Anonymus, Türkei, 1915

Bericht aus Konstantinopel über türkische Probleme

56. Bericht an C.H.Becker. Konstantinopel, 1.8.1915 von einem Anonymus

(Bitte sofort zurück. Streng vertraulich) (Schreibmaschinentext)

Gerade in der letzten Zeit habe ich Gelegenheit gehabt, mancherlei zu hören, was nicht in der Zeitung steht und doch verdient, festgenagelt zu werden, wenn es sich hoffentlich auch nur um Halbfertiges handelt.

Vorweg möchte ich eine Frage behandeln, die sich, wie mir scheint, bereits demnächst einem katastrophalen Ende nähert: die Armenierfrage.

Schon wiederholt deutete ich Dir an, daß die Russen nicht nur im Osten große Armenieraufstände, die den türkischen Truppen redlich zu schaffen machten und wohl auch zu dem bekannten Mißerfolg im Kaukasus geführt haben, organisiert haben, sondern daß auch hier in der Hauptstadt eine große Verschwörung mit Filialen über das ganze Reich hin entdeckt worden ist, an der Armenier stark beteiligt waren.

C. H. Becker mit türkischer Delegation während des Ersten Weltkrieges (1916/17?)
C. H. Becker mit türkischer Delegation während des Ersten Weltkrieges (1916/17?)

Diese Vorkommnisse gaben der Zentralregierung, d.h. in diesem Falle Talaat und Enver, Anlaß, die türkisch-armenische Frage mit einem Schlage und möglichst radikal zu lösen. Dementsprechend mögen denn auch die Anweisungen an die untergeordneten Provinzialbehörden gelautet haben, die diesen jedenfalls eine sehr große Handlungsfreiheit gewährten. Hier in der Hauptstadt wurden durch ordentliche Gerichtsverfahren oder auch ohne ein solches ein paar Dutzend Leute, zumeist Armenier, aufgehängt, ebenso soll es in den Provinzstädten gewesen sein. Man kann ruhig annehmen, daß diese Leute es redlich verdient haben. In den Provinzstädten an unserer Bahn, also in einer Gegend, wo die Vorkommnisse noch europäischer Kontrolle einigermaßen unterliegen, wurden eine ungeheure Menge von Verhaf-tungen vorgenommen und die Verhafteten südostwärts gebracht, zum Teil wohl, um in den Städten an der persischen Grenze neu angesiedelt zu werden und so, dem heimatlichen Boden und den Banden der Verwandtschaft entrissen, politisch ungefährlich gemacht zu werden.

Das traf natürlich auch manchen Unschuldigen. Ich kann das nachprüfen an einzelnen Fällen innerhalb unseres Bahnpersonals, die verhaftet und verschleppt wurden z. B. weil ihr Name in einer Adressenliste, die bei einem Verschwörer gefunden worden war, genannt war. Nicht immer gelang es uns, die Enthaftung dieser Beamten zu erreichen.

Ganz anders freilich wurde in den östlichen Provinzen vorgegangen, wo die blutigen Aufstände freilich auch ganz andere Mittel rechtfertigten. Man benutzte das kurdische Militär, das bei solchen Gelegenheiten trotz der Stammesfremdheit treu zu den Türken hält, und ließ die Aufstände ebenso blutig niederschlagen. Daß dabei der Stamm als solcher für das Vergehen eines einzelnen Mitgliedes zu büßen hatte, darf in dieser Gegend nicht Wunder nehmen. Und doch ist es für uns Europäer schrecklich, aus glaubwürdiger und nüchterner Quelle zu hören, daß es in den Provinzen Van und Bitlis, wo vor dem Kriege das armenische Bevölkerungselement das Vorwiegende war, kaum noch Armenier gibt.

Osmanisches Reich im Ersten Weltkrieg, aus: dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band 2, S. 404
Osmanisches Reich im Ersten Weltkrieg, aus: dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band 2, S. 404

Das war freilich auch die Absicht der Machthaber hier. Rußland sollte endlich einmal der Anlaß genommen werden, sich dauernd und immer wieder in die inneren Verhältnisse der Türkei einzumischen und dabei sich auf die Armenierfrage zu stützen.

Am bedenklichsten und schrecklichsten sind die Vorgänge, die ich jüngst von den verschiedensten Seiten vom oberen Euphrat geschildert hörte. Einer der deutschen Etappen-Offiziere in Diyarbakir hat von der Brücke über den Euphrat ein Bild stromaufwärts aufgenommen, auf dem der Strom, so weit auf der Photographie sichtbar ist, mit Leichen bedeckt ist, die sich vor der Brücke stauen. Tausende Armenier, Männer, Frauen und Kinder, werden in Armenien, in Karput und anderswo mit gefesselten Händen in den Strom geworfen und ertrinken natürlich. Dieses Los mag auch einen großen Teil derjenigen treffen, die von hier zu den östlichen Siedlungen geführt werden. Die Zusammensetzung eines solchen armenischen Auswanderungszuges einige Tage von unserer Bahn wird mir wie folgt geschildert: Der Zug besteht aus kräftigen Männern, älteren Kindern und schwangeren Frauen. Alte Leute und kleine Kinder sieht man überhaupt nicht, es sei denn Säuglinge. Beim weiblichen Geschlecht fehlt das Alter von 12 bis 40 im übrigen völlig.

Und einige deutsche Schwestern vom Roten Halbmond schilderten mir, wie bei ihrem Hause nicht weit vom Euphrat – ich will den Ort nicht nennen, um ihnen keine Ungelegenheiten zu machen – oftmals täglich solche Züge gefesselt vorbeigeführt wurden und die Mütter (sie) anflehten, ihre kleinen Kinder zu retten. Oft hätten sie die Kleinen genommen und dann bei der zuständigen Landesbehörde die Erlaubnis erbeten, sie zu behalten. Der Mutessarif habe auf das höflichste erwidert, er freue sich daß sie die Kinder aufziehen wollten, aber sonst bestünden nicht die geringsten Bedenken. Nach einigen Tagen kamen dann Soldaten, nahmen ihnen die Kinder und warfen auch sie in den Fluß.

Es gibt dort auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz einen Abenteurer, einen venezolanischen Indianer, General natürlich, der unter Castro und unter Villa in Mexiko gekämpft hat und jetzt bei den Türken einen höheren Posten bekleidet. Dieser hat einem deutschen Etappenoffizier erklärt, er sei gewiß nicht zimperlich, sonst würden die Türken ihn auch kaum an die Spitze eines kurdischen Regimentes gestellt haben; aber was man jetzt von den Armeniern verlange, das ginge ihm über die Hutschnur, und er reise jetzt wieder weg.

Das alles könnte uns ja kalt lassen; denn was bei uns alle Tage an Elend sich ereignet, ist sicherlich auch nicht geringer. Aber was mich schmerzt ist, daß vor der Geschichte wir einmal als die Schuldigen dastehen werden. Was verschlägt es dagegen, wenn die Botschaft Material sammelt um nachzuweisen, daß die Armenier auch furchtbar grausam vorgegangen sind, daß bei diesen Vorkommnissen weit und breit kein deutscher Offizier zugegen gewesen sein könne, der sicherlich Derartiges verhindert haben würde, daß sie, die deutsche Botschaft, den Türken immer und immer wieder nahegelegt habe, sich zu mäßigen, daß sie aber machtlos sei. Wer wird uns glauben, daß wir hier machtlos waren, wie es wirklich der Fall war; denn wir brauchten die Türkei auf das allerdringlichste und mußten sie dauernd bei guter Laune halten. Wir konnten zu gewissen Zeiten gar nicht wagen, auch nur den geringsten Druck auf sie auszuüben. Wenn ich wir sage, so heißt das natürlich in allererster Linie Österreich.

