Emma Rehbock und Fritz Sell jr.

HA. VI. Nr. 8683 (Emma Rehbock, Sell jr., Geschwister)

Der folgende Brief hat, wie ersichtlich, eine eigene Signatur und wurde hier aus gegebenem Anlaß eingeschoben. Der Herausgeber


3. Auszug aus einem Brief von Geheimrat Prof. Dr. C. H. Becker an Tante Emma Rehbock in Amsterdam, Steglitz, 17.11.1918

(Maschinenmanuskript)

Carl-Heinrich-Becker-Weg in Berlin-Steglitz – in dem Becker aber nicht wohnte
Carl-Heinrich-Becker-Weg in Berlin-Steglitz – in dem Becker aber nicht wohnte

Es wäre zum Verzweifeln, wenn man nicht den Glauben an die tiefen Werte des deutschen Volkes hätte. Noch stehen wir erst im 3. Akt des Trauerspiels, und wenn man es nicht selbst zu spielen hätte, könnte man mit interessierter Spannung das Ende abwarten.

Selten ist wohl in der Geschichte eine Gesellschaftsordnung so schnell und so völlig zusammen gebrochen. Die Kräfte waren nach außen überspannt. Es war nur mit der Aussicht auf Sieg zu ertragen. Das Eingeständnis der Niederlage durch Ludendorffs übereiltes Waffenstillstandsangebot zerbrach von heute auf morgen die ganze militärische Autorität, auf der unser Staat nun einmal fußte. Der alte Wunsch nach deutscher Einheit war nicht durch das Volk (trotz Paulskirche), sondern durch das preußische Militär erfüllt worden. Folgerichtig überschätzte man daraufhin die staatliche Gewalt gegenüber der Idee. Im modernen Staat war es unmöglich, ein friderizianisches Offizierskorps mit seinem nur militärischen Ehrengesichts-punkten dauernd mit einem kriegsmüden Volksheer von Familienvätern zusammen zu schmeißen. Merkwürdig , aber wahr: Unsere Erfolge und Siege haben die Stimmung unter-graben. Der Verteidigungskrieg schien in einen Eroberungskrieg verwandelt, die Masse fühlte sich mißbraucht, Einflüsse von außen, die vom Nahrungsmittelmangel bedrängte Stimmung in der Heimat haben mitgewirkt, damit aber auch zugleich der ganze Staat, der auf ihr fußte. Das Kaisertum war eine Episode. Wir knüpfen an der Paulskirche wieder an. Die historische Bedeutung des Kaisertums wird stets bleiben, die Reichseinheit gebracht zu haben.

Die Erkenntnis ist so elementar, daß es kaum jemand gibt, der sich ihr entzieht. Da wir zur Zeit ohne Autorität, nahezu anarchisch im Urzustande leben, unser bisheriger Contrat social zerschmettert ist, müssen wir ihn neu aufbauen. Da gibt es, bei der Unmöglichkeit einer Restauration des alten Regimes, nur die lautere Demokratie. Nur der Volkswille zur Ordnung kann uns vor dem Bolschewismus retten. Deshalb stützt alle Welt freiwillig die provisorische revolutionäre Staatsgewalt. Gewiß blutet einem das Herz, als man die rote Fahne in den Händen unserer preußischen Soldaten sah, aber die einheitliche, glatte, ja widerstandslose Auflösung aller militärischer Disziplin, soweit sie im Verhältnis zwischen Soldat und Offizier lag, war so handgreiflich, daß, wer noch jung war und fühlen konnte, sofort die neue Zeit begriff. Es ist eine ungeheuerliche Zeit; denn es muß alles neu aufgebaut werden. Ich begriff nach einer Krisis von 2 Tagen, daß ich nicht dem Zertrümmerten nachtrauern, sondern dem Werdenden dienen mußte. Ich hatte eine offene Aussprache mit den neuen Männern in meinem Ministerium, erklärte klipp und klar, daß ich meine Überzeugung nicht würde vergewaltigen lassen; in diesem Falle kehrte ich zur Universität zurück. Man wollte das aber keineswegs, sondern hofft auf meine energische Mitarbeit. Im Einzelnen sind die Verhältnisse noch chaotisch, die Kompetenzen nicht abgezeichnet, der eine unserer zwei neuen Kultusminister, die Parität der zwei sozialdemokratischen Parteien verlangt Doppelbesetzung aller wichtigen Posten, was schon an sich ein Unsinn ist, ist ein ehemaliger Vergolder, ein alter 70jähriger Herr ohne Bildung, aber mit Liebe fürs Volk, radikal, beherrscht von Schlagworten, ohne Ahnung von der Kompliziertheit des Institutionellen, der das goldene Zeitalter seiner früheren Volksreden am liebsten auf dem Verordnungswege innerhalb 8 Tagen verwirklichte. Die Schwere der Aufgabe wird auch ihn zur Erkenntnis oder wahrscheinlich zum Abgang bringen. Der andere Chef, den ich vom Parlement her schon gut kannte, ist ein kluger und gebildeter Mann, studierter Journalist, reiner Idealist, aber sich völlig klar über die Riesenhaftigkeit seiner Aufgabe, die er nur mit Beratung Sachverständiger langsam zu verwirklichen hofft. Er heißt

