sonstige Briefe, 1924-30

 

116. C.H.B. an seinen Pariser Freund (vgl. Jugendbriefe). Bonn, Drachenfelsstr.12, o.D.

(Entwurf)

Cher ami,

Mon amitié a survécu la guerre et il y avait pendant ces longues années de silence pas de semaine, pas même de jour où je n’ai pas pensé à vous avec la même tendresse paternelle, qui régnait entre nous, et j’ai détesté le sort qui nous séparait.

Votre bonne lettre m’a révoqué les temps inoubliables passés ensemble au soleil de la Grèce et aux dunes des Pays-Bas. Je vous serre la main, qui vous êtes entrés dans la première ligne des générations par la mort de feu votre père et des Eslagat, par la mort de notre maître (illisible). Restons fidèles au double lien, qui nous unit, à l’amitié qui nous soit chère sans nous faire survoir les divergences de nos patries, et à la sienne commence qui dans sa véritable intellectualité exige la collaboration de tous dans l’intérêt du progrès de l’humanité.

Ma santé ne permet pas une activité (illisible, scientifique?), je me suis mis à la disposition de mon gouvernement dans le service civil. Je suis entré au ministère dans le département des universités. La révolution m’a trouvé le seul membre du ministre qui n’était pas issu de la majorité monarchique. Comme tel la confiance des autorités nouvelles, j’ai réussi à sauver les bonnes traditions académiques à tous les orages de la débâcle générale. Je me trouve maintenant à la tête de l’administration de l’industrie publique en Prusse.

Pendant le court espace de six mois j’étais chargé des fonctions d’un ministre dans un cabinet de transition.

Je sui resté un homme académique sans prétention politique. Mon devoir appartient à la reconstruction des formes morales et intellectuelles de ma pauvre patrie. Le peu de temps qui me reste est voué aux études islamiques et à mes cours à l’université.

Recevez mes meilleurs remercîments pour le chef d’œuvre que vous avez bien voulu m’envoyer. Votre essai est un livre de la plus haute importance, digne à être comparé avec les meilleures publications de nos (?illisible). Un de mes amis islamisant venait de faire une thèse sur Hassan Bassi (?). Il était bouleversé mais en même temps plein d’admiration en lisant votre livre.

Dans ma famille, j’ai subi une grosse perte. J’ai perdu à l’âge de 76 ans ma mère à qui me liait un attachement unique. Mon fils aîné a seize ans, le cadet neuf. A l’âge de quatorze une fille possède le cœur de son père. Tous sont grâce à Dieu malgré les difficultés alimentaires dans un état de santé satisfaisant.

Votre dernier mot parvenu à moi via Schenck m’a accompagné dans ces années, pleines de gloire et de déception comme vademecum boni augurii. Je vous remercie de l’avoir repris maintenant. Rien ne pouvait mieux exprimer mes propres sentiments. (CHB)

 

117. C.H.B. an die Verlobte von F.B. Berlin, 30.5.1924

(Maschinenkopie)

Hochverehrte gnädige Frau!

Ihre freundlichen Zeilen geben mir die gewünschte Gelegenheit, Ihnen wieder einmal etwas Mut zuzusprechen; denn ich weiß von F.B. und sehe es ihm an, wie sehr er und Sie unter der Vorstellung einer ungeklärten Lage leiden. Erlauben Sie mir, die Verhältnisse einmal mit voller Objektivität und Nüchternheit zu betrachten.

Zunächst kann ich nicht zugeben, daß sich die äußeren Lebensverhältnisse seit unserer Korrespondenz so gar nicht geändert hätten Materiell ist F.B. besser gestellt wie ein junger Studienrat. Gewiß ist seine Stellung nicht pensionsfähig, aber seine Bezüge sind doch nur in der Theorie kündbar; soweit ich die Geschichte des Ministeriums kenne, ist ein solcher Lehrauftrag noch nie gekündigt worden. Die Stelle ist mindestens so sicher wie irgendeine, die er im Wirtschaftsleben finden könnte, ganz abgesehen davon, daß Bezüge wie die seinigen auch dort nicht mehr ganz so leicht zu haben sind und man auch dort nicht von heut auf morgen Prokurist oder Direktor wird.

