Vom Leben einer großbürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert
Erinnerungen und Vermächtnis
Gelnhausen, 29.07.1907
Diese Erinnerungen widmet ihren lieben Kindern die durch sie so hoch beglückte Mutter Julie Becker-Schöffer
*28. Januar 1839 †29. Juli 1917
Die Anmerkungen in Klammern () und die Fußnoten wurden zum besseren Verständnis für die junge Generation von Bert Böhmer 2001 hinzugefügt.
Viele, die das 70. Lebensjahr erreicht haben, sagen: „Das Leben war kurz.“ Ich finde das nicht. Mir scheint der zurückgelegte Weg lang und ganz besonders dann, wenn ich mich in die ferne, ferne Kinder- und Jugendzeit versenke, wenn ich die Fülle der Erlebnisse bedenke und vor mir erstehen lasse, was an Freude und Leid mir zuteil wurde. Wer glaubt noch an Wunder? Es gibt keine! Ich sage: „Es gibt nur Wunder und eines der größten erscheint mir das menschliche Gehirn!“
In nebelgrauer, weiter Ferne liegen die Tage der Kindheit und viel Schönes und Reiches ist untergetaucht in Nirvana und dem Bewußtsein entschwunden, aber vieles hat sich mit ehernem Griffel eingeschrieben in jene wunderbare Rinde, die jahrtausendelang von Geschlecht zu Geschlecht Pergament und Papier vertreten hat, in das en erfreut es doch, ganz besonders dann, wenn der lange Weg noch länger geworden ist und das Ziel erreicht ist, wo die Berührung von Seele zu Seele aufhören wird und Erinnerung alles ersetzen muß, was Leben und Liebe war.
Jugend in Amsterdam
So gedenke ich zuerst meiner Eltern und darf von Einigem sprechen, das ich nur aus Erzählung weiß. Voll Mut und Zuversicht zogen sie im Jahre 1838 in das damals noch ferne Land, das nur langsam zu erreichen war, und selbständig gründete der 22 Jahre alte Mann ein eigenes Handelshaus in Amsterdam.
Die zwei Jahre jüngere Frau sah sich ganz fremden Verhältnissen, fremder Sprache gegenüber. Sie wohnten mehrere Tage in einem Hôtel garni und zogen in ein Haus auf dem Singel in Amsterdam. Am Tage der Geschäftsgründung wurde ein Baum vor dem Haus gepflanzt, der noch steht, wie auch die Firma, als deren Symbol er betrachtet wurde. Magd und Diener hatten sie mitgebracht. Der Diener Steinmetz war sehr tüchtig und stieg immer höher im Geschäft, seine Kinder sind angesehene, gebildete Leute geworden. Am 27. Januar 1839 waren feine Borsdorfer Äpfel von Gelnhausen gekommen, und die junge Frau genoß sie freudig. In der Nacht stellten sich Schmerzen ein. Sie glaubte, die Äpfel seien schuld; sie waren es aber nicht, sondern ein dunkeläugiges kleines Mädel, das erst vierzehn Tage später kommen sollte, und das Mädel war ich.- Die Gelnhäuser Großmutter kam ein paar Stunden nach mir und war zuerst ganz traurig, daß ich meinen Eintritt in die Welt ohne sie bewerkstelligt hatte, aber danach war dann doch die Freude groß. Nach passenden Zwischenräumen kamen zwei Brüder und nach vier Jahren ein Schwesterlein. Von da ab zerreißt der Nebel der Vergangenheit, und die ersten Erinnerungen tauchen mit großer Deutlichkeit auf. Eine schwere Zeit zog für mein Elternhaus heran. Der Mutter Leben, das der zwei ältesten Kinder waren lange in Gefahr. Eine junge Tante, Elisabeth Schöffer, die zur Pflege im Wochenbett gekommen war, mußte das ihre hingeben, nur 18 Jahre alt. Der Typhus war eingezogen und damals erlagen von 100 (Erkrankten) 66, heute noch nicht einer, sondern nur der Bruchteil eines Prozents. Die Mutter war lange Monate schwer ergriffen und brauchte nach dem langen Winter noch den ganzen Sommer zur Erholung. Sie hatte ganz vergessen, daß sie ein viertes Kind geboren, ihr schönes schwarzes Haar fiel plötzlich in einer Nacht vom Kopf, die Lippen waren fort, ersetzten sich wieder, aber der Mund blieb ganz klein, so daß sie Zeit Lebens mit Kinderbesteck essen mußte. Faulfieber wurde diese Nachkrankheit genannt.
Meine erste Erinnerung ist eine materielle. Ein Hühnerbeinchen, das ich essen durfte. Der Arzt sagte zu meinem traurig dreinblickenden Vater: „Sehen Sie, der schmeckt es nun schon wieder.“ Die dritte Erinnerung ist eine seelische: die Taufe der kleinen Schwester. Ich sehe noch meinen Platz am Fenster des Zykamer (Heerengracht 319), wie feierlich war mir zumut, ich faltete die Hände und fühlte mich sehr wichtig. Bald aber kam wieder eine garstige Regung: die Eifersucht. Meine Brüderchen kamen herein und bekamen eine Hand vom Pfarrer, ich aber bekam keine. Eine weitere Erinnerung ist eine echt holländische. Mein kranker Bruder und ich wurden, um der Mutter mehr Ruhe zu geben, zu Freunden (Fuchs) gebracht. Ich sehe uns noch im geschlossenen Schlitten sitzen, in Decken gewickelt, die weiß mit roten Rändern waren. Der Kutscher lief nebenher und schleuderte einen Lappen am Seil vor die Kufen, die darüber hinweg rutschten. Später, als wir auf Kindergesellschaften fuhren, waren wir betrübt, wenn statt des Schlittens ein Wagen auf Rädern (eine Vigilande) kam, denn damit waren wir gar schnell zu Haus und der Spaß war kurz! So ändern sich die Liebhabereien. Noch nicht sechs Jahre alt, kam ich zur Schule, zu einer Fräulein Hecke, einer alten Dame mit Ridikül und einem un-appetitlichen Taschentuch darin, denn sie schnupfte. Eine junge Lehrerin, die sie bei meiner Ankunft vertrat, imponierte mir nicht, und ich verweigerte glatt, ihr zu gehorchen, bis Fräulein Hacke mir den Standpunkt klarmachte. Drei Jahre blieb ich dort und litt unter dem herrschenden Deutschenhaß und fühlte mich als „Moff“ minderwertig, war selig, als es eines Tages hieß: „Morgen kommst du in eine andere Schule.“ Sie war uns vis-à-vis. Die Dame, eine geborene Französin, hatte einen holländischen Steinkohlenhändler geheiratet, und es ging ihr nicht gut Sie war lieb und sanft, aber ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Mit zehn Jahren saß ich in der ersten Klasse unter fünf bis sechs Jahre älteren Mädchen und spielte ganz entschieden eine Rolle, lernte ausgezeichnet holländische Geschichte und Mythologie, auch Französisch aber sonst rein garnichts. Was Literatur ist, war mir gänzlich unbekannt; daß es außer Holland auch noch andere interessante Länder mit Geschichte gibt, Geographie und andere Wissenschaften, das erfuhr ich erst, nachdem ich ein Jahr Privatunterricht genossen hatte, und mit 13 Jahren in die Pension Bickel und Deslondres in Frankfurt zog.
Pension in Frankfurt
Ich war empört, als ich in die dritte Klasse, meinem Alter gemäß, kam, und wie viel hatte ich nachzuholen, wie viele Lücken wurden viel später oder gar nicht geschlossen. Nun erwachte ich erst zum geistigen Leben! Zwar das erste Vierteljahr verging ich fast vor Heimweh, aber als zu Weihnachten die Eltern mich besuchten und mich ausstatteten mit vielem, was ich entbehrt hatte, als ich mich eingearbeitet hatte und sogar bald zu den Besten zählte, als ich Liebe unter den Mitschülerinnen fand und Ver-trauen bei den Lehrerinnen, da fühlte ich mich glücklich, und ich war dankbar für das so ganz andere reiche Leben, das ich mit Bewußtsein genoß. Verstand bei den Menschen hat mich stets angezogen und so wurde das gescheiteste Mädchen meine intimste Freundin, leider eine Jüdin, Toni Lenel. Leider! Denn ich verlor viel Zeit mit Bekehrungsversuchen, die mir teilweise auch gelangen. Abends rückte sie das Kopfende ihres Bettes an das meine, wenn die Gouvernante eingeschlafen war, und wir redeten tief über ernste Dinge. Natürlich war ich ganz befangen im orthodoxen Autoritätsglauben, denn ich schwärmte leidenschaftlich für meinen Pfarrer (Wehner), und was er sagte, war Evangelium. Allerdings nicht mehr, als die Konfirmation herannahte, und ich es sehr gewissenhaft nahm. Da machte ich dem guten, begabten Mann das Leben oft schwer. Aber Streben war unter uns Mädchen (die Regel), und wir arbeiteten ernsthaft an gegenseitiger Besserung, doch Duckmäuser waren wir nicht und machten manchen tollen Streich, erschreckten z.B. unsere Französin, als sie aus einer Gesellschaft kam. Alle Acht standen wir im Nachtgewand im Mondenschein starr und steif auf den Betten, oder wir ließen an einem Faden ein kleines Möbel unter ihrem Bett sich leise bewegen, und das war in der Zeit des Tischrückens unheimlicher wie heutzutage.
Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht fassen, wie damals im Jahre 1853 alles unter dem Bann dieser anscheinend neu entdeckten Naturgewalt stand.. Zwar wurden die Geister in unserer Pension nicht gerufen, aber wochenlang tanzten die Tische und ich selbst galt mit einem zweiten Mädchen als besonderes Medium und wurde in kleinen Versammlungen zur Vorsteherin beru-fen, um meine magnetische Kraft zu erweisen. Wahrscheinlich, weil alle Mithandelnden an mich glaubten, drückten sie unwillkürlich auf den Tisch, wenn ich auf Jemandes Schulter die Hand legte. Faktum ist, daß die Tische sich auch lustig drehten, es waren keine Ausziehtische, sondern ganz leichte, runde, etwa für sechs Personen berechnet. Ich kam mir sehr wichtig vor, aber die Vorsteherin hatte Verstand genug, bald damit aufzuhören, sie fürchtete, mir damit zu schaden.
Am 26.Mai 1854 wurde ich konfirmiert. Es war ein herrlicher sonniger Tag und meine Zweifel waren zur Ruhe gekommen. Friede und Freude erfüllten mich und heiße Liebe, die eine wunderbare Mischung war von der zum Heiland und von der zum Pfarrer. Ganz ohne (Ent)-täuschung ging auch dieser Tag nicht vorüber. Ich hatte auf eine Uhr gehofft, bekam aber eine Brosche. Meine Stellung in der Heimat war damals schwierig, dem Alter nach noch ganz ein Kind, war ich doch bereits so sehr entwickelt, daß ich mich ganz als Erwachsene fühlte. Viel Unterricht empfing ich nicht mehr, und so war es für meine weitere Bildung sehr gut, daß sich die Fäden dafür noch nach Frankfurt spannten. Nun nahte bald die Stunde des Abschieds von der so lieb gewordenen Pension, in der ich zwei Jahre verbrachte, und der ich viel verdankte, aber der ich auch das zuschrieb, was schließlich in der Entwicklung des Alters lag. Ich war erst 15 Jahre alt und trennte mich sehr schwer, lebte noch lang so intensiv im dortigen Leben fort, daß ich sogar Aufsätze einsandte und darüber Kritiken bekam, führte eine ausgedehnte Kor-respondenz mit Schülerinnen und Lehrerinnen.
Heirat mit Carl Wilhelm Ferdinand Becker
Im Herbst 1855, also bevor ich das 17.Jahr vollendete, trat dann das große Ereignis in mein Leben, das sich jedes Mädchen wünscht, das aber nicht jedem vom Schicksal gewährt wird: die Liebe zum Manne, und zwar zu meinem zukünftigen Manne. Unerreichbar erschien mir aber damals solch himmelstürmendes Glück, ich liebte kindlich, ohne Gedanken an Gegenliebe, aber schwärmerisch und leidenschaftlich. Der erste Funke fiel in meine Seele, als ich mit meinen Eltern bei Bekannten (Heppner) auf einen Landsitz nach Oberveen eingeladen war. Wir fuhren über Haarlem in einem Wagen dorthin, 2 ½ Stunden, und der vierte freie Platz wurde Herrn Becker angeboten, der seit Jahren Hausfreund bei meinen Eltern war. Als ich vier Jahre war, saß ich auf seinem Schoß, er war schon 21, ein schöner, sehr begabter Jüngling mit prachtvoller Stimme, der sich alle Herzen gewann. Er war bescheidener Kommis bei den Vertretern von Rothschild, schwang sich aber sehr bald zum Chef des Bureaus auf. Er fühlte sich im Leben zurückgesetzt, weil in seiner gelehrten Familie der Kaufmannsstand als minderwertig angesehen wurde, und er auch lieber einen wissenschaftlichen Beruf ergriffen hätte. Seine Mutter aber, die einer Kaufmannsfamilie entstammte, wünschte, daß auch einer ihrer Söhne diesen Beruf ergreife. Der älteste, sehr begabte Sohn Ferdinand, wurde selbstverständlich dem Vater nach, Student der Medizin, später gesuchter Arzt in Berlin, wo er kurz verheiratet, mit 29 Jahren dem Typhus erlag. Der zweite erklärte, er dürfe der Mutter Wunsch nicht erfüllen, er fühle einen unbezwingbaren Hang zu Geiz und Geldgier in sich und dadurch sich zu großen Gefahren ausgesetzt. Dies war Bernhard, der auch jung verstarb nach zweijähriger Ehe, als Lehrer in Oldenburg. Nun sollte sich Friedrich, der dritte Sohn entscheiden, aber der verwarf den Plan sofort, hauptsächlich aus einem gewissen Hochmut; auch waren andere der Meinung, seine glänzende Begabung käme in einem anderen Beruf zu höherer Geltung. Das Leben gab ihm nicht recht, seine Begabung war groß, aber zu vielseitig, so zersplitterte sie sich, er kämpfte sein Leben lang mit unerfüllten Hoffnungen, mit Sorgen und Not und hatte dem Bruder Kaufmann – dem von ihm verachteten Stand – in späteren Jahren viel zu danken. Dieser war ein guter Sohn und ihm der Wunsch der geliebten Mutter Maßstab und Richtschnur. Er brachte seine damaligen Wünsche zum Opfer, glaubte sich wohl auch weniger begabt wie die älteren Brüder, hat aber seinen Entschluß niemals bereut, sondern gesegnet. Er machte in Frankfurt im Hause Bernard Seidengeschäft die Lehre durch und spazierte sonntags durch die Apfelallee nach Offenbach, wo er im Elternhaus vielfach Anregung fand und mit bedeutenden Männern in Berührung kam. Uhland und Arndt waren z.B. intime Freunde des Hauses. Seinem Streben gelang es, sich eine recht umfassende Bildung zu er-werben, und er war in modernen Sprachen sehr gewandt. Er kam in Pension zu einer Familie Hestermann, der Gatte war ein trockenes, alltägliches Männchen, die Frau bedeutend und von imponierendem Äußeren, fand frische Töchter, denen er englischen Unterricht gab, aber seine Liebe gehörte der älteren Frau, die sich ihm gern vertraulich aussprach.- Dies Gefühl, das so oft sehr junge Männer zu älteren Frauen hinzieht, bewahrte ihn damals vor Verführungen anderer Art. Schon mit 18 Jahren kam er nach bestandener Lehre, mit schöner goldener Uhr beschenkt, die er später in Zeiten der Not verloste, – nach Paris, in das dortige Haus seines Chefs.- Er suchte damals das Hochzeitskleid für die Königin von Schweden aus und blieb drei Jahre. Sein sehr knappes Einkommen bewahrte ihn auch dort vor großen Ausschreitungen und vor schlechter Gesellschaft. Als er 21 Jahre geworden, gab es Schwierigkeiten im väterlichen Haus in Offenbach und es fehlte an Hilfe. Der Vater ließ ihn von Paris kommen, und er unterrichtete die Pensionäre des Hauses in Sprachen, fühlte sich aber nicht zum Lehrer veranlagt und ergriff freudig die angebotene Stelle in Amsterdam bei Gebrüder Sichel, den damaligen Vertretern Rothschilds. Zwölf Jahre war er dort, als er zum Chef mit Herrn Fuld gewählt wurde, hatte sich niemals bemüht, selbständig zu werden, sogar Anerbietungen abgelehnt, weil ihm ein Arzt in Paris gesagt hatte, er werde höchstens das dreißigste Jahr erreichen. Damals hatte er in einem einzigen Jahr dreimal Lungenentzündung, auch glaubte man noch im Jahre 1853, er sei schwindsüchtig, und noch wie ich mich verlobte, warnte man mich. Ich aber äußerte: „Lieber zehn Jahre nur mit ihm, als fünfzig Jahre mit einem anderen.“ Freilich zehn Jahre erschienen meinen siebzehn Jahren damals eine Ewigkeit! – Auch an Heiraten hatte er aus obigem Grunde nie gedacht und einmal eine reiche Erbin ausgeschlagen, die ihm wohl begehrenswert schien, auch noch aus einem anderen Grund, daß er nicht pekuniär von seiner Frau abhängig sein wollte. So sorgte ein freundlich Geschick, daß er wartete, bis ich herangewachsen war, – das dreißigste Jahr war glücklich vorbei und seine Verhältnisse glänzend geworden. Er kam rasch zu Vermögen, schon dadurch, daß nach damaliger Usance Rothschilds ihren Vertretern eine ganze Million ohne Zinsen zur Verfügung ließen unter der Bedingung, daß sie zu jeder Zeit darüber verfügen konnten. Selbstverständlich aber brauchte das Geld nicht im Kasten zu bleiben, um bei dem unbeschränkten Kredit der Firma stets disponible zu sein. Schöne Wochen folgten jenem ersten Ausflug, wir sahen uns sehr viel, in Gesellschaft, in Konzerten, im Theater, im Haus! Ein Leseabend wurde eingerichtet, und wir beide lasen stets das Liebespaar.
