Anonymus, Türkei, 1916

59. Anonymus an C.H.B. Konstantinopel, 19.2.1916 * Streng vertraulich

Lieber Heinrich!

Längst schon war es Wunsch, Dir auf Deine lieben Zeilen vom 2. Januar in gewohnter ausführlicher Weise zu antworten. Indes ist das heute gar nicht mehr so leicht wie früher, wo man aus dem frisch pulsierenden Leben des Krieges, wie er sich in allernächster Nähe abspielte, berichten konnte. Seit dem Abzug der Engländer von Anaforta und Seddulbahr ist es hier still geworden, wenn auch die sich in aller Stille abspielenden Ereignisse vielleicht wichtiger und bedeutsamer sind, was das was vorher war.

Der Abschluß der Kämpfe hier unten war in jeder Beziehung ein Knalleffekt, freilich nicht in dem Sinne, wie ihn das Publikum, das fromme Schaf, in den Zeitungen zu lesen bekommen hat. Der militärische Schluß der Dardanellenaktion1 liegt ja eigentlich schon viel früher. Der Abzug war ja nur gleichsam ein Schlußschnörkel. Es ist ja wohl auch in der deutschen Presse nicht geleugnet worden, daß der eigentliche Abzug ein außerordentlich geschicktes Manöver war. Daß aber die Engländer tatsächlich so ganz ungeschoren weggekommen sind, danken sie doch noch einer kleinen türkischen Besonderheit.

Schon lange nämlich vor dem Abschluß bestand zwischen L.v.S2, dem Oberstkommandie-renden der Truppen, und v.U., dem Oberstkommandierenden der Festungen, ein erheblicher Gegensatz in der Auffassung über den bevorstehenden Abzug der Gegner. Der eine gründete seine Ansicht, daß noch eine Schlußoffensive zu erwarten sei, auf die Meldungen seiner Unterführer, der andere seine gegenteilige Ansicht auf die Meldungen der deutschen Flieger und seiner artilleristischen Marinebeobachter. Der Gegensatz steigerte sich so weit, daß allerlei unfreundliche Worte fielen über junge Marineoffiziere, die von nichts eine Ahnung hätten.

Und dann waren mit einem Male die Engländer von Anaforta weg und die deutschen Beobachter hatten doch recht behalten.

Mag nun dieser Vorgang den Stachel des Zweifels in die Brust L.’s gesetzt haben, mag man es auf türkischer Seite allzu toll getrieben haben, jedenfalls bei der Räumung von Seddulbahr kam man auch im Oberkommando den Gegnern auf die Schliche – der Nebel war auch minder stark – und befahl den Angriff, der aber nicht erfolgte. Die Türken hatten sich nämlich überzeugt, daß der heilige Boden des Vaterlandes auch so geräumt werden würde und sahen daher nicht ein, warum lediglich des Knalleffektes halber und um den Deutschen einige Arbeit in Flandern zu ersparen, sie ihr kostbares Leben auf das Spiel setzen sollten.

Man spricht von Gehorsamsverweigerung, von falschen und unterschlagenen Meldungen. Ein ganzes Rudel von Regimentskommandeuren sollte standrechtlich erschossen werden und es bedurfte der Ausreise des Kriegsministers und eines Vertreters der Botschaft, um den toben-den Löwen zu besänftigen. Man sagte damals, er werde gehen. Aber er ist auf seinem Posten geblieben. Allerhand Hochachtung vor dem Pflichtbewußtsein.

Alle Ehrungen aber wurden ebenso unhöflich wie kühl abgelehnt. Ohne jeden Aufwand ist L., dem wir doch eigentlich unsere Existenz hier verdanken, nach Konstantinopel zurückgekehrt und dann wieder auf seinen Posten bei den Truppen.