Hänisch, und ich hoffe mit ihm und durch ihn meine schon unter dem alten Minister, mit dem ich sehr befreundet bin, begonnenen Reformen durchzuführen. Es gibt jetzt Luft, da manche Fesseln gesprengt sind, gegen die auch ich bisher vergeblich rang.

Die Parole aller Vernünftigen ist jetzt: Herbeiführung eines Rechtszustandes durch die Nationalversammlung und Bekämpfung des Bolschewismus. Ob wir ihn erleben müssen, ist noch unklar. Ich hoffe, daß der Ordnungssinn des Deutschen ihn nicht hochkommen läßt. Aber Voraussetzung ist Opferbereitschaft der Besitzenden und allmählicher Abbau des Kapitalismus. Dem Sozialismus gehört die Zukunft. Das war stets mein Gedanke, aber ich erwartete ihn auf dem Umweg resp. in organischer Entwicklung aus dem durch den Krieg geschaffenen militärischen Staatssozialismus. Nun kommt er über die Demokratie. Die fortgeschrittenen Westmächte incl. Amerika werden sich wundern, wenn sie erkennen, daß unter dem Militarismus ein soziales Denken sich entwickelt hat, das eine sehr fortgeschrittene soziale Demokratie schaffen wird, der die Zukunft der Welt gehört. Vor ihr wird der Westen sich nicht verschließen dürfen und können, während alle Kulturvölkern den Bolschewismus unbedingt bekämpfen werden.

Es ist in Deutschland ein Gesinnungswandel eingetreten, der unbegreiflich scheint und der doch wohl vorbereitet ist. Nur Geschichtsfälschung wird dabei den Ideen des Westens ein Verdienst zuerkennen, so sehr es dem oberflächlichen Beschauer so erscheint. Charakte-ristisch ist das völlige Ausscheiden außenpolitischer Gesichtspunkte im Volksbewußstsein. Wer etwas weiter denkt, leidet unter dieser nationalen Würdelosigkeit furchtbar. Die Konse-quenzen sind unübersehbar; denn unsere Gegner kennen keine Grenzen der Menschlichkeit und der Vernunft trotz allen ihren früheren Verheißungen. Die Schwäche des Moments kostet uns Jahrzehnte des Aufbaus. Es ist ein durch falsche Erziehung nicht verbesserter National-fehler. Leider hat unser Kaiser durch seine würdelose Flucht, die ihm mehr geschadet hat als alle seine früheren Fehler zusammengenommen, sich nur als echter Deutscher erwiesen. Wir haben ja leider noch nicht die Zeit gehabt, eine wirkliche Nation zu werden. Auch ging es uns materiell zu gut. Die große Not der kommenden Jahre wird uns als ein Volk weiterbringen als die Glanzzeit unter Wilhelm II. Schon jetzt eint weite, bisher völlig getrennte Kreise die Angst vor der Anarchie des Bolschewismus. Mit dem moralischen Mut ist es in der Öffent-lichkeit noch schlecht bestellt. Langsam erwacht das Bürgertum und beginnt sich zu organi-sieren. Wir haben in allen Ministerien „Räte“ gebildet aus allen Beamtenklassen, und es erwächst eine Beamtenorganisation, die den Arbeiterorganisationen gegenüber auch einmal die Macht des Streiks in die Wagschale wird werfen können. Wer so etwas früher nur gedacht hätte, wäre sich selbst lächerlich vorgekommen.