Als wir uns zum ersten Mal verheiraten sollten in „Romeo und Julia“, kam vorher die Verlobung. Nichtsahnend saß ich bei meiner Mutter und strickte beim Lesen, denn nur Lesen hielt man damals für faul. Da meldete das Mädchen einen Herrn, der das Fräulein sprechen wollte. „Ich glaube, es ist Herr Becker“, war die Antwort auf die entsprechende Frage. (N.B. Herr Becker kam fast täglich ins Haus.) Da erlaubte die Mutter, daß ich zu ihm herunterging und beim Schein eines damals noch gebräuchlichen Talglichtes, – andere Beleuchtung war bei den umständlichen Moderateur-Lampen nicht so schnell herzustellen, – hatte ich bald den ersten Kuß und war eine selige Braut, kaum 17 Jahre alt. Es war eine schöne Zeit, die folgte, denn obgleich Carl mir pflichtgemäß gesagt, er könne mir nur die Liebe eines 34jährigen Mannes bieten, so hatte ich mich durchaus nicht über Mangel an Wärme der Empfindung oder über mangelnde Leidenschaft zu beklagen. Sehr bald aber hatte ich schon Sorgen und Schmerzen mit ihm zu teilen, da sein Schwager Helmsdörffer plötzlich starb, und er das von diesem übernommene Elternhaus aufzulösen und Witwe und Waisen beizustehen hatte. Dieser Schwager Helmsdörffer war ein hochbegabter Mann. Er war es, der die Kunst und die Liebe dazu in die Familie einführte, und damit allen ihren Gliedern eine reiche Quelle irdischen Glücks erschloß. Seine Frau, die älteste Schwester meines Mannes, war eine ideale Natur, voller Demut und Aufopferung, groß an Liebe und an warmem Gefühl. Sie hatte die jüngeren Söhne wie eigene Kinder erzogen, und es war nur eine Dankesschuld, die mein Carl ihr später abzutragen suchte.- Ich sah noch im Frühjahr die Erziehungsanstalt und das liebe Heim auf dem Linsenberg,1 in dem auch Ferdinands Witwe, die Schwägerin Zilli lebte, und gewann, da die Zöglinge, meist Engländer, noch da waren, ein Bild von dem früheren Betrieb. Es war eine ideale Anstalt, und noch nach Jahren hörte man von manchem dankbaren Gemüt. Die körperliche und die geistige Pflege war ausgezeichnet, aber die finanzielle Seite stets vernachlässigt, und oft gab es Sorgenzeiten. Der Bruder Kaufmann griff nun überall ein, und der Segen des mütterlichen Gedankens wurde später in der Familie allgemein dankbar anerkannt. Bei einem Besuch in Gelnhausen kam auch mein Bräutigam in das Haus meiner Großmutter, dort ging es damals noch recht patriarchalisch zu. Oben am Tisch präsidierte die kleine freundliche Hausfrau, ihre Kinder reihten sich an, dann kamen die Enkel, und ganz unten fanden zwei alte Damen und ein alter Herr ihren Platz. Tante Katharina Lisbeth, die bei weitem ältere Schwester meiner Großmutter, besorgte die Küche, war berühmt ihres feinen Kochens wegen, Tante Lischen, Schwester des Großvaters, privatisierte mehr und starb auch bald, und Onkel Hannes, Bruder der Großmutter, ein ehrwürdig aussehender Greis, war geistig etwas minderwertig und besorgte häusliche Geschäfte. Er hatte es zu nichts gebracht, hatte seine Frau früh verloren und besaß zwei Töchter, die jung starben. Im Haus lebte noch ein pensionierter Kreissekretär, der eine größere Erbschaft gemacht hatte; ein furchtbar dicker Mensch mit großem Kopf, die stille Liebe meiner alten Tante. Catharin-Liesbeth und ihr Tyrann. Uns Kindern war die Antritts- und Abschiedsvisite stets schrecklich. Er war sehr gebildet sonst und sehr belesen und ging nur früh aus dem Haus, jeden Tag denselben Weg nach dem Dorf Altenhaßlau, wo er einen Grog trank. Carl verlebte seinen Geburtstag in Gelnhausen, er wurde aber gestört dadurch, daß er irrtümlich Weilbacher statt Selterswasser trank und auch durch die Todesnachricht meines kleinen Vetters Gustav Haase, dem zwei Tage später sein Brüderchen Wilhelm folgte, das noch mit auf dem Friedhof gewesen war. Die Kinder waren drei und fünf Jahre alt. An Gustavs Bett war ich noch mit meiner 13jährigen Schwester gewesen, man war damals naiv, denn es war Scharlach, das bei Wilhelm gar nicht herauskam.- Ich blieb darnach noch etwa vier Wochen in Gelnhausen und hatte viel Freude an der Korrespondenz mit meinem Bräutigam, aber auch viele ganz unstillbare Sehnsucht nach ihm.
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Am 21. August war unser Hochzeitstag und ich die erste Braut in Amsterdam, die ohne Hut, in Myrthenkranz und Schleier zum Altar ging. Man fand es katholisch, machte es aber allgemein nach. Die Ziviltrauung war sehr feierlich im großen altertümlichen Rathaussaal. Der prunkvolle Türsteher war der erste, der mich mit „mevrouw“ anredete. Am Hochzeitsmahl saßen über 70 Gäste, auch die Großmutter aus Gelnhausen, der von ihr gestiftete Becher kreiste, er enthielt einen Madeira-Wein aus 1805, den ein alter Freund bei meiner Taufe versprochen hatte. Die Hochzeitsreise führte durch die Schweiz bis Mailand und Venedig, über Splügen hin und über Simplon zurück. Zum ersten Mal ging mir auf, was die Kunst im Leben des Menschen zu bedeuten hat und ganz besonders, was sie meinem Gatten damals war und immer geblieben ist.
Haus „Die weiße Lilie“ in der Heerengracht zu Amsterdam
Dann kam ich als junge Frau in das eigene Heim, es konnte nicht schwer für mich sein, den Haushalt zur Zufriedenheit meines Mannes zu führen, da er mir reichlich die Mittel dazu zur Verfügung stellen konnte. Unser Haus hieß „Die weiße Lilie“ und war auf der Heerengracht zwischen Wolwen- und Huidenstrast, ganz in der Nähre der Eltern. Der Verkehr war sehr lebhaft, die Brüder waren schon seit dem neunten und zehnten Jahr in Pension Hassel und später in der Lehre, die Schwester damals im Institut Bickel und Deslondres. Auch sonst hatten wir reges geselliges Leben, nach zwei Jahren auch schon einen eigenen Wagen. Gar bald stellte sich Sehnsucht nach einem Kinde ein, die aber erst nach acht langen Jahren befriedigt werden sollte. Fortgesetzte Enttäuschungen waren unser Teil. Erst nach vier Jahren und nach sieben verfrühten Wochenbetten war das Vertrauen zu dem alten Arzt der Familie genügend erschüttert, eine Autorität zu konsultieren, dann freilich die erste damals existierende, (Prof.) Soanzoni in Würzburg. Er stellte fest, daß ein von Anfang an dagewesenes Leiden die Ursache allen Kummers gewesen war. Immer nur hatte Ruhe und Entsagung helfen sollen, aber das Übel blieb und verschlimmerte sich, hätte schließlich zu Krebs und Tod geführt. Ich verbrachte damals vier Monate im Hôtel zum Kronprinz in der alten Universität und katholischen Umgebung Würzburgs. Meine Nichte Fernandine Helmsdörffer war mir liebe und treue Gefährtin, und nachdem die erste schwere Zeit vorüber war, lichtete sich das Leben nicht nur, sondern wurde sogar ein äußerst angeregtes und belebtes, gestaltete sich zu einem reichen und fördernden zugleich, nur die Trennung mußte ertragen werden, doch verbrachte mein Mann die Weihnachtszeit mit mir und beschenkte mich schon damals mit meinen schönen Perlen, die ich auch auf zwei Bällen dort trug. Durch Empfehlung hatte ich mir liebe Freunde in Professorenkreisen erworben, die sich nie genugtun konnten, mir Abwechslung und Freude zu bereiten. Besonders taten dies die Familien Kölliker und Müller, und es war mir, die ich nie aus Kaufmannskreisen herausgekommen war, hoch-interessant, das Universitätsleben so gründlich kennen zu lernen. Ich verkehrte auch mit der ganzen medizinischen Fakultät, von Kaufleuten nur mit den Familien Crevenna und Adelmann, im Hôtel selbst mit einer interessanten russischen Familie von Zassedtky, reiche Gutsbesitzer, die sich in die Aufhebung der Leibeigenschaft (1867) erst sehr fügen mußten. Der Mann war ein echter Mongole, die Frau eine große Schönheit. Sie hatten ein vierjähriges Töchterchen und eroberten sich durch lange Kuren und Geduld dort den ersehnten Erben, mit dem sie mich zwei Jahre später in Amsterdam besuchten.- Es war ein bitterkalter Winter, während 14 Tagen im Januar schwankte das Thermometer nur zwischen 14 und 23 Grad Kälte. Drei langweilige Wochen Hausarrest brachte mir damals einen hartnäckigen Katarrh, sonst aber vergingen die Tage in reicher Abwechslung, … täglich von 12 bis 1 Uhr war vor dem Hotel Parade, es gab Spaziergänge, Gesellschaften, Oper, Theater! Emil Devrient2 gastierte und wohnte direkt neben mir, wir sahen ihn in allen Rollen, auch in der des schönen Mannes am Tag! – Anfang März durfte ich endlich nach Hause, mein Bruder Heinrich holte mich, denn damals war es undenkbar, daß eine so junge Frau allein reiste. Meinen Mann fand ich leider an schwerer Bronchitis erkrankt im Hause meiner Eltern, da unser neues noch nicht fertig gestellt war. Wir bezogen es erst im Mai.
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Anderthalb Jahre vergingen in Sehen und Hoffen und als endlich Erfüllung winkte, gab es die achte Enttäuschung. Das Leiden war durch die lange Dauer nochmals wiedergekehrt. Wir schienen uns in Unabänderliches finden zu müssen und schlossen uns umso inniger aneinander an, genossen unsere Liebe, unser schönes Haus, manche Reisen, viel Geselligkeit und hatten viele Freunde. Ein Whistkränzchen alle 14 Tage erhielt sich durch lange Jahre, sechs Herren und sechs Damen. Wir Frauen plauderten meist am Whisttisch, und beim Abendbrot herrschte stets frischer, fröhlicher Geist. Ich suchte Ersatz in Büchern, studierte gründlich Shakespeare mit dem Kommentar von Gervinus, er ist mein Lieblingsdichter geblieben, aber auch Goethe und Schiller und viel Naturgeschichte, insbesondere Himmelskunde las ich viel und gerne. Großen Einfluß gewann damals mein Schwager Theodor auf mich und wollte mich durchaus zur strengsten Orthodoxie bekehren, in der er bei viel Entsagung Trost und Kraft gefunden hatte, der aber auch er im späteren Leben nicht treu blieb. Darüber gab es einige der sehr wenigen Konflikte, die ich je mit meinem Manne gehabt habe. Dieser ging, so lang wir vereint im Leben waren, 41 Jahre lang, niemals von einem einmal genommenen Standpunkt ab, redete niemals über Religion, so sehr ich mich danach sehnte und ihn veranlassen wollte, und doch war er auf die Dauer treuer und frömmer als ich, er schlief nie ein, ohne sein Vaterunser gebetet zu haben und schwankte nie im Glauben an Gott. Ich quälte mich viele Jahre neben ihm, bis ich endlich zu befriedigendem Abschluß gelangte. Damals in den Jahren des vergeblichen Hoffens las ich sehr viel in der Bibel, auch hier und da ein orthodoxes Buch, z.B. Lutthardts Apologische Vorlesungen, oft glaubte ich nun ganz sicher der erstrebten Wahrheit zu sein, ging stets zur Kirche und fühlte mich dann unglücklich, anders zu denken wie der geliebte Mann. Ich war aber niemals wirklich sicher, immer wieder tauchten Zweifel auf, wie sie schon zuerst in der Konfirmationszeit vorübergehend mich befielen. Viel gab mir damals der alte Probst Nitzsch, dessen Hundert Predigten ich alle oft gelesen habe. Gern sprach ich mit Gesinnungsgenossen über Religion, und ich habe auch einige fördern helfen, aber der Stachel blieb und der fortgesetzte Drang, zur Klarheit zu kommen. Das Leben Jesu von Strauß interessierte mich lebhaft, nahm mir aber nichts, weil dann auch gar nichts übrig geblieben wäre. Auch Ernest Renan3 habe ich gelesen und nur den Stil bewundert. Dann wurde Hülsmann lange mein treuer Begleiter, und endlich nach Jahrzehnten kam ich ungefähr auf gleicher Stufe an, auf der mein Mann gestanden und die er niemals verlassen hat.
Ich glaube an Gott, den Vater, allmächtiger Schöpfer (des) Himmels und der Erde, ich glaube an den Menschen Jesus Christus, der allein von allen Religionsstiftern Selbstlosigkeit und Liebe zum Nächsten gepredigt hat, dessen Lehre und Vorbild genügt, gute und glückliche Menschen auf Erden zu machen, und ich glaube an einen heiligen Geist, der vom Schöpfer ausgeht und in jedes Menschen Herz einen Funken erzeugt, der erlöschen, aber auch zur mächtigen Flamme werden kann, und in Jesus wurde dieser Funke zur Flamme nicht nur, sondern zum Feuer, das durch die Jahrhunderte brennt. – Ich glaube nicht an Erhörung des Gebets, als wenn es irgendwie den Willen Gottes beeinflussen könnte. Deshalb bete ich nicht mehr. Ich anbete nur oder versenke mich zuweilen in die Tiefen des „Vater unser, der Du bist im All“, denn sie erschöpfen alles, was das Menschenherz bewegt – und suche mich zu ergeben in das Leid, das mir widerfährt und bin dankbar für jedes Glück. Ich glaube nicht an die Auferstehung des Leibes und erwarte ruhig den Tod, den so viele, die ich liebte, vor mir litten, gleichviel, ob er zum ewigen Nirvana führt oder zum Aufbau eines neuen geistigen Daseins, ich fühle mich sicher in des Schöpfers Hand, mich und die Meinen. Nicht lange nach jener Enttäuschung, noch während einer angefangenen Kur, fühlte ich mich endlich Mutter und sah mit Freude der frohen Zeit erfüllter Wünsche entgegen. Grausam und hart traf es uns aber, als nach sechsjähriger Ehe ein wohlgebildeter Knabe uns im Arme lag, aber weiß wie Wachs, ein kleiner Engel mit dem tiefen Ernst des Todes im lieben Gesichtchen. Ein unbegreiflicher Leichtsinn des Arztes verschuldete dieses Geschick. Es mußte getragen werden! Nicht gleich kam uns Ersatz und Ableitung, und Erholung war uns nötig. Wir verbrachten im Jahr 1863 vier schöne Monate in Italien, besuchten Genua, die Riviera, Pisa, Florenz, Rom, Neapel und Sorrent und Capri. Wohl vorbereitet freuten wir uns der Kunst, noch mehr der Herrlichkeit der Natur, wozu es keiner Vorbereitung bedarf. Bis Rom begleitete uns Carls Bruder Theodor und genoß mit uns und war mir auch ein großer Trost, als Carl in Florenz ernstlich an Unterleibsentzündung erkrankte. Über Genf kehrten wir zurück (Mont Cénis) und erkrankten beide dort durch den raschen Übergang von den blühenden Rosen und milden Lüften zu dem kalten Zug des Nordens und lagen mehrere Tage fest, sehnlich zu Hause erwartet, wo Wichtiges sich zugetragen hatte.
Wir fanden den Bruder Heinrich verlobt, statt abgereist nach Indien, wie er vorgehabt. Ein Jahr später hielt ich endlich mein erstes lebendes Kind am Herzen, zart und klein, aber seliges Entzücken erregend, meine Dora. Sie entwickelte sich erfreulich, und die Freude, die sie uns nach so langer Entsagung bereitete, ist nicht auszudenken. Als sie erst Papa und Mama sagen konnte, mußte sie es immer wiederholen. Wir konnten das lang entbehrte Wort nicht oft genug hören. Da war es schon gut, daß das Brüderlein nicht allzu lang mehr auf sich warten ließ, sonst wäre wohl die Verwöhnung zu groß geworden. Und Dora war nicht eifersüchtig, sie liebte den kleinen, dunkeläugigen I-A, wie sie ihn gleich nannte, sehr, aber als die zwei Jahre später erschienene Schwester erst vernünftig wurde, spielte sie immer mit dieser, und Ferdinand ging seine eigenen Wege, spielte und baute für sich, wenn die Rehbocks-Buben nicht zur Hand waren. Er machte sich nichts aus Mädchen! Später ist das anders geworden.
