stadt selbst – ich weiß nicht, ob Du sie kennst – ist wunderschön, der Hradschin mit dem Veitsdom wohl die großartigste Baugruppe, die ich außerhalb Griechenlands je gesehen habe (trotz dem Kapitol), die Atmosphäre aber, die über all dem schwebt, ist düster, nicht nur bildlich gesprochen.

Die Gesandtschaft ist ein alter ziemlich bescheidener Adelspalast mit einem Innenhof und einem Gärtchen, auf der Kleinseite unterhalb des Hradschin gelegen, vollgestopft mit Woh-ungen und Büros, stets bewacht von einem halben Dutzend schnauzbärtiger Schutzleute. Unsere Wohnung ist sehr bescheiden, die Flucht der Repräsentationsräume schön, aber jetzt gerade sehr unerfreulich eingerichtet. Der heftige Kampf, den ich darüber entfacht habe, wird wohl mit einem leidlichen Kompromiß ausgehen. Die Luft in Prag riecht nach Spionage-.

In Berlin habe ich den Führer, Neurath, Göring, R(udolf) Heß und Kerrl gesprochen, dazu eine Anzahl von dii minores. Ich bin überall, besonders beim Führer, sehr freundlich auf-genommen worden und habe viel gelernt in den paar Tagen.

Im A.A. sieht’s noch immer so unfreundlich aus, wie in den letzten drei Jahren. In Prag hoffe ich einigermaßen freizügig machen zu können, um das Land kennen zu lernen und um die Nachbarpotentaten zu besuchen und unsere Probleme auch von da aus zu sehen. Da die Entfernung kurz ist, werde ich wohl nun häufiger nach Berlin kommen und bitte Dich deshalb um Herthas und Walters Anschriften.

Hier ist Ruhe, soweit dies bei dem Temperament meiner hierher übergesiedelten Schwieger-mutter, bei der wir ja zu Gast sind, überhaupt möglich ist. Die Ruhe tut gut als Wechsel nach dem Athener Abschiedstrubel – wo die Leute sehr nett mit uns waren –der Berliner Hetze und als Vorbereitung auf die kommende Ungemütlichkeit. Seit langer Zeit komme ich hier wieder zum Briefeschreiben und zum politischen Nachdenken. Denn bisher mußte ich mir das Politische immer aus dem Ärmel ziehen, weil zuviel Kleinkram dringlicher Art zu erledigen war. Das haus hier liegt an der alten Straße nach Mittenwald gerade außerhalb von Parten-kirchen am Hang gegenüber den großen Bergen und ist von Bäumen umgeben und abgeschlossen. Meine Schwiegermutter hat gut gewählt und wirtschaftlich gehandelt; ich folge ihrem Beispiel und lasse in Badenweiler Wiesenstreifen nach Wiesenstreifen kaufen, bis ich an der Vogelschutzhecke bin und einen Bauplatz von 1.2 Hektar habe.

Ich glaube, mein Vorgefühl war richtig, dies Prag bedeutet eine Lebenswende für mich, für die es Zeit war. Mögen die Götter mich zum Guten führen.

Wann ziehst Du um? Alles Liebe und Gute wünscht Dir Ernst


 

1 Beide Briefe liegen nicht in der Akte.

2 Randbemerkung Beckers: Rauscher

3 Hervorhebung vom Herausgeber.

4 Hervorhebung vom Herausgeber.

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

6 Liegt nicht bei.

7 Am Rande rot markiert von der Empfängerin. Unten erbittet sie den Brief wohl von Hellmut zurück.

8 Anmerkung Hedwig Beckers auf der Rückseite: Der dunkle Brief bezog sich auf den Tod seiner Mutter. Bitte gelegentlich zurück.