Von der Revolution habe ich persönlich viel gesehen, da ich meinen Dienst keinen Tag unter-brach und nur beim Ausbruch schon um 5 Uhr nach Hause ging. Hedwig meinte, da muß schon Revolution sein, wenn der Vater mal zum Tee nach Hause kommt. Mein letzter Vortrag bei dem alten Minister erfolgte unter Maschinengewehrfeuer und Handgranatenschlägen vor unseren Fenstern. Die ganze Aufmachung hatte etwas von Karnavalsumzügen, dann aber wieder von Leichenzügen in stiller Feierlichkeit. Die militärische Aufmachung der sausenden Autos mit Maschinengewehren usw. verriet die verheerende Wirkung eines Jahrzehnts von Volkserziehung durch Kinosensationsstücke.

Hier draußen war es ruhig. Die Kinder unterbrachen keinen Tag den Schulbesuch. Am 2. Revolutionstag, dem Sonntag, ging ich mit den Kindern behaglich durch die Felder in unserer Nachbarschaft. Die Nacht habe ich dann allerdings gewacht, da Einbrüche und Requirie-rungen in der Nachbarschaft vorgekommen waren und sich unser ganzer Fichteberg schnell organisierte. Alle paar Tage trifft mich die Pflicht nächtlicher Patrouillengänge. Mit Sorge sehen wir der grauen Flut entgegen, die sich jetzt heimwälzt. Einquartierung ist angesagt. Und dann die Riesenaufgabe, das Wirtschaftleben wieder in Gang zu bringen. Glückt das nicht, gibt es noch Chaos und dann Auswanderung zu 100 000en. Das wäre ein furchtbares Schicksal.

Am meisten leide ich unter dem Gedanken, daß die Schuld am Kriege nun in ganz falsche Beleuchtung rückt, zumal innerpolitischer Hass gegen das alte Regime auch bei uns die ganz Links-stehenden dazu bringt, dem Kaiser und seinem Regiment die Schuld am Krieg zuzu-schreiben. Die ganze Entente-Ideologie ist darauf eingestellt. Das göttliche Strafgericht scheint ihr Recht zu geben. Und doch ist das grundfalsch. Ein Völkerbund ist nur möglich, wenn bei unseren Feinden auch in dieser Hinsicht ein völliger Wandel eintritt. Gewiß sind wir nicht schuldlos, aber wir haben mehr durch Ungeschick als durch bösen Willen den Krieg herbeiführen helfen und jedenfalls haben wir nicht die Hauptschuld, wenn man nicht grade in natürlichem Wachstum und wirtschaftlicher Ausbreitung eine Schuld finden will. Von göttlicher Gerechtigkeit ist in diesem Teil der Geschichte nicht viel zu spüren, wenn man unser Schicksal mit dem der Italiener vergleicht.

 

4. C. H. Becker an Emma Rehbock, Amsterdam. Berlin W 8, den 15.11. 1921

Kultusministerium (Maschinenkopie)

Liebe Tante Emma!

Dein bevorstehender Geburtstag sollte für mich der Anlaß sein, Dir wieder einmal ausführlich von uns zu berichten. So kommt Dein liebevoll teilnehmender Brief an Hedwig kam gerade recht, um das längst Gewollte Wirklichkeit werden zu lassen, wenn ich auch auf diese Weise mit meinen treuen und aufrichtigen Glückwünschen vielleicht ein paar Tage zu früh komme. Jedenfalls weißt Du, daß wir in kindlicher Liebe an diesem Tage Deiner gedenken und uns stets der seelischen und materiellen Hilfe dankbar bewußt sind, die Du in schweren Tagen uns aus vollem Herzen gespendet hast. Mögest Du nach all diesen Jahren des Schreckens auch noch einen Blick tun dürfen in das gelobte Land einer besseren Zukunft.