Nun schien der Kindersegen erschöpft und wir ließen gefaßt und ruhig noch dreimalige Enttäuschung über uns ergehen, fühlten uns reich und hochbeglückt im Besitz der drei gesunden Kinder.
Die schwarzen und roten Linien zeigen, dass erst 1855 eine Verbindung von Stettin über Berlin nach Frankfurt am Main fertiggestellt war; die Verbindung durch das Rheintal bis nach Amsterdam stammt aus der Zeit von 1856 bis 1866, (grüne Linie) während die Rheinstrecke Richtung Basel und durch das Maintal bis Nürnberg aus dem Jahrzehnt davor stammt. Ein Fürst wie jener von Hessen –Nassau, von dem die Autorin spricht, war gegen den Eisenbahnbau. Preußen hingegen erkannte bereits früh die wirtschaftliche und die strategische Bedeutung der Eisenbahnen. Der blitzschnelle Aufmarsch der Armee unter Generalstabschefs Graf Moltke 1866 zeigte, wie wichtig ein gutes Eisenbahnnetz war.
Warum Carl Becker 1870 die Kutsche von Amsterdam aus nach Gelnhausen benutzte, wird nicht deutlich; wahrscheinlich brauchte die Armee das ganze rollende Material. Aber ob die Landstraßen in einem besonders guten Zustand waren in Hessen, ist eher zu bezweifeln.
Gelnhausen
Im Jahr 1865 war die Villa in Gelnhausen bezogen worden. Ihre imponierende Größe war wohl kaum so beabsichtigt gewesen, – auf dem Papier sehen die Pläne immer anders aus, – aber der Vater4 lebte noch in patriarchalischer Anschauung und meinte, dort alle seine Kinder und etwaigen Enkel immer gleichzeitig um sich versammeln zu können. Für alle 4 waren die Räume vorgesehen und für uns Beckers wurde beim Bauen nicht mehr an Kinderstuben gedacht und mußte gleich noch eine Tür durchbrochen werden, denn die kleine Dora war mit unter den ersten Gästen und der Gegenstand allgemeinen Interesses. Schwester Emma5 kam schon mit zwei Kindern, Heinrich6 mit seiner Frau und Sophie und Carl7 brachten zur Einweihung des Hauses seine Braut. Sie alle wohnten dem Einweihungsfest bei, zu dem der Vater auch noch alte Schulkameraden lud, die auf anderer sozialer Stufe standen. Er wußte aber alle zu vereinen, besaß ein großes Unterhaltungstalent und war unter seinen Mitbürgern nicht nur wegen dieser Eigenschaft außerordentlich beliebt.
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Gelnhausen
Wo die Kinzig ihr schmales Tal zwischen Vogelsberg und Spessart verläßt, um in einer weiten, grünen Ebene dem Main zuzufließen, liegt am Südhang des Vogelsbergs die alte Barbarossastadt Gelnhausen.
Schon früh befindet sich hier, an einem Kreuzungspunkt uralter Völkerwege und der einst schiffbaren Kinzig, der Sitz eines fränkischen Königshofes. Im 12.Jahrhundert errichtet Kaiser Friedrich von Hohenstaufen, genannt Barbarossa, an dieser Schlüsselstelle eine Pfalz als repräsentative Wohnstätte für den Herrscher des abendländischen Reiches. Zugleich gründet er im Jahre 1170 aus bereits vorhandenen Siedlungskernen die Freie Reichsstadt Gelnhausen.
Aus einem Prospekt der Stadt Gelnhausen
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Wir Jüngeren mußten uns erst eingewöhnen. Der Weg zum Wald war weit und keine Spur von Schatten im Garten. Ganz leicht wurde es darum Carl und auch mir nicht, auf des Vaters Vorschlag einzugehen und Miteigentümer der Villa zu werden. Aber die Umstände machten es notwendig. Der Besitz war zu groß und zu kostspielig für die Eltern allein geworden und mein Mann im Alter dem Schwiegervater zu nah, um stets nur als Gast bei ihm zu sein. Über zehn Jahre bis zu des Vaters Tod 1879 bestand dies Verhältnis und verbrachten wir stets den ganzen Sommer in Gelnhausen, das uns dann auch nach und nach zum Heim wurde und es geblieben ist.
Krieg von 1866
Kaum eingelebt im Jahr 1866,8 – als wir schon mit zwei Kindern, Rehbocks mit dreien kamen, – brach der Krieg aus, der uns Beckers in Wiesbaden überraschte. Wir sahen also die durchflutenden Kurhessen noch nicht, dann aber die hin – und herziehenden Württemberger und später die siegenden Preußen.
Für uns Holländer, die noch niemals mit einem Offizier gesprochen hatten, war der Verkehr mit diesen Herren sehr interessant. Alle waren stets erfreut über das schöne Quartier und meist in guter Stimmung; der Ernst der Sache war noch an keinen herangetreten; so genossen sie gern, was der gute Tag gerade bot, und als nun gar Prinz Wilhelm von Württemberg mit seinen Begleitern bei uns einzog, schon damals der präsumtive Thronerbe und jetziger König, da gab es drei wunderschöne Tage für uns junge Frauen, die uns vorübergehend das Schwere der Lage vergessen ließ. Das Wetter war schön, wir spielten mit Kgl. Hoheit im Garten, besuchten die hinter Haitz liegenden Truppen, 20 000 Mann, wir im Wagen, die Herren zu Pferd, nach Tisch spielte die Regimentsmusik, abends saß man auf dem Balkon und übte sich in der Anrede mit der dritten Person in der Mehrzahl. Der Prinz war 18 Jahr, fröhlich und gut aufgelegt und die Herren der Begleitung, 8 Offiziere, alle äußerst liebenswürdig.
Als die letzten Württemberger abzogen, gab es ganz stille Tage, man hörte den Kanonendonner von Aschaffenburg her und die Angst vor dem Kommenden nahm wieder überhand. Da plötzlich mittags 12 Uhr Militärmusik, – die Preußen zogen als Sieger ein. Unser ganzer Hof lag plötzlich voll von erschöpften Soldaten, die in der Gluthitze mit den Tornistern unter dem Kopf schliefen, nachdem sie vorher den Brunnentrog leer getrunken und die Kühe ausgemolken hatten. – Mein kleiner Ferdinand hatte an diesem Tag keine Milch, denn auch ich hatte vor Schrecken die meine verloren. General Bayer führte sich und seinen Stab mit den Worten ein: „Wir kommen nicht als Feinde, wenn Sie uns nicht als solche betrachten.“
Wir hatten im Ganzen für 50 Menschen Quartier zu beschaffen, – die Soldaten lagen in Schulsaal und Kegelhalle auf Stroh. Wir mußten aber auch für Essen sorgen.- Niemand war verwöhnt und alle waren zufrieden. Für die Herren wurden vorrätige Hühner geschlachtet und es gab eine Lende, warm noch dem Ochsen entnommen. Die Soldaten bekamen einen westfälischen Schinken in Stücke geschnitten und dadurch schnell gar. In der Brühe gab´s Kartoffeln und Sellerie und zum Fleisch Salzbohnen vom Winter her. Die noch neue Haushälterin hatte noch kein Maß und so viele Bohnen eingemacht, daß nun so viel Mannschaften satt werden konnten. Im Haus des Kaffeekönigs fehlte es auch nicht an diesem braunen Getränk, und Wein war auch da, Bier längst ausgegangen. Zum Glück zogen alle den andern Morgen weiter nach Frankfurt, der damals so unglücklichen Stadt. Die Regimentsmusik hatte wieder aufgespielt und der General uns beruhigend versichert, nun seien wir hinter der Kriegslinie und aus jeder Gefahr eines Zusammenstoßes. Es käme in zwei Tagen noch ein zusammengestoppeltes Korps unter Oberst von Kortfleisch durch, auch noch für eine Nacht 10 000 Mann. So schliefen wir alle todmüde, aber endlich einmal ohne Sorgen ein. Auch die Dienerschaft war abstrapaziert, die Parkettböden sahen aus wie in einer Herberge der gewöhnlichste Fußboden, man hatte für ihre Pflege keine Zeit, denn irgendwelche Aushülfe war nicht zu erlangen, der kleinste Mann hatte seine Soldaten.
Am nächsten Morgen reisten unsere Herren ab, denn in Amsterdam bedurfte ihrer das Geschäft natürlich auf das dringendste. Und den nachfolgenden Tag kam denn auch der Oberst mit seinen Offizieren, alle in bester Laune über den errungenen Sieg. Plötzlich, als die Regimentsmusik vor dem Hause spielte, entstand Unruhe auf dem Balkon unter den Offizieren, es gab finstere Gesichter, Geflüster, Hin- und Herrennen von Ordonanzen, und bald erfuhren wir durch einen Reserveoffizier, man erwarte Überfall der Bundestruppen, die das zurückgebliebene Korps leicht abschneiden könnten. Der Tag und die Nacht vergingen in großer Sorge, alle Truppen schliefen in Marschrüstung und der Wagen stand angespannt, um eventuell Frauen und Kinder in die Berge, nach Gettenbach zu bringen, um sie vor Kugeln zu sichern.- Aber es regte sich nichts. Früh morgens zogen die Truppen dann ab mit klingendem Spiel, und wir waren hinter der Kriegslinie. Bald gab´s ja dann Frieden, aber die Einquartierung hörte den ganzen Sommer nicht auf. Die Eisenbahn war noch nicht gebaut, da Kurfürstliche Gnaden sie seinen Landeskindern nicht gönnte.11
Im Jahr 1867 besuchten wir die Pariser (Welt)Ausstellung und genossen sie 14 Tage lang gründlich, und im Jahr 1868 zogen wir mit drei Kindern in die Villa ein. Nach und nach gab es auch Schatten im Garten, und viel Besuch weilte bei uns.
Im Frühjahr 1870 brachten wir unsere Kinder nach Berlin, um sie und besonders Emma Ziliaris ihrer unglücklichen Patentante Zilli zu zeigen. Wie ich bereits erwähnte, war sie als 20jährige Frau nach neun Monate langer Ehe Witwe geworden. Da sie ohne jedes Vermögen war, nahmen sie die Schwiegereltern zu sich und sie lebte auf dem Linsenberg vom Jahre 1836 bis 1854, also 22 Jahre, auch nach des Vaters Tod bei Helmsdörffers. Sie machte sich nützlich, so viel sie konnte, war aber ihr Leben lang sehr kränklich und oft schwer leidend. Als ich sie kennen lernte, war sie eine zarte, kleine aber vornehme Erscheinung, die mit rührender Geduld ihr schweres Leben trug. Im Jahr 1856, bei der Auflösung des Hauses, zog sie zu einem verwitweten Bruder nach Frankfurt a. d. O., dem Major Rödlich und erzog dessen einziges Töchterchen; bei seiner Versetzung kam sie nach Berlin, wo ich sie nun das zweite Mal im Leben wiedersah. Vorher hatte ich sie mit Carl auch einmal in Frankfurt a.d.O. besucht. Im Jahre 1870 war sie bereits so taub, daß nur schriftliche Unterhaltung mit ihr möglich war oder Fingersprache, in die ich mich auf der Reise zu ihr einübte. Sie freute sich sehr über die Kinder, und Emma schlief einmal 2 Stunden auf ihrem Bett. So wenig wir uns sahen, so innig wurde unser schriftlicher Verkehr von Anfang an, und es war mir eine große Freude, ihr geistig viel sein zu können. Später zog sie bei einer zweiten Versetzung ihres Bruders nach Breslau, wo sie am 25. Januar 1873 starb, nachdem sie nicht nur taub, sondern auch lichtscheu und dann ganz blind geworden war. Am Hochzeitsmorgen im Oktober 1895 besuchte ich ihre letzte Ruhestätte.
Wir wohnten damals in Berlin Unter den Linden und hatten nachts wenig Ruhe, da das Fahren nicht eine Minute aufhörte. Dies wirkte ungünstig auf die Bonne, die wir mit hatten, und unheimliche Symptome beunruhigten uns in ihrem Benehmen. Nach Gelnhausen zurückgekehrt, mußten wir uns bald davon überzeugen, daß Irrsinn bei ihr ausgebrochen war. Es gab aufregende Tage. Sie wollte mit dem Kind auf dem Arm vom Balkon sich herunterstürzen, und so brachte sie mein Mann noch an dem selben Tage nach der Irrenanstalt Heppenheim. Dort starb sie nach 2 Jahren.
Krieg 1870/71 gegen Frankreich
Noch kaum hiervon erholt, brachen die Kriegsbefürchtungen aus, an die aber niemand ernstlich glaubte. Da, im Juli, als das Haus gerade recht besucht war, flog wie eine Bombe die Kriegserklärung Frankreichs in die Welt und auch in unsere Villa ein. Der Besuch reiste ab, und mein Mann, der in Amsterdam war, schickte drei Depeschen, weil er stets keine Antwort bekam. In Deutschland nahm das Militär alle Linien in Beschlag. Am dritten Tag kam dann Carl, mich und die Kinder zu holen, er wollte nicht, daß der Krieg sich zwischen uns abspiele, und damals erwartete jedermann sofort einen Einbruch der Franzosen über (Bad) Kreuznach. Auch wir dachten nicht anders als dem Feind schon zu begegnen – aber wir kamen nach schrecklicher Reise mit viel Verspätungen doch glücklich nach Amsterdam, wenn auch ohne Koffer, die erst 8 Tage später anlangten. Es war eine wilde Flucht aus allen Bädern und Sommerfrischen und ein Getriebe, ein Geschrei, eine Angst auf allen Bahnhöfen, die nicht zu beschreiben sind. Zu Hause fehlte zunächst für die Kinder die Wäsche, sie mußten einen guten Teil des Tages im Bettchen verbringen, bis wieder gewaschen war.
Der Sommer verging unter schwerem Druck. Zwar berauschten und beruhigten die sich schnell folgenden Siegesnachrichten, aber man fühlte viel schweres Elend mit, nicht nur das, was die Krieger ausstanden. Es gab auch in der Heimat maßloses Unglück und Verarmung in großer Zahl. Man wagte kaum die herrlichen Pfirsiche und Trauben zu genießen, – die ungewohnt billig verschleudert wurden, dachte man an den Durst der Verwundeten und Sterbenden, an den Mangel derer, denen der Krieg alles geraubt hatte! Und nach dem großen Siege von Sédan schlug die bisherige große Sympathie der Holländer in Angst um, und man fühlte überall Haß und unfreundliches Wesen. Selbst wenn man sich nie so deutsch gefühlt und man immer stolzer auf das Vaterland wurde, man sehnte sich, dort zu sein, mit einzustimmen in den Jubel und in alle Begeisterung.
Als nun endlich Paris gefallen und der letzte Sieg errungen, der ersehnte Waffenstillstand eingetreten war, am 28. Januar 1871, da traf die Familie noch ein herber Schlag. Ein lebensfrisches, junges Leben raffte die letzte Kugel dahin. Carl Becker, Friedrichs Sohn, fiel an diesem Tag in einem Vorpostengefecht bei Blois. Eine französische Kugel verwundete ihn, eine zweite tötete sofort! Er hatte bereits das Kreuz erster Klasse, obschon nur ein einfacher Leutnant in einem hessendarmstädtischen Regiment. Der Großherzog selbst machte dem Vater Mitteilung, und die Kameraden setzten ihm ein Denkmal, das auch mitging in die Heimat, als dorthin seine Reste überführt wurden.
Dem Verlangen folgend, nun auch etwas aus dieser großen Zeit zu erleben, reisten wir zum Einzug der Truppen nach Berlin, wohnten bei Trendelenburgs13 und saßen auf einer Tribüne der Universität und teilten die flammende Begeisterung beim Anblick all der großen Männer und all der braven Truppen!