Von der Beute, die die Verbündeten zurückgelassen haben, hast Du wohl in den Zeitungen gelesen. Sie muß tatsächlich recht erheblich gewesen sein, wenn auch bei den ganz großen Zahlen auf die Türken kein Verlaß ist. Aber wenn man englischen Speck und vorzüglich abgelagerten Chesterkäse auf der großen Perastraße kaufen kann, so muß es schon sehr viel gewesen sein; denn in erster Linie haben sich natürlich die Truppen versorgt. Und ungeheure Mengen von Lebensmitteln sind der türkischen Gemütsart entsprechend vernichtet worden. Nur Marmelade ist nicht bis in die Stadt gelangt, sie sind eben sehr große Leckermäuler und die Lazarette an der Front sind von Leuten, die sich überfressen haben, überfüllt.

Nun tobt der Krieg fern von hier. Der Kaukasus interessiert so wenig. Es sind kaum deutsche Offiziere in leitender Stellung dort unten. Die Türken haben mit dem Erbfeind ganz allein abrechnen wollen. Man sieht, was dabei herauskommt. Jetzt, wo Holland in Not ist, müssen und dürfen wir wieder ein bißchen helfen.

Kut-el -Amara3 ist noch weiter fort. Wenn meine besondere Aufmerksamkeit ihm gilt, so liegt das daran, daß ich, wie Dir früher schon geschrieben, die Wiedereroberung von Basra für außerordentlich wichtig halte. Außerdem hängt vom Erfolge dort unsere Politik in Persien4 ab, die ich in ihren wirtschaftlichen Folgen für nicht minder bedeutend, oder, wenn man will unbedeutend – halte, wie die türkische. Außerdem ist unsere Anteilnahme durch die Anwesenheit von Goltz bekundet, der sich mit einem sehr auf Zuwachs berechneten Stabe nun schon recht lange in Bagdad und weiterer Umgebung aufhält. Endlich befindet sich bei eben diesem Stabe Dr. Ritter, den Du vielleicht noch von Hamburg her kennst, und von dem ich doch hin und wieder einmal etwas höre.

Über die Unternehmungen selbst und meine Vermutungen darüber kann ich Dir für heute nichts berichten. Ich weiß allzu viel darüber in amtlicher Eigenschaft. Nur das kann ich sagen; denn es hat merkwürdiger Weise in der Zeitung gestanden, daß wir mit Hochdruck an den noch offenen Gebirgsstrecken unserer Bahn bauen. Die Schwierigkeiten und sich entgegen stellenden Hemmungen sind natürlich besonders große. Ich brauche Dir nicht zu sagen, auf welchem Gebiete sie liegen. Den Umständen nach sind unsere Fortschritte recht befriedigende.

Das sind aber vorläufig doch alles nur Episoden. Der wahre Schwerpunkt der Handlung liegt doch hier in Konstantinopel und betrifft wirtschaftliche Fragen und damit Gegenstände, die einen bleibenden Wert haben sollen.

Das Bild, das ich mir von den wirtschaftlichen Vorgängen machen kann, ist natürlich nur ein ganz einseitiges.- Einmal glaube ich nicht, daß man, rein wirtschaftlich gesprochen die Beziehungen zur Türkei aus dem Gesamtrahmen der deutsch-orientalischen Beziehungen wird herauslösen können und unter diesem Gesichtspunkte wird es sehr wichtig sein zu wissen, was geht an Parallelerscheinungen in Bulgarien vor? Und darüber weiß ich herzlich wenig; ich kann nur hoffen, daß sie erfreulicher sind, als das, was sich hier ereignet. Dann aber kommt bei der Ausgestaltung dieser Beziehungen und Durchdenken der zahlreichen Probleme, die sie bieten, vor allem auch Österreich in Betracht, das hier ältere Beziehungen hat, als Deutschland. Endlich geht die Entwicklung auf diesem Gebiete auch so unendlich viel langsamer vor sich, als auf politischem, und das, was ich sehe, ist ja auch nur einkleiner Ausschnitt dessen, was sich an bemerkenswertem wirklich ereignet.

Den Kenner der hiesigen Verhältnisse überraschte vor allem die völlige Verkennung der wirklichen Verhältnisse der Türkei, insbesondere ihrer Produktionsmöglichkeit, der man in Deutschland huldigte, als es nach der Eröffnung des Schienenweges durch Serbien und der Schiffahrt auf der Donau galt, die Ausfuhr aus der Türkei in die richtigen Bahnen zu leiten.