Gewiß, Schätze verdient man in der akademischen Laufbahn überhaupt nicht, aber im Kreise der Beamten, auch der höheren, nimmt der Professor mit seinen großen Ferien, seiner Freiheit, seinen immerhin erheblichen Bezügen eine bevorzugte Stellung ein. Entsprechend schwierig und langwierig ist dafür der Zugang. Wer aber in jungen Jahren schon so viel Anerkennung und materiellen Erfolg gefunden hat wie F.B., braucht sich wirklich um 1-2 Jahre früher oder später erreichter Pensionsfähigkeit nicht zu sorgen. F.B. würde sich wohl auch kaum grämen, wenn ihm nicht von außen her das Leben immer wieder schwer gemacht würde. Mir und anderen mit den Verhältnissen und seinen Zukunftsaussichten Vertrauten ist es schlechterdings unerfindlich, warum Sie nicht heiraten, sondern sich in immer neuen Quälereien verzehren, bis die Pensionsfähigkeit oder die Anstellung erreicht ist. In akademischen Kreisen wird ganz allgemein auf einen solchen Lehrauftrag hin geheiratet, namentlich wenn er so gut bezahlt ist wie der F.B.’s, d.h. sich in der Höhe von einer Anfangsprofessur kaum unterscheidet. Was nun eine Berufung betrifft, so war es längst mein Wunsch, F.B. eine Stelle für Islamkunde am Orientalischen Seminar zu geben. Durch Intrigen, die aber nicht gegen ihn, sondern gegen mich gerichtet waren, ist der Reformplan für den Augenblick zurückgestellt und dadurch auch seine Ernennung hinausgeschoben. Für F.B. besteht meines Erachtens aber gar keine Sorge, da die Pläne meiner Gegner einen noch weiteren Ausbau fordern als die meinigen, unter allen Umständen also für sein Fach eine Besetzung stattfinden wird, und da ist er der gegebene Kandidat. Nur wird nun noch etwas verhandelt werden müssen, worüber ½ -1 Jahr vergehen kann.

Unabhängig davon steht die Frage seiner Ernennung zum A.O. Professor. In Bayern wird jeder junge Privatdozent in der Ochsentour zum a.o. Professor ernannt. Das ist ein reiner Titel, den wir gar nicht bewerten. Solche Leute sind für uns doch nichts anderes als Privatdozenten. Der preußische a.o. Professor wird nur nach frühestens 6 Jahren Lehrtätigkeit und auch dann nur an Leute verliehen, die nach Ansicht ihrer Fakultät die Qualität zum Ordinarius besitzen. Obwohl F.B. noch lange nicht das übliche Dienstalter besitzt, wird doch seine vorzeitige Ernennung ernstlich von der Fakultät erwogen. Hierbei ist nun erschwerend, daß seine wissenschaftliche Produktion etwas aus dem Rahmen der üblichen Anwärter hinausfällt, da er sich bemüht hat, neue Wege zu gehen. Nun verlangen aber die Fakultäten ein gewisses Ausgewiesensein nicht nur in der Wissenschaft schlechthin, sondern in den Fächern, für die bestimmte Professuren bestehen. Vielleicht ist da F.B.’s Beschränkung auf Türkisch und Persisch eine gewisse Hemmung, seine Beförderung allzufrüh vor der Regelzeit zu voll-ziehen. All das sind aber nur Schwierigkeiten des Anfangs. Später wird das alles vergessen sein.