Konsul Conrad Schöffer, Privatier und Landtagsabgeordneter in Berlin
Nun kam eine kurze Zeit großer Prosperität für den Handel, mein Vater benutzte sie zur Liquidierung seiner großen Kaffeevorräte, die teils schwere Krisen mit durchgemacht und zog sich als wohlhabender Mann von den Geschäften zurück, lebte im Winter in Berlin als Abgeordneter des Landtags, und kam mit der Mutter meist zu Weihnachten und Neujahr nach Amsterdam in unser Haus. Auch mein Mann glaubte, genügend für sich und seine Kinder gesorgt zu haben, und schied aus dem Geschäft. Seine bis dahin oft schwankende Gesundheit besserte sich, aber auf meinen Vorschlag, nun vielleicht nach Frankfurt ziehen zu können, meinte er: „Man schlägt in meinem Alter nicht mehr so leicht Wurzel. Hier kennt man mich und weiß, daß ich noch etwas leisten kann, am fremden Ort wäre ich ein Rentier wie viele auch und nichts anderes.“ So blieben wir noch zwölf Jahre in Amsterdam, und mein Mann fand volle Beschäftigung in vielen Ehrenämtern und verblieb auch in einem geschäftlichen Unternehmen, das er mit begründet hatte: die Nation als Hypothekenbank. Ein paar Jahre nach der Gründung verübte der Präsident des Aufsichtsrats Sarfati Selbstmord und brachte die Bank an den Rand des Verderbens. Mein Mann wurde zum Präsidenten nach ihm gewählt und brachte anscheinend Opfer, die sich freilich als das Gegenteil erwiesen. Mit anderen Mitarbeitern brachte er das Institut zu hoher Blüte. – Er war nun ein freier Mann und verlebte fortan den Sommer mit uns in Deutschland. Wir pflegten erst im späten Herbst zurückzukehren. Im Jahr 1875, als schon Pferde und Diener vorausgeschickt waren, erkrankte erst Dora, und dann Ferdinand und Emma an Scharlach, und wir waren gezwungen, bis zum 7. Januar in Gelnhausen zu bleiben. Meine Eltern freuten sich, daß wir noch bei ihnen waren als die Krankheit ausbrach, und diese verlief nach der ersten ängstlichen Zeit auch gnädig und ohne jede Nachkrankheit, sodaß wir uns gemütlich einrichten konnten. Nur Dora hatte eine Zeit lang ängstliche Phantasien, in denen sie sich besonders mit einem blauen Hund mit gelben Ohren beschäftigte. Ganz unvermittelt schwanden plötzlich die kranken Vorstellungen, sie war ganz normal und wußte absolut nichts davon. Bald aber setzten sie sich wieder fort, als hätte keine Unterbrechung stattgefunden. Wochenlang spielten sie Kinder vergnügt in ihren Betten, und Ferdinand schnitt Hunderte von Soldaten aus und spielte mit den selbstgebastelten Regimentern. Wir Alten hatten Zeit und konnten uns der kleinen Gesellschaft viel widmen, und nachdem ein kleiner Schrecken gut verlaufen war, feierten wir ein reizendes Weihnachts-fest. Der Schrecken ging von mir aus, als es schien, daß auch ich Scharlach bekommen sollte, es blieb bei einer schweren Halsentzündung, wäre aber sehr gefährlich gewesen, da der Storch, der uns so lange vernachlässigt hatte, einmal wieder angeklopft hatte und freundlich willkommen geheißen wurde, was lang nicht jeder begreifen konnte. Wir hatten 7° kalt, als wir nach Amsterdam zurückkehrten, doch alles verlief gut. Der Hauslehrer Uhle war gerade nach Gelnhausen gekommen, als die Krankheit ausbrach und fuhr wieder in seine Heimatzelle zurück. Auch Dora lernte Latein bei ihm, damit Ferdinand nicht allein sei. Vor diesem akademisch gebildeten Lehrer hatten die Kinder einen Seminaristen gehabt, der recht guten Unterricht gab, aber etwas derb verfuhr, auch wenig Manieren besaß. Herr Uhle dagegen war sehr fein – zu fein! Etwas sehr für seine Würde besorgt. Eine liebe angenehme Hausgenossin war eine Wandländerin, Fräulein Aline Challand. Sie kam 17jährig zu uns und unterrichtete die Kinder neben dem Lehrer, besonders im Französischen, das auch während ihres 7 jährigen Aufenthaltes bei allen Mahlzeiten gesprochen wurde, sie verließ uns 1882, erlebte also die Geburt unserer drei jüngeren Kinder. Mit großer Freude wurde zunächst der kleine Carl begrüßt. Strahlend umstanden ihn die Geschwister, voller Erstaunen, woher er nur so plötzlich gekommen! Aber auch uns Eltern erschien er nach so langer Zeit wie ein Wunder, ein ganz seliges Wunder, es war uns fast wieder wie ein erstes Kind und blieb lange der Mittelpunkt der ganzen Familie, bis sich Frida zu ihm gesellte. Ein Ausgang bei nassem Schneewetter veranlaßte ihr zu frühes Erscheinen in die Welt, und daß dies gerade an meinem Geburtstag geschah, machte die Sorgen um sie nicht kleiner, sie war zu zart, um Nahrung an der Mutterbrust zu nehmen und am sechsten Tag war sie in größter Lebensgefahr, fast wie tot. Nach zweistündigem Bemühen kam wieder Leben in sie, und sie lag dann 6 Wochen zwischen drei heißen Krügen in Watte gewickelt, und man hörte keinen Ton. Erst zur Zeit, als sie eigentlich hätte kommen sollen, fing sie wie andere Kinder an zu schreien und nahm auch Nahrung bei einer Amme. Mir ging es auch schlecht in diesem Wochenbett, neben anderen Leiden hatte ich täglich holländisches Fieber und nahm vier Monate lang alle Tage ein halbes Gramm Chinin, bis wir endlich im Mai nach Deutschland konnten, wo mich das Fieber sofort verließ, und ich mich für das Ertragen einer schweren Zeit noch rechtzeitig erholte.
Tod des Vaters Conrad Schöffer
Schon den ganzen Winter waren die Berichte über meinen Vater sehr beunruhigend gewesen, er mußte seine Tätigkeit als Abgeordneter in Berlin niederlegen, war eine Zeit lang in Gelnhausen, dann aber im Süden, in San Remo, natürlich in Begleitung meiner Mutter, aber auch in der seiner Schwester Sannchen und einer jungen Nichte. An eigentliche Gefahr dachte aber niemand, bis eines Tages eins der Kinder gerufen wurde. Mein Bruder Carl holte Vater und Mutter zurück, es war eine aufregende Reise, wegen großer Schwäche des Vaters und seines höchst quälenden Hustens. Damals verlangte ein Sodener Arzt, der auch Abgeordneter und dadurch zur Behandlung des Patienten gekommen war, dieser müßte, bevor er nach Gelnhausen zurückkehrte, einen Übergangsaufenthalt in Soden von vier Wochen nehmen, NB in des Arztes eigenem Haus! – Dies war für den Kranken, der sich mit allen Fasern seines Herzens nach der geliebten Heimat sehnte, recht qualvoll und ohne jeden Nutzen. Dort in Soden sah ich Vater nach acht Monate langer Trennung wieder und erschrak aufs tiefste über die mit ihm vorgegangene Veränderung, wußte mit einem Mal, daß er verloren sei, sah es an der hektischen Farbe seiner Wangen. Selig war er, als er sein geliebtes Gelnhausen wiedersehen und sich am Anblich der Enkel erfreuen durfte. Rührend war es, wie er immer schwächer werdend, zuletzt im Rollwagen sitzen mußte und dem ihm gegenüber in seinem Wägelchen liegenden Baby (Frida) freundlich zulächelte. Auch das Kind lachte. Anfang und Ende des Lebens berührten sich täglich. Vom 6.August an mußte er oben in seinem Zimmer bleiben; er hustete immer mehr, aber er blieb genesungsfreudig. Nur einen Tag lag er zu Bett, und als die Trennungsstunde kam, waren alle Kinder da und viele Enkel um ihn versammelt. Am 12.August nahm er rührenden Abschied von jedem Einzelnen, ließ die Abwesenden grüßen und sprach warme Dankesworte zu meinem Mann; sein letztes Wort war: „Wir sehen uns besser wieder!“ Dann versank er in Bewußtlosigkeit und Agonie, die 17 Stunden dauerte. Vier Stunden vor seinem Heimgang traf mich noch ein liebevoller, erkennender, dankbarer Blick. Es war am 13. August 1878 mittags 12 Uhr, als er die Augen schloß. Die Glocken konnten bei seiner Beerdigung nicht läuten, sie waren in Reparatur, denn man war gerade mit der Restaurierung der Pfarrkirche beschäftigt, um die er große Verdienste erworben hat. Er leitete die Sammlungen, verschaffte den Staatszuschuß, und war in jeder Weise tätig, Vorsitzender der Baukommission. Leider hat er die Vollendung nicht mehr geschaut. Sein Nachfolger als Vorsitzender in gleichem opferbereitem Tun war dann mein Gatte, der am 29.August die Einweihung leiten durfte, die in feierlichster Weise vor sich ging. Der Oberpräsident war nebst vielen Gästen dazugekommen und wohnte bei uns im Haus. Noch ehe dieser ereignisreiche Tag zu Ende ging, lag unser jüngstes und kräftigstes Kind (Alexander) in der Wiege. Auch dem leitenden Architekten Baumeister Schmidt war am selben Tag ein Sohn geboren. Zwei Jahre später feierten wir unsere silberne Hochzeit, es war ein froher, unvergeßlicher Tag, eine Überraschung folgte der anderen, man konnte sich nicht genug tun in Erweisungen der Liebe und Anerkennung. Wir waren tief dankbar und hocherfreut über alles Gebotene. Die Mitwirkung unserer Kinder überraschte uns ebenso wie die dichterischen Darbietungen der Geschwister. Das ganze Städtchen nahm teil, und die liebe Mutter mit weißen Spitzen und Schmuck freute sich mit uns trotz allen wehmütigen Gedenkens. – Drei Jahre nach diesem Fest November 1882 faßten wir den Entschluß, Amsterdam doch zu verlassen. Es kam rasch zur Entscheidung. Wir hatten unseren Ältesten, Ferdinand, schon mit zwölf Jahren aus dem Elternhaus ziehen lassen müssen, der von uns gewünschten deutschen Erziehung wegen. Er war nun schon vier Jahre in der Familie eines pensionierten Offiziers in Darmstadt, Oberstleutnant von Kessert, und machte während dieser Zeit verschiedene ernste Krankheiten durch, die uns stets Kummer und oft übertriebene Angst durch die Entfernung versetzten. Nun erkrankte er wieder und zwar traf es sich, daß wir gerade einen fröhlichen Ball zu Hause hatten, während er in Darmstadt durch ein abnorm hohes Fieber in Lebensgefahr geriet, und man uns am nächsten Morgen telegraphisch an sein Lager rief. Dies Zusammentreffen erschütterte uns sehr, und da uns mittlerweile noch zwei Knaben zur Erziehung anvertraut waren, wollten wir uns nicht wieder solchen Ereignissen aussetzen, und beschlossen, nach Frankfurt zu ziehen. Es war ein schwerer Abschied, denn die Befürchtung, die mein Mann schon vor zwölf Jahren ausgesprochen hatte, bestand weiter, und wir mußten sehr viel verlassen, – ein wunderschönes Haus, sehr lieben und großen Freundeskreis, zwei Geschwisterhäuser, mit denen wir eng verbunden waren, meinem Mann angenehme und ersprießliche Tätigkeit und eine sehr angenehme Stellung, – auch ich war im Vorstand einer Industrieschule, die mich sehr interessierte. Wir sahen oft und gern Leute bei uns, und da die Kunstsammlung Carls bereits einen gewissen Ruf erlangt hatte, besuchten uns auch angesehene Fremde. Von hervorragenden Gästen, die an unserem Tisch saßen, nenne ich den Prinzen Reuß Heinrich VII., der sich bald danach mit einer weimarschen Prinzessin vermählte, den Großherzog von Mecklenburg, Großvater des jetzt regierenden, ein liebenswürdiger feiner Herr, der mir ausführlich die Geschichte seiner drei Ehen erzählte. Der Herzog von Nassau, später Großherzog von Luxemburg, der seine Leiden im Jahre 1870 schilderte. Diese drei waren bei dem Erfinder der Massage Dr. Metzger in der Kur und nahmen gern bei den angesehenen Deutschen Einladungen an.
Frankfurt am Main
Wir fanden in Frankfurt ein sehr schönes Haus, das aber noch ganz dekoriert werden mußte, und in der Hoffnung, es im September beziehen zu können, verkauften wir das Amsterdamer und haben im August mit Marie Lachmund 14 Tage bei Rehbocks logiert, um die Verpackung zu leiten, aber erst am 20. November war das neue Heim so weit, es beziehen zu können. Wir waren voller Freude, endlich so weit zu sein, da kam wie eine zerstörende Bombe ein Telegramm aus Hamburg, worin mein Bruder Heinrich das sofortige Kommen meines Mannes verlangte! Er reiste in derselben Nacht ab und ließ uns in Frankfurt allein, fuhr dann von 6 Nächten fünfe nachts von einem Ort zum andern, stets in größter Sorge und Aufregung, von Hamburg nach Amsterdam und von da nach (Le) Havre, zurück nach Hamburg und Frankfurt. Mein Bruder hatte sich festgefahren und war nur mit großen Opfern wieder frei zu machen. Für uns ging ein Kindesteils dahin, wir dachten an unser erstes Söhnchen, und mein Mann glaubte, dies seinen Kindern entziehen zu dürfen. Auch hätten wir nicht leichten Herzens im Überfluß leben mögen, wenn der Name Schöffer in Unehre gekommen wäre, ein eigener Bruder nicht seine Verpflichtungen erfüllt hätte. Es waren schwere Tage für den unglücklichen Mann und für uns mit, der Gedanke, was werden sollte mit seinen 10 Kindern drückte schwer auf uns und wir halfen dazu, ihm wieder eine ausreichende Existenz zu gründen. Zunächst war es ein erschwertes Einleben in neue Verhältnisse, auf die wir uns doch auch gefreut hatten. Die erste Nacht im neuen Haus war schrecklich für mich. In Nacht und Nebel fuhr mein Mann hinaus, mit unbestimmten Ahnungen und großen Sorgen, der Wind heulte ums Haus und es war kalt darin und zog überall, da die Dienerschaft noch nicht verstand, die Zentralheizung zu behandeln und unnötige Klappen aufließ. Die nächsten Tage noch viel Handwerker, Kommen und Gehen, Bestimmungen und Einrichtungen machen ohne des Mannes Rat, die schwer drückenden Sorgen und endlich die niederdrückende, traurige Gewißheit!- Bald kam der Bruder zur Beratung. Es gab unendlich Schweres zu ertragen und der Gegensatz mit der Freude am neuen Heim, an der entschieden besseren Gesundheit und an dem Reiz des deutschen Lebens war oft aufreibend.
Mein Bruder fand dann neue Aufgaben und Arbeit in Liegnitz (Niederschlesien, im NW von Breslau), und ich brachte ihm im Frühjahr acht von seinen Kindern, die in Gelnhausen gewesen waren, dorthin, übernachtete mit ihnen in Dresden und freute mich an dem netten Liegnitz und dem dort gemieteten hübschen Haus und Garten.
In Frankfurt lebten wir uns immer mehr ein und verbrachten dort glückliche Jahre. Besonders genoß ich es, nicht mehr im Frühjahr und im Herbst die weite Reise machen zu müssen, denn es war keine Kleinigkeit, jedes Mal 12 – 14 Personen zu verpflanzen, und auch die Pferde gingen mit. Die Nähe der Mutter, die doch immer älter und schwächer wurde, war mir auch eine große Wohltat. Die Kinder gewöhnten sich auch sehr bald ein. Emma, der es am schwersten wurde, Amsterdam zu verlassen, schloß neue Freundschaft, und Dora bald den Herzensbund fürs ganze Leben. Mein Mann fand die kaum gehoffte neue Tätigkeit und konnte sich besonders der Kunst widmen, als Präsident des Kunstgewerbevereins und als Mitglied des Vorstands im Hoch’schen Konservatorium. Leider nahm er auch eine Aufforderung seines alten Freundes an, in den Aufsichtsrat der Kösterbank zu treten und hatte daran viel Leid und Aufregung.
Schon die letzten Jahre hatte uns Fräulein Marquardt nach Amsterdam begleitet, hatte dort das Scharlachfieber durchgemacht, aber durch gründliche Absperrung niemand angesteckt. Diese treue Freundin war 12 Jahre Erzieherin bei uns im Haus, und meine Kinder haben ihr unendlich viel zu danken, mir war sie eine große, unentbehrliche Stütze, und sie wurde und wird immer noch wie ein Familienglied gerechnet und von allen geliebt. Sie verheiratete sich, wurde aber schon nach 10 Wochen Witwe, blieb uns auch als Frau Bergmann, was sie uns als Frl. Marquardt gewesen war.