Unlängst sagte mir noch zu diesem Kapitel einer der wenigen deutschen Dolmetscher, der sich hier bei der türkischen Armee befindet, Dr. Ritter, er habe bei einem Gespräch mit hochgebildeten türkischen Offizieren mit Staunen bemerkt, wie wenig diesen der Grundsatz geläufig sei, daß man gegen unschuldige Kinder und Frauen keine derartigen administrativen Maßregeln ergreife, geschweige denn Krieg führe. Im Unterbewußtsein dieser Leute sind die Frau und die Kinder eben doch noch Sachen, über die der Sieger ebenso verfügen kann, wie über andere Gegenstände, deren er zur Erzielung eines militärischen Erfolges bedarf

Doppelt schmerzlich aber ist es, daß es bei allem diesem zu Hause immer noch Leute gibt, die von den türkischen „Waffenbrüdern“ gar von den Preußen des Ostens reden, nicht etwa als Phrase der Kriegsbegeisterung und der gegenwärtigen Lage Rechnung tragend, sondern allen Ernstes und lange vor dem Kriege.

Sie sind denn auch neulich einmal tüchtig reingefallen, diese Schwätzer, die mit den Türken auf Du und Du stehen wollen, die es als ihre Hauptaufgabe betrachten, wie sie jedem erzäh-len, der es hören will, sich das Vertrauen der Türkei zu erwerben und die deswegen unter anderem auf die all die kleinlichen Intrigen, die in Byzanz und Umgebung gesponnen werden, eingehen, zum Schaden des deutschen Ansehens. Nein, die Achtung der Türken müssen wir uns erwerben, dann kommt das Vertrauen schon ganz von selbst.

Also neulich trafen hier einige Hundertfünfzig deutsche Pioniere ein, natürlich das Beste, was man hatte. Die Schützengräben sitzen jetzt nämlich dicht aufeinander, und der Minenkrieg ist den Türken noch völlig fremd. Man schickte die umgehend an die Dardanellen, ohne indes besondere Vorbereitungen zu treffen, sie würden mit den türkischen Waffenbrüdern schon vorzüglich auskommen, bei der Flotte wäre es auch glänzend gegangen.- Die Herren vergaßen nur eins, daß man nämlich bei der Flotte, die darin viel verständiger ist, die Türken mit den deutschen Waffenbrüdern zusammenlegen ließ und nicht umgekehrt. Und der Erfolg war denn auch nicht anders, als ihn jeder Einsichtige, der hier einigermaßen mit Land und Leuten vertraut ist, hätte voraussagen können: nach knapp 14 Tagen waren von diesen 150 sturmerprobten Leuten nur noch etwa 20 an der Front, alle anderen lagen hier fest mit Dysenterie und ähnlichen Krankheiten und einem von der Hitze, von ungenügender Ernährung und Ungeziefer auf das Äußerste geschwächten Körper. Na, inzwischen ist dem nun abgeholfen, und die neu Ankommenden finden es besser.

Die taktische Frage an den Dardanellen ist im übrigen nach den Schilderungen aller militärischen Sachverständigen eine außerordentlich günstige, und in der Hinsicht ist wohl nur bei ganz groben Fehlern etwas zu befürchten. Der Schuh drückt ganz woanders, und zwar da in wachsender empfindlicher Weise. Aber auch hier gilt wie überall das Wort: Zeit gewonnen, alles gewonnen! Rohstoffe sind, scheint’s noch ausreichend im Lande. Die Schwierigkeit liegt in der Verarbeitung. Und da gibt man sich die allergrößte Mühe, diese Möglichkeiten ständig zu erweitern. Hoffentlich langt’s. Es kommt hinzu, daß die Verbündeten lange keinen Angriff gemacht haben und daher die Bestände sich natürlich vergrößert haben. Es fehlen leider immer noch die großen Kaliber, die trotz aller diplomatischen Verhandlungen nicht über die Donau zu bekommen sind. Man hat auch da Abhilfe geschaffen, und man wundert sich immer von neuem über die Organisationsmöglichkeiten, die der deutsche Geist zu erfinden versteht. Immerhin sind die Kosten dieses neuen Weges ungeheure und die Sache selbst sehr riskant. Näheres möchte ich nicht mitteilen zur Zeit, da die Sache noch ganz im Anfange ist. Was uns aber hier vor allem fehlt, sind große Geschütze; denn die sogenannte schwere Artillerie an den Dardanellen ist nach heutiger Auffassung kaum Mittelartillerie. Alles liegt zwar vorbereitet an der ungarisch-rumänischen Grenze; aber da bleibt es eben liegen.

Die Balkanstaaten gehen von dem Standpunkt aus, daß trotz aller deutschen Siege der Krieg noch immer nicht entschieden ist. Ich halte nach den Informationen über die Auffassungen des Hauptquartiers, die man hier so erhält, vielleicht leichter als in Deutschland, diese Ansicht der Balkanstaaten nicht für ganz abwegig. Solange es uns nicht gelingt, England irgendwo zu packen, kann uns ein Frieden immer noch um ein gut Teil aller Erfolge, die wir in glänzenden Siegen auf dem Festlande errungen haben, bringen. Mit den geringen Munitionsbeständen, die die Balkanstaaten nun einmal haben, und der Unfähigkeit, neue in größerem Umfange selber zu produzieren, sind sie in der Lage, den Krieg höchstens drei Monate zu führen, können also erst dann für die eine oder andere Partei eingreifen, wenn feststeht, daß die Kämpfe in absehbarer Zeit beendet sein werden. Gesetzt z.B. Rumänien griffe für den Zweibund ein, besetzte in einigen siegreichen Schlachten Bessarabien, so müßte es doch nach drei Monaten, wenn es nicht gelingt, ihm ausreichend Munition zuzuführen, wieder heraus, ja, wäre bei der abgeschlossenen Lage kaum imstande, sich gegen ein neu mit amerikanischer Munition versorgtes Rußland zu halten. Ich meine, man muß sich auch einmal dies vergegenwärtigen, einmal, um die Lage und Stellungnahme der Balkanstaaten zu verstehen, dann aber auch, um einzusehen, daß mit diplomatischem Drücken und hochoffiziellen Drohartikeln in den Zeitungen nichts zu machen ist. Diese Mittel sind alle sehr gut, wenn es sich darum handelt, die Regierungen zum Einschreiten, entgegen der Stimmung des gesamten Volkes, auf Seiten des Zweibundes zu bewegen. Denn darüber müssen wir uns klar sein, daß sowohl in Rumänien, wie in Bulgarien die Sympathien der Bevölkerung ganz auf Seiten unserer Feinde stehen, in Rumänien wegen der Beziehungen sprachlicher Art zu den romanischen Staaten, in Bulgarien außerdem noch aus geschichtlichen Erwägungen und Beziehungen. Die Bulgaren sind eben den Russen höchst verwandte Slawen, und es nützt nichts, ihnen zu erzählen, daß man nachweisen kann, daß sie ursprünglich ein türkisches Volk sind.

Anders wird natürlich die Lage, wenn man sich in Deutschland dazu entschließen könnte, die österreichische Niederlage von Arandjelowatsch wieder gutzumachen, vorausgesetzt, daß wir militärisch dazu imstande sind. Dann würden wir Bulgarien mit einem Schlage wieder ganz auf unserer Seite haben, aus Rachsucht, ja, würden es in einem gewissen Augenblicke zum Einschreiten bewegen können, und Rumänien, das dann befürchten müßte, ganz links liegen zu bleiben, würde dann von selber kommen und aus der Hand fressen. Das in Deutschland hin und wieder erträumte Bündnis mit Serbien halte ich für ganz verfehlt. Es kann uns nur – die Geschehnisse der letzten Zeit haben es gezeigt – mit Bulgarien endgültig verfeinden und so die ganze Dardanellenaktion, augenblicklich der Angelpunkt der gesamten auswärtigen Politik Deutschlands, in Frage stellen.

Nach diesen kurzen Abschweifungen in die Balkanpolitik aber wiederum zur Sache, nämlich zu einigen militärischen Einzelheiten, die hier so nach und nach ruchbar werden.