Im Augenblick sieht es ja allerdings nicht danach aus, und man muß ein ungeheurer Optimist sein, um noch an den Sinn des Daseins zu glauben. Immerhin, ich bin ein solcher Optimist und lasse mich auch durch Widersinnigkeit unserer ehemaligen Gegner, unserer heimischen Parteien und durch keine Mangelhaftigkeit staatlicher und privater Leistung von diesem Glauben abbringen. Wenn man, wie Du, im Ausland lebt, so sieht man Deutschland zunächst mit den Augen der auswärtigen Politik, während mich nicht nur die Geschlossenheit der Grenze, sondern meine spezielle kulturpolitische Lebensarbeit mehr auf die innere Politik einstellt. Und doch predige ich immer den Primat der auswärtigen über die innere Politik. Wenn der Dollar so weiter steigt, werden es vielleicht auch die engsten Parteipolitiker in Deutschland einsehen, daß die auswärtige Politik uns beherrscht. Man hat es als Deutscher schwer, nicht verbittert zu werden. Wie lächerlich klein war die Machtpose Deutschlands vor dem Kriege gegenüber dem unerbittlichen Machthunger Frankreichs in der Gegenwart. Aber es scheint ein soziologisches Gesetz zu sein, daß das korporative Denken immer unter massenpsychologischen Gesichtspunkten steht und deshalb die Vernunft in ihm noch weniger Geltung hat als in der individuellen Seele, wo die Vernunft doch auch schon einen Kampf mit dem Triebleben zu bestehen hat. Die Triebhaftigkeit des Denkens und Empfindens zeigt sich ja schon im Gegensatz der Parteien.1 Ich habe das in den letzten Jahren aus allernächster Nähe studieren können und es am eigenen Leibe erfahren. Zunächst herrscht immer überall das Mißtrauen, und es wird dem Gegner jede Schlechtigkeit, jeder Macchiavellismus, jede Torheit und jede Perfidie zugetraut. Und selbst wenn einzelne vernünftige Parteiführer sich zusam-mensetzen und man dann merkt, daß die Gegensätze eigentlich gar nicht so groß, sondern mit einigem guten Willen leicht zu überwinden sind, so wird doch dieser Konsensus der Einsich-tigen immer wieder gestört durch die taktischen Bedürfnisse des Zusammenhalts der soziologischen Gruppe oder Partei.

Genauso, ja in noch vergröberter Form scheint (es) so mit im Leben der Nationen zu liegen. Und erst seitdem ich diesen Un-Sinn des Parteilebens völlig begriffen habe, bringe ich eine gewisse Objektivität des Urteils auch gegenüber den fremden Nationen auf, die uns jetzt beherrschen. Diese Erkenntnis ist allerdings kein Trost, ja man könnte an der Zukunft verzweifeln, wenn man bedenkt, wie das Mißtrauen die Welt regiert, während ich in meinem Leben gelernt habe, daß Erfolge sich nur auf Vertrauen aufbauen können.

Wir erleben einen merkwürdigen praktischen nationalökonomischen Unterricht in diesem Jahr. Zeigte schon der Krieg mit erschütternder Deutlichkeit, wie im anatomischen Präparat, die Zusammenhänge des Wirtschaftslebens, so hat die Nachkriegszeit uns wieder ganz neue Einsichten über die Verbindung der heimischen mit der Weltwirtschaft gebracht. Wenn ich denke, welch ungeheure Gehälter man jetzt bekommt! Ich werde eine dienstliche Bruttoeinnahme von über 200 000 Mark haben, wofür aber über 1/3 an Steuern abgeht; immerhin bleiben noch Einnahmen, an die man sich schwer gewöhnt. Während ich dies diktiere, kommt Hedwig ins Zimmer und berichtet, daß sie gerade Kartoffeln gekauft hat 110 M den Zentner, während man früher 3 M dafür bezahlte. So geht es in allem und jedem. In Zukunft wird ein Brief nach dem Ausland 3 M kosten. Man stelle sich gegenüber diesen Preisen einmal vor, was heute noch Privatvermögen bedeutet, wenn es festverzinslich angelegt war. Gewiß sind die Industriepapiere ja auch in die Höhe gegangen; aber der solide alte Besitz lag doch meist in Staatspapieren, Hypotheken und ähnlichem. Eine Katastrophe ist über die kleinen Rentner hereingebrochen, wie sie schlimmer gar nicht gedacht werden kann. Der aktive Beamte kann ja noch einigermaßen mit, wenn er auch nur in Bezug auf die Kaufkraft auf einem Drittel oder höchstens der Hälfte seiner Friedensbezüge steht. So hat z.B. das gesellschaftliche Leben völlig aufgehört, und wo man es noch pflegt, geschieht es in den einfachsten Formen. Man bekommt einen Gang oder ein Glas Bier oder Tee. Gewiß hat das auch etwas sehr Erfreuliches und das Geistige tritt wieder mehr hervor gegenüber dem Materiellen. Aber leider baut sich eine neue Schicht von Reichen auf, die die ganzen ungesunden Formen des alten gesellschaftlichen Lebens weiterführen. Aber der geistige Adel Deutschlands geht leider unaufhaltsam der Proletarisierung entgegen. Besonders schlimm steht es in Berlin. Selbst Frauen höhe-rer Beamter müssen Nebenerwerb betreiben, um den gemeinsamen Haushalt aufrecht erhalten zu können. Und überall werden die letzten Reste des Privatvermögens aufgezehrt. Wohin das alles noch führen soll, kein Mensch weiß es. Und dieser ganze Ruin wäre aufzuhalten gewesen, wenn eine Spur von Einsicht bei der Entente obgewaltet hätte und wenn die Teilung Oberschlesiens nicht so gegen allen Sinn und Verstand unter dem Diktat Frankreichs von einem Tschechen in die Wege geleitet worden wäre. Wir waren gewiß schwer genug geschlagen. Aber daß man uns auch noch die Produktionsmittel nimmt, um unsere Schuld zu bezahlen, ist ein solcher Wahnsinn, wie er nur in der Atmosphäre, die ich eingangs schilderte, geboren werden kann.