Eine letzte Frage ist seine Berufung auf ein Ordinariat. Dafür muß zunächst eine Stelle freiwerden und da kommen ja auch außerpreußische Universitäten in Frage. Ich beurteile seine Chancen sehr günstig, eine feste Gewähr kann dafür kein Mensch übernehmen. Jedenfalls sind seinen Chancen in jedem anderen Beruf ungleich geringere und von sehr viel mehr Glücksfällen abhängig, als wenn er bei der Stange bleibt, wo ja auch seine innere Ein-stellung ihn hält. Aufhören muß aber meines Erachtens, und zwar schleunigst, der unerträgliche Zustand, daß die mangelnde Sachkenntnis Ihrer Angehörigen auf Sie drückt und dadurch die Nerven F.B.’s in Grund und Boden gewirtschaftet werden. Ich bin der Meinung: Heiraten Sie und richten Sie sich bescheiden ein. Bescheiden und entbehrungsreich wird es sein – so haben die Ehen aller großen Gelehrten begonnen, die jetzt die Welt mit ihrem Ruhm erfüllen. Ich weiß, was das auch von der Frau verlangt. Trauen Sie sich die Kraft zu, dann machen Sie schleunigst dem jetzigen unerträglichen Zustand ein Ende. Anstellungsdekrete und Professorentitel machen nicht das Glück der Ehe. Die Chancen sind da – greifen Sie vertrauensvoll zu – oder trennen Sie Ihre Wege, wenn Ihnen dies Vertrauen fehlt, aber der jetzige Zustand führt zur Katastrophe. Das sollten sich die sehr genau überlegen, die Ihrer Ehe widerstreben. Das Mißtrauen gegen F.B. ist menschlich wie beruflich völlig abwegig.

Mit herzlichen Wünschen Ihr ganz ergebener CHB.

 

118. C.H.B an seine Ministerkollegen. Berlin-Steglitz, 10.8.1926

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident. (Kollege)

Anliegend erlaube ich mir Ihnen zu Ihrer persönlichen Kenntnisnahme eine Aufzeichnung zu überreichen, die ich über meine ungarische Reise gemacht habe. Sie ist nicht zur Veröffent-lichung bestimmt.

Mit verbindlichen Empfehlungen Ihr sehr ergebener C.H.B

Vorstehendes Schreiben erhalten:

  • Preußischer Min.Präs. Braun
  • Finanzminister Dr. Höpker-Aschoff
  • Min.für Handel u. Gewerbe Dr. Schreiber
  • Justizminister Dr.am Zehnhoff
  • Min.f.Landwirtschaft u.Forsten Steiger
  • Min. für Volkswohlfahrt Hirtsiefer
  • Min. des Innern Severing
  • Reichsmin. des Innern Dr.Külz
  • Reichmin.des Äußeren Dr.Stresemann
  • Gesandten und bevollm. Min. Freiherr von Schoen, Budapest, Gesandtschaft

(Leider liegt der Bericht nicht bei. BB)

Minister C. H. Becker mit seinem Gast Rabindranaht Tagore
Minister C. H. Becker mit seinem Gast Rabindranaht Tagore 1 Rabindranath Tagore, Bengali, *1871 Kalkutta +1951 Kalkutta

 

119. Rudolf Wischnewsky an C.H.B. Berlin, 29.1.1929

Sehr geehrter Herr Minister!

Die Weihnachtsferien, die mit dem Tanzfest im Ministerium so schön eingeleitet wurden, sind nun leider auch vorüber. Ich hatte die Unverfrorenheit jetzt vor dem Examen volle drei Wochen Ferien zu machen, die chemisch mir waren wie Medizin, fast sogar an jeden Gedanken an Medizin.

Ich hoffe, daß es Ihnen gelungen ist, wenigstens für wenige Tage die geplante Fiktion auf-recht zu erhalten, als läge Steglitz ganz weit weg von Berlin und dem Kultusministerium. Ich war in den Ferien zuerst ein paar Tage in Breslau, dann in Neiße bei meinen Schwestern und schließlich noch 10 wundervolle Tage in Oberschreiberhau bei meinem Bruder, der dort Kaplan ist.