In einem meiner früheren Schreiben deutete ich bereits an, daß, so Unerfreuliches die sogenannte Afghanistanexpedition gezeitigt hat, so erfreulich andererseits die Ergebnisse von ähnlichen Unternehmungen, insbesondere in Persien, sind. In der Tat kann man wohl heute sagen, daß Persien jederzeit bereit ist loszuschlagen, sobald nur der regelmäßige Nachschub von Munition sichergestellt ist. Ein in sich bereits völlig abgeschlossenes Unternehmen, das unter deutscher Leitung erfolgt ist, ist die Zerstörung der Ölquellen von Ahwas, von der auch in den Zeitungen berichtet worden ist. Der deutsche Hauptmann Klein ist an der Spitze von türkischem regulärem Militär in Eilmärschen in Südpersien eingefallen, hat dort die nichtsahnenden Engländer überfallen, ihnen große Verluste beigebracht und die Ölquellen der englischen Gesellschaft, die das indische Militär decken sollten, teils zerstört, teils angezündet, vor allem aber alle Baulichkeiten gründlich mit Dynamit beseitigt, so daß vorläufig die Produktion hat eingestellt werden müssen. Dann haben sich die Türken wieder zurückgezogen.

Noch ein zweites Unternehmen ist erwähnenswert: die zweite Afghanistanexpedition. Von der ersten habe ich bereits berichtet. Aus den brauchbaren Trümmern dieser unter Einschaltung einer vorzüglich ausgerüsteten Maschinengewehrabteilung und unter Führung eines deutschen Bab(t)isten, des Hauptmanns der Reserve Niedermayer, ist eine neue Expedition ausgerüstet worden, die ihre Aufgabe sehr viel ernster nahm und jetzt jedenfalls bereits in der Nähe von Kabul angekommen sein dürfte. Kann eine solche Unternehmung auch nichts Entscheidendes leisten, so darf man bei der Zusammensetzung der Abteilung, alles Leute, die sich bereits im Westen ausgezeichnet haben und z.T. Land und Leute wirklich kennen, doch erwarten, daß den Engländern aus ihrem Wirken mancherlei Schwierigkeiten erwachsen werden, deren sie nicht so leicht Herr werden, wie damals in Singapur-

Endlich erwähne ich noch eine Mission, deren Aufgabe es war, auf dem Kaspischen See mit bewaffneten Booten den Russen Schwierigkeiten zu bereiten., insbesondere, wenn möglich in Baku einige Überraschungen zu hinterlassen. Hiervon haben die Russen durch ihren vorzüglich geleiteten Spionagedienst offenbar Wind bekommen und haben darauf Enseli, den ein-zigen in Frage kommenden persischen Hafen, stark mit Truppen belegt. Geschütze und Munition dieser Abteilung tun augenblicklich vorzügliche Dienste auf dem Tigris und hat den Engländern schon manche trübe Stunde bereitet.

Die ägyptische Grenze ist augenblicklich beiderseits von Truppen entblößt. Die Türken sitzen in befestigten Lagern nicht weit vom Kanal in der Wüste und machen dort hin und wieder eintägige Ausflüge, die indes nur der Beunruhigung der Feinde dienen sollen und vielleicht einmal einen Zufallserfolg liefern. Die deutschen Offiziere sind fast alle vom Kanal zurückgezogen, auch in Syrien finden sich nur noch wenige, und auch diese dürften in den nächsten Tagen abberufen werden. Von Berlin ist angeregt worden, für dieses Herbstunternehmen auch deutsche Truppen heranzuziehen. Ich glaube, daß die Erfolge an den Dardanellen nicht gerade dazu beigetragen haben, diesen Plänen neue Nahrung zu geben. Der Europäer ist dort unten nur leistungsfähig, wenn in sehr weit gehendem Maße für sein leibliches Wohl gesorgt wird. Das würde aber zur Voraussetzung haben, daß schon jetzt inden Etappen in Syrien und im Sinai große Vorräte an Konserven usw. aufgehäuft würden, was wiederum mit Rücksicht auf die mangelnde Bahnverbindung insbesondere durch den Balkan unmöglich ist. Man darf doch nicht vergessen, daß auch unsere Offiziere sich auf dem etwa einen Monat dauernden Zuge durch die Wüste und zurück sich trotz merkbarer Läuseplage kaum je waschen konnten, da das wenige mitgeführte Wasser knapp zum Trinken von Mensch und Vieh reichte. Andererseits sind für das Unternehmen, wie einstimmig von allen Augenzeugen versichert wird, die türkische, besonders die anatolischenTruppen völlig ausreichend, die sich unter guter Führung und mit ordentlicher Verpflegung vorzüglich schlagen, im Gegensatz zu den Arabern.

So sind die Bahnen1 für das neue Unternehmen m.E. genau vorgezeichnet; der ganze Etappendienst, insbesondere die Eisenbahnen, die außer unseren Bahnen, noch kaum europä-ische Beamte haben, müssen von deutschen Offizieren geleitet werden, die vielleicht noch einige der höchsten Kommandostellen einzunehmen hätten, wie es im vorigen Winter war.

Unsere Bahn wird bis dahin soweit fertig, daß nur der Taurusübergang noch mit Automobilen überwunden werden muß. Die ganze übrige Strecke kann (mit) Munition und Geschütz gefahren werden, und zwar bis zum Herbst voraussichtlich ohne umzuladen bis weit in die Wüste hinein.

Schließlich möchte ich noch einmal zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren, den Armeniervorgängen. Gerade die letzten Tage haben da mancherlei neues Material zu Tage gefördert, insbesondere zur innerpolitischen Beurteilung der Frage. Auch von deutscher Seite bringt man jetzt aus dem gleichen Grunde größeres Interesse entgegen. Es ist natürlich mit Sicherheit zu erwarten, daß die Steuerkraft der Türkei, die ohnehin durch den Krieg schwerer leidet denn je, erheblich auf die schiefe Ebene gerät. Das hat einen doppelten Sinn. Ein nicht unerheblicher Teil der Steuern, nämlich insbesondere der sogenannten armenischen (?unleserlich) Provinzen, wurde von Armeniern aufgebracht: ja, auch in Provinzen, die nicht überwiegend armenische Bevölkerung hatten, trugen diese doch den Löwenanteil der Steuern, da sie die betrieblicheren, die reicheren waren. Diese ganze Steuerleistung wird natürlich auf Jahre hinaus vernichtet, und es wird, da die Steuern zum größeren Teile in irgendeiner Form an europäisches Kapital verpfändet sind, auf ebenso lange Zeit auch die Kreditwürdigkeit der Türkei herabgesetzt. Es ist weiter zu berücksichtigen, daß in diesem Kriege zum ersten Male die Requisitionen nach deutschem Muster durchgeführt sind, also in rigorosester Weise, ohne daß deswegen etwa auch nach deutschem Muster den Betroffenen eine, auch nur die kleinste Entschädigung in Geld gewährt worden wäre. Endlich ist zu berücksichtigen, daß der größte Teil der Steuerbeamten, insbesondere die der Dette Publique2, also gerade diejenigen Steuern, an denen das deutsche Kapital in hervorragender Weise interessiert ist, Armenier sind, deren Sterblichkeit in den letzten Wochen in so erschreckendem Maße zugenommen hat, daß ein ordnungsgemäßer Eingang der Steuern nicht nur in Frage gestellt, sondern bereits unmöglich geworden ist.

Das sind nun nicht etwa nur theoretische Erwägungen, sondern ich bin leider in der Lage, sie bereits jetzt mit praktischen Beispielen zu belegen. Unlängst war ein Herr hier, der, mit reich-lichen Kapitalien und Sachkenntnissen ausgestattet, in der Türkei eine Spinnerei gründen wollte, weil er nach dem, was geschehen ist, seine gleichen Unternehmungen in Italien aufzugeben sich gezwungen sieht. Es war, als er uns um Rat fragte, naheliegend, ihm die Provinz Adana3 zu empfehlen, die nicht nur selber in großem Umfange Baumwolle – jährlich etwa 100 000 Ballen – hervorbringt, sondern wo man an den Hängen des Taurus auch erwarten durfte, Wasserkräfte zu finden. Bereits nach fünf Tagen kehrte er aufs tiefste enttäuscht zu-rück. Freilich Baumwolle gab es in Hülle und Fülle, auch Wasserkräfte zum Antreiben von Turbinen waren in günstiger Lage überall zu finden, in solcher Stärke, daß man unbedenklich auch im trockensten Sommer mit ihrer Leistungsfähigkeit rechnen konnte. Aber Arbeiter gab es nicht mehr, gar keine. Der ungelernte Handarbeiter bezieht dort augenblicklich einen Tagelohn von 18 Piastern, d.h. etwa 3 Mark. Darauf ein Geschäft zu gründen mit erheblichen Investitionen ist natürlich unmöglich. Nun beabsichtigt man, diese ganzen entvölkerten Strecken – Adana war eine der dichtest bevölkerten Provinzen der Türkei – mit mohammedanischen Flüchtlingen aus Rußland, Rumänien und anderswo neu zu besiedeln; damit ist aber vorläufig auch nichts gewonnen, weil die muhammedanische Frau z.B. nicht in der Fabrik arbeitet. So sind also die Aussichten in wirtschaftlicher Hinsicht für die Provinz Adana in nächster Zeit sehr trübe.