Nach dieser allgemeinen Einleitung will ich Dir aber nun wirklich etwas von mir erzählen. Aber diese allgemeinen Gedanken lagen mir deshalb so nahe, weil unter diesem wirtschaftlichen Rückgang und dieser furchtbaren Not natürlich ja auch meine kultur-politische Lebensarbeit in erster Linie zu leiden hat. Und da stehen schließlich denn doch noch höhere Werte auf dem Spiel, als wenn man in seinen materiellen Bedürfnissen etwas zurückschrauben muß. Als ich im April dieses Jahres das Ministerium übernahm, tat ich es schweren Herzens. Ich wäre damals lieber Staatssekretär geblieben; aber nach einer schmachvollen wochenlangen Krise war in dem endlich zusammengekommenen Kabinett Stegerwald 2ein Beamter als Kultusminister notwendig, und als solcher kam bei Lage der Dinge tatsächlich nur ich in Frage. So konnte ich mich der Aufgabe nicht entziehen, obwohl ich mir der Kurzlebigkeit dieses Ministeriums bewußt war, wenn auch die Möglichkeit bestand, daß ihm eine längere, vielleicht sehr lange Dauer beschieden sein könne. Das hätte allerdings eine verständigere Einstellung der Sozialdemokratie zur Voraussetzung gehabt. Von Anfang an suchte sie Stegerwald und seine Kollegen als reaktionär zu diskreditieren, obwohl wir natürlich genau so regiert haben, als ob die Sozialdemokratie im Kabinett säße, da wir uns immer als die Vorläufer der großen Koalition fühlten. In der Politik gilt aber leider der gute Wille, ja selbst die Leistung eines Ministers eine sehr viel geringere Rolle als das aus taktischen Gründen der Partei sich ergebende Fluidum der Beurteilung seiner rein politischen Bedeutung, Brauchbarkeit oder Angreifbarkeit. Der Zustand war noch zu ertragen, bis die große Krise mit Oberschlesien kam. Als damals wieder die taktische Haltung der bürgerlichen Parteien der Sozialdemokratie die Pflicht zuschob, die vaterländische Verantwortung zu übernehmen, da konnte die Sozialdemokratie mit Recht verlangen, daß sie auch in Preußen die Ämterverteilung mit kontrollierte und die allgemeine Politik mit bestimmte; denn das Reich hat ja hauptsächlich gesetzgeberische Kompetenzen, während die Macht der inneren Verwaltung nach wie vor in den Einzelstaaten liegt. Was in dem kleine Bayern möglich ist, ist in dem großen Preußen ganz ausgeschlossen. Bei uns kann ohne Sozialdemokratie oder doch gegen ihren ausgesprochenen Willen schlechterdings nicht regiert werden. Als sie nun nach ihrem Wiedereintritt in das neugebildete Kabinett Wirth auch in Preußen die Teilnahme an der Regierung verlangte und sie mit allen parlamentarischen Machtmitteln, evtl. mit Sabotage, durchzusetzen beabsichtigte, waren die Tage des Kabinetts Stegerwald gezählt, und es war nur die Frage, in welchen Formen sich die Umgestaltung vollziehen sollte. Sie kam dann etwas brüsk dadurch zustande, daß die Demokraten ihre Minister kurzer Hand aus dem Kabinett zurückzogen, wodurch der Rücktritt des Gesamtkabinetts unvermeidlich wurde, da es nur auf Zentrum und Demokratie beruhte und die drei Beamten-Minister ja keine Parteien hinter sich hatten. So wurde denn die große Koalition Wirklichkeit. Ich weiß, daß sich maßgebende Parteihäupter sehr darum bemüht haben, das Kultusministerium unter mir zu neutralisieren. Aber es mußten Parteien befriedigt werden, und es waren nur acht Ministerien. Ich aber hatte es trotz meiner demokratischen Grundanschauung stets vorgezogen, mich keiner Partei zu verschreiben. So scheiterte mein Verbleiben eigentlich nur an der Arithmetik.