Diese Unkenntnis hatten sich die Türken, die bessere Diplomaten sind, als wir, bereits zu Nutze gemacht, als sie noch unter dem verstorbenen Botschafter einen Vertrag mit dem Deut-schen Reiche abgeschlossen hatten, besagend, daß der Warenaustausch nur von Staat zu Staat unter Ausschaltung jeder privaten Betätigung gehandhabt werden sollte.

Der Sinn dieses Vertrages von türkischer Seite war der, daß die Regierung auf diese Weise sich Geld zum Krieg führen verschaffen wollte. Sie requirierte im Innern Waren und verkaufte sie gegen bar an den zahlungskräftigen Bundesgenossen.

Deutscherseits erkannte man bald den Unsinn einer solchen Bindung und Einengung, man konnte sich indes von der einmal eingegangenen Verpflichtung nicht losmachen. Die Lösung wurde nun in der Form gefunden, daß das Kriegsministerium eine Anzahl von Sachkennern, d.h. Warenkennern hierher sandte, die mit offiziellem Charakter ausgestattet, den Warenaustausch zwischen den türkischen Instanzen und den deutschen Interessenten vermitteln sollten.- Durch diese Maßnahme wurden zunächst einmal alle hier ansässigen, sach- und ortskundigen Kommissionshäuser ausgeschaltet. Der Form nach gab es wohl keine andere Lösung; denn etwa die Einordnung dieser Kommissionäre in die Reichseinkaufskommission hätte die Türken sicherlich stutzig gemacht und sie verstimmt. Sie wollen eben den Gegenkontrahenten über den Löffel balbieren können.- Das ist denn auch auf das Gründlichste besorgt worden.-

Mit welchen unrichtigen Instruktionen, welch falschen Anschauungen die Leute hierher gesandt wurden, erhellt z. B. daraus, daß man unter anderem auch um Feststellungen über die Möglichkeit, Getreide aus der Türkei zu beziehen forderte. Auf dieses Kapitel komme ich weiter unten in anderem Zusammenhange noch zurück.

Nun, um das Ergebnis bis heute vorwegzunehmen: Die Kommission tagt seit Monaten hier und irgendwie nennenswerte Mengen an Rohstoffen haben die Grenze noch nicht überschritten.

Und was schlimmer ist: gab es früher noch einige hochwertige Waren, die man als Postpakete oder mittels reichlicher Beträge von Schmieröl hinausbekommen konnte, wie z.B. Seide und getrocknete Därme, – auch Mohair ist in großen Beträgen als Postpaket ins Ausland gegangen – so fiel jetzt auch diese Möglichkeit weg, da auch diese kleinen Mengen ausschließlich der deutschen Kommission vorbehalten bleiben.

Weiter wurde die Tätigkeit der Kommission erschwert durch die Beschlagnahme sämtlicher Bahnen im Innern für Militärtransporte. Wenn die Beschlagnahme und Einstellung des Privatverkehrs ebenso überflüssig war, wie auf unseren Bahnen, so kann sich die Kommission für ihren Mißerfolg auch bei den deutschen Offizieren beklagen, die sich in diesem Falle zum willfährigen Werkzeuge türkischer Schikanen und Schaumschlägereien gemacht haben.

Endlich versagte die politische Unterstützung vollständig. Ich werde dafür noch einige Beispiele geben.

Das ist eine Frage, über die sich unendlich viel schreiben ließe. Fraglich ist auch, ob es sich anders hätte machen lassen. Denn das Übel sitzt sehr tief und es ist gegenwärtig nur schwer etwas daran zu ändern. Sicher aber ist das eine, daß augenblicklich die deutsch-türkischen Beziehungen auf diplomatischem Gebiet türkischerseits völlig die erforderliche Distanz völlig vermissen lassen.