Diese 10 Tage waren die eigentlichen Ferien, denn ich konnte beinahe alles tun, was ich in Berlin, also „im Dienst“ nicht tun kann und so gern tun möchte. Es war herrlich. Konnte ich nicht skiern, so konnte ich doch rodeln und als dann sogar der Schnee fast ganz wegtaute, war auch gleich richtiges Frühlingswetter. Ich kam auch wieder einmal dazu, in Ruhe zu lesen. Mein Bruder ist wie ich ein Büchernarr und da hatte ich reichlich Auswahl. Ich las 2 Bände wundervolle „Römische Briefe“ von Konrad von Schlözer. Ich bin überrascht und beschämt von der unglaublichen umfassenden Bildung dieses Mannes Und die billige Ausrede, das wäre doch alles nur formale Bildung will hier gar nicht verfangen. Alles ist mit so viel Anmut und Wärme geschildert, daß man als ganz sicher empfindet, daß all die Liebe und Begeiste-rung Schlözers für Roms Kultur ein Bestandteil seiner Persönlichkeit waren, nicht nur so ein formales „Bescheidwissen“. Glauben Sie nicht auch, daß diese Leute aussterben? Dann las ich Lettenbauers „Friedrich der Große“. Ich habe ihm aus ganzer Seele zugestimmt. Ich glaube auch, um zu sehen, daß Friedrich der Große ein großer Mensch war, braucht man nur seine Totenmaske anzusehen. Für mich ist das Buch „Das ewige Antlitz“ und besonders die Masken Friedrichs und Beethovens geradezu eine Apologie der Menschheit. Ich finde diese Gesichter sind Schranken für den modernen Relativismus. Wenn es auch nur zwei wirklich Große gab, dann reden die Literaten mit aller subtilen Analyse am Wesentlichen vorbei. Verzeihen Sie bitte diese Ihnen vielleicht etwas hitzig erscheinenden Sätze. Aber es ist eines der Themen, über das ich mich immer errege und – nicht mehr –es ist die Frage überhaupt, ob Friedrich der Große nur ein etwas weniger ausgesprochener Teufel (?) war als Herr Hugenberg, und Christus nur ein eben ein etwas begabterer Phantast als Lenin, oder ob nicht da doch Unterschiede qualitativer Natur bestehen.

Jetzt komme ich natürlich wieder kaum noch zum Lesen. Denn obwohl ich bis jetzt mit gänzlich unberechtigter Gelassenheit dem Examen entgegensehe, muß ich doch arbeiten. Man liest jetzt wieder einmal in der Zeitung viel vom Kultusministerium und so weiß ich, daß es auch Ihnen an Arbeit nicht fehlen wird, die wahrscheinlich zum Teil noch weniger erfreulich ist, als Arbeit für ein Examen.

Ich bitte Sie, mich Ihrem ganzen Hause zu empfehlen und bleibe Ihr, Ihnen, sehr verehrter Herr Minister, sehr ergebener Rudolf Wischnewsky

 

120. Handschriftlicher Entwurf eines Briefes an Herrn Rahmann von C.H.B

Besprechung des Buches von Höhn „Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front“. Marienbad, Hotel Weimar, 25.7.1929

Hochverehrter Herr Rahmann!

Als ich Ihnen am 11. Juli kurz vor meiner Abreise eine kurze Empfangsbestätigung des mir mit einigen handschriftlichen Zeilen übersandten Buches von Höhn „Der bürgerliche Rechtsstaat und die neue Front“ zugehen ließ, hatte ich gleich die Absicht, Ihnen nach der Lektüre des Buches ausführlicher zu schreiben. Wenn ich das heute aus der Stille meines Kuraufenthaltes heraus tue, so geschieht dies nicht nur, weil mich das Buch sehr lebendig interessiert und mich zum ersten Mal systematisch mit Ihrem politischen Wollen bekannt gemacht hat, sondern auch weil ich bei unserer ersten Begegnung aus Ihren Ausführungen und der Schnelligkeit Ihres Verstehens einer von Ihnen vorher vielleicht anders beurteilten Lage die Überzeugung genommen habe, daß die Sache wie (unleserlich? Führen) eine ernste Auseinandersetzung verdienen. Ich brauche wohl nicht besonders betonen, daß dieser Brief kein amtlicher, sondern ein persönlicher ist und sich auch nicht an den Großmeister des preußischen Ordens, sondern an den Schöpfer einer neuen politischen Idee wendet.