Mir war das Ausscheiden in diesem Momente aus sachlichen Gründen natürlich schmerzlich. Nachdem ich die ersten Wochen für Einführung einer ruhigeren Arbeitsweise im Ministerium gesorgt hatte, nachdem ein neuer Arbeitsplan aufgestellt war, hatte ich gerade in den letzten Wochen auf dem Gebiet der Volksschullehrerbildung persönlich die Führung in die Hand genommen und sehr erhebliche Resultate im Kampf mit dem Finanzminister erreicht. Ein seit Jahren, ja seit Jahrzehnten strittiges Problem war endlich in Fluß gekommen, und ich hatte innerlich das Gefühl, daß die hier erreichten Verbesserungen in unserem Zeitalter des Sozialismus und der Demokratie für die Volkserziehung das Gleiche bedeuten, was vor einem Jahrhundert im Zeitalter des Individualismus die Begründung der Universität bedeutet hatte. Mein Etat stand im Hauptausschuß gerade zur Beratung. Ich hatte peinliche, aber für mich doch erfreuliche Auseinandersetzungen mit meinem Vorgänger Hänisch. Ich wurde von fast allen Parteien ausgezeichnet behandelt, nur die Sozialisten ließen zum Teil aus persönlichen, zum Teil aus taktischen Gründen in ihrem Kampf gegen Stegerwald ihren Unmut auch an mir aus. Da erfolgte plötzlich mitten in den Verhandlungen der Rücktritt des Kabinetts. Und heute setzt der Ausschuß seine Beratungen fort. Der damalige Berichterstatter ist inzwischen zum Minister avanciert. Ich halte mich diesen Beratungen fern, wie ich mir überhaupt einige Tage der Ruhe gönne. Die Anstrengungen des letzten halben Jahres waren doch sehr groß, wenn ich auch die Sommerpause in Gelnhausen dankbar empfunden habe. Ich habe mich aber grundsätzlich bereit erklärt, die Geschäfte des Staatssekretärs wieder zu übernehmen. Zu diesem Zweck hatte ich ja für alle Fälle die Stelle unbesetzt gelassen. Natürlich ist es ein gewisser Entschluß, vom Minister wieder Staatssekretär zu werden. Auch geschieht es zum ersten Mal in der preußischen Geschichte, daß ein gewesener Staatsminister diesen Schritt unternimmt. Die Verhältnisse haben sich ja allerdings auch völlig verschoben. Was in der Monarchie unmöglich war, ist im parlamentarischen System der Republik das einzig Wahre. Minister sind heutigentags ephemere Gestalten. Die eigentlichen Leiter der Ministerien sind überall die Staatssekretäre, und denen kann man es nicht verdenken, wenn sie einmalvorübergehend einen Ministerposten übernehmen. Auf mich ist in den letzten Wochen nach verschiedenen Richtungen hin sehr energisch eingewirkt worden. Die Orientalisten wollten mich gern wiederhaben. Die weiteren Universitätskollegen und vor allem die Beamtenschaft des Ministeriums sind in unzähligen Äußerungen bei mir vorstellig geworden, daß ich dies Opfer des Rücktritts in meine alte Stelle der Sache doch bringen möchte. Entscheidend war mir nach ruhiger Prüfung der Zug des Herzens. Ich glaube allerdings, daß ich im Kultusministerium vorerst nicht gut zu ersetzen bin, und ich habe, wie ich es in meiner Abschiedsrede sagte, das Gefühl: Treue um Treue. Trotz diesem frühen Ende bedauere ich keinen Augenblick, den Ministerposten übernommen zu haben. Ich habe doch sehr viel gelernt und vor allem einmal das Gefühl der letzten Verantwortung erlebt. Es ist sehr viel leichter, Minister wie Staatssekretär sein. Auch hat der Staatssekretär mehr zu arbeiten. Aber er hat doch immer die Möglichkeit, unbequeme Sachen an den Minister abzuschieben, der schließlich in der einen oder der anderen Weise entscheiden muß. Die Zusammenarbeit im Staatsministerium war außerordentlich erfreulich, und ich kann ohne Überhebung sagen, daß dies Ministerium doch weitaus das erfreulichste und sachkundigste war, das Preußen seit der Revolution gehabt hat. Außer bei der Sozialdemokratie war auch die Autorität des Ministeriums im Lande größer als die seiner Vorgänger. Dankbar gedenke ich dabei besonders der Zusammenarbeit mit dem Finanzminister Sämisch, einem ganz vorzüglichen Mann, der namentlich für die kulturellen Dinge viel Interesse und Mittel übrig hatte.