Was aber für Adana gilt, gilt bis zu einem gewissen Grade auch für die anderen Provinzen, insbesondere die mit gemischter Bevölkerung, etwa griechischer.- Und da gibt es Leute in Deutschland, die – man sagt mir so – glauben, die Türkei vor einer Invasion deutschen Kapitals schützen zu müssen. Ich glaube vielmehr, man wird das deutsche Kapital schützen müssen. Jedenfalls kenne ich ein Geschäft und sogar mehrere deutsche, die sich dankbar bekreuzigen werden, wenn dieser Kelch für dieses Mal noch an ihnen vorüber gegangen ist.

Damit laß mich heute schließen.

Konstantinopel, den 4. August 1915

(Eine Kopie dieser Analyse schickte der gleiche anonyme Verfasser am gleichen Tage an

einen „lieben Heinrich“. Da heißt es im 2. Absatz:)

„Ich schätze Dich damit einverstanden, daß ich von diesem Schreiben einen Durchschlag an Becker sende, den ja die Orientalia besonders interessieren. Das Original des Briefes geht an Wohldorf, damit sich unsere respektiven Frauen auch daran freuen können.“

 

57. Anonymus an seinen Freund Heinrich (s.o.) Kopie an C.H.B.

Konstantinopel, 21.9.1915

Lieber Heinrich!

Nach längerer Pause greife ich wieder einmal in die Tasten, um Dir zunächst einmal für Deine letzten lieben Zeilen vom 3.d.M. aus Ingelmunster zu danken. Inzwischen hast Du auch von mir einen Brief erhalten, da ich den Durchschlag des Briefes an Klügmann als solchen nicht angesehen wissen möchte.

Seitdem hat sich ja manches geändert, nicht zum wenigsten hier unten, und alles in allem wohl zum Besseren, d.h. zum Besseren Deutschlands; denn für diese Gegend habe ich allerlei Bedenken zu erheben und Einschränkungen zu machen, wie ich weiter unten ausführen werde.

… und nochmals Türkeiprobleme …

Wenn man heute über die Ereignisse hier unten berichten will, so muß man die äußere von der inneren Politik streng unterscheiden; denn beide laufen kaum noch mit einander parallel. Das hat auch, glaube ich, einen inneren Grund. Es handelt sich dabei um einen Konflikt der Regierenden nicht nur mit den Interessen des Landes, sondern vielleicht auch unter sich, an denen der eine oder andere leicht zu Grunde gehen kann. Aber das liegt zur Zeit noch in weiter Ferne und erheischt die Aufmerksamkeit nur in minderem Grade, da ungleich wichtigere und hiervon ganz unabhängige Fragen zur Entscheidung drängen. Ich komme auf diesen Punkt noch einmal am Schluß des Briefes zurück. Ich werde dann an der Hand des vorerst zu Entwickelnden leichter meine Gedanken ausdrücken können.

Die äußere Politik wird ja in erster Linie von der jeweiligen militärischen Lage nicht nur hier unten, sondern auch daheim beeinflußt und ist nach Sachlage befriedigend.

Der bereits angekündigte große Angriff der Engländer ist inzwischen mit dem bekannten Erfolge in Szene gegangen. Die Verbündeten haben auf der äußersten Westspitze der Gallipoli-Halbinsel weitere Truppen, etwa 100 000 Mann der neuen Kitchener-Armee gelandet, haben aber bei der Landung und den sich anschließenden Kämpfen reichlich 25% davon wieder verloren, meist Tote. Immerhin sitzen sie auch hier fest im Lande und dürften mit den zur Zeit verfügbaren Hilfsmitteln nicht wieder daraus vertreibbar sein. Sie binden einen entsprechenden Teil weiterer türkischer Truppen, was doch immerhin als ein bedingter Erfolg, wenn auch nur ein recht bedingter, anzusehen ist. Die Verluste der Türken sind natür-lich auch nicht gering, sie sind indessen mit denen im Frühjahr beiden ersten Landungen nicht im Entferntesten vergleichbar.

Die weiteren englischen Aussichten dürften als ungünstige ohne weiteres bezeichnet werden. Im eigentlichen Frontalangriff kommen sie kaum weiter. Die Führung ist dazu viel zu schlecht, auch die Truppen nicht ausdauernd genug. Eine gewisse Möglichkeit bot die Unterbindung der türkischen Zufuhr durch einen schneidig ausgeführten Unterseebootskrieg im Marmarameer, und es gab Augenblicke, wo ein solches Unternehmen aussichtsreich schien. Inzwischen aber scheint der Augenblick verpaßt.

Eines der schneidigsten U-Boote ist neulich in dem vor den Dardanellen freilich recht unvollkommen eingebauten Netz hängen geblieben und nach allen Regeln der Kunst abgewürgt worden, ein weiteres wahrscheinlich von einem Flieger zerstört worden. Auch was hier im Marmarameer so an kleinen Verrätereien mit Proviantlieferungen usw. geleistet wurde, scheint inzwischen lahmgelegt worden zu sein. Außerdem steht die bulgarische und rumäni-sche Grenze vor ihrer Öffnung oder sind, während ich dies schreibe, schon geöffnet, so daß im Notfalle auch von dort aus Verproviantierung auf dem Landwege möglich ist.

Dies ist aber auch leider das einzig Erfreuliche, was ich von hier unten berichten kann. Der ägyptische Feldzug ist wiederum aufgeschoben worden aus dem von mir schon früher angedeuteten Grund, daß nämlich die Vorbereitungen nicht früh genug fertig werden. Die Hauptvoraussetzung für diesen Feldzug ist ein ungehinderter Verkehr mit dem Waffen produzierenden Deutschland und dieser soll ja erst geschaffen werden. Aber die Bedeutung des ägyptischen Feldzuges selber ist auch eine ganz andere geworden. Wiederholt nämlich ist es den Türken durch Minen gelungen, den Suezkanal zu sperren, ohne daß deswegen die englische Zufuhr wesentlich behindert oder verteuert worden wäre. Die Engländer fangen, wie es scheint, auch an, Kohlenstationen an den ostafrikanischen Küsten anzulegen, so daß sie selbst für den Fall einer endgültigen Sperrung des Kanals in der Lage wären, das indische Getreide um Afrika herum nach England zu verschiffen.

Andererseits aber hat man durch die zahlreichen Reisen in Persien und der Art und Weise, wie England auf die mancherlei Unternehmungen dortselbst reagiert hat, gelernt, die Wichtigkeit des Schatt-el-Arab richtig einzuschätzen, woselbst die Engländer gerade in der letzten Zeit gewaltige Anstrengungen gemacht haben und leider nicht ohne Erfolg. Hier aber haben die Türken augenblicklich ihnen nichts Ebenbürtiges gegenüber zu stellen, obschon der Munitionsnachschub weit einfacher ist, als durch die Wüste beispielsweise. Es kommt hinzu, daß hier die Engländer den Türken mitten im Fleische sitzen und zudem noch in einer deut-schen Einflußsphäre. Eine Unternehmung aber gegen Basra könnte leicht, die angenehmen Beziehungen nach Persien und weiter ostwärts zeigen es, mit einem Schlage gegen Indien vereinigt werden. Der Erfolg würde wohl noch radikaler sein als in Ägypten, der Einsatz freilich auch höher.

Aus dem Kaukasus gibt es nicht Neues zu melden.