Hochzeit Doras mit General Hans Riedel14
Im Jahr 1885 feierten wir im August die Hochzeit der ältesten Tochter, der noch rüstige Vater widmete auch ihr sein hübsches Talent, womit er schon viele erfreut und auch einmal bei Gelegenheit der Schillerfeier in Amsterdam 1859 öffentlich Lorbeeren geerntet hatte, er dichtete eine sinnige Auf-führung, die sich teilweise im Garten abspielte. Wie immer zu allen Festen kamen auch meine Geschwister und deren Kinder, und wiederum nahm unser altes Städtchen Gelnhausen regen Anteil. Es war uns allmählich zur Heimat geworden. Im folgenden Jahr, wiederum im August wurde uns dort der erste Enkel geboren; für seinen Vater ein hartes Zusammentreffen, daß damals sein einziger Bruder aus dem Leben scheiden mußte. Der zweite Enkel folgte bald und zwei Monate nach seiner Geburt erkrankte Dora lebensgefährlich an Nierenbeckenentzündung und lag 5 Monate zu Bett, wonach sie mit einer Pflegerin zwei Monate in (Bad) Wildungen und den Rest des Sommers mit den Kindern in (Bad) Homburg verbrachte.- Es war ein stiller, trauriger Winter gewesen, denn die ungewisse Zukunft lastete schwer auf uns, lange Monate war Doras Leben in steter Gefahr, ihr Bewußtsein meistens getrübt, aber sie hatte auch lichte Stunden und sagte einmal: „Es mag schön im Himmel sein, aber ich bliebe doch so viel lieber noch hier.“ Lange, – lange fragte sie nicht nach ihren Kindern und hatte angstvolle Wahnvorstellungen, dann kam die endlose Zeit der langsamen Rekonvaleszenz, mit ihr viele Stunden, in denen der Geist sich gern beschäftigt hätte, und doch zu schwach dazu war. Ich war jeden Morgen von 9 – 1 Uhr bei ihr oder vielmehr bei den Kindern, während ihr Mann als Bezirksadjudant Dienst hatte, den Mittag hat man ihm ganz frei gegeben, dann nahmen mich Mann, Kinder und Haushalt in Anspruch, um so mehr als gerade diesen Winter Emma Marquardt das Bedürfnis gefühlt hatte, einige Zeit bei ihren Eltern zu verbringen, und ich mich mit einer französischen Bonne behelfen wollte. Ich hatte kein Glück, wechselte dreimal und erlebte die wunderbarsten Sachen, war hocherfreut, als endlich die getreue Emma wiederkam. Sie erteilte damals nur im Sommer Unterricht, die Kinder gingen zur Schule. Carl und Alex mußten vom 10. Jahr an in Pension, Frida ging mit nach Gelnhausen und lernte mit einer Freundin, Emma war erwachsen und wurde im folgenden Winter in die Gesellschaft eingeführt. Ferdinand wurde gerade zum Abiturientenexamen krank und mußte das Mündliche allein bestehen, verbrachte dann ein halbes Jahr in einer Pension … in Genf und diente dann bei den Husaren in Bockenheim (bei Frankfurt a.M.), studierte in Leipzig und Berlin, mußte aber zweimal unterbrechen und einige Monate im Süden zubringen, in den Jahren 1888-89, in Montreux und Mentone. Er hatte sich beim Tode des Kaisers Wilhelm durch langes Stehen in Eis und Schnee einen Schaden in der Lunge zugezogen, der aber wieder ganz ausheilte.
Der Sommer 1889 verlief sehr still, die Gäste mußten das Haus verlassen, da ich an Masern erkrankte, und zwar recht heftig. Ich war am Montag im Kindergarten gewesen, den meine Eltern und wir im Jahr 1873 gebaut und bis 1881 unterhalten hatten. Es waren weit über 100 Kinder anwesend, denen ich Pfeffernüsse austeilte. Am Sonntag wurde er geschlossen, da nur noch 16 übrig waren, die keine Masern hatten. So wurde ich mit 50 Jahren das Opfer dieses großen Ansteckungsherdes und brachte die Krankheit meinen Töchtern Emma und Frida. Auch Emma, die mich liebevoll gepflegt hatte, war sehr krank, Frida hatte es leichter, aber wir verloren damals doch alle drei die Haare und erholten uns langsam.
Im November erkrankte Carl am Scharlach, und wir sandten die ganze Familie nach Gelnhausen zur Großmutter, sie vor Ansteckung zu bewahren. Zu Weihnachten war ich allein mit Carl und seiner Pflegerin, ich selbst war auch sehr leidend und viel bettlägerig, hatte Carl nicht sehen dürfen und erst am Heiligen Abend feierten wir Wiedersehen, und da war es denn eine köstliche Überraschung und große Freude für mich, unter meinen Geschenken die Nachricht zu finden, daß Ferdinand das Referendar- und Doktorexamen bestanden hatte. Carl schien seiner Genesung entgegenzusehen. So war das stille Fest doch ein frohes und innerlich beseligtes. Einige Tage danach brach indessen eine schwere Nach-krankheit, Nierenentzündung, bei ihm aus und brachte lange schwere Sorgen. Ein ganzes Jahr kostete die Krankheit, zur Konfirmation wurde er privatim vorbereitet, durfte aber mit den andern feiern, obgleich er nachher noch ein halbes Jahr der Schule fern bleiben mußte. Es war ein eigenes Gefühl für mich, daß er als einziges meiner Kinder auch wie ich in der Paulskirche eingesegnet wurde. Der darauf folgende Winter war ein sehr belebter, da Ferdinand bei den Husaren in Bockenheim diente, und auch durch Emma, die eine beliebte Tänzerin geworden, Leben ins Haus kam, Dora aber sich wiedererlangter Gesundheit erfreute.
Hochzeit Emmas15 mit Ernst von Blumenstein16
und Tod der Mutter Dorothea Catharina Schöffer
Das Frühjahr 1892 brachte Emmas Verlobung und der Herbst ihre Hochzeit in Gelnhausen. Meine Mutter wurde damals schon sehr leidend und mein Mann verlor an Frische, er konnte nicht mehr wie sonst sich an dem Fest beteiligen, doch dichtete er zwei Rundgesänge, überwachte die Dekorationen und überließ mir, meine schwachen Kräfte für alles sonst einzusetzen. Trotzdem war es ein sehr schöner Tag, und die Stimmung war froh und heiter, wiederum zum Polterabend und zum Hochzeitstag etwa 70 Personen versammelt. Der Vater fühlte sich aber doch wohl genug, mich nach Kassel zu begleiten und mir behilflich zu sein bei der Einrichtung des jungen Paares in Kassel, wo wir es beide auch noch ein paar Mal besuchten.
Gegen Weihnachten wurde es bedenklich mit meiner Mutter, und ich war sehr viel bei ihr, immer in Sorge, etwas zu versäumen, wenn ich ein paar Tage in Frankfurt verweilte. Es gelang aber doch, dort den Heiligen Abend zu verbringen, den wir still mit den von der Hochzeitsreise zurückgekehrten Blumen-steins und allen anderen Kindern verlebten. Am ersten Feiertag abends zündete ich der leidenden Mutter ein Bäumchen an, und Frida und Alex sangen ihr dazu: „Stille Nacht, heilige Nacht“. Ihr liebes Gesicht bekam einen strahlenden Ausdruck, und sie konnte dabei im Sessel sitzen. Es folgten schwere Leidenstage, alle Geschwister und mehrere Enkel kamen, um Abschied zu nehmen. Meine liebe, arme Schwester kam nach eben überstandener Operation in Bonn. Die Mutter stand nicht mehr auf. Noch erlebte sie das Neue Jahr, strahlend ging die Sonne im Osten auf, sie sah sie nicht mehr, litt furchtbar unter dem quälenden Husten und klagte wiederholt, daß ich das mit ansehen müßte, – sie litt noch für mich! – Am 3. Januar 1893 trat die Agonie ein und währte volle 17 Stunden, meist bewußtlos, aber doch mit immer erneutem Kampf. Sie sah nach dem Bild des Gatten, griff darnach, aber rief fortgesetzt nach Vater und Mutter und „Gott hilf. “ – Endlich mittags um 12 Uhr trat Ruhe ein, noch ein paar Seufzer, sie hatte überwunden! Ein herrliches Bild tiefsten Friedens lag sie da, verjüngt in der Majestät des Todes! – Es ist schwer, die Mutter zu verlieren, auch wenn man sie noch so lange besessen hat. Der Strom der Liebe, der von ihr ausgeht und der niemals verlischt, in den man sich immer mit Sicherheit flüchten kann, auch wenn sonst alle Quellen im Leben zu versiegen scheinen, den ersetzt keine andere, auch nicht die Liebe des Gatten, nicht die Kinder, denn keine ist so selbstlos, keine so immer vorhanden, so stets bewußt! Meine Mutter war eine lebhafte Natur gewesen, aber stille geworden durch den noch lebhafteren, dominierenden Gatten, aber sie war stets eine sehr glückliche Frau, denn die Liebe meiner Eltern und ihre Äußerungen überdauerte alle Stürme und auch alle Jahre, die sie vereint waren. Und Energie besaß die zarte, oft kränkelnde Frau und erzog ihre Kinder in vollstem Pflichtbewußtsein. Es ist wahr, in jüngeren Jahren fühlte ich mich mehr zum Vater hingezogen, denn er war zärtlicher und oft verliebt in seine Töchter, später aber erkannte ich, wieviel ich gerade der Mutter zu danken hatte und bewunderte ihre Energie, die ganz besonders erst nach dem Tod des Vaters hervortrat.- Vierzehn Jahre hat sie noch als Witwe den ganzen Sommer mit uns Beckers gelebt, und immer war sie leidend in dieser Zeit. Sie hatte sich beim Vater angesteckt, und im Frühjahr nach seinem Tod erkrankte sie in Amsterdam schwer an Tuberkulose und gleichzeitiger Lungenentzündung. Wir schickten die Kinder nach Gelnhausen und waren auf das Schlimmste vorbereitet. Sie sah aber selbst klar und sagte, sie möchte in Gelnhausen sterben. Ihr Arzt, unser Freund Prof. Hertz, gab ihr damals nur noch wochenlange Lebensdauer, und es war eine aufregende Reise, als wir sie mit Hilfe einer Pflegerin nach Gelnhausen brachten, natürlich unterwegs stets getragen. Da geschah ein anscheinendes Wunder, sie lebte wieder auf, ward von Tag zu Tag kräftiger und hustete weniger. Prof. Hertz besuchte uns und untersuchte sie wieder, nun stellte sich heraus, daß ein talergroßes Ephisem, das er für neu gehalten hatte, ein alter Herd war, – längst vernarbt, um den sich die neuen Tuberkeln gebildet hatten. Er erklärte damals, mit Vorsicht könne sie nun noch 20 Jahre leben. Und Vorsicht wurde stets aufs Äußerste angewandt und sie überwand viele Anfälle der bösen Krankheit und da auch alle hygienischen Vorschriften befolgt wurden, steckte sie niemand an, auch nicht ihre treue Pflegerin Marie Lachmund, die 14 Jahre sogar im selben Zimmer schlief und deren Gegenwart und töchterliche Liebe für uns ferne Kinder ein großer Trost all die lange Zeit gewesen ist.
Der Rest des Winters verlief in tiefer Trauer, still und gesammelt, umso mehr als das Befinden meines Mannes Anlaß zur ernsten Sorge gab. Im Frühjahr, das sich durch Todesfälle im Bekanntenkreis auszeichnete, kam es zur Krisis, es war wohl ein Vorläufer der späteren Todeskrankheit, aber an einem Abend war es so schlimm, daß ich zu Dora äußerte, sie solle den Vater noch einmal ansehen, man wisse nicht, ob er den nächsten Tag erlebe.- Aber er erholte sich noch einmal, und zwar zu einer Frische, wie sie vorher lange nicht gewesen war, die das Familienleben wie mit warmen Sonnenstrahlen übergoß. Zunächst aber gab es noch eine schwere Zeit zu überwinden. Als wir in Gelnhausen im Frühjahr 1893 einzogen, fanden wir dort Emma, ihrer Entbindung entgegensehend; sie brach in Tränen aus, als sie den Vater erblickte, der noch jammervoll elend aussah, in ihrem Zimmer schluchzte Emma Marquardt herzbrechend, sie hatte vier Wochen vorher plötzlich ihren geliebten Vater verloren. Im dritten Zimmer lag Frida leidend an diphtherieartiger Halsentzündung und sie war doch gekommen, der Schwester Gesellschaft zu leisten, hatte statt dessen gleich ins Bett gemußt. Mir selbst aber war es traurig zu Mute, öde und leer kam mir die Villa und das Leben darin zum ersten Mal ohne die Mutter, vor!
Auch hier linderte, wie immer die Zeit, und die Kranken erholten sich und neues Leben brach an, als freilich um zwei Monate zu früh die Zwillinge Zilli und Lilli17 geboren wurden. Zart und klein lagen sie in einer Wiege zusammen, so wenig zu unterscheiden, daß Zilli ein Bändchen um bekam, aber sie sahen lieblich und rosig aus und wurden nach langen, sorgenvollen Jahren und mühevoller Pflege gesunde Kinder. Der Großvater, der sein Leben lang sehr kinderlieb gewesen ist, hatte noch viel Freude an ihnen, nahm sie gern zusammen auf den Schoß und spielte sehr viel mit ihnen. Sie waren ihm sehr zugetan.
Im Februar 1894 feierten wir nach holländischer Sitte die silbervergoldete Hochzeit, zu der sich in Frankfurt alle Kinder versammelt hatten. Im November wurde bei uns in Frankfurt im Haus Carola von Blumenstein geboren und erkrankte gleichzeitig Frida recht bedenklich in Montreux, wohin ich sie im Herbst gebracht hatte. Ungleichmäßige Entwicklung ihrer Organe hatten ihr Nervensystem in Unordnung gebracht, und es blieb mir nichts anderes übrig, als sie vor Weihnachten wieder nach Hause zu holen.
Als der Baum brannte und wir alle gespannt waren auf den Ausdruck der Freude bei den Zwillingen, machten diese beide ganz erschrocken kehrt und wollten aus dem Saal heraus, was sich ganz drollig ausnahm.
Hochzeit Ferdinands mit Else Bieder
Den folgenden Sommer 1894 machte Ferdinand sein Assessorexamen und kam sehr bald an die Regierung in Stolp (in Pommern). Seine Referendarzeit hatte er zuerst in Homburg v. d. H. und Frankfurt am Main, 1893-94 in Gelnhausen, dann in Schlesien und besonders in Oppeln (Oberschlesien, im SO von Breslau) verbracht und dort auch Else Bieder kennen gelernt, mit der er sich im Sommer 1893 verlobt hatte und mit der er dann auch bald den Bund der Ehe eingehen konnte.
Die Hochzeit war glänzend und wurde im Oktober in Breslau (Provinzhauptstadt Schlesiens) gehalten. Leider war der Vater zu alt für die weite Reise geworden und Bruder Carl erkrankte gerade vorher und mußte auch verzichten, seine Rolle in selbstgedichteten Stücken übernahm liebenswürdigerweise Schwager Hans. Leider fehlte auch Emma, die die Zwillinge nicht verlassen konnte, die damals über alle Maßen elend waren und wie kleine Zitrönchen aussahen infolge eines lang dauernden Darmkatarrhs.
Im Jahr 1895 erlebte Vater noch die Freude, daß ihm ein Stammhalter20 geboren war. Beckers gibt es ja genug auf dieser
Welt; aber dieser Becker-Stamm ist doch von guter Art; und es war erfreulich, daß er wenigstens in den Nachkommen eines Sohnes von den sechsen, die der alte Carl Ferdinand besessen hatte, fortbestehen durfte.
Tod des Gatten Konsul Carl Becker
Der 21.August 1896, unser vierzigjähriger Hochzeitstag, wurde in Dank und Wehmut gefeiert, denn die Anzeichen mehrten sich, daß des Vaters Bleiben unter uns wohl nicht mehr sehr lange währen würde. Ich hatte einen Teil meines Schmuckes für die vier Töchter neu fassen lassen und erregte aufrichtigste Freude. Der Vater saß strahlend und mit liebevollen Blicken unter uns und empfahl mich in seiner beredten, sinnigen Art liebevoll den Kindern, wenn er einmal nicht mehr sein sollte und dankte mir so warm und herzlich für alle Liebe und Treue, daß ich es tief empfand, wie ich nun vor einem Abschluß der schönsten, ungetrübten Gemeinsamkeit stand. Von da an ging es mit der Gesundheit bald bergab und nach wenigen Wochen gab mir Friedrich Trendelenburg die Gewißheit, daß mein Mann am Krebs leide und in seinem Alter eine Operation nur vorgenommen werden könne, um seine Leiden zu verringern oder das Ende sanfter zu machen. Ich verschwieg den Kindern vorläufig noch diese grausame Tatsache, bis sie auch ihnen nicht mehr verborgen werden konnte. Der folgende Winter verging unter dem Druck dieser Wolke, Frida wurde eingeführt; ich war ein paar Mal mit ihr auf Bällen, und wir gaben sogar selbst noch einen kleinen von etwa 60 Personen, auch Blumensteins waren dabei und der Vater nahm herzlichen, freundlichen Anteil daran bis zuletzt, – dann ging Frida noch hier und da allein in junge Gesellschaft, aber ihr so schon mehr ernster Sinn fand unter dem Druck der Umstände niemals den vollen Frohsinn dafür. Im Herbst wurde Carls Zustand quälend. Friedrich kam zum Konsult und konnte wenig Tröstliches sagen und am 14. April mußte ganz plötzlich doch zur Operation geschritten werden, Friedrich nahm sie mit zwei Assistenzärzten vor, während unten alle Kinder außer Emma traurig um mich versammelt waren. Ferdinand war am 1. April auf sein Ersuchen nach Hanau versetzt worden und ist mir in den schweren Tagen eine treue Hilfe und unschätzbarer Berater gewesen.