Vorausschicken möchte ich, daß ich keiner politischen Partei angehöre, mich persönlich zur Demokratie, aber nicht zur Demokratischen Partei bekenne; daß ich früher überzeugter Monarchist war, nach den Erfahrungen der letzten 15 Jahre aber ebenso überzeugter Republikaner geworden bin. Meine Arbeit war immer kulturpolitisch. Ich vertrete die Überpartei-lichkeit der Kulturpolitik, weil alle Teile unseres Volkes an der Erhaltung und Erhöhung unseres kulturellen Wissens gleichmäßig interessiert sind Die sachliche Einstellung muß natürlich, um wirken zu können, mit den politischen Machtverhältnissen (Einvernehmen her-stellen). Die Schule ist nun einmal ein Politicum. Die Auffassung von meinem Amt ist die des Treuhänders. Die polit(ischen) Einflüsse können nicht ausgeschaltet werden, deshalb müssen sie paritätisch ausgeglichen werden. Die Verfassungsmäßigkeit der Republik steht außer Frage, ihr muß auch die Schule dienen. Die Schule darf aber nicht das Instrument des polit(ischen) Machthungers einzelner Parteien werden. Im Unterrichtsministerium müssen alle nicht 2staatsfeindlichen Kräfte zu Gehör und Auswirkung kommen. Das wird von den Linksparteien gelegentlich mißverstanden. Die Stimmenthaltung einiger Sozialdemokraten bei dem jüngsten Mißtrauensvotum gegen mich wird durch den Vorwärts damit begründet, daß ich einen Reaktionär auf einen leitenden Posten gesetzt hätte. Richtig ist, daß ich neben Vertretern der SPD, des Z(entrums) und der liberalen Kreise auch einen bewußten Vertreter der evang(elischen) Konfessionsschule, der zufällig d(eutsch)nat(ional) ist, in den Kreis meiner schulischen Berater aufgenommen habe. Es war der klare Ausdruck meines politi-schen Wollens. Diese Treuhänderrolle ist aber nur so lange möglich, als die Eigensucht der Parteien keinem ausgesprochenen Parteivertreter das wichtige Kultusministerium gönnt; kommt auf irgend einer Basis ein alle Reg(ierungs)parteien befriedigender Ausgleich zustande, ist die Politik des Treuhändertums und der Sachlichkeit zu Ende und auch das Bildungsministerium wird zum Objekt der parteipolitischen Machtverteilung. Ich habe das gleich eingangs ausgeführt, weil es meine Stellungnahme zu Ihren Vorschlägen verständlich machen wird.

Weiter möchte ich vorausschicken, daß ich viele Voraussetzungen des Höhn’schen Buches bejahe:

    1. die Unmöglichkeit unserer parlamentarischen Zustände, begründet durch die Übertragung für das individualistische liberale Zeitalter geschaffenen Formen auf den modernen Massenstaat,
    2. die Idee des Staates als lebendig sich erneuernden Organismus mit weitgehender Anerkennung der Smend’schen Integrationslehre, zu der ich mich auch schon in einem Aufsatz bekannt habe. Die Gleichheit unserer Auffassung geht hier so weit, daß ich die Formel „Der Staat sind wir“ mit all seinen Konsequenzen in zahlreichen Reden variiert habe, immer vom Dienst, nicht vom Nutzen aus gesehen.
    3. Auch ich anerkenne die Gemeinschaft als das Höhere, wenn ich auch das Schöpferische nur dem Individuum zusprechen kann, bis zum Volkslied hinab.
    4. Den Gedanken des Zellenaufbaus des Staates halte ich auch für richtig, auch ich glaube, daß nicht die Zweckmäßigkeit respektive die rationale Vernunft, sondern der irrationale Mythos aufbauende Kraft besitzen.3

