Roger an CHB u. CHB an seine Geschwister

HA VI. Nachl. C. H. Becker. Nr. 122

1. Hauptmann Roger an C.H.B. Gefechtsstand an der Somme1, Feldartillerie-Regiment 29, 3. Batterie * 2.11.1916

Mein lieber CH!

Beiliegender Zeitungsausschnitt, der mich im Stollen an der Somme erreicht, mahnt mich endlich Dir den schon lange zugedachten Gruß zu senden, um Dir einen sichtbaren Beweis zu geben, daß meine Anteilnahme an Deinem Wohlergehen auch in der langen Kriegszeit wach bleibt. Meinen herzlichsten Glückwunsch zu Deiner Berufung an so hervorragender Stelle und meine wärmsten Wünsche für eine recht erfolgreiche Betätigung!

Offengestanden war ich recht erstaunt, daß ich erstmals von dieser Berufung hörte –(was schon lange her ist)- und ich denke mir, daß es Dich einen Kampf hat kosten müssen, daß Du Dich entschlossen hast, nicht mehr Dein ganzes Können in den Dienst Deiner bisherigen Aufgaben zu stellen. Die endgültige Berufung will ich gern dahin deuten, daß Du auch in den neuen Verhältnissen Dich wohl fühlst und das dasselbe Maß an Befriedigung Dir erwartest, das Du als Forscher, Lehrer und Vorkämpfer für eine richtige Würdigung des Islams in so reicher Weise hast empfinden dürfen. Ich denke auch, daß es Dir gelingen wird, trotz der jedenfalls außerordentlich großen Inanspruchnahme in Deiner amtlichen Stellung noch Kraft übrig zu behalten, Deiner lieben Wissenschaft weiter zu leben und für sie zu wirken, ganz abgesehen von der besonderen Förderung, die Du ihr gerade in Deiner jetzigen Stellung kannst zuteil werden lassen. Ich gratuliere auch der U(niversität) Frankfurt, daß sie auf einen wohlwollenden „Oberhirten“ rechnen darf!

Becker-Villa in Berlin Steglitz, „auf dem Fichtenberg“, Arno-Holz-Str. 6, 1916-1933, Eine Gedenktafel war nicht zu sehen; Grundstück ziemlich ungepflegt, aber Haus wirkt gut. BB. 10.7.2007
Becker-Villa in Berlin Steglitz, „auf dem Fichtenberg“, Arno-Holz-Str. 6, 1916-1933, Eine Gedenktafel war nicht zu sehen; Grundstück ziemlich ungepflegt, aber Haus wirkt gut. BB. 10.7.2007

Für mich sind diese Gedanken doch recht fernliegend!. Das Kriegshandwerk hält mich nun schon 2 Jahre in einer Weise hier, daß ich gewohnt bin nur von einem zum andern Tag zu leben und zu denken! Bald jährt sich zum 2. Mal der Tag, an dem ich meine Batterie übernommen und wie viel Erlebnisse schließt diese Zeit ein! Viel Schwerer aber auch viel Freude! Ich bin dem Geschick dankbar, daß ich die schöne Aufgabe erfüllen darf, wie sie in der Führung einer Batterie im Kriege liegt – insbesondere wenn man sich nie von ihr hat trennen müssen und so mit jedem Einzelnen durch die gemeinsamen Erlebnisse verwachsen ist.- Zur Zeit bin ich nebenher – im 10tägigen Wechsel mit dem Abteilungskommandeur – Gruppenführer und habe außer unseren 3 noch 3 sächsische Batterien unter mir. Wir sind seit dem 15.10.(1916) an einer Stelle eingesetzt, die fast täglich im Heeresbericht der letzten Wochen genannt war und ich rechne noch mit wochenlangem Hierbleiben. Im September war ich auf 2 ½ (Wochen?) in Frankfurt, auf meinem 2. Urlaub, den ersten hatte ich September (19)15 zwischen Serbien und unserer 9monatigen Kampfzeit in Ypern2.- Zu Hause hörte ich auch von Deiner dienstlichen Anwesenheit in (Frankfurt?). Du hast ja auch (Meinungen? Unleserlich) bestätigt, die meinem persönlichen Interesse besonders nahe stehen. Friedrichsheim und Volkskindergarten (Ruhwaldschule)) – in denen ich bzw. für die ich tätig bin, kann ich ja nach 2jähriger Kriegszeit eben nicht sagen!

Ich habe gute Nachrichten von Frankfurt! Alle sind sehr tätig. Daß Ludwig Landauer als Kriegsfreiwilliger bei der (…)artillerie seit über einem Jahr im Feld ist und es zum (Quartier)meister und Off(iziers)Ass(istenten) bei einer Kolonne gebracht hat, wirst Du wissen. Wir sahen uns im Urlaub in Frankfurt. Auch mein Schwager Ahlers war gerade von der Front weg – zur Kur in Wildbad – und wir trafen uns in Karlsruhe.

Was sagst Du zu „Hans dem Kanonier“? Wer hätte gedacht, daß ein Krieg so lange dauert und so zur Zusammenfassung aller Kräfte beansprucht!

Du hast jedenfalls Einblick in den gegenwärtigen Stand der Friedensaussichten. Es gibt wohl Stimmung, der den Frieden nicht herbeisehnt; das hindert aber nicht, daß an der Front die alte zuversichtliche Stimmung durchgehalten wird!

Vergelte bitte mein langes Schweigen nicht mit gleichem. Grüße Deine liebe Frau und empfange selbst herzlichen Gruß in alter Treue von Deinem CR

 

2. Ferdinand Becker an seine Geschwister. Osterholz, 8.6.1918

Liebe Geschwister!