Die Operation verlief über Erwarten (gut) und statt neuer Qualen trat eine große Erleichterung im Befinden und in der Pflege ein. Leider nur hatten sich scheinbar Partikelchen aus dem Darm in den Blutumlauf und in das Gehirn verirrt, so daß vielfach Wahnvorstellungen und fixe Ideen eintraten, womit er sich und mich oft unsagbar quälte. Er glaubte sich verfolgt und verarmt, suchte nach Dokumenten, verlangte sie von mir und machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich sie ihm, – mit falscher Liebe, – nicht geben wollte. Zwischendurch war er plötzlich ganz klar, sprach liebevoll mit mir, auch über sein bevorstehendes Ende, hatte auch eine Art Bewußtsein, daß er mir wohl Unrecht in seinem Wahn getan, und bat mich rührend um Entschuldigung, war innig dankbar. Es war für mich wie ein Wiedersehn nach langer Trennung, wenn sich so Seele zu Seele wiederfand.- Vom Bett stand er nur noch einmal auf, ließ sich in sein Arbeitszimmer fahren und suchte nach den unglücklichen Doku-menten, die nie existiert hatten. Sonst lag er ohne jede Schmerzen auf seinem Wasserbett, noch über drei lange Monate, oft und viel kamen die Kinder, und einmal war er ganz selig, als Emma von Heidelberg die kleine Karola mitbrachte. Das Kind durfte keinen Augenblick weg, mußte an seinem Bett essen, und er strahlte, wenn es ihn anlachte, was es auch immer wieder tat. Daraufhin entschloß sich Emma, den Juli über zu uns zu kommen. Der Großvater genoß die Kleinen noch sehr intensiv, aber immer nur kurze Zeit. Es machte ihn müde, gab aber eine freundliche Prägung für den ganzen Tag. Anfang Juni mußten die Kleinen der großen Hitze wegen nach Gelnhausen, ich blieb allein mit der Pflegerin und abwechselnd eins oder zwei der Kinder. Langsam schlichen die Tage dahin zwischen dem Wunsch, ihn noch behalten zu dürfen und ihn erlöst zu sehn. Körperliche Schmerzen hatte er nicht, schlief auch sehr viel infolge von Morphium, aber die Seele war infolge der Wahnvorstellungen doch sehr gequält. Endlich nahte die Scheidestunde, noch einmal kehrte das volle Bewußtsein wieder, er umarmte mich herzlich, dankte für alle Liebe und Geduld, dankte auch der Pflegerin, begrüßte die Kinder, die dabei waren, faltete die Hände, – man sah, daß er sein Vater unser betete – und sagte dann: „So, jetzt will ich sterben!“ Es dauerte aber dann noch zweimal 24 Stunden, bis er Ruhe fand. Es war qualvoll anzusehn, bis das kräftige Herz und die noch guten Lungen der großen Schwäche unterlagen, ich glaube aber nicht, daß ihm noch etwas zu Bewußtsein kam. Am 24. Juli 1897 abends um 7 Uhr war der Kampf zu Ende. Außer Dora waren alle Kinder um ihn versammelt. Es war ein großer, heiliger Augenblick und die Allgewalt der gegenseitigen innigen Liebe offenbarte sich mächtig, auch in den folgenden schweren Tagen. Den Geliebten erlöst zu wissen, das Bewußtsein der innigsten Zusammengehörigkeit gab ein inneres Glücksgefühl im tiefsten Leid. Frieden und Dank erfüllte unsere Herzen. Der Vater hat es noch voll erfaßt, was man ihm erst verbergen wollte, welches Glück es für Hans war, daß er nach Brandenburg als Divisionsadjudant versetzt war, und er hatte den vier kräftigen Enkeln zum Abschied noch ein Scherzwort zugerufen, wie er denn oft noch guten Humor inmitten aller Leiden durchblitzen ließ. Für Dora war es trotzdem hart, gerade jetzt den Vater verlassen zu müssen, sie sah ihn nun wieder, ernst und still, aber von Frieden übergossen. Auch die Geschwister kamen und viele liebe Verwandte, von fern und nah, und es war eine traurige Reise, als wir ihn endlich nach Gelnhausen brachten, wohin er sich so oft in seinen Phantasien versetzt hatte. In der Villa duftete und blühte alles, und zum ersten Mal begrüßte ich den ersten Becker-Enkel (Harry), während der treue Gefährte eines langen, glücklichen Lebens zu Grabe getragen wurde. Eine Fülle von Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken überflutete mich, aber siegreich schwebte über allem die Empfindung unendlichen Dankes für ein so langes, glückliches Leben, das nun in diesem Augenblick auch für mich zu Ende schien.
Noch nicht ausgeruht von der langen, schweren und anstrengenden Zeit, kaum vierzehn Tage nach dem Tode, bekam ich für drei Wochen eine zahlreiche Einquartierung, da damals die großen Manöver in unsere Gegend fielen. Wir hatten vier höhere Offiziere mit den Burschen im Haus, die zwar abends auswärts aßen, aber sonst alle Mahlzeiten einzeln auf ihre Zimmer bekamen. Gegen Ende der Zeit gab es noch eine besondere Belastung und hatten wir nicht weniger als drei Generäle unter unserem Dach. Für den Höchstkommandierenden mußte ich mein eigenes Wohnzimmer einrichten. Still und traurig verging des Rest des Sommers, aber die gegenseitige Liebe trat in dieser Zeit mächtig hervor, und es kam mir schon die Ahnung, daß doch nicht aller Sonnenschein aus meinem Leben erloschen bleiben werde. Es kamen dann, als die anderen Kinder heimgekehrt waren, schwere Tage für Frida und mich, die Rückkehr ins Frankfurter Haus und seine Enträumung. Die drei verheirateten Kinder bekamen je einen Möbelwagen voll, und den Rest nahm die Villa auf, die dadurch sehr an Behaglichkeit gewann. Ferdinand, der ja so nahe war, half sehr ergiebig an der Aufstellung. Erst im Frühjahr (1898) wurde das Frankfurter Haus unter ziemlich günstigen Bedingungen verkauft.
Wohnsitz Gelnhausen
Zu Weihnachten versammelten sich dann alle Kinder und Enkel um mich, nur die kleine Ully21, die im Oktober (1897) in der Villa zur Welt gekommen war, blieb in Hanau. Es war ein ernstes und doch schönes Fest. Hauptsächlich meiner Frida zulieb, in deren Lebensfrühling so trauriger Reif gefallen war, entschloß ich mich gegen das Frühjahr hin, eine Reise nach Italien zu unternehmen. In Schnee und Eis fuhren wir weg und waren bald im Frühlingssonnenschein, der uns drei Wochen lang unausgesetzt treu blieb, während wir in Bordighera weilten. Es war eine Zeit wahren seelischen Ausruhens, auch für mich, und die Natur linderte mit milder Hand das oft noch brennende Leid. In Florenz, wo wir auch noch drei Wochen blieben, gab es viel Regen, und ich machte die Erfahrung, daß die Kunst nicht in gleicher Weise auf mich wirkte wie die Natur. Niemals hatte ich sie anders als an der Seite meines Mannes genossen, und auch das schöne Florenz hatten wir früher zusammen gesehen. Für die Kunst war mein Schmerz noch zu neu, und er überwältigte mich stets bei ihrem Anblick. Besser war es, als die lieben Rehbocks und Carl mit seinem Freunde Bornemann sich mit uns vereinten. Zwar, mein Empfinden der Kunst gegenüber blieb wie zuvor, aber auf mein Gemüt war doch der Einfluß groß. Acht Tage verweilten wir noch zusammen in der reizenden Stadt und fuhren dann zusammen nach Rom. Hier erkrankte leider Alexander Rehbock an Influenza, die damals in allen italienischen Städten stark verbreitet war, und mußte acht Tage zu Bett liegen. So blieb ich bei meiner Schwester, während die jungen Leute Rom genossen. Ich frischte ja auch einige alte Erinnerungen auf, aber zu rechtem Genuß kam ich nicht. Auch nicht in dem wunderbaren Neapel, das uns freilich zuerst mit Regen und einer schlechten Nachricht empfing. Ully war in Hanau schwer erkrankt. Ich wäre am liebsten hingereist und ein entschiedenes Heimweh verließ mich von da an nicht mehr, so blieb ich auch in Florenz mit meiner Jungfer Anna, während alle anderen Capri besuchten. Von da an gingen die beiden Freunde südlicher, wir anderen fuhren nordwärts und verbrachten die Ostern (1898) in Lugano.
Sommer und Winter vergingen still, aber die Besuche der Hanauer Kinder und Carls, der in Heidelberg studierte, dabei der rege Verkehr mit meinem Onkel Wilhelm und seiner Familie brachten ausreichend Anregung. Hier und da kam ein kleiner Sturm aus Rathenau, wo Alexander sein Einjährigenjahr abdiente, sie wurden schließlich alle überwunden.
Das Jahr 1899 fand Ferdinand und seine Familie in Oppeln (Oberschlesien), Alex bezog die Universität in Freiburg, wo ich ihn auch einmal besuchte, Carl hatte mich zu Pfingsten mit seinem Doktor cum laude überrascht (in Orientalistik), weilte dann in Berlin, wo er früher auch schon einige Semester zugebracht hatte, und bereitete sich für seine Orientreise vor, die ihn Ende 1900 nach Ägypten und Arabien führte und die er im folgenden Jahre wiederholte. Damals machte er auch eine Reise in die Wüste und lernte Entbehrungen aller Art kennen und überwinden. Ehe er aber noch nach Afrika ging, trat ein anderes Ereignis ein, das die Welt und die Meinen und mich im besonderen bewegte: der Krieg mit China (Boxerkrieg)22. Ernst von Blumenstein hatte sich, so unglaublich es uns schien, dafür gemeldet und wurde genommen. Bald hatte ich dann zwei Söhne in verschiedenen Weltteilen, zwar hochinteressante Briefe, aber auch viel schwere Sorgen. Emma blieb sehr tapfer von Anfang bis zu Ende und war mit ihren drei Töchtern damals 8 Wochen bei mir. Es war ein großes Fest, eine nachhaltige Freude, als nach 14 Monaten ihr Gatte wohlbehalten und reich an Erinnerungen und Ehren nach tapfer bestandenen ernsten Gefahren glücklich wiederkehrte.
Hochzeit Fridas mit Pfarrer Otto Michaelis
Er fand Frida24 als Braut von Otto25 Michaelis, deren Hochzeit er dann auch im September mitfeierte und mit verschönern half. Unvergeßlich war das Auftreten der ganzen Familie in echten, chinesischen Kostümen. Auch dieses dritte Hochzeitsfest verlief froh und heiter, wie die früheren, wenn es auch überwunden werden mußte, daß der Vater dabei fehlte. – Ich richtete Frida in Groß-Moyeuvre die Wohnung ein, die sehr einfach war und nur durch zwei eingerissene Wände genügenden Raum zum Wohnen gewann. Ich verließ sie mit etwas schwerem Herzen und fand zu Hause die treue Marie Lachmund sterbend. So hatte ich das letzte Kind aus dem Hause und gleichzeitig die treue Freundin verloren, die täglich nach mir sah und alle Familienfreuden und -schmerzen mit mir teilte. Es war ein schwerer Anfang für mein einsamer gewordenes Leben, mußte es doch überwunden werden, daß zum zweiten Mal mein Bruder Heinrich in schwierige Lage gekommen war, die bereits den ganzen Sommer auf uns alle gedrückt hatte. Riedels waren sehr fern, damals in Glogau (Schlesien), Blumensteins kamen nach Mühlhausen im Elsaß, aber Emma Bergmann blieb mir treu und leistete mir in diesem und vielen folgenden Wintern liebevollste Gesellschaft.
Das Jahr 1902 brachte manche Freude. Im September wurde in Gelnhausen der kleine Otfried Michaelis geboren nach angstvollen Stunden, in denen Tod und Leben um die Herrschaft rangen und im Dezember sein kleiner Vetter Ernst von Blumenstein in Mühlhausen, den ich dort mit Ungeduld, des nahen Weihnachtsfestes wegen, erwartete. Wenige Tage zuvor bestand Alexander sein Referendarexamen in Bonn, dem ich besorgt entgegengesehen hatte. In diesem Semester studierte auch der Kronprinz dort, und es gab dadurch ein außergewöhnlich geselliges Leben, an dem sich Alexander, mehr wie gut war, beteiligte, so daß manche wetteten, er könne unmöglich bestehen. Aber die Gegenpartei behielt Recht und ich atmete auf. Für mich war es dann herrlich, daß er die nächste folgende Zeit in Gelnhausen im Dienst des Amtsgerichts verbringen konnte, wodurch der Winter belebt und sehr angenehm verging. Noch ein viertes frohes Ereignis aus demselben Jahr muß ich erwähnen:
Ferdinand wurde Landrat in Osterholz-Scharmbeck und erreichte damit das Ziel seiner Wünsche: eine angesehene Stellung, behagliches Haus, großer Garten und war in nächster Nähe der Großstadt Bremen. Und ich bin noch nicht zu Ende, denn in demselben Jahr durfte ich Carl als Privatdozent in Heidelberg begrüßen, richtete ihm die Wohnung ein und hörte seinen ersten öffentlichen Vortrag über „Die Frau im Islam“. Zur Feier des Tages gab ihm Prof. Bezold, sein verehrter Lehrer, ein Mittagsmahl, bei welcher Gelegenheit er ihn als jungen Kollegen begrüßte und ihm eine außerordentliche Wertschätzung aussprach.
Im folgenden Jahr begleitete ich ihn im Herbst nach Leipzig, wo er sich einer Blinddarmoperation zu unterwerfen hatte, die er tapfer und glücklich bestand.
Währenddessen zogen Michaelis´ nach Metz26, (der Bischofsstadt im 1871 annektierten Lothringen) wohin Otto berufen war, und es begann für sie damit ein ganz neues, reges geistiges Leben, wenn sie sich auch dort noch mit wenig schöner Wohnung behelfen mußten. Im Frühjahr 1904 weilte ich bei ihnen sieben Wochen und erlebte die wieder nicht ganz einfache Geburt der kleinen Tochter (Emma) mit ihnen und die Taufe, die der Vater selbst vollzog.
Riedels hatten indessen die Garnison (wieder) gewechselt und waren in Posen gelandet. Dort traf sie eine lange, bange Sorge in der Erkrankung von Karl, die mit einer großen Operation im Sommer 1904 in Leipzig endete, wobei ihm die eine Niere herausgenommen werden mußte. Darnach erholte er sich mehrere Monate in Gelnhausen, und seit dieser Zeit habe ich ein ganz besonderes Verhältnis mit diesem Enkel. Im August gab es dann eine große Freude! Carl verlobte sich mit Hedwig Schmid aus Augsburg und ein paar Tage nachher brachte sie uns der Vater schon nach Gelnhausen. Es war am 21. August, meinem Hochzeitstag. Unvergeßlich sind die warmen Worte, die gewechselt wurden und beiderseitig in den eben sich noch so fremden Familien das größte Vertrauen auslösten. Alex, den damals die Liebe auch schon berührt hatte, übertraf sich selbst in seiner Rede auf das junge Ehepaar, Vater Schmid und Carl fanden den schönsten Ausdruck für die glücklichen und hoffnungsreichen Gefühle, die sie erfüllten. Ein längerer Besuch der neuen Tochter im Herbst brachte sie meinem Herzen bald nah und mit Freuden lernte ich darnach ihr elterliches Heim im ehrwürdigen Augsburg kennen. Und dann fand auch Alex seine Sophie und sprach sich ihr aus am 14.2.1905, meinem eigenen Verlobungstag. Ich sah sie zuerst in seiner Wohnung in Gegenwart ihrer Mutter und am nächsten Sonntag besuchte uns die ganze Familie in Gelnhausen, auch Carl kam aus Heidelberg und meine Amsterdamer Geschwister Karl und Ottilie waren dabei.- So war nun der Kreis geschlossen, ich hatte es erlebt, alle meine sechs Kinder mit ihren Erwählten zu sehen und auch das jüngst hinzugekommene Kind fand noch warmen Platz im Mutterherzen.
Hochzeit Carls27 mit Hedwig Schmid28
Im März 1905 zog ich dann mit allen meinen Kindern zur Hochzeit nach Augsburg, und wir wurden überaus glänzend dort aufgenommen und bewirtet. Unvergeßlich ist mir besonders der Blumenflor, der einen ganzen südlichen Frühling in den Hochzeitssaal zauberte. Als das schöne Fest
in vollster Harmonie verklungen war, verbrachte ich mit den Kindern noch zwei schöne Tage in München und begrüßte die lieben Rehbocks, mit denen ich dann weiter nach Süden reiste, während die andern in allen Richtungen ihrer Heimat zueilten. Wir waren damals am Gardasee, in Riva, Gardone, Rovereno, vorher hatten wir Bozen und Meran besucht und verweilten nachher am Comer See in der Villa Serbelloni. Ich fuhr allein über den Gotthard zurück, um rechtzeitig zur kupfernen Hochzeit der Blumensteins in Mühlhausen zu sein. Von dort fuhr ich über Gelnhausen nach Weimar zum Besuch der alten Freunde Hertz und weiter nach Posen29, wo ich mich an Riedels schöner Wohnung und ihrer freien Lage mit Aussicht auf gepflegten Park freuen konnte, auch genoß ich ihr schönes Familienleben und interessierte mich für die dortigen polnischen Verhältnisse, wünschte ihnen aber doch schönere Umgebung und mir größere Nähe.
Über Liegnitz, wo ich eine Woche zum Besuch meines Bruders und seiner Familie blieb, und über Berlin, wo ich zwei Tage in einer netten Pension verbrachte, weil alle Hôtels bei Gelegenheit des Einzugs des Kronprinzen überfüllt waren, – reiste ich nach Osterholz, genoß dort beim schönsten Sommerwetter Eltern, Kinder, Haus und Garten und kehrte endlich in die Villa zurück, die unterdessen ein neues Kleid angezogen hatte und durch Restauration des Treppenhauses sehr an Schönheit gewonnen hatte und so würdig geworden war, die anspruchsvolle Frankfurter Gesellschaft zu Alex´ Polterabend zu empfangen.