Dafür ein Beispiel aus einem ganz anderen Gebiet. Als v(on) d(er )G(oltz) sich auf seinem Floße Bagdad nahte, verließ der türkische Höchstkommandierende den Palast des englischen Residenten, den er bis dahin inne hatte, und ließ das Gebäude in ein Hospital umwandeln. Auf Orientalisch ist das einfach eine Frechheit , die man sich auf keinen Fall hätte bieten lassen sollen. Aus unserem Betriebe könnte ich auf dem Gebiete des sog. Salonwagens diese Bei-spiele leicht vermehren. Da hätte es eben auch heißen sollen, principiis obstat. Jetzt ist die Sache gar nicht mehr so leicht.

Doch zurück zur Kommission. Diese ging von der zutreffenden Erwägung aus, daß es für die wirtschaftliche Kraft des Landes nützlicher sein würde, wenn sie die großen ihr zurVerfügung gestellten Geldmittel nicht ausschließlich den Komitatscis und ihren Hinterleuten zu Gute kommen ließen, sondern dem Produzenten. Sie begann also damit, große Käufe, besonders in Wolle, Baumwolle und anderen Stapelwaren abzuschließen, meist wohl loco Produktionsort, teilweise aber auch in Konstantinopel und vertrauensvoll fing gerade an, so manches bisher ängstlich verborgen gehaltene Pöstchen Ware (sich) hervorzuwagen. Der Markkurs natürlich wurde durch diese Käufe ungeheuer geworfen und steht heute etwa 30% (sic!) unter der Goldparität. N.B. Das ist doch eigentlich ein Skandal!!

Mit den Drahtziehern verhandelte man gleichzeitig über die Ausfuhrerlaubnis. Die Beziehungen waren angeblich die freundlichsten. Der Orientale ist immer höflich, obschon die Leute merkten, daß man bestrebt war, sich den übernommenen Verpflichtungen zu entziehen und nicht von ihnen, den berufenen Vertretern des Staates, kaufen wollte. Das schön ausgedachte Geldgeschäft war im Begriffe zu zerfallen.-Da kam der erlösende und kühne Griff. Die türkische Generalintendantur requirierte die formell für den Kriegsbedarf des Deutschen Reiches als staatsrechtlicher Persönlichkeit gekauften gesamten Wollvorräte. Vorwand: die Ausfuhrerlaubnis sei nur für 200 000 kg beantragt, angekauft aber seien 500 000 kg (!!). Und es gibt Leute von großer politischer Bedeutung auf unserer Botschaft, die den Türken völlig Recht geben und meinen, Geheimrat S., der Leiter der Einkaufsgesellschaft, wäre in Deutschland für solche Handlung ins Zuchthaus gekommen.

Dementsprechend fiel denn auch die diplomatische Vertretung der Beschwerde der Kommis-sion aus. Die Türken siegten auf der ganzen Linie. Die Kommission konnte den ganzen requirierten Betrag noch einmal kaufen. Darüber weiter unten. Die Kommission versuchte noch einmal wider den Stachel zu löcken und excerpierte aus Berlin eine dringende Bitte des Generalstabes um Wolle. Die Wolle wurde türkischerseits umgehend zur Verfügung gestellt, wie es die Bundesbrüderlichkeit erheischt, — in Diârbekir! Zur Auffrischung Deines geogra-phischen Gedächtnisses: es liegt am obersten Tigris.- Also das ist auch wieder mal eine solche Frechheit, wie die oben erwähnte, die man sich deutscherseits nie hätte gefallen lassen dürfen. Es ist höchst beklagenswert, daß es zu so etwas gekommen ist.