Was wird uns die Zukunft bringen? An den Dardanellen wird man wohl in absehbarer Zeit mit einem neuen verzweifelten Angriff zu rechnen haben. Die Engländer können es wirklich nicht ruhig mit ansehen, daß wir uns eine Verbindung mit Deutschland schaffen, auf der Munition und schweres Geschütz in beliebigen Quantitäten herbei geschafft wird, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, durch einen letzten Angriff das Ziel zu erreichen. Auf Imbros haben sie eine Ballonhalle gebaut und man erwartet ein italienisches Luftschiff. Was sie sich freilich davon versprechen, ist mir nicht ganz klar. Nach Konstantinopel werden sie kaum damit fahren können. In Anatolien aber und Thrazien Bomben zu werfen dürfte kaum den erhofften Erfolg haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine menschliche Ansiedelung getroffen wird, geschweige denn ein militärisch bedeutsamer Schaden angerichtet werden, ist denn doch gar zu gering. Im übrigen weiß man, daß die Engländer wieder neue Einheiten der Kitchener-Armee heranbringen. Da aber bereits zwei Transporte abgesoffen sind, so werden sie daran wohl auch nicht allzuviel Freude erleben. Unsere U-Boote sind sehr fleißig an der Arbeit und haben jetzt mehrere Stützpunkte an der kleinasiatischen Küste, so daß sie es nicht mehr nötig haben, ihre Vorräte in Konstantinopel zu ergänzen, was die Engländer ihnen durch Auslegung von mit Minen gespickten Netzen auch recht erschwert haben.

Nehmen wir also einmal an, daß es gelingt, in absehbarer Zeit schweres deutsches und öster-reichisches Geschütz in Stellung zu bringen, so dürfte das Schicksal ihrer Dardanellen-unternehmung in wenigen Stunden besiegelt sein. Und die Frage für sie sowohl wie für uns drängt sich dann auf: Was dann? Die Türken werden dann eine erhebliche Menge Truppen frei bekommen, und, da der Weg nach Deutschland zur Heranschaffung neuer Haubitzen frei sein wird, treten auch all die Unternehmungen südwärts in ein neues Stadium. Diese werden die Engländer mit allen Kräften zu unterbinden trachten müssen und das ist bequem nur möglich in der cilicischen Ebene, wo die Bahn nicht allzuweit von der Küste entlang läuft. Dort sind also für den Winter neue Kämpfe zu erwarten. Das Gelände dort ist zur Verteidi-gung nicht so günstig, wie auf Gallipoli, indes sind dann auch die Hilfsmittel der Türken wesentlich vermehrt, so daß nach den bisherigen Erfahrungen der Erfolg auch dort nicht von allzu großer Bedeutung sein wird, wenn man auch die Landungsmöglichkeit nicht ganz wird bestreiten können.

Aber mit der wachsenden Kühle gegen den Winter zu wird man auch mit einer vermehrten Tätigkeit der Engländer im Irak rechnen müssen, und bei dem Wankelmut der dortigen Araberstämme und ihrer Feindschaft gegen die Türken wird man allerlei Erfolge der englisch-indischen Truppen mit in Kauf nehmen müssen, wenn nicht, wie schon oben empfohlen, ein energischer Abwehrfeldzug dorthin in die Wege geleitet wird. Denn daß die Türken mit ihren Truppen – 9 Bataillone – ernstlich etwas ausrichten könnten, ist wohl ausgeschlossen, zumal es dort auch artilleristisch an allem und jedem mangelt.

Ein energischer Angriff der Russen im Kaukasus dürfte von den Türken dort wohl kaum abgewehrt werden können. Ob es aber dazu kommt und Nikolai nicht vielmehr seine Tätigkeit auf politisches Gebiet erstrecken wird, steht ja nochvöllig dahin. Jedenfalls würde er noch umfassender Vorbereitungen bedürfen, über die es Winter wird, und der kaukasische Winter ist recht unangenehm.

So rosig nach allem nun die äußere militärische Lage aussieht, so befriedigend scheint nach allem auch die politische Konstellation zu sein. In erster Linie interessiert ja das Verhältnis zu Bulgarien, dessen Klärung unendliche Schwierigkeiten gemacht hat. Wie oft sind nicht die Unterhändler ohne jeden Erfolg auseinander gereist, wie oft wurde nicht die Einigkeit mündlich erzielt und gefeiert und in alle Welt hinaus posaunt, immer stellte sich dann noch im allerletzten Augenblicke heraus, daß die Bulgaren irgend etwas anders auslegen wollten und die Unterzeichnung der fertig paraphierten Verträge von dieser Auslegung abhängig machen wollten. Schon vor vier Wochen ging die Nachricht an die Leiter an die Dardanellen: der Vertrag mit Bulgarien soll geschlossen sein; wir schreiben soll nur, weil wir die Unterschrift nicht mit eigenen Augen gesehen haben! Und wie richtig war noch ein jedes Mal diese Reserve!

Darüber dürfen wir uns ja keinen Täuschungen hingeben: das bulgarische Volk ist slawophil und daher steht es mit ganzem Herzen auf Seite der Russen. Aber der Bulgare ist zu nahe dem eigentlichen Orient, als daß er allein des Herzens Stimme folgte. Auch das russische Gold hat auch noch in der letzten Zeit ganz nachdrücklich gewirkt. Es kam hinzu, daß es unserem diplomatischen Vertreter nicht gelingen wollte, sich mit der sehr deutsch-freundlichen Königin zu stellen, so daß schließlich Not am Mann war und die Sache anfing, ein sehr unfreundliches Angesicht zu bekommen.

Der Grund ist ziemlich klar: Es war eine sehr tief gehende Verstimmung und ein weitgehendes Mißtrauen des Königs gegen die deutsche Politik, insbesondere gegen den Kaiser. Nicht ganz mit Unrecht vielleicht. Ist doch noch in allzu frischer Erinnerung aller hier unten die Art, wie der Kaiser im letzten Moment der Friedensverhandlungen in Bukarest, den Bulgaren Kavalla nahm und den Griechen gab. In die gleiche Zeit fiel damals die Überreichung des Marschallstabes an den König von Griechenland auf dem Potsdamer Bahnhof und die erste Verstimmung des griechischen Königs mit seinem Minister. Es bestand wohl damals bei dem Kaiser die Absicht, fortan griechische Politik zu machen, also türkenfeindliche und gleichzeitig auch auf Kosten der Bulgaren. Es ist wohl eines der Hauptverdienste Wangenheims, daß er gegen eine solche Politik energisch Front machte, selbst auf die Gefahr hin, sich die Allerhöchste Ungnade zuzuziehen.- Die Bulgaren aber hat diese Politik tief verstimmt, und es gab kaum eine Möglichkeit, den Zaren Ferdinand von der Ehrlichkeit der deutschen Absich-ten zu überzeugen. Ich glaube auch fest, daß das auch jetzt noch nicht gelungen ist. Wenn wir doch allerlei Erfolge in der letzten Zeit, dank des Eingreifens des Herzogs von Mecklenburg erzielen konnten, so beruht das wohl vor allem darauf, daß der König der Bulgaren eben den englischen Absichten und ihrer Verbündeten ein noch größeres Mißtrauen entgegen bringt und, tief verstimmt über die Politik der Alliierten, die ihm und sein Land in den letzten Jahren systematisch und mit unverkennbarer Absicht von Westeuropa abgeschlossen haben. Bestellte Bulgarien in Deutschland Eisenbahnmaterial, so blieb es aus unaufgeklärten Gründen in Serbien oder in Rumänien liegen. Geschütze von Schneider-Creusot gingen nicht aus Marseille ab, oder blieben in Saloniki. Kruppkanonen ging es wie den Eisenbahnschienen. Das ist wohl der Hauptgrund für unseren Erfolg.