Ob das neue Kabinett lebensfähig ist, läßt sich zur Zeit noch nicht übersehe. Der neue Kultusminister Dr. Boelitz, ist ein ruhiger, verständiger Mann, seines Zeichens Gymnasialdirektor. Er gehört der Deutschen Volkspartei an und hat amüsanter Weise unmittelbar vor seiner ihm wohl selbst unerwarteten Wahl einen Artikel über mich geschrieben, der erst nach seiner Ernennung erschien. Er ist vornehm gehalten und zeigt bei aller gebotenen Reserve des Abgeordneten der Oppositionspartei ein verständnisvolles Eingehen auf meine Pläne. Er bot mir sofort in liebenswürdiger Form das Staatssekretariat an; doch legte ich Wert darauf, aus politischen Gründen, daß es mir vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten angeboten würde. Das ist denn auch geschehen. Meine amtliche (Berufung) durch das Staatsministerium wird erst in einigen Tagen erfolgen, und so habe ich inzwischen die mir sehr willkommene Möglichkeit, einige Tage zu Haus auszuspannen. Dann geht es wieder an die gewohnte Arbeit. Ich fühle mich getragen von dem Vertrauen meiner Mitarbeiter und glaube, mit dem neuen Minister gut auskommen zu können. Ich habe ihm offen gesagt, daß ich ja für ihn auch eine gewisse Belastung darstelle. Auch gebe es zwei Arten von Staatssekretären, solche, die gehobene Bürochefs seien und solche, die wirklich Politik machten. Ich gehörte zu den letzteren. Und es zeugt für seine Großzügigkeit und sein sachliches Interesse, daß er das verständnisvoll aufnahm. In der sachlichen Politik wird es ja wohl auch kaum Differenzpunkte zwischen uns geben. Meine Politik geht entschieden dahin, das Kultusministerium aus dem Streit der Meinungen herauszuheben und es möglichst zu neutralisieren. Das wäre am leichtesten unter einem parteilosen Minister gewesen. Es geht aber auch unter einem verständigen Mitglied der Deutschen Volkspartei.

Laß mich damit für heute schließen. Über die häuslichen Dinge und besonders die Kinder will Dir Hedwig gern selber berichten.

Gute Grüße Dir und den Deinigen. In dankbarer Liebe und Verehrung

Dein getreuer Neffe (ungezeichnet: Carl Heinrich Becker)

 

5. Jugendfreund Fritz Sell an C.H.B. Godesberg, Deutschherrenstraße 52, 18.10.1921.

Vgl. auch Nr. 4: Klostermannsch’sche Privatschule

Lieber Carl.

Ich möchte Dir gern einmal wieder berichten, als dem Freund, der an Freuden und Leiden teilnimmt. Meinen letzten Brief hast Du indirekt ja durch Herrn Jahnke wohlwollend beantwortet, wofür ich Dir herzlich danke. Seitdem habe ich die schwierigsten aber auch erfolgreichsten Monate meines bisherigen Lebens, soweit es mit meiner Arbeit zusammenhängt, erlebt. Persönlich d.h. in der Familie sind sie so sonnig wie immer gewesen. Unser Töchterchen entwickelt sich prächtig, meine Frau ist frisch und gesund. Die Dienstboten in Ordnung und die Sommerreise an den Bodensee und ins Allgäu gar köstlich gewesen. Die materiellen Subsistenzmittel haben sich auch eigenen Kräften und Vermögen gefunden, so daß ich unabhängig auf eigenen Füßen lebe.