Hochzeit von Alex mit Sophie
Dieser fand am 29.Juni 1905 statt. Leider fehlten dabei Riedels und Hedwig Blumenstein. Mit Extrazug kamen die Gäste um 4 Uhr an, es gab Aufführungen die Menge, Tee und Nachtessen im Freien mit großem Bogenlicht, Tanz, Gesangverein und bengalische Beleuchtung. Am 1. Juli war die Hochzeit im Frankfurter Hof, ein schönes Fest, nur leider etwas beeinträchtigt durch die abnorme Hitze. Ein erfreulicher Anblick war am nächsten Tag in Gelnhausen das neue Ehepärchen, das im Automobil nach Eisenach wollte und von der Familie Landrat abgefangen wurde. Die andern Kinder waren von Frankfurt aus heimgekehrt, auch Blumensteins, die zum Hochzeitstag gekommen waren.
Im Sommer darauf erfreute mich der Anblick von zwei neuen Beckersprossen, Walter und Joachim, und so war in allen meinen Kinderhäusern so rasch wie möglich Kindersegen eingekehrt, auf den ich so lange vergebens hatte warten müssen, und als am 21. August der Tag wiederkehrte, an dem ich vor 50 Jahren als glückselige Braut am Altar gestanden hatte, zählte ich 14 Enkel. Alle Kinder waren zu dem Tag, erschienen, Dora noch ganz überraschend aus weiter Ferne, leider mußten Hans und Else fehlen.
Früh zogen wir alle auf den Friedhof und gedachten in Wehmut des liebevollen Gatten und Vaters und brachten ihm die Kränze, die vorher sein Bild geschmückt, als Carl in innig warmen Worten den Gefühlen seiner Geschwister Ausdruck gab. Wie reich fühlte ich mich da wieder im Hinblick auf so viel früher genossene und so viel gegenwärtige Liebe. Als wir zurückkehrten, stand neben des Vaters Bild der prächtige Orchideenstrauß mit goldenen Ähren, mit denen die noch lebende Mutter erfreut wurde und wie glücklich fühlte sie sich, daß auch sie den Kindern allen eine unerwartete Überraschung bereiten konnte. Ich hatte den reichen Smaragdschmuck, den ich seit meiner kupfernen Hochzeit viel und oft getragen, zerlegen lassen, und jede Tochter erhielt einen Teil davon. Der ganze Tag verging in gehobener Stimmung und in froher Betrachtung, daß der Spruch, den ich vor 50 Jahren erhalten hatte, sich bewährt hatte in Leid und Freude, im Leben und im Tode, in Eltern und Kinder:
„Die Liebe höret nimmer auf!“
Nach diesem Silberblick für uns alle nahten trübe Zeiten. Zwar brachte der Herbst noch eine große Freude, Hans bekam das Regiment in Offenbach, und die Tochter, die mir so lange die fernste gewesen, kam so in meine nächste Nähe, und von da an konnte ich sie und die ganze liebe Familie viel um mich haben, und ich genieße dies sehr, besonders nachdem der schwere Anfang überwunden und sich Doras Nerven durch einen Aufenthalt in der Schweiz gestärkt hatten und sie sich in der neuen bevorzugten Stellung glücklich fühlte. Aber meine bis dahin recht gute Gesundheit kam ins Wanken, ein geheimnisvolles Leiden befiel mich und da es nicht erkannt wurde, behandelte man mich irrtümlich neun Monate auf Gicht. Der Jahresschluß war traurig, denn ich litt viele Schmerzen und die Entziehung der gewohnten kräftigen Nahrung ließ mich abmagern, die verkehrten Mittel verschlimmerten den Zustand. Im Februar 1907 trat Erleichterung ein durch die Öffnung eines Abszesses innen im Hals, aber sie war vorübergehend, und im April stellte sich durch Röntgenbestrahlung klar, daß der Abzeß im Hals ein sekundärer Prozeß gewesen, die Entleerung eines Halswirbels, der ganz vereitert gewesen war. Gleichzeitig wurde konstatiert, daß sich keine Spur von Gicht im Körper befand. Die Substanz des Wirbels mußte sich ersetzen, und dazu dieser durch das Tragen eines Apparates bei Tag und bei Nacht gestützt und geschützt werden. Wohl verschwanden die Schmerzen, aber große Unannehmlichkeiten mußten ertragen, unendliche Geduld geübt werden, Essen, Lesen, Schreiben wie neu erlernt werden und Abhängigkeit von andern war das Schwerste bei allem. Auch war ich ein Jahr lang an die Scholle gebunden und durfte nur im Herbst zwei Monate nach Frankfurt. Im Jahre 1908 wurde der Zustand leichter und allmählich konnte der Apparat am Tag ausgelassen werden, 1 – 4 Stunden und später bis zu 8 Stunden, im Frühjahr 1909 werde ich ihn vielleicht noch einmal ganz los. Noch war ich recht leidend im Sommer 1907, und alle Kinder wetteiferten, mir Liebes zu erweisen und mir die schwere Zeit zu erleichtern, da wollte es das Schicksal, daß sie mir noch ganz besonders erschwert werden sollte. Im Juli brach eine Epidemie in der Villa aus, an der nicht weniger als 27 Personen teils schwer erkrankten und mit Fieber ins Bett mußten. Es war eine Angina, die an Diphtherie streifte. Einmal lagen 8 Personen gleichzeitig zu Bett, das
Ehepaar Michaelis, die ganze Familie Ferdinand und drei Dienstboten. Nachdem 18 Kranke wieder hergestellt und alle Zimmer gründlich desinfiziert waren, reisten die meisten ab und die Familien Carl und Alex zogen mit Freuden ein, hatten sie doch 14 Tage darauf gewartet. Da fing die Sache von neuem an, und es erkrankten 9 Personen, darunter Carl und Alex recht heftig. Jetzt erfuhr ich durch das therapeutische Institut in Frankfurt, an das ich mich in Verzweiflung mit der Frage gewandt hatte, denn irgendwo müsse doch ein verborgener Herd für solche hartnäckige Krankheit sein, – daß alle äußere Desinfektion überflüssig sei. Die Bakterien säßen in dem Speichel der Kranken und Rekonvaleszenten noch wochenlang, diese müßten desinfiziert werden. Hierauf schluckten 20 Personen, die im Hause waren, Formamint, und die Sache hatte ein Ende. Über sechs Wochen hatte sie mir die schwersten Sorgen gebracht, und die ganze Villa war mir verleidet. Ich durfte meines geschwächten Zustandes wegen nicht pflegen, mußte mich fern halten und saß traurig sehr viel allein, und war oft einer Depression nahe, wie sie damals gerade meine Emma befallen hatte, weil eine geistige Überarbeitung und allerhand Sorgen – ich nenne außer meiner Erkrankung nur noch die für ihren Mann notwendig gewordene Operation in Freiburg – ihre Nerven heruntergebracht hatten. Sie war damals in Konstanz und alle Kinder bei mir und – krank! Dazu regnete es sehr viel und war kalt, wie im Spätherbst. Als dieser kam, entschädigte er für manches, Emma kehrte gesund und frisch wieder, und beständiger Sonnenschein beglückte uns. Als uns da Weihnachtsfest vereinte, ging es mir sehr viel besser. Ich konnte vergnügt mit meinen Kindern feiern und hatte außer Carls und Michaelisens alle um mich, Ernst war vollständig genesen, und wir freuten uns des wiedergeschenkten Glückes. Im Frühjahr verlebte ich einige Wochen in Frankfurt im neu gebauten Hospiz und durfte dann Frida in Metz besuchen. Sie hatte auch Schweres durchgemacht. Am selben Abend, als sie in das ersehnte neue Haus einzog, erkrankte ihr Otfried sehr schwer an Lungenentzündung und schwebte acht Tage lang in großer Lebensgefahr. Die Eltern sahen, daß ihn der Arzt schon verloren gab und rangen nach Ergebung, wagten kaum zu glauben, daß die schwere Prüfung glücklich vorüberzog. Dann aber war die Freude groß und alle kleinen Leiden, die noch folgten, wurden für gar nichts geachtet. Nur zehn Tage konnte ich verweilen, genoß aber mit das neugewonnene Glück und das schöne neue Heim.
Auch dieser Sommer schien unerfreulich werden zu wollen. Ein Scharlachfall im Gärtnerhaus hielt Alexens und die Töchter Blumenstein, die die Pfingstferien mit mir verbringen sollten, fern, aber Familie Riedel und die beiden Ernsten kehrten ein. Emma sollte folgen, jedoch ein leichter Rückfall der vor- jährigen Krankheit machte einen Aufenthalt in (Kassel-) Wilhelmshöhe nötig. Als bald bessere Berichte kamen und dieser Druck von mir genommen war, genoß ich einen schönen reichen Sommer, wie so viele nun schon in der Villa vorübergezogen sind mit glücklichen Kindern und Enkeln, von denen wochenlang 10 auf einmal im Hause waren. Zwar war auch diesmal der August sehr regnerisch, aber wir merkten es kaum, denn wir waren gesund und ohne Sorgen. Als alle geschieden waren, auch mein Neffe Heinrich Schöffer, der meinem Herzen besonders nahe steht, von langer Krankheit sich erholt hatte, durfte ich die Reise nach Osterholz wagen und verlebte dort vier wunderschöne Wochen. Wie wohl war es mir in dem gesegneten Kinderhaus, im trauten Verkehr mit den frohen, glücklichen und fleißigen Menschen. Und das alles fand ich dann wieder, als ich in Hamburg einkehrte, wohin Carl im Oktober als Professor an das neu gegründete Kolonialinstitut unter den angenehmsten Bedingungen berufen worden war. Ich fand ihn schon in voller Tätigkeit und freute mich an der schönen Stellung, die er errungen hat, an der vollen Befriedigung, die ihm sein Wirken gibt, an dem neuen reizenden Haus und seiner ange- nehmen, stillen Lage fern vom Getöse der Großstadt, an der sorgsamen Hausfrau und den süßen Kindern.
Hier erreichte mich die Nachricht, daß Blumensteins nach Thorn30 versetzt sind und somit in weite Ferne ziehen. Wir haben indessen die Nähe der letzten 7 Jahre recht gründlich ausgenutzt, es gefällt ihnen in Thorn und sie sind noch jung genug, das Reisen nicht zu scheuen.
Ein alter griechischer Philosoph hat gesagt: man solle keinen Menschen glücklich preisen vor seinem Tode, und wenn ich bedenke, wie viel ich noch besitze und wieviel mir noch genommen werden kann, dann könnte es mich wohl verzagt machen: Zwölf liebe Kinder, 16 blühende Enkel, liebe Verwandte und Freunde, wiedergeschenkte Gesundheit, leidliche körperliche und geistige Kräfte, Erinnerungen, die mich freuen und ohne Schmerzen zu verzichten auf das, was nicht erreichbar ist, und wie man im Herbst dankbarer ist als im Frühling und im Sommer jeden sonnigen Tag genießt, so freue ich mich des Reichtums der Gegenwart und lasse ihn mir nur vorübergehend trüben, denn auch im Alter webt sich das Menschenleben aus Freuden und Schmerzen und nur zu oft überwiegen die letzteren. Aber von der hohen Warte meiner 70 Jahre darf ich mich doch glücklich preisen, auch wenn das tiefste Leid mich nicht verschont hat, denn was Vergangenheit geworden ist, kann uns niemand mehr rauben, es sei denn, daß Erinnerung erlischt! So lange aber diese mir bleibt, werde ich nie ganz unglücklich sein können.
Oft vertiefe ich mich in den Werdegang der einzelnen Kinder. Ich weiß, sie haben geirrt und gefehlt, denn ich genoß stets ihr Vertrauen, aber alle sind sie doch tüchtige Menschen geworden, füllen ihren Platz aus in der Welt, können ihren Kindern weitergeben, was Gutes in unserer Erziehung gewesen und besser machen, was mangelhaft darin war.- Ein ander Mal gedenke ich an sie alle gemeinsam, an das schöne Familienzusammensein in ihrer Kindheit und Jugend und erlebe die einzelnen Phasen ihrer Entwicklung nun wieder im Zusammenleben mit den Enkeln zum zweiten Mal. Ich lasse die Merktage und frohen Feste an mir vorüberziehen, die das Leben mir gebracht, ganz besonders die meist so schön verlebten Weihnachtsferien. Aus der Kindheit ragt als erste die aus dem Schreckensjahr 1848 hervor. Die schweren Sorgen meiner Eltern waren vorüber, aber lang hatten sie geglaubt, vielleicht den Kindern in Armut bescheren zu müssen, das veranlaßte sie auch, die Kinder zu prüfen. Als es klingelte, stand nur ein einzig Bäumchen da mit bescheidenem Schmuck und wenigen kleinen Geschenken, aber die Kinder merkten es gar nicht und waren zufrieden. Ein goldenes Briefchen am Baum belehrte sie, daß sie besseres suchen durften. In alle Zimmer wurde eingeguckt und in einem ganz entlegenen eine wahre Märchenbescherung gefunden. Ich sehe noch meine Puppe mit wirklichem Haar im grünen Kleid und daneben noch ein rosa und ein blaues, ein sehr grobes Plackbilderbuch, auf der Mitte der letzten Seite ein einziges ganz kleines Männchen! Ich sehe auch noch die schöne gotische Kirche, von innen beleuchtet, die der Hausfreund Carl Becker künstlich geschnitten hatte. Später folgen dann die Weihnachten, wo aller Reichtum und alle Schönheit von Geschenken lagen und tiefer Schmerz und heiße Sehnsucht nach Kinderfreuden mich erfüllten. Und endlich! Da sehen zwei liebe kleine Augen träumerisch in die Lichter des Baumes, im nächsten Jahr jubelte schon das Kind über sein Püppchen und lief hinter dem Schäfchen her, dann waren zwei Kinder, dann drei, vier, fünf und zuletzt sechse!- Und wie war der Vater dann immer mit den Kindern, wie dachte er immer neues aus und arbeitete selbst daran. Man denke nur an das Häuschen, das er gebaut, die Seligkeit aller Generationen, die Bühne für so manche Kindervorstellung. Man denke auch an das heitere Bild, als der erste große Ziegenbock für Ferdinand in den Weihnachtssaal auf den Hinterbeinen, prächtig aufgezäumt, hereinspazierte, die alte Naatje hinterdrein mit Schippchen und Besen! Nur einmal war ich von meinem Mann getrennt am Heiligen Abend, als seine Schwester Sophie, die Hüterin seiner Kindheit, starb. Und als wir zum letzten Mal feierten, da war es unter der schweren Wolke der ewigen Trennung. Aber er lebt weiter in uns, und seit die Feier in Gelnhausen ist, wird seiner stets in tiefer Dankbarkeit gedacht.- Noch anderes bringt Erinnerung zurück, das reiche Leben mit so vielen Freunden, die Liebe und das Vertrauen, das ich so vielfach genossen, manches dahin-geschwundene, reiche Glück lebt wieder auf, auch großes, tiefes Leiden, tragisches Schicksal, das wir, mein Mann und ich mit getragen und manchmal auch haben lindern können. Zuweilen gedenke ich auch der Reisen, die ich gemacht. Erst ein halbes Jahr alt, fuhr ich den Rhein herauf und wenn es zu Land ging, prangte die Wiege oben auf dem Wagen, die Großeltern in Frankfurt und Gelnhausen freuten sich über mich, und die 91 Jahre alte Urgroßmutter Schöffer trug mich freudestrahlend umher und segnete mich. In jedem Jahr fast reisten wir nach Deutschland, hielten uns auch am Rhein einige Tage auf, waren in der Pfalz und in der Schweiz mit den Eltern. Nach der Hochzeitsreise folgte in jedem Sommer eine oder gar zwei Reisen und einmal brachten Carl und ich zwanzig Millionen Gulden nach Paris; damals schenkte mir Baron James Rothschild ein schönes Armband und lud uns zu Tisch, und durch seine Vermittlung sahen wir in nächster Nähe den Kaiser der Franzosen, seine bildschöne Gemahlin am Arm und hinter ihm auf dem Arm der Wärterin den kleinen Prinzen Lulu freundlich mit den Händen uns zuwinkend. Oft und viel besuchten wir die Verwandten und waren besonders häufig in Darmstadt, so auch im Jahr 1862 mehrere Wochen und die ganze Weihnachtszeit nach dem toten Söhnchen. Innige Freundschaft verband mich besonders mit dem Vater meiner Schwägerin, dem alten Geheimrat Maurer, einem bedeutendem und liebenswürdigem Mann. Es war ein Verhältnis wie zwischen Goethe und Bettina, und waren wir auch keine so großen Geister, ebenso beglückt hat es uns doch und über 300 Briefe haben wir gewechselt.
Als die Kinder kamen, wurde das Reisen weniger, nur führte es uns jedes Jahr in die Villa nach Gelnhausen, dann reisten wir auch mit den Kindern, bis zuletzt ich noch einmal mit meinem alten Mann einen vergnügten Ausflug nach Heilbronn, Schwäbisch-Hall und ins schöne Cromburg machte. Es war die letzte gemeinsame Reise.