Worin dieser eigentlich besteht, wäre ich in Verlegenheit zu sagen. Die nächste Zukunft muß es ja zeigen. Alles in allem aber bin ich doch der Ansicht, daß ein möglichst großes Bulgarien die Orientpolitik für uns wesentlich vereinfacht, wobei ich allerdings voraussetze, daß mit Bulgarien eine Art traditioneller Freundschaft gepflogen werde, die vor allem in weitgehenden gegenseitigen wirtschaftlichen Zugeständnissen ihren Ausdruck findet, z. B. in Bulgarien einzuräumenden Vorzugszöllen. Die bulgarische Gegenleistung könnte in Transiterleichterungen bestehen oder auch nur in rein politischen Vergünstigungen, wie z. B. in einem Bündnisvertrage auf eben dieser wirtschaftlichen Grundlage. Die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten haben sich noch immer, vor allem aber in diesem Kriege, als den besten politischen Kitt erwiesen.

In diesem Zusammenhange wird es Dich interessieren, daß Liese und ich neulich in Therapia Zeuge wurden des erzielten Einvernehmens mit Bulgarien. Bei der Botschafterin versammel-ten sich neben niederen Sternen der Fürst Hohenlohe, Markgraf Pallvicini und der bulgarische Gesandte nebst Familie. Insbesondere diese letztere wurden mit besonderer Auszeichnung empfangen. Die Kinder durften auf zahlreichen Eseln reiten und in schönen Wagen im Parke spazieren fahren, immerhin ein pikantes Vergnügen und selten, wenn man bedenkt, daß Therapia durchaus im Bereiche der Fahrten der russischen Wasserflugzeuge liegt und ständig Fliegerwacht gehalten wird. Die bulgarischen Exzellenzen sahen eigentlich so aus, als ob sie nicht so schnell an all das Schöne glauben wollten.

Über das Verhältnis zu Griechenland kann ich Dir herzlich wenig sagen. Es steht ja auch zur Zeit nicht im Vordergrunde des Interesses4. Mit der Tatsache, daß Griechenland ständig Kriegsmaterial für Serbien und Rußland über Saloniki durchläßt, müssen wir uns abfinden, dürfen ihm nicht einmal allzusehr grollen; denn es befindet sich eben in gar sehr übler Lage. Indes vielleicht läßt sich dieser Umstand bei der endgültigen Neuordnung der Dinge auf dem Balkan zu Gunsten Bulgariens verwerten. Bemerkenswert ist immerhin, daß dem bulgari-schen Haß aus Anlaß der erzwungenen Abtretung von Kavalla keineswegs eine entsprechende Zuneigung auf Seiten Griechenlands gegenüber steht, obschon man auch dort nicht ableugnet, diesen Erwerb ausschließlich dem Kaiser zu verdanken. Auch in Griechenland scheint ein gewisser Zwiespalt zu bestehen zwischen den Neigungen der Krone und dem Volke mit dem Unterschiede gegenüber Bulgarien, daß hier die Minister mit der Krone, dort aber gegen den König gehen. Den Anschluß aber hat Veniselos doch endgültig verpaßt. Wir brauchen darüber nicht zu klagen und, ich glaube, Griechenland auch nicht, jedenfalls im Endergebnis so wie es sich jetzt stellt.

Die sonstige Politik interessiert nicht in diesem Zusammenhange. Rumänien usw. ist in erster Linie deutsche und nicht türkische Politik.

Über die Beziehungen (der Türkei) zu Deutschland möchte ich mich noch am Schluß verbreiten. Das Problem ist recht verwickelt und wird es eigentlich von Stunde zu Stunde mehr.

Im Vordergrunde des Interesses stand in den letzten Wochen die armenische Frage, wohl das wichtigste der inneren Politik, die der Krieg gezeitigt hat. Das Interesse hat inzwischen nachgelassen. Die Frage hat aufgehört zu existieren. Alles Interesse wäre ja auch nicht im Stande gewesen, die Hunderttausende wieder ins Leben zu rufen, die türkische Blindheit, Unfähigkeit und Habsucht ums Leben gebracht. Noch sind ja nicht alle Einzel-heiten dieser schrecklichsten Christenverfolgung aller Zeiten, für die wir unseren guten deutschen Namen herleihen mußten, bekannt, und verfrüht scheint es, etwa ein abschließen-des Urteil über Grund und Täter fällen zu wollen, auch die Zusammenhänge sind nicht im Einzelnen klar. Meine in einem meiner letzten Briefe ausgesprochene Hoffnung, daß das Übel sich auf die der europäischen Zivilisation ferner liegenden Gebiete beschränken, würde, daß insbesondere die unserer Bahn benachbarten Gebiete verschont bleiben würden, hat sich nicht erfüllt. Ja, die Türken haben sich nicht gescheut, sogar aus der Hauptstadt eine ganze Reihe von Armeniern abzuschieben, natürlich die wirtschaftlich Schwachen und die Armen, deren Notschreie ungehört verhallen mußten. Das ganze Elend lagert nun an unserer Bahn entlang. Die im Süden wohnenden Armenier werden nach dem Norden, die im Norden wohnenden nach Süden gefahren, d.h. natürlich nur, wenn die Behörden das Fahrgeld erschwingen

können, was ihnen, trotzdem sie das Vermögen der Unglücklichen in freigebigster Weise beschlagnahmen, nur in seltenen Fällen gelingt. So liegt der ganze Jammer Wochen und Wochen an unserer Bahn. Allein dabei handelt es sich um nahezu 200 000 Seelen. Diese Zahl läßt entsetzliche Schlüsse auf das zu, was fern von Bahn und Kultur geschehen ist. Nur ein ganz geringer Bruchteil der Unglücklichen, die einmal auf den Schub gebracht worden sind, dürften mit dem Leben davonkommen. Wo Reisestrapazen nicht helfen, hilft eine kurze Wanderung durch die Quelländer des Euphrat mit ihrer kurdischen Bevölkerung oder die vulkanische Wüste am Ararat oder im Sinai, die ohne jede Subsistenzmittel sind.

Immerhin müssen wir festhalten, schon jetzt, daß das ganze Unwesen ausgegangen ist eben von den Armeniern. Wenn die Türken im kaukasischen Feldzug nahezu 90 000 Mann verloren haben, wenn der Lebensmittelnachschub nach Ägypten durch die Zerstörung der Bahn nach Alexandrette erschwert worden ist, so geht das alles zu Lasten der Armenier oder wenigstens ein gut Teil davon. Auch an Scheußlichkeiten haben die fanatisierten Armenier im äußersten Osten nichts zu wünschen übrig gelassen. Es mag den Türken also hingehen, daß sie dort in den direkt gefährdeten Provinzen Feuer und Schwert haben walten lassen, einschließlich auch den Zypern gegenüber liegenden Küsten.

Aber was weiter geschehen ist, geht über alles Menschliche hinaus. Es ist auch sehr unklug und unwirtschaftlich. So sind mir z.B. Fälle bekannt, wo sich in größeren Städten am Morgen nach der armenischen Ausweisung herausstellte, daß auch nicht ein einziger Bäcker unter den verbliebenen Muhammedanern war. Aber solche Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Das ganze Gesicht von Anatolien ist anders geworden. Hinfort wird man auf seinen Reisen nicht mehr damit rechnen können, in europäischen Hotels unterzukommen, oder in bequemen Wagen zu fahren, sondern wird sich hinfort mit den landesüblichen Hans und Jailis begnügen müssen. In den Dörfern findet man nicht mehr einen geschickten Schmied, der die zerbrochene Achse ausbessert oder einen Sattler, der den zerrissenen Steigbügel flickt.

Vernichtend aber wirkt diese Menschen- und Wertezerstörung auf die Steuerkraft und damit auf die Kreditwürdigkeit des Landes. Alle bisherigen Angaben über Steuererträgnisse einer Provinz usw. haben jeden Wert verloren, und damit die Sicherheit aller der Pfänder, die die türkischen Anleihen decken sollen.

Einschalten möchte ich nur noch, daß die ganze Verfolgung sich richtet fast ausschließlich gegen die orthodoxen Armenier, die wohl auch den Hauptherd der Widersetzlichkeit gebildet haben. Die freilich nur geringe Zahl der römisch-katholischen und protestantischen Armenier ist unbehelligt geblieben. Ebenso die Griechen. Der Ausdruck Christenverfolgung ist also nur cum grano salis zu verstehen. Auch ist es uns z. B. gelungen, freilich nur mit unsäglichen Mühen, unser zahlreiches armenisches Personal und ihre Familien zu retten, aber das auch nur mit Rücksicht auf die Mobilisation der Bahnen und nur solange dies dauert.