Beruflich war die Sache z.T. sehr schwer, hat aber das Ergebnis, daß ich meine hiesige Tätigkeit nicht mehr als Übergangsstufe ansehe, sondern als eine Lebensaufgabe, für die ich die äußerste Kraft einsetze. Wie Du vielleicht weißt, hat unser Chef, Herr Schopen, demissio-niert. Als Idealist verlor er mit seinen kulturphilosophisch apostolischen Ideen den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen und veröffentlichte derart verheerende Artikel, daß ich mit meinen älteren Kollegen mich an unser Kuratorium wandte und die Kabinettsfrage für das Lehrerkollegium stellte. Das Kuratorium schloß sich unserer Ansicht an und darauf trat Herr Schopen freiwillig zurück. An seiner Stelle ist ein neuer Direktor gewählt, Dr. Berendt, Studienrat in Bonn, ein ausgezeichneter Mann in jeder Hinsicht, pädagogisch wie menschlich, das wissenschaftliche nicht zu vergessen. Sutzmann (?) hat ihn seinerzeit aufgefordert, sich zu habilitieren, er hat das aber abgelehnt, weil er gerne in der Schule bleiben wollte. Daß wir ihn bekommen haben, ist ein großes Glück; ich bin auch stolz darauf, da ich nicht nur seine Kandidatur dem Kuratorium empfohlen habe, sondern es auch, als die Sache schief zu gehen drohte und er schon abgesagt hatte, fertig brachte in fast ununterbrochenen 5tägigen Verhandlungen ihn zu gewinnen und Einigkeit mit dem Kuratorium herzustellen. Den Gewinn dieser Unterhandlungen schlage ich hoch an; er besteht u.a. darin, daß wir 1/5 aller Plätze als ganze oder teilweise Freistellen einrichten können, so daß wir unabhängig vom Geldbeutel der Eltern wirklich begabte Jungen nehmen und das Niveau halten können. Ich hoffe auf eine gute Zukunft für unsere Sache, zumal sich nach dem Abgang von Schopen auch die Zustände im Internat sehr erfreulich entwickelt haben.

Viel hängt natürlich vom Abitur ab und seiner Abhaltung im Hause selbst. Gestern hat uns Herr Schellberg besucht und die Oberprima besichtigt. Die Jungen haben glänzend gezogen und der Eindruck war gut. Nur bin ich ihm, fürchte ich, etwas zu dekadent; mein Thema, die Geschichte des Romans an W(ilhelm) Meister, Hyperion, Titan usw. bis Niels Llyne und Buddenbrooks zu erläutern, schien ihm eine periphere Feinschmeckerei und von dem Zentrum der deutschen Literatur (Schiller) zu abseits gelegen. Über die letztgenannten sei man längst hinaus; leider hat er mir nicht verraten in welchen Werken. Ich vermute in Federer und der Handel-Merzetti! Vielleicht ist er ja auch der Auffassung, daß nur das Drama, nicht aber der Roman ein Kunstwesen sei. Im Vertrauen, unser alter Geheimrat Schunck aus Coblenz machte mir einen weitherzigeren Eindruck.

Unser offizielles Gesuch um Abhaltung des Abiturs liegt in Coblenz, beschließt (man? weggelocht!) es so gnädig wie seinerzeit das mündliche! Sollten die Zeiten sehr schwarz d.h. ultramontan werden, so sind wir als Refugium der liberal gesinnten Wissenschaften hier notwendig; wenn in 3 Jahren das Städtische Gymnasium in Bonn einen neuen, sicher ultramontanen Direktor erhält, wird diese Notwendigkeit eintreten.

Es wäre doch sehr schön, wenn Du uns mal besichtigtest, nicht nur aus amtlichen sondern auch aus persönlichen Gründen. Ich würde Dich so gern einmal wiedersehen! Vielleicht macht’s sich einmal. Grüße Frau und Kinder vielmals. Dir selbst wünsche ich einen guten Winter und Überdauerung der ministersessellüsternen parlamentarischen Äquinoktialstürme. In alter Freundschaft Dein Fritz.


1 Hervorhebung des Herausgebers.

2 Adam Stegerwald, *1874 bei Würzburg *1945 Würzburg. 1919 Vorsitzender des Gesamtverbandes Christlicher Gewerkschaften und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (bis 1929, MdR 1920-1933