Und während so mein Leben in Freude und Leid dahinfloß, was alles hat sich in der großen Welt, in der man doch auch lebt, zugetragen? Was alles sah ich kommen und gehen! In Preußen mit Bewußtsein sah ich vier Könige, in Deutschland drei Kaiser. In Frankreich sank Louis Philippe vom Thron, die (II.) Republik folgte, das Kaiserreich und wieder die (III.) Republik. In Amsterdam sah ich den Einzug Wilhelms II. (von Oranien) mit seiner ersten Gemahlin und vor ihnen zwei blühende Knaben, der eine starb jung, der Kronprinz als Mann, ein dritter Erbe blieb Idiot, bis auch er dahinsiechte. Ich sah den Einzug des Königs mit seiner zweiten Gemahlin, ein freundliches zierliches, blühendes Wesen, dem man die spätere gewaltige Fülle nicht ansah, und ich war auch dabei, als die jetzige junge Königin einzog. In Rußland sah ich noch Nikolaus auf dem Thron, erlebte die Ermordung Alexanders III. und machte alle Nöte des jetzigen Kaisers mit. Und alles was in anderen Ländern geschah, interessierte mich.
Die Fülle der Geschichte ist zu groß, sie alle auch nur zu berühren. Ich brauche nur die vielen Kriege zu erwähnen, die in diesen 70 Jahren den Erdkreis erschütterten. Aber gedenke ich der Erfindungen, die in dieser Zeit gemacht wurden, dann wird mir warm ums Herz, und ich fühle es: ich lebte doch in einer großen Zeit, einer Zeit, die nicht nur in der Technik Unglaubliches geleistet, sondern auch die Menschen zu höherer Würde erhoben hat.
Und wenn es für mich Abend geworden ist und vielleicht die Nacht bald kommen wird, so hoffe ich bis zuletzt das Gefühl zu behalten, das meine Mutter erfüllte und das sie aussprach und das auch eins der letzten Worte meines Mannes war:
„Das Leben ist doch schön gewesen!“
Letztes Wort an meine Kinder
nach meinem Tode zu lesen.
Gelnhausen, 29.7.1907
Liebe Kinder!
Wenn Ihr diese Zeilen lesen werdet, bin ich nicht mehr! Welch ernstes, inhaltsschweres Wort! Ihr werdet traurig sein, wenn ich geschieden bin bei verhältnismäßig noch frischer Geisteskraft, vielleicht auch erleichtert, wenn schwere Leiden, vielleicht gar Seelenstörungen vorangegangen sind. Auf alle Fälle aber sollt Ihr noch dieses Wort des Dankes finden, für die viele Liebe, die Ihr mir immer wieder aufs Neue bewiesen habt und die meinem Leben Inhalt und reiches Glück gegeben hat.
Ich bin eine glückselige Frau und Mutter gewesen und viel Köstliches habe ich erfahren und was schwer war und oft nicht zu ertragen, es wurde alles wieder überwunden durch die Kraft eines warmen Herzens, das mir die Natur mit- gegeben hat. Es ist etwas Wunderbares um das menschliche Herz. Immer findet wieder ein neues liebendes Wesen darin Platz, so vielen es auch schon Raum gab und so umfaßte es Euch alle, Euch Kinder und Schwiegerkinder und Enkel; ein jedes ist mir teuer und ein beglückender Besitz. Trauert um mich, Ihr Kinder, ein Mutterherz zu verlieren ist ein großer Schmerz, aber trauert nicht lange. Wendet Euch bald wieder frisch und froh dem Leben und Euren Pflichten
zu. Wir, die vor Euch waren, wir mußten durch das alles auch durch und auch uns war es oft, als sei die Sonne für immer erloschen, aber sie kam wieder und strahlte im alten Glanz. Haltet Eure Nerven hoch, Ihr Töchter, und gebt dem Schmerz nicht zu lange Raum. Wohl sind wir alle den ehernen Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen. Wir sollen es bedenken, aber in Treue und Ausdauer uns dem hingeben, was dazwischen liegt, damit unser Wirken und Streben nicht erlahmt und wir weiterbauen am Glück unserer Kinder und unserer Nächsten. Und glaubt mir, wenn auch Ihr älter oder alt geworden, es gibt kein größeres Glück als das, andere Glücklich zu sehen. Wer das erreicht, sieht ohne Schmerzen die Jugend und die Jahre schwinden, er hat ein neues Fundament für sein Dasein gefunden, – entbehrt nicht mehr und verzichtet gern auf die Freuden jüngerer Jahre. Ihr sechs Geschwister, schließt Euch nun umso inniger an einander an, auch wenn das Leben sich noch so sehr verzweigt, werdet nicht kalt, helfet Einer dem Andern, wo es möglich ist! Verzichtet nicht darauf, Euch wiederzusehn, Euch immer wieder zu finden in aller teuren Erinnerung an Vergangenes, Euch neu Erlebtes mitzuteilen.
Lebt wohl, Ihr Lieben alle, Ältere, Junge und ganz Kleine! Wie mein Segen Euch bisher begleitet hat, so gehe er mit Euch Euer Leben lang und sei Euch allen dereinst ein friedevoller, sanfter Heimgang beschieden!
Eure Mutter und Großmutter
Julie Becker-Schöffer.
Bert Böhmer, September 2001
Nachwort eines Bewunderers
Die Lektüre dieses Lebensberichts meiner Urgroßmutter hat mich immer wieder beim Lesen fasziniert. Was für eine Entwicklung hat diese 17jährige junge Frau an der Seite meines Urgroßvaters vollzogen! Aus einem gut erzogenen, aber doch nur sehr sporadisch gebildetem Mädchen wurde eine durch das Schicksal gebeutelte, reife, schöne Frau. Aufgewachsen im Hause ihres Vaters, eines Kaffeekönigs, wie sie einmal sagt, in der Amsterdamer Heerengracht, dann als junge Ehefrau des Rothschildbankiers Carl Becker von 1855-1882, dann doch der Umzug nach Frankfurt, weil die väterliche Villa und Sommerresidenz in Gelnhausen schön nah war. Sie hat nie Not leiden müssen im materiellen Sinne, hatte Dienstboten und Erzieher für ihre sechs gesunden Kinder nach vorherigen acht (!) Fehlgeburten. Die freund-schaftliche Bindung an den Amsterdamer Hausarzt muß schon durch die Eltern sehr groß gewesen sein, daß sie dieses Ungemach auf sich genommen hat. Als dann der achte Versuch wiederum scheiterte, begab sie sich in die Obhut der Würzburger Medizinischen Fakultät, reiste mit ihrem Mann nach Italien; und ein Jahr später, nach 9 Jahren Ehe kam endlich das langerwartete erste Töchterchen, bald gefolgt von meinem Großvater Ferdinand und einer weiteren Tochter Emma. Man kann sich so richtig den Stoßseufzer vorstellen, den die glücklichen Eltern ausstießen. Die zweite Serie folgte dann (nach weiteren drei Fehlgeburten!) 1876 mit Carl, 1878 mit Frida und 1879 mit Alexander.
Die Entwicklung der Technik schritt in diesem 19.Jahrhundert rasant voran: so bekam allmählich die Eisenbahn und die Fotografie sowie das Telefon eine zunehmende Bedeu-tung. Die Medizin machte gewaltige Fortschritte gegen Ende des Jahrhunderts; ihren Kindern blieb es erspart, so lange auf die Kinder warten zu müssen, so zu leiden. Ich verweise nur auf die Krankheits berichte.
Aber auch der Krieg spielte eine nicht unwesentliche Rolle im Leben der jungen Frau: sowohl 1866 als auch 1870 war das Haus voller Einquartierung – und die junge Frau genoß es und litt im gleichen Atemzuge darunter. Die Söhne studierten alle Jura bis auf den Jüngsten, der Orientalist und Professor, später auch Kultusminister in Preußen wurde. Leider hat Julie Becker ihren Lebensbericht 1907 enden lassen, obwohl sie erst 1917 starb: gewiß hat es ihr angesichts des Grauens des Ersten Weltkrieges die Sprache verschlagen. Zwei ihrer Schwieger-söhne waren Berufsoffiziere, wobei die Älteste, Dora, 1885 den späteren General Riedel ehelichte, Emma 1892 den späteren Oberst von Blumenstein. Er war es auch, der Unruhe ins Haus brachte durch seinen freiwilligen Einsatz in China 1899/1900. Die Familie war entsetzt über diese Entscheidung, denn die junge Frau blieb mit drei Kindern zurück, wohlbehütet von der Großmutter.
Interessant verlief auch die Karriere ihres Mannes Carl. Früh zum Kaufmann bestimmt von der Familie, weil die Brüder sich dazu zu fein dünkten und studierten wie der Vater, mußte er, der Jüngste, sich dem Wunsche der Mutter fügen. Er lernte in einem Tuchgeschäft in Frankfurt, ging nach seiner Lehre nach Paris, mußte dem Vater zu Hilfe eilen und Hilfslehrer spielen, obwohl er das gar nicht mochte, und nahm das Angebot von der Firma Rothschild in Amsterdam an, wo er als kleiner Commis begann und nach 10 Jahren im Jahre 1852 Bankier-Chef wurde gemeinsam mit einem Partner. Dazu erhielt er eine Million Spielgeld. Mit diesem Pfunde konnte er zu eigenen Gunsten „wuchern“, so daß er sich nach zwanzig Jahren in den Ruhestand zurückziehen konnte. Natürlich war dieser Ruhestand keiner, aber es blieb doch wesentlich mehr Zeit für die Familie, die sich ja dann auch in den 70er Jahren verdoppelte.
Im Jahre 1897, als meine Mutter Ully geboren wurde, starb Carl an Krebs und mußte in seinen letzten Tagen furchtbar leiden, litt an Halluzinationen, Verfolgungswahn. Es muß für die Ehefrau schrecklich gewesen sein, dieses Mißtrauen des Partners zu überstehen.
Mit viel Tapferkeit und der Unterstützung der Kinder überwand sie den Tod des Gatten. Aber die Italienreise 1898 an jene Stätten, wo sie mit Carl gewesen war, konnte nicht mehr jenen Charme der ersten von 1863 haben …
So bleibt das Bild einer Frau, die fasziniert war vom Leben ihrer Zeit, die mit ihr gewachsen ist zu fruchtbarer Reife. Sie erlebte hautnah die Kriege um die deutsche Einheit, und gewiß wurde sie auch schon zu einer Deutschen in Holland, wo sie zu den „Moffen“ zählte und darunter litt – nicht zuletzt auch durch den dadurch nötigen Ein-tritt in die Frankfurter Pension 1852, jenem Jahr, in dem Carl procura erhielt in Amsterdam. Sie war keine Preußin, doch wurde Hessen-Nassau 1866 ja von Preußen annektiert, und der Freien Reichsstadt Frankfurt erging es nicht besser. Deutschland ging in Preußen auf bis auf wenige Ausnahmen südlich des Mains.
1870 spielte auch der Telegraf eine gewisse Rolle, denn Carl wollte seine Frau und die Kinder ins neutrale Holland holen, telegra-fierte jedoch vergebens, da das Militär die Leitungen beschlagnahmte. So mußte er sie persönlich holen, wobei es mit der Eisenbahn noch nicht soweit her war und die Kutsche helfen mußte. Immerhin hatte die Villa schon 1868 eine zentrale Heizung, was für diese Zeit außer-gewöhnlich war; doch hatte das Personal gewisse Anlaufschwierigkeiten, sie zu bedienen. Schließlich machte der Jüngste, Alexander, 1905 seine Hochzeitsreise bereits mit dem Automobil. Man sieht, die Kinder gingen mit der Zeit – und das freute dann auch wieder die Mutter, man merkt das an ihren Schilderungen.31
1 Auf dem Linsenberg war das Elternhaus Carl Wilhelm Ferdinands
2 Die Devrients sind eine berühmte Schauspielerfamilie des 19. Jahrhundert. Hier handelt es sich wohl um den Sohn Emil Devrients (+1832). Die Nachkommen sind heute durch Emma geb. Michaelis mit dem Herausgeber verwandt; sie heiratete Walter D., einen Diplomingenieur, dessen drei Kinder wiederum alle sehr künstlerisch begabt sind. Ursel studierte Musik, Hanna Kunstgeschichte (mit beiden ging der Hg. in eine Klasse zwischen 1948-51) und Joachim ebenfalls Musik.
3 Ernest Renan,1823-1892, Orientalist und Schriftsteller. Sein Hauptwerk ist die Histoire des origines au Christianisme in 8(!) Bänden
4 Conrad Heinrich Schöffer, 1815-1878, Kaufmann und Konsul in Amsterdam, verheiratet mit Dorothea Catharina Hofmann, 1818-1893
5 Emma Schöffer verh. Rehbock 1842-1902?
6 Heinrich Schöffer *1840, Kaufmann in Hamburg und Liegnitz
7 Carl Schöffer 1841 –xxxx, Kaufmann in Amsterdam
8 Im Kladderadatsch heißt kurz vor dem Krieg in einer kleinen Szene aus der Wirklichkeit:
Exzellenz: Nun, mein Sohn, freust du dich auf einen tüchtigen Krieg?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Ich hoffe, Jungens, ihr werdet euch alle gut schlagen!
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Hast du ein Herz für dein deutsches Vaterland?
Füsilier: Zu Befehl, Exzellenz!
Exzellenz: Du bist wohl ein Pommer?
Füsilier: Ich sein Litauer, sprech wenik Deutsch!
9 Eine Formulierung des konservativen Abgeordneten Hermann Wagener bei der Debatte über den Haushalt des Kriegsministeriums im preußischen Abgeordnetenhaus am 10.12.1866
10 Bismarck erstrebte die Führung Preußens im Deutschen Bund mit oder gegen Österreich. Nach dem Erfolg im Deutsch-Dänischen Krieg kommt es zur Besetzung Schleswigs (P) und Holsteins (Ö) durch Preußen und Österreich – und auch bald zum Streit Napoleon III. hofft zu profitieren und begünstigt Preußens Bündnis mit Italien.
1866 kapituliert das bundestreue Hannover nach der Schlacht von Langensalza, während Moltke bei Königgrätz siegt. Österreich verliert Venetien; Deutscher Bund wird aufgelöst; Preußen annektiert alle gegnerischen Staaten nördlich der Mainlinie außer Sachsen und Hessen-Darmstadt (Verwandtschaft zum Zaren) und Oldenburg.
11 Hessen-Nassau, in dem Gelnhausen lag, ebenso wie Frankfurt wurden preußisch; erstaunlich, dass die Verfasserin keinerlei Bedauern zeigt. Im Gegenteil!
12 Über die Reichsgründung und ihre Folgen für die deutsche Politik bis 1945 brauche ich mich nicht weiter auszulassen: die Einheit, so wurde deutlich, hatte über die Freiheit gesiegt – ganz anders als die Revolutionäre von 1848 es erstrebten. Viele gingen damals in die USA (Carl Schurz), in die Schweiz, andere passten sich an wie Richard Wagner, der zum Hofkomponisten Ludwigs II. von Bayern mutierte.
13 Friedrich Adolf Trendelenburg, Philosoph, 1802-1872. Vertreter der neuaristotelischen Philosophie an der Berliner Universität
14 Hans Riedel *1856
15 Emma Schöffer 1868-1922
16 Ernst von Blumenstein brachte es bis zum Oberst
17 Zilli und Lilli von Blumenstein
18 Else Bieder 1876-1940
19 Ferdinand Becker 1866-1947
20 Harry Becker 1895-1917
21 „Ully“ Julie Becker verh. Böhmer 1897-1993
22 1900 fand der „Boxeraufstand“ in China statt. Internationale Truppen unter dem Befehl des deutschen Grafen Waldersee eroberten Peking Kanzler Bülow forcierte seinerzeit die deutsche „Weltpolitik“, während Wilhelm II. bei der Verabschiedung der Truppen in Bremerhaven seine berüchtigte „Hunnenrede“ hielt.
23 Der jüngste Becker-Sohn 1879-1939, Kaufmann in Frankfurt/Main
24 Frida Michaelis geb. Becker 1878-1933 ist die Mutter von Emma Michaelis verh. Devrient in Weimar
25 Otto Michaelis war Pfarrer, bis 1918 in Metz, dann in Weimar Am Jakobskirchhof! Nach 1945 Oberkirchenrat in Franken
26 Bischofsstadt in Lothringen, 1871 annektiert und mit dem Elsaß als Reichslande verwaltet bis 1911, dann Selbstverwaltung
27 Carl Becker 1876-1933. Orientalist, Professor in Hamburg,Bonn und Berlin. Kultusminister in Preußen 1925-1930
28 Hedwig Schmid aus Augsburg. Vater Schmid war dort Bankdirektor
29 Posen kam durch die 3. Polnische Teilung 1795 an Preußen und wurde Südpreußen genannt. Heute hat Posen über 500 000 Einwohner, ist Sitz eines Erzbischofs und einer Universität
30 Thorn liegt in Pommern-Kujawien an der Weichsel, heute über 200 000 Einwohner, Bischof, Universität und Offiziershochschule
31 Der Großvater verwaltete die Villa noch bis den 2.Weltkrieg hinein, dann verkaufte er sie an die Diakonischen Werke, die dort heute das Burkhardt-Haus führen. Der Familie Schöffer-Becker gehört nur noch der Alte Friedhof am Stadtpark.