Aber hier setzt, im Kern Ihrer Lehre, auch meine Kritik ein. Ihre Lehre kontrastiert wunder-voll Interesse und Mythos. Dem Mythos der „Nachbarschaft“ steht das Interesse der Parteibildung gegenüber. Ich bin mein ganzes vorministerielles Leben Religionsforscher gewesen und verstehe etwas vom Mythos und ethnischem Kollektivismus. Für mich liegt die Schwie-rigkeit darin, daß in der primitiven Zeit Mythos und Interesse noch nicht geschieden waren, daß vielmehr auch das materielle Interesse nur in der Form des Mythos Gestalt gewinnen konnte. Auch die altgermanische „Nachbarschaft“ von Sippe oder Sen (?) oder Genossenschaft waren eben nichts anderes als Interessenverbände, die noch als myth(ische) Gemeinschaft empfunden werden konnten, weil die Interessen noch nicht wirtschaftlich oder weltanschaulich differenziert, sondern identisch waren. In jedem solchen Mythos steht aber zugleich ein Interesse. Nun bin ich ganz Ihrer Meinung, daß die differenzierten Interessen nur durch einen mythischen oder wie sonst immer zu benennenden, aber jedenfalls irrational begründete Gemeinschaftlichkeit überwunden werden können, ja müssen, aber so einfach ist die Sache denn doch nicht., daß man nur den neuen Mythos der Nation zu proklamieren brauchte, um alle Parteien und Klassen ihre Interessen vergessen zu lassen.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Ihre Zellentheorie mit der sich daraus ergebenden Fritzermanslex (?), dem seit langem praktizierten Ausleseprinzip der SPD zum Verwechseln ähnlich ist. Es ist das Prinzip der sog. „Zahlabende“. Zahlabende sind nichts anderes als ihre „Nachbarschaften“. Da kennt man sich, da spricht man sich über alle Tagesfragen aus. Nur wer sich hier bewährt, hat Aussicht emporzusteigen und ein Mandat zu erlangen. Das ist der Grund, warum Akademiker es so schwer haben in der SPD aufzusteigen, weil nur auf den Zahlabenden, die für Gebildete manchmal mordslangweilig sein sollen, das nötige Vertrauen erworben werden kann.4 Einer meiner jüngeren Freunde ist diesen Weg gegangen und wird dann auch nach etwa 2jähriger Tätigkeit als Vertrauensmann seiner „Nachbarschaft“ bestimmt, die Parteileitung des Ortes bei der Aufstellung der Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zu beraten. Sie sehen genau Ihr System, nur mit dem Unterschied, daß eben die „Nachbarschaft“ wohl einen beschränkten örtlichen Bezirk, aber unter der Voraussetzung der Zugehörigkeit zur SPD, d.h. also einer Interessengemeinschaft darstellt.

Halten Sie die beiden letzten Gedankengänge zusammen, so ergibt sich die angenehme Schwierigkeit, örtliche Zellen zu schaffen und zwar tragfähige Zellen, denn auf ihnen ruht ja das ganze Gebäude Ihres Staates, während beider ersten Ansprache innerhalb einer Zelle, die ja wohl durch Staatsgesetz als für alle Interessenten und Parteien verpflichtend mit lokalen Grenzen stabilisiert sein müßte, das ganze Wesenshafte(?) unserer differenzierten Kultur zum Ausbruch kommen würde. Lassen Sie aber die Zellen wie bisher in Ihren Reden unter lokalen Führungspersönlichkeiten entstehen, wie alle „Bünde (?), so haben Sie darin doch immer nur einen Teil des Volkes organisiert, d.h. Sie schaffen eine neue Partei. Es wird also alles von der suggestiven Kraft Ihrer Lehre abhängen – denn Gewalt wollen Sie ja offenbar nicht anwenden -, aber gerade wenn es ein freier Kampf der Geister wird, unterschätzen Sie nicht die angenehme Macht der letzthin in den Parteien organisierten großen Interessenverbände. Gerade meine persönlichen Erlebnisse – damit komme ich aufmeine Eingangsvoraussetzungen zurück – haben mich belehrt, daß die Macht der Parteien5 nicht absondern zunimmt und daß gerade das allgemeine Geschimpfe über sie nur ein Beweis dafür ist, wie allmächtig sie geworden sind. Ich bin bestimmt der letzte parteilose Kultusminister und nur möglich, weil ich in der Übergangszeit gerade da war und die Beuteverteilung vorübergehend nicht glatt ging. Wäre ich Marxist, so könnte ich das Parteiregiment mit der kapitalistischen Wirtschaft vergleichen: es muß erst seinen Höhepunkt erreichen, ehe es durch die neue Ordnung der Dinge ersetzt werden kann. Aber gibt es nicht zu denken, daß Marx6 ein falscher Prophet ist?