Nun verhandelt die Einkaufsgesellschaft mit einer Vereinigung von Hinterleuten der Minister, die bereits seit langem besteht und das türkische Wirtschaftsleben in so schamloser Weise ausbeutet, daß es ihretwegen bereits zu der Dir früher einmal signalisierten Interpellation im Parlament gekommen ist. Diese Vereinigung, die sich, wie gesagt, höchstmögender Bezieh-ungen erfreut, tritt in die verschiedenen Abschlüsse des Reiches als Wiederkäufer und Rück-käufer etc. in einer mir nicht näher bekannten Weise ein und hat sich auf dem Papiere zunächst stark gemacht, die Waren vor der Requisition zu schützen und die Ausfuhrbewilli-gung zu erwirken. Diese Transaktionen haben, ohne daß bisher ein wirklicher Erfolg sichtbar wäre, zunächst, soweit mir bekannt und hier ruchbar, die bereits gekauften Waren um etwa 30% verteuert. Das Geschäftsgebaren dieser Gesellschaft erfreut sich angeblich nicht des Beifalles des Generalintendanten. Die Reichseinkäufer aber meinen, daß sie auf der stärkeren Seite seien, da ja fast das gesamte Ministerium auf ihrer Seite sei. Die Tätigkeit der Gesellschaft hat denn auch mit einer erneuten festlichen Requisition seitens des Intendanten begonnen.

Andere Türkenkenner, und mit ihnen ich, neigen zu der Ansicht, daß die „unfreundlichen Beziehungen“ des Generalintendanten zur Djemiet einfach ein Theater sind, um bei einer späteren Gelegenheit sich für eine neue Kombination noch einmal bezahlen zu lassen. In Wirklichkeit sitzt jedenfalls der Generalintendant augenblicklich fester denn je: er vertritt gegenwärtig den auf einer Inspektionsreise befindlichen Kriegsminister, was nicht ohne Zustimmung des Gesamtministeriums möglich wäre.

Soweit die politische Seite der ganzen Frage. Inzwischen verfaulen, verschimmeln und verderben die unglücklichen Gegenstände dieser Politik: Wolle und Baumwolle, in unzureichenden Lagern im Innern.

Einen Vorbehalt muß man indes machen: einem Mitgliede der Einkaufsgesellschaft ist es gelungen, alle von ihm gekauften Waren, wenn auch bisher nur kleinere Mengen, über die Grenze zu bringen, das ist die Erzabteilung. Er ist von vorneherein den einzig rechten und erfolgversprechenden Weg gegangen und hat sich mit den maßgeblichsten deutschen Kommissionshäusern in Verbindung gesetzt. Bei den Türken indes durfte dieses Geschäftsgebaren nicht viel Anklang gefunden haben und sie werden binnen kurzem nicht verfehlen, ihm den Weg tüchtig mit Dornen zu bestreuen.

Im allgemeinen hat sich die wirtschaftliche Lage im Innern nicht gerade verbessert. Es war vorauszusehen, daß die rücksichtslose Vernichtung des fleißigen armenischen Bauernelementes in sehr erheblichem Maße auf die Ernteergebnisse und die Anbaufläche wirken würde. Das ist denn auch geschehen. Es kommt hinzu, daß die Ernteschätzungen über die vorige Ernte, die auf den gebotenen Zehntenpachtsummen sich gründete, völlig falsch war, da die Zehntenpächter eine erhebliche Preissteigerung eskomptiert hatten. So herrschen denn an vielen Plätzen des inneren Anatoliens Zustände, die an Hungersnot verzweifelt erinnern. Es kommt hinzu, daß die neue Ernte von Heuschrecken auf das Äußerste bedroht sind. Es sind freilich allerlei Anläufe bemerkbar, um diese Schädlinge zu vernichten und vor allem um die Anbaufläche zu vergrößern. Aber alles was geschieht, kommt reichlich spät und dürfte, solange die Türken mit der Durchführung der Maßnahmen betraut werden, an der allgemeinen Indolenz und Unbildung scheitern.

Was ich vor Monaten als Menetekel in meinen Briefen an die Wand malte, ist nun wirklich Tatsache geworden: Deutschland muß, statt seinerseits Rohstoffe aus der Türkei beziehen zu können, auch die Ernährung der Bevölkerung zum Teil übernehmen und liefert von seinen in Rumänien gekauften Getreidebeständen hierher. Die Türken sind nämlich nicht fähig gewesen, selber mit den Rumänen zum Geschäft zu kommen. Nach echt orientalischer Weise haben sie gefeilscht und gefeilscht, bis die Engländer ihnen zuvor kamen und große Einkäufe für sich belegten.