Im letzten Winter schrieb ich Euch einmal einen Rundbrief wegen unserer von Mutter ererbten Aktien der Straßburger Neusten Nachrichten. Heute handelt es sich um dasselbe Wertpapier. Ihr werdet von Euren Banken gehört haben oder hören, daß das Unternehmen sein Aktienkapital vergrößern und zu diesem Zweck die Ausgabe neuer Aktien vornehmen will. Die Aktien sollen unentgeltlich an die alten Aktionäre ausgegeben werden, und zwar je eine Aktie auf vier alte Aktien. Die unentgeltliche Ausgabe ist möglich, weil der Gegenwert durch Ansammlung eines Fonds bereits im Besitz der Gesellschaft ist. Die neuen Aktien nehmen vom 1.1.1918 am Gewinn teil. Bis zum 30.Juni muß das sog. Bezugsrecht ausgeübt werden. Für diejenigen Aktien, die bis dahin nicht zwecks Ausübung des Bezugsrechts eingereicht sind, wird ein Betrag von 300 Mark von der Emissionsstelle ausgezahlt. Also eine sehr erfreuliche Sache: Wer vier Aktien hat, erhält unentgeltlich ein bisher immer recht gutes Wertpapier, wer keine vier Aktien hat und seinen Bestand nicht durch Zukauf von sog. Spitzen auf 4 Stück erhöhen kann, erhält für jede alte Aktie 300 Mark.

Es fragt sich, wie wir uns zu der Angelegenheit stellen. Wir sechs haben zusammen 38 Stück Aktien, und zwar Dora acht, Emma und Alex je sieben, Carl und Frida je fünf und ich sechs. Für Dora ist die Sache einfach: sie bezieht auf ihre 8 Aktien einfach die zwei ihr zustehenden jungen Aktien. Wir übrigen tun wohl gut daran, tunlichst die vorhandenen Spitzen gegenein-ander auszugleichen, d.h. wir kaufen sie einander gegenseitig ab, so daß jeder das Bezugs-recht über eine durch 4 teilbare Zahl von Aktien ausüben kann. Da aber 38 Stück in der Familie sind, geht das bezüglich zweier Stücke nicht. Diese verkauft der Eigentümer hinsichtlich des Bezugsrechts für 300 Mark je Stück an die Gesellschaft, wenn er nicht von der Gesellschaft zwei Spitzen kaufen kann, um auch auf eine durch vier teilbare Zahl zu kommen. Dabei nehmen wir als Preis für den Verkauf der Spitzen untereinander natürlich den Betrag von 300 M, den auch die Gesellschaft zahlt. Da ich, wie gesagt, das Papier für gut halte und der zugesagte Preis für die Spitze recht niedrig ist, macht meiner Meinung nach der Käufer einer Spitze ein besseres Geschäft wie der Verkäufer. Die einzige Schattenseite für den Käufer einer Spitze ist der, daß er für jede Spitze 300 Mark flüssig machen muß. Ich weiß nicht, ob das Jedem von Euch paßt und ob nicht der eine oder andere lieber seine Spitzen abgibt und sich an den 300 M freut. Wir müssen uns deshalb über den Fall verständigen. Bestimmte Vorschläge kann ich nicht machen, weil ich nicht weiß, wie bei den Einzelnen die Kassenverhältnisse zur Zeit sind und wer kaufen und wer verkaufen will. Emma, die 7 Stück hat, sollte m.E. unbedingt das eine ihr noch fehlende Stück kaufen. Vielleicht gibt es ihr Carl. Sie hätte dann 300 M an diesen zu zahlen. Etwas schwieriger liegt die Sache mit Frida. Sie muß drei Spitzen kaufen, also 900 M zahlen, wenn sie junge Aktien haben will. Sie muß es sich überlegen und vielleicht gibt ihr Alex dann seine drei Spitzen. Wenn ihr die Aufbringung der 900 M unbequem ist, muß sie ihre 5. Aktie hinsichtlich des Bezugsrechts an Alex abgeben, der sie sicher liebend gerne nimmt. Bliebe ich. Ich kaufe lieber, als daß ich verkaufe. Wenn ich die mir fehlenden Spitzen nicht aus der Familie erhalte, werde ich versuchen, sie aus der Emissionsstelle zu erhalten. Doch bin ich auch bereit, wenn eine der beiden Schwestern anderweit die ihr fehlenden Spitzen nicht erhalten kann, ihr meine zwei Stück abzulassen. Die Brüder, die ja besser stehen wie ich, werden das von mir ihnen gegenüber nicht erwarten. Es ist wohl am Besten, wenn Ihr mir Eure Wünsche mitteilt und daß ich sie dann der Emissionsstelle weitergebe.

Darüber, ob wir (sic) zur Ausübung unserer Bezugsrechte die bei unseren Banken lagernden Zinsbogen nach Straßburg schicken müssen, oder ob es genügt, daß die Mantelbogen in Straßburg gestempelt werden, erkundige ich mich bei E.Hoff.

Bei uns allright, um mal wieder ein englisches Wort zu schreiben.

Treulichst F.B.


1 Noch tobte die Schlacht um Verdun, da begann am 24.6.1916 die Schlacht an der Somme, die bis zum 24.11. andauerte und wo es der Entente nicht gelang durchzubrechen. Dafür eroberten die Franzosen einige Festungswerke bei Verdun.

2 Die Schlacht von Ypern tobte im April/Mai 1915. Erster Einsatz von Giftgas! Nach deutschen Anfangserfolgen ebenso erfolglose Gegenangriffe der Entente; es folgte die Lorettoschlacht Mai-Juli 1915 und die Herbstschlacht in der Champagne, die ebenso wenig eine Entscheidung brachte.