Bitte nehme diese Zeilen als Ausdruck meines großen persönlichen Interesses an Ihrem politischen Wollen und zugleich als Dank für das wertvolle Höhn’sche Buch. Ich würde mich sehr freuen wenn ich nach meiner Rückkehr einmal Gelegenheit hätte, Ihre Ideen mündlich mit Ihnen zu erörtern. Ich ringe auf dem Gebiet der Schule mit ähnlichen Ideen, aber gerade deshalb sehe ich auch so scharf. Und fest (auf) die schicksalhaften Grenzen, die der größten Gläubigkeit gezeigt sind.

 

121. Ulrich Nyack an C.H.B. o.O. 30.1.1930

Mein lieber Carl!

Wenn es Grimme7 würde, so wäre das wenigstens ein gewisser Trost. Ich sah ihn vor zwei Jahren, als er auf Deinem Presse-Tee das beste Referat über die Verfassungsfeiern in den Schulen hielt, und er machte ja wirklich einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck. Dir wird es den Abbruch Deiner Arbeit erleichtern, wenn Du sie den Händen eines solchen Mannes, eines solchen Menschen anvertrauen kannst.- Aber vielleicht ist auch dies wieder nur falscher Alarm. Wenn ich doch jetzt bei Dir wäre und Du nur die Kungler fünf Minuten vor Beginn der Tagesarbeit erzählen könntest, wie in den beiden unvergeßlichen Wochen, die ich im Ministerium verbrachte. So ahne ich ja nicht, welche besonderen Momente mitspielen, und vielleicht den Ausschlag geben. Gern wüßte ich, ob die Kandidatur Grimme nicht vielleicht sogar Deine Idee ist, als menschlich-politisch beste Lösung für den Fall, daß Dein Rücktritt doch unvermeidlich würde. Ich trauere ja doch um „unseren“ Kultusminister und mit mir wird es der ganze Kreis tun und gewiß nicht minder!

Aber ob es Dir nicht sogar zu wünschen wäre, wenn Du etwas zur Ruhe und Freiheit kommst, das ist eine andere Frage. Was wohl für Pläne über Deine künftige Position bestehen? Ob von etwas Anderem die rede ist, als von wissenschaftlicher Heimkehr? Eigentlich wäre es ja unsinnig, Deine Erfahrung brach liegen zu lassen. Aber das brauchtest Du ja in keinem Falle zu tun. Ein politisches Buch von Dir – vielleicht doch eine Autobiographie im Rahmen zehnjähriger preußischer Kulturpolitik – wäre wahrhaft zu wünschendes Ereignis.