Daß es auch von armenischer Seite in der Verzweiflung zu mancher Gewalttat gekommen ist, ist nur begreiflich.

Was ist nun gegen diese Greuel von deutscher Seite unternommen? Gewiß hat man das nicht ruhig mit angesehen, zumal auch sehr große deutsche pekuniäre Interessen auf dem Spiel standen. Es sind Noten in schärfster Tonart an die Türkei ergangen. Ein Weißbuch wird darüber wohl demnächst nähere Belehrung geben. Aber das alles war völlig erfolglos, und zwar aus zwei Gründen, einmal wegen der engen Beziehungen Deutschlands mit der Türkei, die es ihm unmöglich machten, wirklich scharfe Seiten aufzuziehen; darüber weiter unten. Dann aber auch, weil die Leiter in Konstantinopel einfach die Herrschaft über die Bewegung verloren. Anfangs wollten sie wohl nicht und ließen den entfesselten Leidenschaften nur allzu gern ihren Lauf. Allmählich aber wurde auch ihnen bei der Sache gruselig. Insbesondere Djavid, früherer Finanzminister, der bei seiner Rückkehr aus Berlin die Geschichte fertig vorfand, soll sehr gejammert haben über den zerstörten Staatshaushalt. Da aber war es zu spät geworden. Die halb unabhängigen Provinzkönige parierten nicht mehr Order, Depeschen verschwanden, wurden falsch übermittelt oder falsch ausgelegt. Insbesondere wir wissen ein Lied davon zu singen. Niemals wollte man in Aleppo so wie in Adana oder in Konstantinopel gar. Und schließlich lehnte sich noch ein jedes Saträplein, ein jeder Kaimakam auf, und es ist kein Absehens mehr. Daß dabei natürlich unter anderem auch pekuniäre Gesichtspunkte mitspielten, möchte ich nur angedeutet haben. Es versteht sich für jeden, der den Orient wirklich kennt, eigentlich von selbst.

Nein, die einzige Macht, die hätte helfen können, wenn sie gewollt hätte, wären die Vereinig-ten Staaten gewesen. Aber die Botschaft erhielt Anweisung, zwar christliche Untertanen der Türkei zu schützen, aber nur insoweit solches ohne politische Konflikte möglich sei; also etwa das, was bisher unsere Auslandsvertreter auf den Weg mitzubekommen pflegten. Was dabei herauskommt, ist ja bekannt.

Angesichts dieser Lage der inneren Verwaltung ist es denn auch nicht verwunderlich, daß die Türkei sich in einer der schwersten finanziellen Krisen befindet, die sie je hat durchmachen müssen.

Die von Deutschland geleisteten Subsidien sind den türkischen Machthabern durch die Finger gegangen, sie wissen selber wohl kaum wie. Gedacht waren diese Goldsendungen als Dek-kung für eine Notenausgabe. Man dachte nach europäischem Muster an eine Dritteldeckung. Aber das Problem ist viel verwickelter. Denn womit sollten wohl die anderen beiden Drittel gedeckt werden? Durch Wechsel? In einem Lande, wo es keine zuverlässige Rechtsprechung, geschweige denn ein ausreichend summarisches Wechselprozeßverfahren gibt, wo die Sicherheit der Firmen und ihrer Wechsel keinen Vergleich mit europäischen Ländern gestattet, schon weil die Auffassungen über Treu und Glauben alles und jedes zu wünschen übrig lassen, wo endlich die Masse der Wechsel völlig unzureichend ist, zumal jetzt im Krieg, um darauf irgendwelche Finanztransaktionen von Bedeutung stützen zu können.

Man hat dann zu dem Ausweg gegriffen, daß man Gold an neutraler Stelle legte und dagegen Noten ausgab, Goldzertifikate also der Dette Publique, die sich als internationales Institut noch des größten Vertrauens erfreut.

Aber das alles sind ja Tropfen auf einen heißen Stein. Das, ich glaube von Djavid Bej geprägte Bonmot, die Türkei könne ihren Krieg am billigsten führen, ist natürlich Unsinn und es ist sehr bedauerlich, daß man es in Deutschland nachgeschwatzt hat. Solange natürlich, als noch Waren im Lande waren, als man den Bauern und den heimischen und verbündeten Kaufleuten nehmen konnte, was sie hatten, solange man in Deutschland und Österreich-Ungarn Dumme fand, die Waren lieferten, ja solange kann man natürlich einen Krieg billig führen; denn bezahlt wurden weder die einen noch die andern und die diplomatischen Vertreter der verbündeten Mächte sahen diesem schamlosen Treiben tatenlos zu, mußten es vielleicht. In ganz großen Verlegenheiten half dann das oft angewandte Hilfsmittel, daß man irgend welche Dinge requirierte, die man überhaupt nicht brauchen konnte und sie so schnell wie möglich wieder ans Ausland, Bulgarien oder Griechenland, gegen Barzahlung verkaufte, um sich so einiges Geld zu verschaffen. Es versteht sich, daß dabei auch die Verbündeten mit den eigenen Untertanen durchaus gleich behandelt werden.

Der Erfolg ist denn auch nicht ausgeblieben. Im Lande zirkuliert überall recht reichlich Gold, die Regierung aber hat nichts. Nicht einmal so viel, um ihre Truppen und Offiziere ausreichend zu bezahlen. So hat es denn neulich an den Dardanellen einige Mißstimmigkeiten gegeben eben infolge nicht ausreichender Bezahlung der Soldaten – und das will etwas heißen bei der hiesigen lammfrommen Bevölkerung, die gewöhnt ist, daß ihre Regierung viele Monate im Rückstand ist mit dem, was sie schuldet. Darauf erging dann an Deutschland die sehr energische und m.E. angemessene Forderung auf Zahlung ausreichender Subsidien.

In Deutschland griff man zunächst wieder den Plan einer türkischen Papiergeldausgabe auf. Dazu waren natürlich einige gesetzliche Änderungen nötig; denn die Banque Impériale Ottomane ist ja eigentlich ein französisches Institut und in ihrem Statut wegen Papiergeldausgaben stark beschränkt. Als man also dazu übergehen wollte, diese Bank ihrer Privilegien zu berauben und eine richtige Staatsbank nach deutschen Vorschlägen zu gründen, stellte sich heraus, daß Djavid Bej inzwischen eine Konzession auf eine solche genommen hatte, Djavid Bej, der im Beginne des Krieges offen erklärt hat, er betrachte es als eine seiner vornehmsten Aufgaben, den Franzosen das Bett warmzuhalten. Man munkelt, diese Vorliebe stamme daher, daß ihm die von Frankreich aus der bekannten in Frankreich abgeschlossenen letzten großen türkischen Anleihe zukommende Provision noch nicht ausgezahlt, sondern nur gut-gebracht worden sei. Aber das mag auch falsch sein. Jedenfalls ist er neben einem bedeutendem Finanzmann, wohl dem einzigsten, den die Türken wirklich haben, auch ein erklärter Feind Deutschlands. Er legt sich quer, wo er kann, und man läßt sich das in Berlin bisher gefallen, muß es sich vielleicht gefallen lassen.

Damit komme ich aber nun zu einem der traurigsten Kapitel der hiesigen Lage: das ist die von oben bis unten herrschende Korruption, die geradezu ungeheuerliche Formen annimmt. Ein jeder an irgendeiner Stelle, wo er etwas zu sagen hat, macht aus seinem Amt ein Geschäft teils für die eigenen Taschen, teils für die Komiteekasse, zu irgendwelchen Dingen, die man in Deutschland als Reptilienfonds und Verwandtes bezeichnen würde. Das verteuert natürlich die Volkswirtschaft ins ungemessene und zeitigt Erscheinungen, daß z.B. im Inneren an unserer Bahn selbst erhebliche Getreidevorräte liegen und daß doch aus Bulgarien Getreide und Mehl nach Konstantinopel gebracht werden muß, weil die Bevölkerung darbt. Waggons erhält man nämlich nur durch Vermittlung eines Intendanturoffiziers, bei dem die Anweisung einen bestimmten nicht unerheblichen und je nach Geschäftslage variierenden Satz kostet. Die Beispiele könnte ich mühelos verzehnfachen! Einzelpersonen und ganze Verwaltungs-zweige wetteifern darin.