In Syrien scheinen, bis auf die Heuschreckengefahr, die Verhältnisse besser zu sein. Es waren dort ja auch keine Armenier zu vernichten.

Das sind die Ereignisse, die für mich heute im Mittelpunkte meiner orientalischen Interessen stehen. Sie sollten die Basis für die künftigen deutsch-türkischen Beziehungen abgeben. Aber ich glaube nicht, daß man auf dem bisher eingeschlagenen Wege der Zuerkennung einer Gleichberechtigung der Türkei weiter kommt. Es wird zuvor noch ein reinigendes Gewitter nötig sein, das diese Beziehungen auf eine etwas mehr der Wirklichkeit entsprechenden Grundlage stellt. Das schließt natürlich nicht aus, daß vielerlei an positiven Einzelleistungen mit in den neuen Zustand übernommen werden. Und darum arbeite ich auch durchaus hoffnungsvoll an solchen Einzelleistungen mit.

Insbesondere glaube ich, daß man auch an deutscher maßgebender Stelle diese Aufgabe durchaus erkannt hat. Allzu viele kleine Einzeläußerungen unserer jüngsten Politik beweisen mir das. Vor allem halte ich die Art und Weise, wie man die bulgarische Flöte bläst und ihre Klänge gar sanft in die türkischen Ohren klingen läßt, für außerordentlich geschickt und durchaus dem türkisch-orientalischen Verständnis angemessen. Wenn der Zeppelin nach Bulgarien fährt und nicht in die Türkei, wenn Mackensen zwar Sofia aber nicht Konstantinopel besucht und der Kaiser nach Nisch, Zar Ferdinand5 nach Pless und Wien reist und der Draht uns hier jedes Wort der Freundschaft und Zuneigung geschäftig zuträgt, dann weiß der Türke Bescheid und mancher fängt bereits an, nachdenklich zu werden.

Diese Politik wird auch in den deutsch-persischen Beziehungen ihre Früchte tragen, und es wird Zeit, daß den Türken klar wird, daß wir in Persien keine türkische, sondern in erster Linie deutsche Politik treiben wollen. Das wird seine ganze Bedeutung aber erst nach dem Kriege haben. Augenblicklich ist es nur Episode, und noch dazu eine recht bedeutungslose; denn die Sachen dort unten lassen mancherlei zu wünschen übrig.

Aber damit komme ich schon in das Gebiet des Politischen, das ich eigentlich in diesem Brief nicht behandeln wollte.

Alles in allem sehe hier jetzt recht vertrauensvoll in die Zukunft. Es wird noch manche Nuß zu knacken eben. Aber eines Tages werden die Türken müssen. Es gibt in Deutschland noch allzu viele, die noch unter dem Banne der früheren Zeitungsschalmeien stehen. Aber sie werden immer weniger. Auch auf der Botschaft zeigt man großes Interesse dafür, die Zahl dieser Gedankenlosen daheim möglichst vermindert zu sehen und hat mich ermuntert, in diesem Sinne zu berichten. Sonst freilich müßte ich befürchten, daß diese Zeilen nie in Deine Hände kommen würden. Inzwischen wird Jäckh hier erwartet! Was wird er bringen? Davon ein ander mal mehr.


1 Im Kampf gegen die Türkei nutze England die Chance und annektierte Ende 1914 Zypern und Ägypten. Nach dem Angriff auf Gallipoli im April 1915 hielten sich die Briten Januar 1916 dort. Die Dardanellen blieben in türkischer Hand. Beim türkischer Angriff auf den Suezkanal wird dessen Ostufer 1916 von den Briten besetzt.

2 General von Seeckt?

3 In Mesopotamien endet der 1. Vorstoß der Briten mit ihrer Kapitulation in Kut-el-Amara im April 1916; der 2. Vorstoß endete dann im März 1917 mit der Eroberung von Bagdad.

4 Nach einem russischen Vorstoß Frühjahr 1916 in Armenien und Persien wird Türkisch-Armenien zurückgewonnen. Nach Ausbruch der russischen Revolution besetzt Großbritannien ganz Persien!

5 Von Bulgarien