Erst 14 Tage sind es her, seit Du hier warst, und längst wollte ich Dir noch einmal von Herzen für Deinen Besuch danken, der einzigartig schön und erquickend für den von der Berliner Zentralsonne abgeschleuderten „Privatgelehrten“ war. Wie lange ich diese Rolle noch spielen darf, die ein wahrer Segen für mich in diesen Jahren wäre, wird sich bald entscheiden. Moltke schrieb mir vorgestern, daß Stowser (?) jetzt ein Kabel mit Antwort an Deinen amerikanischen Becker senden wird, um zu wissen, was er finanziell erreicht hat. Wird es nichts, so muß ich aber am 1. Mai die Assistentenstelle antreten, und ich hoffe nur das eine, daß Richter dann auch das Privatdozentenstipendium, wie stets bisher, erneuern wird, denn von den 300 Mark des Assistenten könnten wir gar nicht hier existieren. Aber man soll nicht Sorgen vorwegnehmen, die vielleicht gar nicht eintreten; unwillkürlich zerbricht man sich aber als Familienvater den Kopf darüber, was kommen könnte und was dann gemacht werden müßte.

Vorläufig plane ich noch, zum Historikertag nach Halle zu gehen, da ich ja dort voraussichtlich bei Pallots wohnen kann. Überhaupt komme ich von Mitte März bis Mitte April nach Berlin bzw. vom 20. März an. Dann bist Du doch jedenfalls noch da? Sonst versuche ich, wenn es geht, früher zu reisen! (Ich will bei Farkas(?) meine Vorlesung vorbereiten!)

Kürzlich hatten wir einen sehr interessanten Abend bei Heinrich Simon, der uns auf Empfehlung von Schairer zu einem Abendessen im kleinen Kreise einlud, darunter der recht langweilig aufgedrahtete Kasimir Edschmid. Simon selbst aber war reizend und begeistert, in mir einen Neffen Otto Erich Hartlebens zu treffen; er erzählte mir und zeigte mir sehr Interessantes von Hartleben, z.B. einen Brief von ihm an seine Gardasee-Frau über Steiner, der so betrunken nach Hause gekommen sei, daß er einen Brief an Hartleben von dieser Frau, den er weiterbefördern sollte, nicht einmal liegen gesehen habe, daher die verspätete Antwort! Usw. Simon hatte den Brief schalkhafterweise veröffentlichen wollen, als Steiner noch lebte – aber in dem Augenblick starb er, und da fand er es zu häßlich.

Im übrigen steht alles gut bei uns. Wenn ich nur bald auch von Dir hörte. Ich denke mir, Du wirst jetzt vor allem Gewißheit wünschen. Sobald auch ich sie habe, werde ich Dir wieder schreiben. Ich bin so sehr mit allen Gedanken bei Dir. Bitte grüße auch die Deinen allerbestens von uns.

„Mit Willen und für immer Dein Schuldner“. Ulrich

 

122. C.H.B. an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Berlin, 7.7.1930

(Herrn Minister Grimme?) (Maschinenkopie)

Am 18.August d.J. beabsichtige ich, eine längere Studienreise nach den Vereinigten Staaten anzutreten, wohin mich mehrere Universitäten zu Vorträgen eingeladen haben. Da es mir nicht möglich sein wird, zu Beginn des Wintersemesters zurück zu sein, bitte ich hierdurch, mir einen Urlaub für den Monat November zu bewilligen. Ich rechne damit, Anfang Dezember meine Vorlesungen aufzunehmen.

Ich beabsichtige, die Reise im allgemeinen persönlich zu finanzieren, wäre aber trotzdem dankbar, wenn mir aus dem Fonds des Ministeriums eine Reise-Unterstützung bewilligt werden könnte, da ich – namentlich zur Vorbereitung der Reise und Bestreitung der Reisekosten – ziemlich erhebliche Mittel flüssig machen muß und auch die mir zufließenden Vergütungen im einzelnen noch nicht feststehen.


1 Rabindranath Tagore, Bengali, *1871 Kalkutta +1951 Kalkutta

2 Hervorhebung vom Herausgeber.

3 Strukturierung vom Hersausgeber.

4 Das hat sich bis heute nicht geändert…

5 Hervorhebung vom Herausgeber.

6 Hier handelt es sich natürlich um Karl Marx.

7 Hans Grimme *1889+1963, SPD-Politiker und als Pädagoge ein entschiedener Schulreformer. Nachfolger Beckers 1930-33