Kurz, das gegenwärtige Regierungssystem ist durch und durch faul mit allen den großen und kleinen Leuten, die daran hangen. Die Anhänger des Regimes können denn auch ihr Haupt stolzer tragen, denn je. Das was jetzt geschieht, unterscheidet sich in nichts von dem, was früher war.

Auf dieser Basis versteht man denn auch ziemlich die gegenwärtigen deutsch-türkischen Beziehungen. Leider bin ich nicht in der Lage darüber eben so ausführlich berichten zu können, wie über die oben behandelten Fragen. Ich weiß darüber zuviel in amtlicher Eigenschaft. Als Charakteristika möchte ich daher nur zwei Momente herausheben:

Als vor einigen Wochen die deutsche Presse dem türkischen Bundesgenossen Mut zusprach aus Anlaß der italienischen Kriegserklärung, da schrieb die türkische Presse mehrfach: der Trostsprüchlein habe man nun genug gehört, Taten begehre man zu sehen.

Als dann am 20. v(origen) M(onats) an der Save und der Donau die ersten deutschen Kanonenschüsse fielen, da ging der Korrespondent einer deutschen Zeitung hier zu den türkischen Ministern, um ihre Meinung über diesen bedeutsamen Abschnitt zu hören und erhielt an maßgebendster Stelle zur Antwort: Neuer Abschnitt? Wieso? Nun ist es ja gewiß sehr nützlich für Deutschland, wenn es dem österreichischen Verbündeten den Rücken frei machen kann. Uns? Uns geht das doch nichts an! Hilfstruppen an die Dardanellen? Nein, die brauchen wir wahrlich nicht. Nur die schwere Artillerie freilich, die uns Deutschland am Anfange des Krieges fest versprochen hat, ja, da wäre es vielleicht nützlich, wenn Deutschland endlich mal sein Versprechen wahr machte.

Über die Behandlung, die deutschen Untertanen hier vorzugsweise zu Teil wird, habe ich mich bereits weiter oben ausgelassen. Es genügt vielleicht noch hinzuzufügen, daß den Eng-ländern und Franzosen und ihrem Eigentume in Smyrna z. B. auch nicht ein Haar gekrümmt worden ist. Den Deutschen requirierte man den letzten Klepper aus dem Stalle, die Direktoren der englischen Banken können noch heute vierspännig fahren.

Es kann einem wahrhaftig leid, bitter leid tun um das schöne reiche Land und seine arbeit-same, bescheidene und tapfere Bevölkerung.

Herr Dr. Jaeckh5 ist jetzt hier. Es wird wieder fleißig in deutsch-türkischer Freundschaft gemacht. Freilich hat man sich allerseits angelegen sein lassen, insbesondere auch an der Bot-schaft, ihm recht reinen Wein einzuschenken, im Sinne etwa des vorliegenden Schreibens, und manche seiner rosigen Wölklein hat er denn auch heruntergeholt. Vielleicht läßt sich mit dem, was nachbleibt, erfolgreich arbeite. Die nächste Zukunft wird es zeigen. Denn lange geht es hier nicht mehr gut., deutsch-türkisch, ohne die eiserne Faust. Gar mancher von den ganz großen und begabten Führern der Jungtürken ist mit uns darin einig.

Verstehende Zeilen, die niederzuschreiben ich natürlich viele Tage gebraucht habe, kann ich heute, am 3. Oktober nun noch durch ein persönliches Erlebnis ergänzen.

Mit Liese war ich unlängst im Inneren, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Von Ada-Basar fuhren wir auf einsamen Landwegen durch prächtige Eichenwaldungen in die Berge hinauf nach einem einsamen alten Armenierkloster Armasch, einem uralten armenischen Heiligtum der armenischen orthodoxen Kirche mit einer berühmten Bibliothek. Je mehr wir uns der armenischen Siedlung näherten, um so kultivierter wurde das Land. Die letzte halbe Stunde führte durch üppige Maisfelder, Weinberge und Tabakpflanzungen. Dann kam das Dorf, völlig tot. In einigen wenigen Häusern noch ein paar Frauen und kleine Kinder, etwa 40 alles in allem, auch diese schon beim Zusammenpacken. Auf dem Platz vor dem mächtigen Kloster mit großer Kuppelkirche einige uralte Männer, die unter der Aufsicht von einem Dutzend türkischen Gendarmen, die letzten Ochsen vor die letzten Wagen spannten. Es ging alles sehr ruhig ab. Selten hörte man Scheltworte. Die Frauen weinten, die Kinder waren herzlich unbekümmert, aus den Augen der wenigen Männer trafen uns, die Deutschen, die all dies Elend gewollt und veranlaßt haben, so wird es ihnen ja eingeredet, haßerfüllte Blicke. Von den Türken aber wurden wir in das Karakol geleitet und dort zwar sehr höflich, aber bestimmt in den Garten gesperrt. Zwei Posten vor die Türe und drin waren wir. Sorgfältig hatte ich nämlich eine Anmarschstraße gewählt, wo kein Telegraph unsere bevorstehende Ankunft anmelden konnte. Dann kam der Herr Müdir. Auch er war sehr höflich, stellte sich und sein Haus zur Verfügung. Aus dem Garten durften wir aber zunächst nicht heraus. Allmählich aber gelang es, daß Mißtrauen der Potentaten zu überkommen, dieses unter anderem auch durch Überreichung einer türkischen Schilderung der letzten Hindenburgsiege, und wir durften uns also im Dorfe bewegen, freilich ständig unter starker Bedeckung. Der Müdir entschuldigte sich, er habe schrecklich viel zu tun mit diesen verd … Armeniern, zu unserer weiteren Gesellschaft blieb nur der neueingesetzte Imam. In dem ganzen reichen Dorfe fand sich an Essen nur etwas Käse und Kaffee und ein wenig Brot. Glücklicherweise hatten wir Vorsorge getroffen. Als ich um einige Trauben bat, wurde mir erklärt, Trauben pflückte man nicht, es sei zu weit. Dabei ist das ganze Dorf von Weinbergen umgeben und die Traubenernte gerade dieses Jahr unerhört reich. So verkam die reiche Siedlung. Noch waren die letzten Bewohner nicht vertrieben, noch standen die Gassen, die Gestelle mit den frisch gepflückten Tabakblättern, die diese arbeitsamen Frauen und Kinder, während die Männer sich an den Dardanellen schlagen oder schon längst ausgewiesen worden sind, noch bis in die letzten Stunden vor ihrer Vertreibung aufgebaut hatten, und schon war es den Nachfolgern zu weit, die Trauben auch nur zu pflücken.

So verschwindet wieder eines der ältesten Kulturvölker von der Bildfläche und muß dem Unverstand der herrschenden Rasse weichen, gegen die es sich durch Jahrhunderte hat durchsetzen können.6


1 Die Bagdad-Bahn von Konya (Südtürkei) nach Bagdad (Irak) und weiter nach Basra ist die Fortsetzung der türkischen Anatolischen Bahn und wurde zwischen 1903 und 1940 (!) unter Mitwirkung deutscher Ingenieure und deutschen Kapitals gebaut.

2 Staatsschuld

3 Die Provinz Adana befindet sich in der SO-Türkei am Mittelmeer, noch heute starke Baumwollproduktion und-verarbeitung; Baustoff- und Nahrungsmittelindustrie; Kraftwerk am Seyhan; Universität seit 1973. Die Seyhan ist 560 km lang, entspringt im inneren Osttaurusgebirge, wird vor Adana aufgestaut für das Kraftwerk und fließt bei der Stadt Adana ins Meer.

4 Anmerkung des Verfassers: Das stimmt heute, am 4.X. freilich nicht mehr: Truppenbewegungen in Saloniki.

5 Vgl. die Korrespondenz mit der Deutsch-Türkischen Vereinigung.

6 Der Verfasser ist wohl in Botschafts-, evtl. auch in Wirtschaftskreisen zu vermuten.